Sie sind auf Seite 1von 110

info zum prozess gegen birgit hogefeld nummer 1

1.12.94 Wiesbaden
Der Prozess gegen Birgit Hogefeld begann am 15.11. vor dem OLG Frankfurt. Birgit Hogefeld ist am 27.06.93 in Bad Kleinen verhaftet worden. Bad Kleinen, die Ermordung von
Wolfgang Grams und die Vertuschung dieses Geschehens, in das BKA, BAW und VS verwickelt sind, sorgte damals fuer grossen Wirbel in der Oeffentlichkeit.
Birgit, die in Bad Kleinen schon ueberwaeltigt am Boden lag, bevor der erste Schuss fiel, wird nun wegen "Mord" an den GSG 9 Mann Newrzella und "Mordversuch" an weiteren GSG 9
Maennern in Bad Kleinen angeklagt. Dadurch, dass Birgit wegen Bad Kleinen angeklagt wird, besteht die Moeglichkeit, dass in dem Prozess gegen sie der gesamte Ablauf der GSG 9
Aktion, einschliesslich der Erschiessung von Wolfgang Grams, noch einmal in einem oeffentlichen Rahmen zur Sprache kommt.
Weitere Anklagepunkte betreffen Aktionen der RAF, bei denen Birgit - teilweise auf der Grundlage ausdruecklich festgestellter "geringer Wahrscheinlichkeit" - eine persoenliche
Beteiligung angelastet wird: - den Sprengstoffanschlag auf die US-Airbase in Frankfurt und in dem Zusammenhang die Erschiessung des US-Soldaten Pimental 1985 - den Anschlag auf
den damaligen Finanzstaatssekretaer und heutigen Praesidenten der Bundesbank Tietmeyer waehrend der Tagung des IWF 1987 - und die Sprengung des Knastneubaus in Weiterstadt
1993. Mit diesen Anklagepunkten sollen der politische Charakter der Konfrontation RAF - Staat und alle politischen Fragen und Herausforderungen, die die RAF nicht nur fuer Linke
aufgeworfen hat, unter dem Deckel des kriminellen Delikts verschwinden.
Das Prozess-Info soll regelmaessig zum Verlauf des Prozesses informieren und - wo moeglich - die Hintergruende beleuchten. Die Prozesserklaerungen von Birgit Hogefeld werden
vollstaendig dokumentiert. Geplant ist eine monatliche Erscheinungsweise.
Birgit als politische Gefangene in diesem Prozess nicht allein zu lassen (was angesichts der unsolidarischen Haltung vieler ihr gegenueber besonders draengend ist), die staatliche Version
von Bad Kleinen nicht hinzunehmen und Gegenoeffentlichkeit zum Prozess zu schaffen, das ist stichpunktartig die Orientierung der InfoAG zum Prozess gegen Birgit Hogefeld.
Die InfoAG hat sich erst kurz vor Prozessbeginn gebildet. Ueber die Prozessarbeit hinausweisende Vorstellungen zu entwickeln, haben wir uns im Rahmen der InfoAG nicht zum Ziel
gesetzt. Das bislang schwach entwickelte Verhalten direkt zum Prozess bringt allerdings schon Erfordernisse an politische Diskussion mit sich, denen wir nicht ausweichen wollen. Diese
beziehen sich auf die Entwicklungen der letzten 10 Jahre, an denen wir selber unterschiedlich Anteil hatten und woraus eine Verantwortlichkeit, besonders gegenueber Birgit und allen
politischen Gefangenen, erwaechst. Diese Verantwortlichkeit kann nicht an die Vertretung einer bestimmten Linie gebunden sein. Bad Kleinen, Steinmetz und die Spaltung innerhalb des
Zusammenhangs RAF/Gefangene aus der RAF haben Fragen aufgeworfen, die nicht ueber "Linien", "Gegenlinien" oder Schuldzuweisungen umgangen werden koennen. Die InfoAG
wendet sich gegen diese Verweigerung der Auseinandersetzung, wie sie sich in den letzten Monaten ausgedrueckt hat, auch und besonders, wo sie sich direkt gegen Birgit richtet.
Massgeblich fuer diese Entwicklung war die katastrophale Unfaehigkeit der Linken, die Schaerfe der Widersprueche in der eigenen Politik und in den Wirkungsmoeglichkeiten in die
Gesellschaft hinein, anzunehmen und sich darin bewusst zu bewegen. Daraus resultierte auch die Unfaehigkeit, die tastende Suchbewegung wahrzunehmen, die in den Schritten der RAF
und in den verschiedenen Ueberlegungen der Gefangenen seit dem Hungerstreik 89 gelegen hatte.
Birgit wird zu allen Punkten der Anklage etwas sagen. Die Aufarbeitung der letzten 10 Jahre betrifft aber nicht nur ihren Zusammenhang. Viele dieser Fragen, Grenzen und Fehler haben
ein Gewicht weit ueber den Zusammenhang RAF hinaus. Birgits Gedanken zum Wechselverhaeltnis politischer Praxis und persoenlicher Veraenderung machen das deutlich: Nur
Menschen, die gelernt haben, frei und selbstbewusst zu denken und zu handeln, halten auch in Zeiten wie diesen an ihren Zielen fest. (Birgit, Prozesserklaerung 15.11.94)

Bericht von den ersten 4 Prozesstagen

Am 15.11.1994 wurde vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt - dem Staatsschutzsenat - der Prozess gegen Birgit Hogefeld eroeffnet.
Prozesserklaerung
Birgit gibt schon am ersten Tag eine Prozesserklaerung ab, in der sie darstellt, welche Aspekte zu der Deeskalationsents -Entscheidung der RAF 1992 gefuehrt haben. Sie benennt Bad
Kleinen als Reaktion des Staates in einem bzw. auf einen Abschnitt, in dem die RAF von der militaerischen Konfrontation abrueckte. Sie spricht davon, dass sich ab der zweiten Haelfte
der 80er Jahre gravierende politische Veraenderungen vollzogen, die kaum fassbar und von der bisherigen linken Analyse nicht erfasst waren. Dazu gehoert der Zusammenbruch der
sozialistischen Staaten, aber auch der weltweite gesellschaftliche, soziale und Oekologische Zerfalls- und Zerstoerungsprozess. Dieser Zersetzungsprozess, der die kapitalistische
Funktionsfaehigkeit selber untergraebt, trifft direkt und bedrohlich die Lebensgrundlagen der Menschen in allen Kontinenten. Der Verfall macht auch vor den Linken nicht halt; in diesem
Kontext deutet Birgit den Reflex, sich auf Fehler und Schwaechen von anderen zu stuerzen, und die Spaltung des Zusammenhanges RAF/Gefangene. Ab etwa 89/90 ging es in der RAF
auch darum, die eigene Geschichte, Erfahrungen und Fehler aufzuarbeiten, um zu neuen Bestimmungen und Inhalten zu kommen. Als einen Fehler benennt Birgit die jahrelange fast
ausschliessliche Ausrichtung des Kampfes an der Negation, an den Strategien und zentralen Projekten des Imperialismus. Es wurde keine gesellschaftliche Alternative zur kapitalistischen
Ausrichtung formuliert und erkaempft. Dass darin das Moment des Aufbaus fehlt, ist ein Aspekt, der gegen die Entfaltung von Mobilisierungskraft gewirkt hat. In diesem Zusammenhang
sagt sie auch, dass emanzipatorische Entwicklungen in vielen politischen Zusammenhaengen real nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, und dass das ein Grund fuer den derzeit
desolaten Zustand der Linken ist. All das, und die Tatsache, dass eine soziale Gegenbewegung sich nicht entwickelte, begruendete 1992 die Entscheidung der RAF fuer die Zaesur.
Verstaerkte Aufloesung von Gesellschaftlichkeit und fehlende politische und gesellschaftliche Gegenkraefte, die sozialen Sinn neu konstituieren, erlauben auch die Ausbreitung von
Rassismus und Nationalismus als Identifikationsangebot im Sinne der Herrschenden. Gegen die Todeskultur des Systems muss konkret sichtbar eine Kultur des Lebens entwickelt werden.
In Bad Kleinen ist aufgeschienen, in welche Richtung der Staat zu agieren bereit ist. Die Ermordung von Wolfgang war politisch nicht geplant, wurde aber von den Regierenden sofort in
ihr Arsenal uebernommen und gedeckt. Birgit endet mit den Worten: Es wird keine Rueckkehr zur alten Strategie als politisches Konzept geben, aber (...) ich glaube nicht, dass wir nun
widerstandslos unserer Vernichtung zusehen und ich moechte, dass sich alle ueber unsere Zukunft Gedanken machen.
Bad Kleinen
Eingebettet war die Erklaerung in den Einstellungsantrag der Verteidigung: Nach der Strafprozessordnung ist ein Verfahren dann einzustellen, wenn Verfahrenshindernisse bestehen, die
ein faires Verfahren nicht zulassen oder eine Klaerung der Umstaende erkennbar verhindern. Der Einstellungsantrag war der juristische Weg, um Bad Kleinen, Methoden der
Sicherheitsapparate und damit das Verfolgungsgefuege zu thematisieren, in dem ein Gerichtsverfahren das öffentlichste und damit scheinbar zivilisierteste Glied darstellt. Dass der GSG-9-
Beamte Newrzella in Bad Kleinen von Wolfgang Grams erschossen wurde, dass Wolfgang Grams sich selbst toetete, ist der Kern der von allen staatlichen Stellen zur Doktrin erklaerten
und von den Medien inzwischen weitgehend uebernommenen Verschleierung der Ereignisse in Bad Kleinen. Mit dieser Doktrin soll gleichzeitig einer Oeffentlichen Infragestellung des
Einsatzes von Spitzeln, die vor die Muendungsfeuer massenhaft postierter Scharfschuetzen locken, das Wasser abgegraben werden. Die herrschende Version zu Bad Kleinen soll aber auch
einer der unhinterfragbaren Ausgangsvorausssetzungen des Prozesses und des geplanten Urteils gegen Birgit sein. Der Einstellungsantrag benannte viele Einwaende gegen die Bad-
Kleinen-Doktrin: Es gibt Zeugenaussagen zum Nahschuss auf Wolfgang, wohingegen Zeugenaussagen zur Selbsttoetung fehlen. Mehr als fuenfzig zur Verfolgung von Birgit und
Wolfgang eingesetzte Maenner wollen nicht gesehen haben, wie Wolfgang zu Tode kam. Die Mauer des Schweigens derer, die das eine nicht gesehen haben wollen und das andere nicht
gesehen haben koennen, ist offensichtlich. Weiterhin referierte der Einstellungsantrag zwei Gegengutachten, in denen nachgewiesen wird, dass die Selbstmordtheorie nicht haltbar ist und
dass eine Verletzung an Wolfgangs Hand darauf hindeutet, dass Wolfgang die Waffe mit Gewalt abgenommen wurde (Entwindungsgriff).Die Vielzahl von Spurenvernichtungen und
Beweisvereitelungen, die der Einstellungsantrag benannte, lassen in ihrer Addition eine Methodik erkennen: durch eine Vergroesserung von Beweisluecken der Doktrin mit den kurzen
Beinen prothetisch etwas aufzuhelfen. Dreiste Luegen werden in eine Darstellungsweise transformiert, die sich darauf beruft, dass sich Anhaltspunkte nicht ergeben haben. Eine der
Einzelheiten aus dem Einstellungsantrag: Am 27.6.1993, dem Tag der Festnahme von Birgit Hogefeld und der Toetung von Wolfgang Grams hatte die Bundesanwaltschaft zunaechst eine
Presseerklaerung vorbereitet, in der von der Festnahme Birgits und von einem Kopfschuss bei Wolfgang Grams die Rede war. Dieser Entwurf wurde nicht veroeffentlicht, sondern derart
abgeaendert, dass Birgit Hogefeld den Schusswechsel eroeffnet habe und Wolfgang Grams an Schussverletzungen verstorben sei. Diese Fassung ging dann an die Öffentlichkeit und steht
beispielhaft fuer die folgende Desinformationspolitik. Viele andere Einzelheiten sind gut in dem Buch Bad Kleinen und die Erschiessung von Wolfgang Grams (Amsterdam/Berlin -Edition
ID-Archiv -1994) nachzulesen. Im Frankfurter Einstellungsantrag wurde ausfuehrlich die im Buch abgedruckte Beschwerdebegruendung gegen die Einstellungsverfuegung der
Staatsanwaltschaft Schwerin im Ermittlungsverfahren gegen zwei GSG 9-Beamte aufgegriffen. Hier nur 4 Punkte: 1. Weder wurden die genaue Anzahl der eingesetzten Polizeikraefte und
deren Standorte auf dem Bahnhof erfasst noch wurden alle mitgefuehrten Waffen und Munitionsbestaende aufgelistet. Ein Soll-/Ist-Abgleich zu Waffen und Munitionsbestaenden ist nicht
erfolgt. . 2. Die Kleidung der GSG 9-Beamten wurde erst eine Woche nach dem 27.6. unvollstaendig - und nachdem sie von den Verdaechtigen gewaschen worden waren, als
Beweismittel sichergestellt. 3. Die Aussagen der GSG 9-Beamten bei ihren Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft Schwerin weisen derartige Widersprueche auf (z.. B. bei der
wichtigen Frage, an welcher Stelle sich die einzelnen waehrend des Einsatzes auf dem Bahnhof von Bad Kleinen aufhielten) dass die Staatsanwaltschaft Schwerin selbst von einer Kette
wechselnder Falschaussagen ausgeht, ohne freilich daran Nachermittlungen ansetzen zu lassen. 4. Zivile Zeugen vom Bahnhof Bad Kleinen wurden am 27.6. entweder nicht vernommen
oder weggeschickt und eingeschuechtert oder ihre protokollierten Aussagen wurden so lange wie moeglich unter Verschluss gehalten. (Die Zeitung Die Woche zitierte am 16.7. einen der 3
Reichsbahner, die am 27.6. im Stellwerk Dienst hatten, wo auch ein BKA-Beamter mit gutem Blick auf Gleis 3/4 postiert war: Wenn Sie von oben runterschauen, wissen Sie, ob man das
haette sehen koennen oder nicht ... Hat etwa der BKA-Beamte, der auf dem Turm war, zum Kopfschuss etwas ausgesagt ? Nein ? Na sehen Sie. - Bad Kleinen und die Erschiessung ..., S.
122 -)
Bad Kleinen war zum Thema der ersten 1 1/2-Prozesstage gemacht. Die ausfuehrlichen Nachweise des Einstellungsantrags machten ueberdeutlich, dass zu den Ablaeufen in Bad Kleinen
auf vielen staatlichen Ebenen in einem grossen Ausmass geschoben, gemauert und gelogen worden war. An der Legitimation der Anklaeger und des Gerichts, die das decken und
uebergehen wollen, war damit nachhaltig gekratzt.
Einstellungsantrag Der Einstellungsantrag spricht von Einflussnahme der Exekutive auf das Verfahren und von Vorverurteilung: Beides u.a. festgemacht an Kohls oeffentlichkeitswirksam
inszenierten Besuch bei der GSG 9 im Juli 1993 und seinem Dank fuer die gute Arbeit gegen die schiesswuetigen Terroristen. Ferner wurde der Verstoss gegen den von einem UNO-
Gremium entwickelten Grundsatz geruegt, bei Verdacht extralegaler Hinrichtungen unabhaengige Gremien mit der Untersuchung zu beauftragen, was Bundesanwaltschaft und
Bundeskriminalamt als fuehrende Behoerden bei dem Bad-Kleinen-Einsatz nicht sind. Festhaltenswert sind noch Einzelheiten zur Erreichbarkeit des Spitzels Klaus Steinmetz, wie sie von
der Verteidigung zusammengetragen wurden: Im Februar und Maerz 1994 erklaert das BKA im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Birgit Hogefeld in Briefen an die
Bundesanwaltschaft, Steinmetz sei nicht erreichbar, eine ladungsfaehige Adresse weder bekannt noch beschaffbar. Im April 1994 wird Steinmetz aber auf Vermittlung des hessischen
Landeskriminalamts erneut von der Bundesanwaltschaft vernommen. Am 12.11.1994 wird im Hessischen Rundfunk der Pressesprecher der Bundesanwaltschaft mit der Aussage zitiert:
Sollte Steinmetz im Frankfurter Verfahren gebraucht werden, liessen sich Mittel und Wege finden, dies auch zu realisieren. Die Exekutive und die Ermittlungsbehoerden greifen
manipulativ in das Verfahren ein, indem sie Klaus Steinmetz nach Belieben auftauchen und verschwinden lassen, heisst es dazu in der Wertung der Verteidigung . Haftbedingungen Am 2.
Prozesstag wurden ueber einen Befangenheitsantrag Haftbedingungen, Postverzoegerung und Eingriffe in die Kommunikation bei Besuchen und durch Anhalte- und
Beschlagnahmebeschluesse eroertert. Die Laufzeit der Post betrug in einer Vielzahl - in einigen Abschnitten in der Mehrzahl der Faelle - mehr als 4 Wochen, ein Brief wurde ueber 12
Wochen nicht weitergeleitet. Anhaltebeschluesse wurden damit begruendet, dass eine Diskussion ueber die Geschichte der RAF in den 80-er Jahren mit dem Ziel der Aufarbeitung, die
wirklich radikal alle Fragen stelle, um fuer kuenftige Kaempfe zu lernen, Fortsetzung mitgliedschaftlicher Beteiligung durch Birgit Hogefeld sei. Allein das Thema Weiterstadt,
angesprochen in einem Brief an Birgit Hogefeld, zog einen Beschlagnahmebeschluss (Beschlagnahme als Beweismittel) nach sich. Fuer Besuche wurden die Themen antiimperialistischer
Kampf und laufendes Prozessverfahren unter der Drohung des Besuchsabbruchs durch richterliche Anordnung verboten. Beim Besuch der Eltern von Wolfgang Grams wurde die
Angehoerigenregelung, Besuche ohne Trennscheibe zu gestatten, trotz entsprechenden Antrags verweigert. 14 Monate Einzelhaft ohne Kontakte, ohne Umschluss, bei leeren
Nachbarzellen, Hofgang nur allein und nur zeitweise - ohne Ruecksicht auf erkennbare gesundheitliche Gefaehrdung - gingen auf Beschluesse des Ermittlungsrichters beim
Bundesgerichtshof und dann auf Beschluesse des Frankfurter Senats zurueck. Birgit Hogefeld sah die Haftsituation im Spiegel der referierten Beschluesse zu den Haftbedingungen nicht
ausreichend beschrieben und begriffen und aeusserte sich deswegen am 3. Prozesstag in einem vorbereiteten Beitrag selber ausfuehrlich. Sie geht dabei v. a. auf die Beschneidung ihrer
Kommunikations-und Ausdrucksmoeglichkeiten ein. Die Situation, als sie im Fernsehen die Bilder von Wolfgangs Beerdigung sieht, beschreibt sie so: "Der Sarg, seine Eltern, meine
Familie, alte Freunde - und ueber diese und ueber tausend andere aufwuehlende Situationen konnte ich nie mit einem anderen Menschen reden, all das musste ich immer mit mir allein
ausmachen; d a s ist Isolation und genau das soll sie sein." Sie schildert auch die Auswirkungen sensorischer Deprivation durch die gezielte Einschraenkung und Manipulation akustischer
und optischer Reize. Schliesslich sagt sie, dass sie die Folgen der Isolationshaft noch gar nicht einschaetzen kann. An der Beobachtung eines Prozessbesuchers, dass sie andere Menschen
nicht lange anschauen, Blicke nicht halten koenne - was bei Leuten, die laengere Zeit in Isolation waren, immer so sei - stellt sie sich die Fragen: "Solche Wirkungen von Isolation bei sich
selber zu beobachten, hat natuerlich auch was Bedrohliches - was kommt da noch alles, von dem ich heute noch nichts weiss? (...) Gibt es Zerstoerungen, die ich Zeit meines Lebens nicht
mehr los werde?"
Anklageschrift Die Anklageschrift wurde am 3. Prozesstag verlesen. Diese hat Birgit im Oktober 1994 wie folgt kommentiert: Am 15.11.1994 beginnt vor dem OLG Frankfurt der Prozess
gegen mich. Angeklagt werde ich wegen verschiedener Aktionen der RAF zwischen 1985 und 1993: * dem Sprengstoffanschlag auf die US-Air-Base in Frankfurt und in dem
Zusammenhang die Erschiessung des US-Soldaten Pimental; * dem Anschlag auf den ehemaligen Finanzstaatssekretaer und heutigen Praesidenten der Bundesbank Tietmeyer waehrend
der Tagung des IWF 1987; * der Sprengung des Knastneubaus in Weiterstadt; ausserdem wird mir Mord und sechsfacher Mordversuch an GSG 9-Maennern in Bad Kleinen vorgeworfen.
Die Mordanklage wegen Bad Kleinen ist die Antwort auf das politische Desaster, in das der Staat sich mit dieser Aktion gebracht hat. Sie stehen unter dem Verdacht, dass ihre GSG9-
Leute Wolfgang Grams, als er angeschossen und schwer verletzt am Boden lag, mit einem Kopfschuss hingerichtet haben- sowohl die polizeilichen Schlampereien, sprich die systematische
Spurenvernichtung, aber auch Ruecktritte von Verantwortlichen bis hin zum Innenminister ergeben ausschliesslich vor dem Hintergrund einer Hinrichtung einen Sinn. Da dieser Verdacht
schon nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist, soll wenigstens ein RAF-Mitglied, in dem Fall ich, wegen der Erschiessung des GSG-9-Mannes Newrzella angeklagt und verurteilt werden.
Zumindest da soll der Verdacht, dass er von seinen eigenen Leuten erschossen wurde, weg. Die Tatsache, dass ich schon ueberwaeltigt am Boden lag, bevor der erste Schuss fiel, spielt
dabei keine Rolle - sie behaupten, Newrzella sei von Wolfgang Grams erschossen worden, und Wolfgang haette (weil wir beide in der RAF waren) mit meinem Einverstaendnis
geschossen. Das ist die juristische Konstruktion,.mit der meine Verurteilung wegen Mordes an diesem GSG9-Mann laufen soll. Die Anwaelte der Eltern Grams hatten im Mai dieses Jahres
anhand neuer, von ihnen in Auftrag gegebener Gutachten versucht, die Wiederaufnahme des eingestellten Ermittlungsverfahrens gegen GSG9-Leute durchzusetzen. Es ist nicht sehr
wahrscheinlich, dass dieser Weg das Verfahren wiederaufzunehmen, Erfolg haben wird. Aber selbst wenn, wird es vermutlich schnell wieder eingestellt werden. Dadurch,dass ich wegen
Bad Kleinen angeklagt werde, ist der Prozess gegen mich einzige oeffentliche Rahmen,wo der Staat gezwungen werden kann den gesamten Ablauf der GSG9-Aktion, also Wolfgangs
Erschiessung, juristisch aufzurollen. Jeder der Anklagepunkte (ausser der Knastsprengung) reicht fuer ein lebenslaengliches Urteil aus, und die Kronzeugenprozesse aus den letzten ein bis
zwei Jahren gegen andere Gefangene aus der RAF, die zum Teil schon zwoelf Jahre im Knast sind und lebenslaengliche Strafen absitzen, zeigt, worauf das Ganze zielt: die vermeintlichen
Sieger ueber Kommunismus und jede Idee auf Veraenderung und Utopie einer menschlichen Welt berauschen sich in ihrem Machtwahn- das, was gegen uns laeuft, ist einerseits ihre
Rache, aber zugleich auch Drohung gegen alle, die an neuen Aufbruechen ueberlegen.
Auch in bezug auf die anderen Anklagepunkte haben sie keine Beweise gegen mich in der Hand. Meine Beteiligung an der Air-Base-Aktion und an Tietmeyer soll darueber begruendet
werden, dass ich zwei Autos gemietet bzw. gekauft haette. Bewiesen wird das ueber BKA-Schriftgutachten (bis zu ihren Kronzeugenaussagen gegen andere wurde uebrigens der Kauf
eines dieser Autos Sigrid Sternebeck zugeordnet). Die Konstruktion geht so: Bei Schriftgutachten werden verschiedene Wahrscheinlichkeitsstufen unterschieden. Die Unterschriften, die sie
mir zuordnen, werden nicht in die hoechste, also die mit der groessten Wahrscheinlichkeit eingeordnet (denn dagegen koennte man leicht ein Gegengutachten machen lassen), sondern sie
ordnen sie in eine mittlere Stufe ein und sagen, da die RAF so wenige Mitglieder hat, gilt es deswegen auch bei einer nicht sehr hohen Wahrscheinlichkeit der Schriftidentitaet als sicher,
dass es sich bei den Unterschriften auf den Vertraegen um meine Schrift handelt. Bei Tietmeyer haben sie ausserdem noch Zeugen fuer die Anmietung des Fahrzeuges aufzufahren. Kurz
nach meiner Verhaftung fand eine Gegenueberstellung statt, die als verdeckte geplant war, die ich aber bemerkt hatte und deswegen mir den Arm vors Gesicht gehalten habe. Eine Zeugin
sagt aus, dass sie als Mieterin des Autos vor sechs Jahren die Person wiedererkennt, die immer den Arm vors Gesicht haelt und die auch spaeter nicht dabei ist, als die Vergleichspersonen
nebeneinander aufgestellt dastehen. Das Ganze waere als Witznummer anzusehen, wenn es dabei nicht um die wichtigsten Beweise fuer ein lebens-laengliches Urteil gegen mich ginge.
Nach den vielen Prozessen aus der letzten Zeit gegen RAF-Gefangene kann es keinen Zweifel geben, wie das Urteil gegen mich aussehen soll-und dafuer, dass von Linken und
fortschrittlichen Kreisen Druck erzeugt wird, der die Entscheidung fuer ein weiteres lebenslangliches Urteil kippt, fehlen auf unserer Seite zur Zeit die Voraussetzungen. Bei den
Anklagepunkten, die Aktionen der RAF betreffen, wird an diesem Prozess nicht viel mehr als das zu zeigen sein, was auch schon bei unzaehligen aehnlichen Verfahren deutlich wurde-
um mit Ulrike Meinhof zu sprechen: Wir koennen sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen, wir koennen sie nur zwingen, immer unverschaemter zu luegen.
Erste ZeugInnen Am 3. Prozesstag wurden die ersten ZeugInnen vernommen. Gegenstand war eine Tuebinger Wohnung, die 1985 von RAF-Leuten genutzt worden sein soll. Vernommen
wurde die Hauptmieterin, die fuer die Zeit eines einjaehrigen Italienaufenthalts Untermieter gesucht hatte. Ebenso sagte ein Architekt aus, der in der Wohnung ein Arbeitszimmer nutzte.
Zeuge und Zeugin meinten, das wegen RAF-Mitgliedschaft gesuchte Ehepaar Meyer als Nutzer der Wohnung identifizieren zu koennen. Zu Birgit Hogefeld ergab sich keine Spur. Am
24.11., dem 4. Prozesstag, sagte ein Beamter der Wiesbadener politischen Polizei namens Werner (Staatsschutzkomissariat der Wiesbadener Kripo K 14) aus. Er war im Juni und Juli 1984
an der Vorbereitung und Durchfuehrung der Durchuchung der frueheren Wohnung von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams in Wiesbaden beteiligt. Angeblich hatte sich der Vermieter
bei der Polizei gemeldet, weil aus der Wohnung Gestank komme, was der Zeuge bei der Ueberpruefung nicht bestaetigt fand. Wieso das K 14 bei derartigen Anfragen auf den Plan trete,
konnte Werner nur verschwommen erklaeren: Birgit und Hogefeld seien aus langjaehriger Szene-Beobachtung gut bekannt gewesen. Die Frage, ob seine Dienststelle die Wohnung
observiert habe, verneinte er, zu entsprechenden Aktivitaeten anderer Dienststellen wisse er nichts.Wieso er aus der Verhaftung von Manuela Happe im Juni 1984 geschlossen habe, dass
Birgit und Wolfgang sich der RAF angeschlossen haetten, wie es in einem etwas verquer formulierten Vermerk hiess, konnte er nicht plausibel machen. Nach einiger Herumstocherei
sprach er von Hintergrundinformationen, ueber die er ohne Abklaerung zum Umfang seiner Aussagegenehm igung nichts sagen wolle. Dieser Rueckzug wurde ihm eingeraeumt: Der
Zeuge konnte selber definieren, dass ein Bedarf an Einschraenkung seiner Ausssagegenehmigung bestehe. Die Entscheidung ueber den Antrag der Verteidigung, den Zeugen unter
Androhung von Zwangsmitteln zur Aussage anzuhalten, wurde vertagt. Zum Vernehmungsgegenstand aeusserte er noch: Miete sei bis Mai 1984 gezahlt worden, bei der Durchsuchung
der Wohnung durch das BKA im Juli 1984, bei der Werner beteiligt war, habe er den Eindruck gewonnen, dass die Wohnung schon laenger nicht genutzt war, die letzte Zeitung sei von
Februar 1984 gewesen. Die Zeugenladung hatte moeglicherweise die Funktion, den Zeitpunkt des Verlassens der Wohnung als Beginn der Mitgliedschaft in der RAF festzumachen.
Erstes Zimmern am Urteil: Einfuehrung "gerichtsbekannter Tatsachen" Am 4. Prozesstag begann das Gericht, Auszuege aus Urteilen gegen RAF-Leute zu verlesen. Alle bereits in einem
Urteil festgehaltenen Behauptungen, Konstruktionen, Unwahrheiten und Feststellungen gelten als ueberprueft und erhaertet. Durch die Verlesung werden sie als gerichtsbekannte
Tatsachen in den aktuellen Prozess eingefuehrt; zu ihnen findet keine Beweisaufnahme mehr statt. Der Raub von Waffen aus einem Waffengeschaeft im November 1984 in Maxdorf wird
der RAF zugeschrieben. Die Verlesung zu Maxdorf hat wahrscheinlich die Funktion, Waffen aus diesem Raub als RAF-Waffen deklarieren zu koennen und aus deren Besitz
Mitgliedschaft zu konstruieren. Ferner kam ein Passus zur Verlesung, in dem als Mitgliederformen in der RAF unterschieden werden: Illegale, Gefangene, Legale. Nach dieser
Konstruktion sind alle zur illegalen Ebene Gehoerenden an der grundsaetzlichen Entscheidung ueber Ziel und Methoden von Anschlaegen beteiligt. Einzelheiten seien dabei nur dem
konkreten Kommando bekannt. Schliesslich wurden die der RAF zugeordneten Anschlaege (bis auf Weiterstadt, das bisher noch nicht Prozessgegenstand war) aufgefuehrt. Diese
Aufzaehlung duerfte fuer die im Urteil gegen Birgit beabsichtigte Kennzeichnung der RAF als terroristische Vereinigung von Belang sein. Die Verlesung von Auszuegen aus den
Besucherbuechern der Gefaengnisse in Celle und Schwalmstadt - die nicht sollte dokumentieren, dass Birgit Hogefeld 1977 erste Besuchskontakte zu Gefangenen aus der RAF
aufgenommen hatte.
Prozessbedingungen / BesucherInnen Der Prozess findet in einem Sicherheitsgerichtssaal in einem Neubau des Frankfurter Gerichtskomplexes statt, der ebenerdige Aussenzugaenge hat.
Am ersten Prozesstag hatten sich 150 Personen eingefunden. Vor dem Gerichtsgebaeude wurde ein Transparent Solidaritaet mit Birgit Hogefeld entrollt, ohne dass eine Kundgebung
stattfand oder Redebeitraege gehalten wurden . Im Gerichtssaal, das 70 ZuhoererInnen-Plaetze hat, wurde Birgit mit Klatschen begruesst; auch nach ihrer Prozesserklaerung klatschten
BesucherInnen. An den folgenden Tagen waren die ZuhoererInnenplaetze vormittags stets zu fast 100% besetzt. Die Kontrollen an den ersten vier Tagen waren massiv: Die mit Aids-
Handschuhen bestueckten KontrollbeamtInnen tasteten - nach dem Einsatz des Metalldetektors - BesucherInnen bis unter die Unterwaesche und bis in den Hosenbund hinein ab. Fast alle
mitgefuehrten Gegenstaende: vom Schluesselbund bis zum Bleistiftspitzer wurden abgenommen und im Kontrollraum verschlossen. Gelegentlich musste um die Mitnahme eines Blattes
Papier und eines Bleistifts gerungen werden. Am 4. Verhandlungstag forderten die AnwaeltInnen, die Kontrollen auf ein Mass zu reduzieren und in einer Form durchzufuehren, die
wenigstens annaeherungsweise dem justiziellen Grundsatz der Verhaeltnismaessigkeit entsprechen und sie nicht zur Abschreckung der Oeffentlichkeit zu benutzen. Diese Forderung wurde
belegt durch Erfahrungsprotokolle zweier Frauen zu den Kontrollen, in denen die Abtasterei als entwuerdigend, sexistisch und uebergriffisch charakterisiert wurden.
<
Prozesserklaerung von Birgit Hogefeld am 1. Prozesstag

Waehrend ich hier vor Gericht sitze, laufen die Moerder von Wolfgang Grams frei und staatlich gedeckt draussen rum. Die GSG 9 hat Wolfgang mit einem gezielten Kopfschuss
hingerichtet, weil das in dieser Situation ihrem Gruppenkodex entsprochen hat, aber in Bad Kleinen ist mehr geschehen, als dass ein RAF-Mitglied in Lynchjustiz liquidiert worden ist.
Durch die Tatsache, dass diese Aktion nachtraeglich in den politischen Staatshaushalt ueberfuehrt wurde, ist sie die politische Antwort auf unseren Versuch 92 hier eine andere
Entwicklung einzuleiten. Dieser Versuch ist niedergeschossen worden und das, was die Anklage hier in diesem Prozess macht, ist Nahschusspolitik mit anderen Mitteln. Wir alle haben in
der zweiten Haelfte der 80iger Jahre gespuert, dass sich etwas gravierendes vollzieht, kaum fassbar aber klar, dass da etwas geschieht, das von unserer Analyse nicht erfasst ist. Zuerst der
Zusammenbruch des Realsozialismus. Ereignisse von weltweiter Erschuetterung, die so niemand vorhersehen konnte; aber alle wussten, dass unsere Erkenntnis die Prozesse dieser Welt
nicht mehr fasst. Und wir hatten zunehmend eine Ahnung davon, dass auch das kapitalistische System von diesen Erschuetterungen nicht verschont bleibt; so hat sie der Zusammenbruch
der Sowjetunion und der osteuropaeischen Staaten - seit 1917 als Kriegs- und Endsiegparole ausgegeben - vor unloesbare Probleme gestellt, die den gesamten Zersetzungsprozess
beschleunigt haben. Das einzige, was in dieser Umbruchsituation schnell erkennbar und einzuschaetzen war, war die Tendenz ihrer Wirkung auf die Lebensgrundlagen und -bedingungen
der Menschen in allen Kontinenten, naemlich dass die sowieso zugespitzte Situation, die zu diesen U mbruechen gefuehrt hatte, sich fast ueberall noch weiter verschaerft. Buergerkriege in
der Welt um Raum, Nahrung, Wasser und andere Ressourcen; Millionen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut auf der Flucht sind; Zerfallserscheinungen im Innern, massenhafte
Arbeitslosigkeit, materielle Armut, Obdachlosigkeit, soziale Entwurzelung von immer mehr Menschen, Ausweitung von Gewalt und Rechtsradikalismus - all das zeigt, dass der
Kapitalismus nicht mehr funktioniert.
Die alte Gesellschaftsstruktur zerfaellt und was immer jetzt kommt, es ist eine andere Republik. In welche Richtung das gehen kann, davon ist in Bad Kleinen etwas aufgescheint. Fuer
Sekunden war der Vorhang einer moeglichen Zukunft aufgerissen. Es ist eine Gefahr und Bedrohung aufgeblitzt, der dann alle ausgesetzt sind, nicht nur militante Linke und Systemgegner.
In Bad Kleinen hat der nach innen entgrenzt aggressive Staat agiert, der bis zur Vernichtungspolitik alles im Repertoire hat, was an Unterdrueckungsmethoden moeglich ist - die
Wiederkehr der Vergangenheit, nicht in ideologischen Inhalten, aber in Absichten und Formen.
Das zumindest zu ahnen - denn Bad Kleinen war 1993 und nicht etwa 1977 im Deutschen Herbst - war wohl auch einer der Gruende, warum sehr viele GenossInnen aus dem
linksradikalen Spektrum, aber auch viele aus den sogenannten fortschrittlichen Kreisen wie gelaehmt waren. Der Aufschrei blieb aus und selbst die Einrichtung einer unabhaengigen
Untersuchungskommission kam nicht zustande, weil es kaum inlaendische InteressentInnen gab. Vielen Linken ist an Bad Kleinen ihre eigene Defensive und dass sie auf die gesamte
Entwicklung keine Antwort haben, deutlich geworden. Und wie oft, wenn einem die eigene, ohnmaechtig erscheinende Lage vor Augen gefuehrt wird, haben sich viele reflexartig auf
reale und vermeintliche Fehler und Schwaechen anderer - in dem Fall von uns - gestuerzt, anstatt sich zumindest gleichzeitig Gedanken darueber zu machen, wie dieser duesteren
Zukunftsperspektive und realen Gefahr von unserer Seite aus begegnet werden kann; an welchen Fragen und Inhalten unsere Diskussion umorganisier t werden muss, damit wir Antworten
darauf finden, mit welchen Bestimmungen und welchen Formen wir unsere Kaempfe fuehren muessen. Am extremsten war dieser Reflex des um-sich-Schlagens in unserem
Zusammenhang RAF/Gefangene, wo alles zu dieser Spaltung hinlief- mir fiel und faellt dazu oft ein Satz von Frantz Fanon ein: Da wo der Feind uebermaechtig erscheint, zerfleischen sich
die Unterdrueckten gegenseitig. Nur diese Verhaltensmuster sind bekannt und die kann sich jeder Mensch bewusst machen, um sich nicht an einer sinnlosen und sinnentleerten
gegenseitigen Zerfleischung abzuarbeiten und aufzureiben, sondern sich auf das Wesentliche zu konzentrieren (und auch um den eigenen Lebensinhalt und -bestimmung nicht zu verlieren),
naemlich auf die Frage, wie wir hier, trotz aller Schwierigkeiten und gegenlaeufigen Tendenzen eine an den Menschen orientierte gesellschaftliche Entwicklung erkaempfen koennen. Fuer
mich waren die Reaktionen, die es nach Bad Kleinen in unseren eigenen Reihen gegeben hat, der letzte Beweis dafuer, dass das Alte vollstaendig aufgebraucht war und wir um neue
Inhalte und Bestimmungen kaempfen muessen.
Die Ereignisse von Bad Kleinen sind in ihrem vollen Umfang und in ihrer Bedeutung nur zu verstehen, wenn sie im Zusammenhang der politischen Entwicklungen der Jahre vorher und
der Entscheidung der RAF 92 zur Zaesur und Deeskalation betrachtet werden. Ab etwa 89/90 hatten wir uns schwerpunktmaessig mit zwei Fragenkomplexen befasst. Zum einen ging es
darum, die globalen Umbrueche und innergesellschaftlichen Zerfallsprozesse hier zu verstehen; ausserdem hatten wir in dieser Zeit angefangen, unsere eigene Geschichte und die
Kernelemente unserer politischen Bestimmung bis dahin - unabhaengig von der allgemein veraenderten Situation - zu hinterfragen und auf Schwaechen und Fehler hin abzuklopfen. Es war
eine Zeit, in der wir uns vieles, worin die RAF in ihrer Anfangsphase einmal stark gewesen war und was dann ueber lange Jahre im Aufreiben mit der Staatsmacht immer mehr verschuettet
worden und verloren gegangen ist, angeeignet haben. Das betrifft die selbstkritische und moeglichst undogmatische Reflexio n unserer eigenen politischen Praxis; Offenheit gegenueber
anderen; den Kampf um relative Identitaet zwischen Denken und Handeln, um neue Inhalte und Formen der Beziehungen der Menschen untereinander, oder um die Aufhebung von
Strukturen, die Eigeninitiative und emanzipatorische Prozesse eher gelaehmt statt vorangebracht haben.
In dieser Auseinandersetzungen wurde uns klar, dass die Grenze, auf die wir mit unserem Kampf gestossen waren, nicht allein aus den weltweit veraenderten Bedingungen fuer
Befreiungskaempfe erklaert werden kann, sondern dass diese Grenze auch mit Fehlern von uns zusammenhaengt. Grundlegende politische Bestimmungen, wie die, dass sich unser Kampf
ueber lange Jahre fast ausschliesslich gegen die Strategien des Imperialismus und deren zentrale Bewegungen gerichtet hatte, haben sich als falsch erwiesen. Eine solch reduzierte
Bestimmung kann, wenn ueberhaupt, allenfalls fuer ein kurze Uebergangsphase richtig sein. Kaempfe, die langfristig an der Negation ausgerichtet sind, koennen auf Dauer keine
Mobilisierungskraft entwickeln - ihnen fehlt das Moment des Aufbaus.
Mobilisierungskraft und die Chance des Aufbaues einer relevanten Gegenmacht liegt nur im gleichzeitigen Aufbau einer politischen Kraft, die an der Realitaet im jeweiligen Land eine
gesellschaftliche Alternative zur kapitalistischen Ausrichtung formuliert und erkaempft. Und natuerlich gibt es auch hier unzaehlige Menschen, die spueren oder zumindest eine Ahnung
davon haben, dass sie in dem ihnen aufgezwungenen Gesellschaftsmodell nicht so leben koennen, dass sie in ihrem Leben Befriedigung und tieferen Sinn finden. Dass die Linke bisher die
Verbindung zu diesen Menschen, wenn ueberhaupt nur voruebergehend herstellen konnte, liegt daran, dass unsere Kaempfe nur selten ueber den Tellerrand des eigenen linken Ghettos
rausgegangen sind, also keine gesellschaftliche Relevanz erreicht haben. Wir brauchen hier den Aufbau einer Gegenkraft, einer emanzipatorischen Bewegung, die gegen den Irrsinn des
Kapitalismus, die Barbarei des globalen Marktes und die Verwertung von Mensch und Natur einen eigenen sozialen Sinn entwickelt und diesen an konkreten praktischen Fragen des
Alltagslebens durchsetzt. Erst im Aufbau einer solchen Kraft, im Kampf ums eigene Leben, wird internationale Solidaritaet hier neu entstehen. Aus den Anfaengen dieser Diskussion haben
wir 1990 - zoegerlich und schrittweise - angefangen, unsere Initiativen auch als Kraft fuer die unmittelbare Durchsetzung gesellschaftlich richtiger und sinnvoller Entwicklungen zu
bestimmen. Aber unser Kampf blieb isoliert. Eine gemeinsame Diskussion mit linken und fortschrittlichen Teilen der Gesellschaft darueber, die veraenderten Ausgangsbedingungen fiir
emanzipatorische Entwicklungen zu begreifen und eigene Vorstellungen zu entwickeln, kam nicht zustande. Aus diesen Erfahrungen und der Erkenntnis, dass wir auf viele Fragen keine
Antwort haben und allein weder finden koennen noch wollen, weil der Entwurf einer politischen Gesamtvorstellung nicht allein Sache einer Gruppe, eines kleinen politischen
Zusammenhanges wie der RAF sein kann, haben wir Anfang 92 die Entscheidung zur Zaesur getroffen. Fuer uns war es die Entscheidung, aktiv mit dem alten abzuschliessen und dabei
Subjekt zu bleiben.
Deshalb fanden wir die Vorwuerfe, wir wollten heim ins Reich, wie sie von Teilen der Linken gegen uns formuliert wurde, nur absurd. Darum ging es fuer niemanden von uns, sondern es
ging darum, Sinn und Ziel unseres Aufbruchs, des Aufbruchs jedes und jeder Einzelnen und genauso des Aufbruchs RAF ueberhaupt festzuhalten. Im Zentrum unserer Entscheidung fuer
diese Zaesur stand, dass wir aus unseren eigenen Erfahrungen und denen anderer revolutionaerer und fortschrittlicher Gruppen einen neuen Aufbruch fuer eine menschliche
Entwicklungsrichtung organisieren wollten. Deshalb hatten wir unsere Erklaerung vom April 92 mit dem Satz eingeleitet:
An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwuerdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann.
Es ging fuer uns um den Uebergang von einer Widerstandsform zu einer neuen. Dabei war uns wichtig, uns bewusst mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, um aus unseren
Staerken und Schwaechen der Vergangenheit Erkenntnisse fuer die Bestimmung zukuenftiger Kaempfe zu ziehen. Es ging also nicht einfach darum, etwas altes abzuschliessen, um etwas
neues anzufangen, sondern darum, dass aus unserer damals 22jaehrigen Anstrengung etwas bleibt, dass es Erfahrungen gibt, die wir bewusst mitnehmen wollen. Gegen den Staat
beinhaltete die Entscheidung zur Zaesur die Anstrengung um eine politische Loesung zu kaempfen, aus der fuer alle von uns ein Neuanfang moeglich ist. Nachtraeglich denke ich, es
waere in der Geschichte der RAF oefter notwendig gewesen, einen Schnitt zu machen. Jeder Kampf braucht die Atempause, braucht das Moment der Besinnung, der Ortsbestimmung,
auch im Zurueckgehen, um aus dieser Perspektive seinen eigenen Prozess neu zu verstehen. Dass wir das vorher nie gemacht haben, haengt zum einen mit einem reduzierten Verstaendnis
ueber politische bzw. revolutionaere Bewegungsablaeufe zusammen, aber das ist nicht alles. Die andere Seite ist, dass jede und jeder die Entscheidung, bewaffnet zu kaempfen, subjektiv
wie objektiv in einer historischen Situation getroffen hat, in der wir einem Feind gegenueberstanden, der ein bis dahin unbekanntes Zerstoerungspotential hatte und einzusetzen bereit war
und den es aufzuhalten galt. Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geaendert, denn die Feindschaft dieses Systems gegenueber den Menschen und der Natur ist strukturell und
solange seine Herrschaft fortdauert, wird es weltweit nie etwas anderes als Tod, Zerstoerung und Elend produzieren. Menschen, die fuer revolutionaere Umwaelzungen kaempfen,
brauchen ausser Utopien von einer zukuenftigen menschlichen Welt und der Bereitschaft, im Kampf fuer deren Errichtung alles zu geben, gleichzeitig auch einen kuehlen Kopf. Sie
duerfen sich und ihren Kampf nicht von immer neuen Verbrechen dieses Systems treiben lassen, sondern muessen bewusst immer wieder Phasen der Besinnung und Neubestimmung
einlegen - das ist vielleicht das allerschwerste. Die Krise des Kapitalismus, Massenarbeitslosigkeit, die keine voruebergehende Erscheinung ist, fuehrt in einem Land, dessen Kultur den
Lebenssinn von Menschen weitgehend aufArbeit, Leistung, Konsum und die Anhaeufung von Geld reduziert, zu Aufloesungserscheinungen in der Gesellschaft. Fuer viele Menschen
werden dadurch auch die letzten sozialen Kontakte abgeschnitten und ihre Vereinzelung noch weiter gesteigert. Das Lebensgefuehl vieler Jugendlicher ist Langeweile und immer mehr
Menschen fuehlen sich ihrer Lebensperspektive und ihres Lebensinhaltes beraubt oder sehen diese bedroht. Und auch die Freiheit zwischen Camel und Marlboro, ZDF und RTL, Kohl und
Scharping waehlen zu koennen, ersetzt nicht fehlenden Lebenssinn - zumindest nicht auf Dauer. Die unmittelbaren Auswirkungen dieser Aufloesungsprozesse sind bekannt, sie reichen
von der Eskalation von Gewalt ueber massenhaften Konsum verschiedenster Drogen bis hin zu Freizeitbeschaeftigungen wie S-Bahn-Surfing oder Extremsport, weil Menschen, die d ie
sinnliche Erfahrung, dass sie leben, in ihrem Alltag oft nicht mehr machen koennen, diese im Kitzel der Todesgefahr bei solchen Beschaeftigung erleben wollen.
In dieser gesamten Entwicklung liegen Gefahren, aber auch Moeglichkeiten. Die gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse und die Entwurzelung vieler Menschen fuehrt bei vielen, die aus
dem kapitalistischen Gesellschaftsmodell rausgeschmissen oder zumindest an den Rand gedraengt werden, zur Identitaets- und Lebenskrise. Die alten Muster sind weggebrochen und neue
sind noch nicht da. Es ist eine Art Leerstelle entstanden, die neu gefuellt werden muss und auch wird. Zur Zeit sieht alles danach aus, dass Linke und fortschrittliche Kreise in diesem Land
vor dieser Anstrengung kapitulieren und das Feld den Rechten von CDU bis Neonazis ueberlassen, die angefangen haben, es mit nationalistischer und rassistischer Ideologie zu fuellen.
Inhalte, die vor einigen Jahren noch am rechten politischen Rand angesiedelt waren, sind heute in die gesellschaftliche Mitte gerueckt - Menschen sollen ihre Identitaet zunehmend daraus
ableiten deutsch zu sein und weisse Haut zu haben. Und folgerichtig verurteilten Kohl und Kin kel die Verbrennungen tuerkischer Frauen und Kinder nicht mit ethisch-moralischen
Begruendungen, sondern damit, dass solche Angriffe den Profitinteressen deutscher Grosskonzerne im Weg stehen. Es sind dieselben Interessen, in deren Namen die Bundeswehr nicht
mehr verdeckt, sondern offen und offensiv zum Voelkermord und zur Auspluenderung anderer Laender eingesetzt werden kann. Was diese Entwicklung und das veraenderte Klima in
Deutschland fuer Menschen anderer Nationalitaet und Hautfarbe, die hier leben, bedeutet, schildert Mehmet Ramme, einer der tuerkischen AntifaschistInnen, die zur Zeit in Berlin vor
Gericht stehen, sehr eindruecklich in seiner Prozesserklaerung.
Wir sahen unser Leben in Gefahr, unsere Wuerde bedroht. Wir sahen, dass der deutsche Staat uns nicht schuetzt. Immer mehr von uns beschlossen, den eigenen Schutz selbst in die Hand
zu nehmen. (...) Wir haben ein Recht, uns zu wehren, ohne Beleidigung und ohne Angriffe auf unsere Gesundheit und unser Leben hier zu leben.
Seine Erklaerung endet mit den Saetzen: Nicht nur Skins und den organisierten Neonazis sollte der Prozess gemacht werden. Auch die im deutschen Staat und in der Politik, die durch ihr
Reden und Handeln in Deutschland dazu beigetragen haben, dass unser Leben bedroht und unsere Wuerde mit Fuessen getreten wurde, muessten vor Gerichte gestellt werden. Trotz dieser
Tendenzen und bedrohlichen Zukunftsperspektive ist ueber die zukuenfttige Entwicklung in diesem Land nicht entschieden. Diese Frage wird davon entschieden werden, ob das linke und
fortschrittliche Spektrum in der Gesellschaft aus seinertot-Stell-Haltung ausbricht und anfaengt, das eigene Ohnmachtsbewusstsein zu ueberwinden, um eine menschliche Zukunft zu
erkaempfen. Der Kapitalismus hat heute auf fast alle brennenden Fragen, die sich im nationalen und internationalen Rahmen stellen, keine Antworten. Diese fehlende Loesungskompetenz
in Bezug auf die heute aktuellen Menschheitsprobleme ist ihnen durchaus bewusst - ob Hunger oder der drohende oekologische Kollaps, sie haben keine Antworten, weil jeder
vernuenftige und menschlich sinnvolle Loesungsansatz den Profitinteressen der Konzerne zuwider laeuft und das Ueberleben des imperialistischen Systems in Frage stellt. Was laeuft, ist
knallhartes Krisenmanagment, das je nach Weltregion in der Schaerfe seiner Wirkung fuer die dort lebenden Menschen verschieden ist, aber ueberall die Lebensgrundlagen verschlechtert
oder ganz zerstoert. Die Bandbreite der Massnahmen ist gross. Hier sind es Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sozialabbau usw..In den armen Laendern im Trikont eskaliert es
beispielsweise in der sogenannten Bevoelkerungsplanung, die in ihren Auswirkungen systematischem Voelkermord gleichkommt, damit die Menschen, die morgen als Fluechtlinge oder
durch Befreiungskaempfe den Reichtum in den Metropolen bedrohen koennten, erst gar nicht geboren werden. Dagegen brauchen wir den Aufbau einer gesellschaftlichen Kraft, die gegen
diesen Wahnsinn aus Barbarei und Zerstoerung eigene Vorstellungen und soziale Inhalte formuliert. Es geht dabei einerseits um die Erstellung einer politischen Gesamtvorstellung und
zugleich um Basisarbeit, in der konkrete Schritte fiir die Loesung konkreter Probleme bestimmt und durchgesetzt werden. Das heisst natuerlich auch, sich die Loesungskompetenz fuer
Probleme der verschiedensten Bereiche anzueignen - das betrifft die Frage nach der Bestimmung und Gestaltung menschlich sinnvoller und Sozial nuetzlicher Arbeit genauso wie
beispielsweise oekologische Probleme oder die Gestaltung von Stadtvierteln. Eine Kraft, die hier gegen die Kapitalinteressen eine solche Entwicklungsrichtung durchsetzen kann, kann nur
von einer emanzipatorischen Bewegung entwickelt und aufgebaut werden; ich glaube, das ist eine der wichtigsten Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit, nicht nur denen der RAF,
sondern den Fehlern fast aller linken Gruppen. Emanzipatorische Entwicklungen haben in vielen politischen Zusammenhaengen ueber lange Zeit real nur eine untergeordnete Rolle gespielt
und darin liegt wohl eine der Ursachen fuer den derzeitigen desolaten und defensiven Zustand der Linken. Denn nur Menschen, die gelernt haben, frei und selbstbewusst zu denken und zu
handeln, halten auch in Zeiten wie diesen an ihren Zielen fest. Heute muessen alle von einem langfristigen Aneignungsprozess ausgehen, in dem soziale Gegenmacht aufgebaut wird. Fuer
eine emanzipatorische Bewegung wird es darum gehen, gegenkulturelles Bewusstsein zu entwickeln und gesellschaftlich durchzusetzen und sie muss in der Lage sein, undogmatisch und
schoepferisch ihren Weg zu suchen. Es wird darum gehen, gegen die Kultur des Todes dieses Systems eine Kultur des Lebens zu entwickeln, die jederzeit in den konkreten Zielsetzungen
unserer Kaempfe sichtbar wird.
Anfang 92 stand fuer uns fest, dass Eskalation solche Aufbauprozesse nicht voranbringt. Im Gegenteil, die Konfrontation zuzuspitzen, haette falsche Orientierungen gesetzt, denn
automatisch waeren unsere Initiativen wieder an der Negation ausgerichtet gewesen, weil es eine soziale Gegenbewegung, in die sie haetten eingebettet sein koennen, damals nicht gab und
auch heute hier nicht gibt. Allein die moralische Begruendung, dass es angesichts der Verbrechen dieses Systems gerechtfertigt ist, die Taeter zur Rechenschaft zu ziehen, ersetzt nicht
revolutionaere Bestimmung. Denn die wichtigste Frage, naemlich die, wie wir in einer veraenderten Welt eine menschliche Entwicklungsrichtung durchsetzen koennen, wird dadurch nicht
beantwortet. Aber genau darum geht es und deshalb haben wir 92 die Entscheidung zur Zaesur getroffen. Ein Genosse von den Tupamaros beschreibt die strategische Ausrichtung, die
unsere Kaempfe fuer die Umwaelzung der Verhaeltnisse heute haben muessen: Macht wird nicht erobert, sie wird aufgebaut. Die Linken und fortschrittlichen Teile dieser Gesellschaft
haben heute eine besondere historische Verantwortung - es ist unsere Aufgabe und Verantwortung nicht nur gegenueber uns, sondern auch gegenueber den Voelkern der Welt, zu
verhindern, dass zum dritten Mal in diesem Jahrhundert Krieg und Zerstoerung von unserem Land ausgeht. Es sah nicht nur danach aus, es gab 92 in Fraktionen der Macht die Einsicht,
dass nach Jahren ohne Fahndungserfolg und der Tatsache, dass sich die RAF, eben weil sie aus innergesellschaftlichen Konflikten kommt ueber mehr als 20 Jahre immer wieder erneuern
konnte, es eine militaerische Loesung dieses Problems fuer den Staat nicht gibt. Sie waren zu der Erkenntnis gekommen, dass es zu einer Entschaerfung im Verhaeltnis RAF - Staat nur
kommen kann, wenn sie bereit sind, politisch auf uns einzugehen. Was Kinkel gemacht hat, war nicht einfach nur ein Trick. Natuerlich war es nie etwas anderes als der Versuch, einen
Gewinn fiir den Staat zu erzielen, aber wessen Seite politisch am meisten fuer sich rausgeholt haette das haette nur ein entschlossener Kampfprozess darum herausfinden koennen.
Abgebrochen wurde diese Bereitschaft, auf uns politisch einzugehen, nachdem sich mit Steinmetz die Chance fuer einen militaerischen Schlag gegen uns aufgetan hatte. Hier setzten sich
die wieder durch, fuer die alles andere als ein militaerischer Sieg und die Vernichtung von Fundamentalopposition unertraeglich ist. Wieder einmal hat der verengte Polizeiblick die Politik
bestimmt. Der Mord an Wolfgang war politisch nicht geplant, haetten sie das gewollt, waere ihnen das in der Bahnhofsunterfuehrung ein leichtes und ohne Zeugen moeglich gewesen.
Aber dieser Mord ist spaeter durch Kanther und Kohl von der Politik uebernommen worden. Sie wissen, was gelaufen ist. Seiters ist zurueckgetreten, weil er von einer Hinrichtung ausging
und wusste, dass das zu politischen Erschuetterungen auch international fuehren kann. Das brauchte eine klare Konsequenz, nachdem sich durch oeffentliche Falschangaben der BAW und
systematische Spurenvernichtung gezeigt hat, dass der Apparat diese Tat reflexartig vertuscht und gar ni cht daran denkt, die Wahrheit zuzulassen. Kanther ist gekommen und hat den Mord
in den politischen Staatshaushalt uebernommen. Aus der Staatskrise und der Krise der Apparate hat er einen Machtzuwachs fuer das Innenministerium organisiert. Er hat die Stunde
genutzt, um die Verpolizeilichung der Innenpolitik voranzutreiben. Seine Disziplinierung des Apparats - vor dem sich Seiters machtlos fand - hatte nicht den Zweck, in Zukunft
Mordaktionen zu verhindern, sondern sie hatte den Zweck sicherzustellen, das zukuenftig solche Aktionen der politischen Fuehrung und Bestimmung des Innenministeriums unterliegen.
Nicht der Mord war das Problem, das Problem war, dass untere Chargen eigenstaendig und unkontrolliert darueber entscheiden und damit Folgen bis hin zur Staatskrise lostreten. Kanther
hat sich hinter diese Aktion gestellt, weil er ueber die Option verfuegen will. Deswegen konnte auch niemand von der eingesetzten GSG 9 Gruppe belangt werden, wurde nur die Struktur
in den Fuehrungsetagen umgruppiert und besuchte Kohl schliesslich seine Moerdertruppe in der gleichen Absicht, in der frueher der Henker zu Staatsveranstaltungen eingeladen wurde: um
sich hinter sie zu stellen und zu sagen, dass die Politik sie decken wird. Was vorher eine Einzelaktion war, gehoert nun zur organisierten verfuegbaren Potenz des Innenministeriums. Die
alte deutsche Tradition von auf der Flucht erschossen wird ergaenzt um die Variante Selbstmord bei Verhaftung. Solche Aktionen kennt die Welt der Gegenwart unter anderem von der
britischen SAS oder den tuerkischen Militaers. Der Staat schafft sich fuer die Zukunft seine extralegalen Apparate und damit ist nichts weniger gelegt als die Kernstruktur fuer abrufbare
Todesschwadrone. Wieweit diese Rolle heute schon im Apparat, also im Bewusstsein von Mitgliedern zum Beispiel solcher Spezialeinheiten wie der GSG 9 verankert ist, zeigt die
Tatsache, dass sie sich in Bad Kleinen durch die Oeffentlichkeit, also die Zeuginnen und Zeugen, die die Hinrichtung von Wolfgang beobachten konnten, nicht stoeren liessen. Der
Corpsgeist solcher Spezialeinheiten verlangt von ihren Mitgliedern, dass sie im Fall des Todes einer ihrer Leute denjenigen toeten, der aus ihrer Sicht dafuer verantwortlich ist: in Bad
Kleinen war es vermutlich der Rudelfuehrer, der Wolfgang erschossen hat - dafuer sprechen zurnindest viele Indizien. Dieser Corpsgeist ist auch der Politik bekannt. Die Killer haben
darauf vertraut, dass sie gedeckt werden und sie wurden gedeckt. Und auch der Polizist, der ein Jahr spaeter Halim Dener, einen kurdischen Jugendlichen, der in Hannover Plakate geklebt
hatte, durch einen Schuss in den Ruecken ermordet hat, kann sich der Rueckendeckung durch die Politik sicher sein.
Diese Struktur, die inzwischen laengst hinter den heute noch nuetzlichen rechtsstaatlichen Fassaden lauert, sollte Jede/r registrieren, auch die, die zu diesem Staat stehen und deren
Gesellschaftsutopie ein reformierter Kapitalismus ist. Hinter der Fassade organisiert sich schon laengst wieder die neue staatliche Barbarei.
Wir haben eine Entwicklung in eine andere Richtung gewollt. Deshalb kam 92 unser politischer Versuch, der dann gegen diese militaerische Linie aufgelaufen ist. Fuer uns hat sich viel
veraendert. Der Bruch in den eigenen Reihen und die Unfaehigkeit, eine politische Spannung auszuhalten, haben die in Apparat und Politik gestaerkt, die ihre Vernichtungsphantasien
befriedigt sehen wollen. Wir sehen das ganz nuechtern - aber wir wussten auch von vornherein, dass der Kampf so enden kann. Insoweit haben wir nichts zu verlieren. Wer das weiss, hat
auch seine Ruhe vor dem, was kornmen kann und versucht, sich trotzdem dagegen zu stellen.
Der Kampf fuer eine menschliche Zukunft, fiir eine Welt ohne Herrschaft, in der Menschen frei und nach ihren eigenen Bestimmungen leben koennen, steht nach wie vor auf der
Tagesordnung. Die Umkehrung der gesellschaftlichen Entwicklung ist also das, worum gekaempft werden muss. Die, die denken, sie haetten uns in der Sackgasse, sollten sich nicht zu
frueh freuen. Sie sollten wissen, dass wir um uns selbst kaempfen werden. Es wird keine Rueckkehr zur alten Strategie als politisches Konzept geben, aber wir haben unser Recht auf
Selbstverteidigung. Ich glaube nicht, dass wir nun widerstandslos unserer Vernichtung zusehen und ich moechte, dass sich alle ueber unsere Zukunft Gedanken machen.

Isolation Erklaerung Birgits zu ihren Haftbedingungen vom 22.11.94

Am letzten Verhandlungstag hat meine Rechtsanwaeltin den Ausfuehrungen der Bundesanwaltschaft zu meinen Haftbedingungen Fakten entgegengehalten, die die reale Situation
widerspiegeln sollten. Es waren Fakten ueber die Transportdauer von Briefen, ueber Besuchsbedingungen mit Trennscheibe, ueber die Anzahl der Monate, in denen ich 24 Std. taeglich
allein gewesen bin usw. - diese Fakten stimmen zwar alle, aber ich habe den Eindruck oder besser das Gefuehl, dass so die Realitaet, die Isolationshaft ist, nicht wiedergegeben werden
kann. Als der Vertreter der Bundesanwaltschaft einen Brief von mir an meine Mutter vorgelesen hat, in dem ich ueber den auf reichem Standard organisierten Knast in Laendern wie
Deutschland geschrieben habe, habe ich mir einige Gesichter in der ersten Reihe, also von Journalistinnen und Journalisten, angeschaut. Ich hatte zum Teil den Eindruck, dass das, was die
Bundesanwaltschaft mit der Verlesung all meiner Besitztuemer in der Gefaengniszelle bezwecken wollte, naemlich dass Leut e den Vergleich anstellen, mit dem was sie selber haben,
aufgegangen ist. Und es stimmt ja auch, vom Fernseher bis zur Querfloete ist alles da, auch 20 Buecher habe ich in der Zelle und auch 2 Tageszeitungen und mehrere Zeitschriften. Und
wenn Sie, Herr Hemberger, dazu anmerken, dass kaum ein Mensch dazu kommt, soviel zu lesen - das sind dann wohl schon die besonderen Vorzuege und Privilegien von Menschen in
Einzelhaft, die frei ueber unbegrenzt viel Zeit verfuegen, naja, das ist Zynismus von der eher platten Sorte. Aber was sagt all das, was sagt die Aufzaehlung all dieser Gegenstaende ueber
Isolationshaft aus? - nichts, oder zumindest nicht sehr viel.

Ich merke immer, wenn ich versuchen will, anderen Menschen Isolation ihreWirkung, zu erklaeren, kommt mir das sofort unmoeglich vor. Oft beschreibe ich dann einzelne Ereignisse, die
eine Steigerung oder Totalisierung darstellen, aber nie die Isolationswirkung selbst. Oder ich beschreibe den Rahmen - 24 bzw. 23 Stunden ueber einen Zeitraum von mehr als einem Jahr
in einer 8 m2 Zelle mit Blick auf eine Betonmauer allein zu sein, aber was sagt das, gut, viele tausende Stunden allein-sein - aber das erklaert auch nichts, oder es weckt Assoziationen in
eine falsche Richtung. Beispielsweise, dass einem dann die Decke auf den Kopf faellt, dass man es in dieser Zelle nicht laenger auszuhalten glaubt.Das gibt es sicherlich auch, aber bei mir
war das nie der Fall, ich habe mich auch nie gelangweilt, sicher auch wegen der ganzen Sachen, die ich habe, ich hatte Moeglichkeiten und kann mich ganz gut alleine sinnvoll
beschaeftigen, das war nie mein Problem. Nein, Isolation ist was anderes, Isolation ist und wirkt darueber, dass du nie mit anderen Menschen zusammensein kannst, dass du immer nur mit
dir selber zusammen bist - z. B. realisieren doch Menschen ihre Stimmungen und Gefuehle fast immer in und durch andere Menschen, du brauchst den Mitmensch, um dich selbst als
Mensch zu realisieren. In Isolation laeuft jede Stimmung ins Leere, ob du gut gelaunt bist oder wuetend oder unheimlich traurig, du kannst immer mit all dem nirgends hin, das heisst, du
kannst das nicht leben. Und das bedeutet, all das bleibt immer in dir drin - du bist und sollst das auch, in dir eingeschlossen sein und werden. Der Kampf, den Menschen in Isolationshaft
um ihr Leben und Ueberleben fuehren, ist v. a. ein Kampf darum, das immer wieder zu durchbrechen, also dieses Eingeschlossensein in einem selber. Fuer mich war es so, dass ich mir in
dieser Zeit immer mehr die Sprache als Ausdrucksmoeglichkeit angeeignet habe, vor allem die Trauer um den Tod meines Freundes, habe ich in erster Linie in Gedichten ausdruecken
koennen. Solche Gedichte zu schreiben, ist sicherlich nur ein sehr reduzierter Ersatz fuer Gespraeche und das Zusammensein und die Naehe mit vertrauten Menschen, gerade in einer
solchen Situation, aber fuer mich war es wie ein Rettungsanker. Ich habe monatelang Gedichte geschrieben ueber den Verlust, meine Trauer, meine Gefuehle, aber auch ueber
abgeschnittene Haende und ueber Obduktionsbilder, die mir die Bundesanwaltschaft hat zuschicken lassen, auf denen der Koerper von Wolfgang Grams aufgehaengt abgebildet und seine
Kopfhaut abgezogen ist. Haette ich in dieser Zeit die Sprache als Ausdrucksmoeglichkeit fuer meine innersten Gefuehle nicht gefunden bzw. entdeckt, ich glaube, dass die ganze Zeit sehr
viel schwererund mit sehr viel tiefergehenden Wirkungen gewesen waere. Und da kommen Sie hier mit Fernsehgeraet und aehnlichem an. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern,
an dem ich das TV-Geraet gekriegt habe, es war der Tag von Wolfgangs Beerdigung und die allerer ste Sendung, die ich gesehen habe, war eine Nachrichtensendung in der Bilder von der
Beerdigung gezeigt wurden - an der im uebrigen Sie mich nicht haben teilnehmen lassen. Der Sarg, seine Eltern, meine Familie, alte Freunde - und ueber diese und ueber tausend andere
aufwuehlende Situationen konnte ich nie mit einem anderen Menschen reden, all das musste ich immer mit mir allein ausmachen d a s ist Isolation und genau das soll sie sein.

Ich hatte mal dazu geschrieben: du sollst dich soweit in dich selber zurueckziehen, dass du den Zugang zu dir verlierst - du sollst an dir selber, an deinen eigenen Gefuehlen, die nie nach
aussen dringen sollen, ersticken. Das ist die Methode Isolationshaft, und es geht auch noch weiter, als das Abschneiden von den direkten menschlichen Kontakten - diese lange Postdauer
ist einerseits natuerlich Be- bzw. Verhinderung von politischerDiskussion, aber sie ist auch dafuer da, alles lebendige, was ja auch in einem brieflichen Kontakt stattfinden kann, abzutoeten.
Woran das Programm, also dass es darum geht, die Gefuehle in einem Menschen einzusperren, auch deutlich wird, ist die Sache mit dem Musikinstrument. Es handelt sich dabei um eine
Querfloete und als ich die gekriegt habe, war ich Anfaengerin und konnte darauf keinen einzigen Ton spielen. Seit unmittelbar nach meiner Verhaftung laufen Antraege fuer ein Keyboard,
das sind diese elektronischen Orgeln, und dass ich Orgel-spielen kann, ist der Bundesa nwaltschaft bekannt. Sie haben mit waehrend der ganzen Zeit in Isolation diesen Antrag wegen des
Keyboards nicht genehmigt, weil ihnen klar ist, dass das dem Isolationsgrundsatz zuwidergelaufen waere, naemlich Menschen ihrer Ausdrucksmoeglichkeiten und Gefuehlsaeusserungen
soweit als moeglich zu berauben. Fuer einen Mensch wie mich ist es moeglich, mich/meine Gefuehle durch Musik auszudruecken - ich haette Gefuehle der Trauer im Spielen von Bach-
Fugen ausdruecken und nach aussen bringen koennen und genau deshalb wurde mir so ein Geraet nicht genehmigt. Stattdessen die Floete, von der bekannt war, dass ich das erst lernen
muss - mir eine Floete anstatt des Keyboards zu genehmigen kommt mir aehnlich vor, wie einem Verdurstenden Milchpulver zu geben - der weiss dann immer, dass es Milch gibt und es in
seiner Situation gut waere, die zu haben.

Isolation war fuer mich nicht dieses dumpf-Erdrueckende, wie man sich das vielleicht vorstellt - Isolation ist eine Folter, die auf Langzeitwirkung ausgelegt ist - also die koerperlichen
Symptome beispielsweise treten nicht sofort auf. Isolation ist fuer einen selber ziemlich schwer zu verstehen - das was ich befuerchtet hatte, dass ich mich sehr oft allein fuehle, dass mir die
Decke auf den Kopf faellt, dass ich nichts mit der ganzen Zeit anzufangen weiss, all das ist nicht eingetreten.

Das liegt sicherlich auch mit daran, dass es fuer mich ueber lange Jahre klar war, dass das nach einer Verhaftung, falls ich sie ueberlebe, kommen wuerde; fuer Menschen, die voellig
unvorbereitet in eine solche Situation kommen, ist es vermutlich ganz anders. Zum Prinzip von Isolation gehoert auch, Menschen moeglichst umfassend aller sinnlichen Wahrnehmungen
zu berauben - das faengt bei der Zelle an (die einzigen Farben, die darin vorkamen, waren gruen und weiss - das haben sie wirklich bis zum Zahnbecher durchgezogen und auch alle
Sachen, die ich mir selber gekauft habe, was ja nur ueber den Knast ging, waren gruen oder weiss). Um mich rum waren alle Zellen leer und in Bielefeld war mir ueber mehrere Tage nicht
klar, ob ich in einem Trakt und dort die einzige Gefangene bin, oder ob da noch andere Menschen sind - also die Zelle und weil eben alles drumrum leergeraeumt war, war relativ
geraeuschisoliert. Ausser der Isolierung von anderen Menschen war es auch eine weitgehende Reduzierung visueller und akustischer Reize und auch eine der Gerueche, denn die kommen
da ja auch ganz wenig nur noch vor. Also die wichtigsten menschlichen Sinneswahrnehmungen sollen soweit als moeglich reduziert werden. Ich kenne mich kaum mit biologischen Fragen
aus, aber offensic htlich reagieren die Sinnesorgane von Menschen im Fall einer weitgehend eingeschraenkten Wahrnehmungswelt so, dass sich ihre Wahrnehmungsfaehigkeit total steigert.
Es findet eine unglaubliche Sensibilisierung statt, um wirklich nichts von dem, was in dieser reduzierten Welt noch wahrnehmbar ist, zu verpassen und um Dinge wahrnehmen zu lernen,
die vorher nicht wahrgenommen worden sind. Ich will das mal am Beispiel des Geruchssinns versuchen zu verdeutlichen, weil mir das selber schon teilweise verrueckt vorgekommen ist,
so hat sich das gesteigert. Mein Geruchssinn hatte sich nach etwa einem halben Jahr in Isolation so geschaerft, dass ich es vermutlich mit jedem Zollhund haette aufnehmen koennen. An
Tagen, an denen ich Anwaltsbesuch hatte, wurde haeufig die Zelle durchsucht. Wenn ich dann, oft Stunden nach der Durchsuchung und obwohl das Zellenfenster immer einen Spalt offen
war, wieder in die Zelle gekommen bin, wusste ich fast immer, wer von den SchliesserInnen die Zelle durchsucht hatte und man chmal war es mir sogar moeglich, herauszufinden, welche
Sachen sie dabei laenger in den Haenden hatten - einmal wusste ich beispielsweise bei einem Pappordner mit eingehefteten Papieren ganz genau, dass und von wem er durchwuehlt
worden war - ich konnte es erriechen. Das hoert sich vielleicht jetzt ganz witzig und durchaus praktisch an, ist es in dem Fall ja auch, aber die oder eine Wirkung von Isolation und warum
Isolation Folter ist, ist die, dass bei Menschen, deren Sinneswahrnehmungen systematisch gesteigert, auf ein solch ueberhoehtes Mass gesteigert werden, jedes 'Normalmass', zu einem Reiz
und einer Wahrnehmung wird, die einem unertraeglich, bis hin zur Schmerzgrenze unertraeglich ist. Auch das will ich noch mal am Geruchssinn zu erklaeren versuchen - als mir das mit
den reduzierten Geruechen aufgefallen war, hatte ich ueberlegt, dass ich mir Gerueche in die Zelle hole und habe einem Freund geschrieben, er soll auf den naechsten Brief an mich einige
Tropfen Patschulioel traeufeln. Als ich den Brief, der bei dieser rigiden Postzensur lange unterwegs war, endlich hatte, fand ich das zuerst ganz schoen, ich konnte mich an dem Geruch
nicht sattriechen (der zu dieser Zeit wahrscheinlich schon so weit verflogen war, dass ein normaler Mensch ihn wohl schon nicht mehr gerochen haette). Aber schon nach kurzer Zeit
konnte ich diesen Brief kaum noch in der Zelle ertragen und habe ueberlegt, ob ich ihn verbrennen soll. Das habe ich dann nicht gemacht, sondern ich habe ihn in Plastiktueten verpackt in
die hintereste Ecke vom Schrank gelegt, das ging dann.

Das Prinzip ist also, dass die Sinne durch den Reizentzug ins unermessliche gesteigert werden und darauf folgt, dass in dem Moment, wo ein Mensch wieder von einem normalen oder
breiten Band von sinnlich Wahrnehmbarem umgeben ist, das unertraeglich ist. Ich war insgesamt mehr als 13 Monate in Einzelhaft und danach gab es in Bielefeld ueber mehrere Wochen
geringe Lockerungen - diese ganze Zeit in Isolation, auch die Monate, in denen ich 24 Stunden in der Zelle eingesperrt war und nicht mal Hofgang hatte, diese Zeit habe ich nie als
unertraeglich empfunden - als schwer ja, das auf jeden Fall, aber auszuhalten und trotzdem fuer mich selber einen Lebenssinn auch in diesem reduzierten Rahmen zu finden. Als wirklich
unertraeglich, auch im Sinn von koerperlichem Schmerz, habe ich nur eine ganz kurze Zeit erlebt und empfunden und das war die allererste Zeit hier in Frankfurt. Der Bundesanwaltschaft
sind natuerlich die Ergebnisse jahrelanger Isolations- bzw. Folterforschung bekannt und so kam ich hier in den Normalvollzug und in eine Zelle mit einer Baustelle vorm Fenster, wo
mehrere Wochen 8 Stunden taeglich ein Bagger im Einsatz war und dazu in die lauteste Zelle auf der ganzen Station. Das war eine Situation, die vermutlich jeden Menschen genervt haette,
fuer mich war sie kaum auszuhalten - wahrscheinlich wuerden es andere Menschen aehnlich empfinden, wenn sie gezwungen waeren, am Rand des Rollfelds eines Flughafens zu leben.
Mittlerweile ist das anders, meine Sinne haben sich wieder Richtung Normalmass zurueckgebildet, aber gerade daran, dass ich die Zeit unmittelbar nach der Isolation als die schlimmste
wahrgenommen habe, wurde mir selber die Wirkungsweise noch mal sehr viel deutlicher. Jean Amery schreibt in seinem Versuch, seine Auschwitz-Erfahrungen zu verarbeiten, dass
Menschen, die gefoltert werden, diejenigen die sie foltern als 'Gegenmensch' wahrnehmen. In Isolation bist du von einer unglaublichen Kaelte umgeben (bis auf das wenige, was durch
Briefe oder Besuche diese Mauer durchdringt) und du erwartest von denen, die das organisieren, nichts als Gemeinheiten und staendig neue Schlaege - und genau das entspricht auch der
Realitaet. Diese Haltung, diese Erwartung hatte ich vom Tag meiner Verhaftung an und ich kann sagen, es ist in der ganzen Zeit nur selten etwas passiert, was diese Erwartungen nicht
entsprochen haette. Gerade auch das Niveau, auf dem in Bielefeld die Isolation gegen mich trotz unglaublich hohem Arbeitsaufwand exzessiv durchgesetzt wurde - von der Knastleitung
bis dahin dass die untersten Schliesserinnen, wenn ich am Fenster mit anderen Gefangenen ueber groessere Entferung gerufen habe, in den leeren Zellen dazwischen die Fenster geoeffnet
und Radio angeste llt haben, um zwischen uns eine Geraeuschkulisse zu schaffen, dass selbst das Reden am Fenster nicht mehr moeglich war. Ein Mensch, der das und nichts anderes als
unmittelbare Lebens- und Umwelterfahrung ueber Monate erlebt, der Mitmenschen eben vor allem als Gegenmenschen erlebt, dem bleibt gar nichts anderes uebrig, als sich in sich selber
zurueckzuziehen, Mauern um sich zu errichten, denn du kannst nicht all diese Schlaege bis in dein Innerstes durchhaun lassen, das haelt kein Mensch aus; du musst dich davor schuetzen.
Ich selber habe die Wirkungen der Isolation auf mich immer dann am deutlichsten gespuert und auch verstanden, wenn Dinge passiert sind, die das Isolationsprogranm durchbrochen
haben. Wenn Situationen eintreten, in denen du unvorbereitet auf normale und eben nicht gegenmenschliche Umgehensweisen triffst, wird das in einer solchen Lebenssituation durchaus als
schmerzhaft erfahren, weil dadurch was aufgerissen wird. Ich kann mich z. B. erinnern, dass ich im Sommer von einem Arzt untersucht worden bin, der sich mir gegenueber voellig normal
verhielt; es war eigentlich nicht mehr, als dass er mich nicht entwuerdigend behandelt hat und das war angesichts meiner Lebenssituation ein wirklich herausstechendes Ereignis. Allein die
Tatsache, dass entgegen der staendigen Realitaet keinerlei Entwuerdigung stattgefunden hat, hat mich unglaublich aufgewuehlt und beschaeftigt. Schon seit einiger Zeit spuere ich, dass ich
mich mal ganz in Ruhe mit der Zeit, die ich in Isolationshaft gewesen bin, beschaeftigen will und muss; ich spuere, dass das alles fuer mich noch lange nicht abgeschlossen ist, dass ich
vieles noch nicht oder noch nicht vollstaendig verstehe und begriffen habe und oft ueber Beschreibungen nicht rauskomme. Das liegt auch daran, dass es ueber Isolation und ihre
Wirkungen bisher nur sehr wenige aufgearbeitete Erfahrungen von Betroffenen gibt. Deshalb habe ich im letzten Jahr sehr viele Buecher von Mensche gelesen, die anderen Formen der
Folter ausgesetzt waren - von KZ-Haeftlingen zb oder von Gefangenen aus lateinamerikanischen Laendern, eben immer auf der Suche, in €hnlichkeiten oder Beschreibungen, an denen
mir Unterschiede deutlich werden, meine eigene Situation besser begreifen zu koennen. Jetzt, wo ich diese Anfaenge hier angefangen habe aufzuschreiben, habe ich an meinem eigenen
aufgewuehlt-sein gemerkt, wie wenig fertig das alles fuer mich ist. Wahrscheinl ich liegt darin schon ein wesentlicher Fehler: fertig-sein - die Vorstellung, und die hatte ich bis vor kurzem,
ich koennte diese Zeit als Phase meines Lebens jetzt bald abschliessen, muss ich vermutlich grundsaetzlich in Frage stellen. Oder anders, hinterlassen 13 Monate Einzelhaft in einem
Menschen Spuren, die er fuer den Rest seines Lebens in sich traegt ? Amery hat auch geschrieben: wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unausloeschlich ist die Folter in ihn eingebrannt,
auch dann, wenn keine klinisch objektiven Spuren nachzuweisen sind. Wenn er damit recht hat, trifft das auch auf Menschen zu, die Isolationsfolter unterworfen waren ? und wenn ja, was
heisst das fuer mich? Wenn mich jemand fragen wuerde, ob ich mich als FolterOpfer fuehle, wuerde ich das nicht unbedingt bejahen - bei anderen ja, bei mir selber nicht, denn ich will das
nicht sein, nicht in der Konsequenz die Amery behauptet; ich will das abschliessen und hinter mir lassen. Am letzten Prozesstag war ein Genosse von den Tupamaros i m Gerichtssaal - er
hat mir einen Gruss ausrichten lassen und im Gespraech einen Satz gesagt, der mich seitdem nicht in Ruhe laesst: 'sie kann Blicke nicht halten, sie kann andere Menschen nicht lange
anschauen - das ist bei Leuten, die laengere Zeit in Isolation waren immer so, das war bei uns in Uruguay auch so'. Mir sind sofort x Gruende eingefallen, warum das nicht stimmt, dass das
hier im Gerichtssaal bloss deshalb so ist, weil ich mir wie ein Zootier vorkomme, dass ich beobachtet werde und dass, wenn ich mir in der Nase bohre, das am naechsten Tag in den
Zeitungen nachzulesen ist. Aber das alles ist Quatsch, schon an der Schnelligkeit und der Gereiztheit meiner Gegenargumente war mir das schnell klar; es stimmt, ich kann andere nicht
lange anschauen. Solche Wirkungen von Isolation bei sich selber zu beobachten, hat natuerlich auch was Bedrohliches - was kommt da noch alles, von dem ich heute noch nichts weiss?
Und vor allem, was wird bleiben? Gibt es Zerstoerungen, die ich Zeit meines Lebens n icht mehr los werde? Werde ich ueberhaupt jemals wieder faehig sein, intensive Beziehungen mit
anderen Menschen zu leben, oder wird ein Teil von mir eingesperrt bleiben? Ueber all diese Fragen weiss ich heute noch nichts, kann ich auch nicht wissen, weil ich ein Leben fuehre, in
dem unkontrolliertes Zusammensein nur mit Menschen moeglich ist, die staendig wechseln, also sich von daher keine intensive Beziehung entwickeln kann.

Das waren ja jetzt alles nur Bruchstuecke - erst weniges von mir vollstaendig begriffen und viele unbeantwortete Fragen; aber es sind Bruchstuecke und Fragen, die den Kern von
Isolationsfolter und ihrer Wirkung gegen Menschen betreffen. Die Aufzaehlung von Fernsehgeraeten, Querfloeten und Buechern beruehrt diesen Kern nicht; das ist logisch, denn es ist die
Bundesanwaltschaft die seit mehr als 22 Jahren diese Sorte Haftbedingungen gegen uns organisiert und die genauso lange schon behauptet, es wuerde sich dabei um die humansten
Haftbedingungen der Welt handeln.

Hinweise auf Veroeffentlichungen und Initiativen im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Birgit Hogefeld * Die AG Geschichte aus Hannover hat einen Text zum Prozess geschrieben,
in dem zu den Aktionen, wegen derer Birgit angeklagt ist, jewseils knapp umrissen wird, in welchem Zusammenhang und vor welchen Hintergrund diese stattfanden. (Interim Nr. 302 /
AG Geschichte, Infoladen, Kornstr. 28-30, 30167 Hannover) * Im Rhein-Main-Gebiet erschien ein Plakat zum Prozess (leider vergriffen). * Die Tageszeitung "Junge Welt" ist am ersten
Prozesstag (15.11.) mit einem 8-seitigen Dossier zum Prozess erschienen. Es enthaelt neben Informationen und Kommentaren zum Prozess auch einen Bericht von einem Besuch bei Birgit
und einen Brief von ihr. * Ein laengeres Papier erschien von "Kein Friede" in Frankfurt/M unter dem TitelGlaubt den Luegen der Moerder nicht!. Darin wird entwickelt, dass es im Prozess
gegen Birgit Hogefeld um eine ganze Phase politischer Kaempfe (nicht nur der RAF) geht. Die Angriffe gegen die US-Airbase, Tietmeyer und Weiterstadt; die Revolutionaere Front und
Bad Kleinen sind Stationen einer Entwicklung, die mit der heutigen Lage der (...) Linken in diesem Land eng verknuepft sind Weiter geht das Papier auf das linksradikale Schweigen zu
Bad Kleinen ein und reisst die Steinmetzchen Folgeverfahren an. Die oeffentliche Sprachlosigkeit ueber die eigene Geschichte, politische Verweicklung und Verantwortung, sowie die
daraus zu ziehenden Konsequenzen, vereinfachen es den Justizbehoerden, politische Vorgaenge kriminalistisch zu handhaben. * Von "Kein Friede" gibt es auch eine Broschuere., die sich
mit Bad Kleinen, Steinmetz und dem Bruch in der RAF auseinandersetzt: Die Niederlage der RAF ist eine Niederlage der Linken, 100 Seiten, DM 5.- plus Versand, Bestelladresse: AWI
1992 c/o 3.Welt-Haus, Westerbachstr. 40, 60489 Frankfurt. * Eine fragmentarische Aufarbeitung zu Steinmetz erschien auch in Saarbruecken. Die politische Defensive der radikalen und
revolutionaeren Linken, der Zerfall ihrer Strukturen und das Loslassen erkaempfter Kriterien sind der Boden, auf dem Steinmetz gedeihen konnte. Die Stichworte hierzu sind :
Individualisierung, Entpolitisierung, technisches Rangehen und informelle Strukturen.(...) Wir wollen mit dazu beitragen, den unertraeglichen Zustand des Schweigens zu brechen. Like a
rolling stone..., Hrsg.: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken, DM 2.- plus Porto. * Bei der Pressegruppe c/o Infoladen Bambule, Schoenhauser Allee 21,
10435 Berlin kann ein Pressespiegel zu Bad Kleinen bestellt werden. Er umfasst den Zeitraum von 29.6.93 bis 20.3.94. 164 S., 10 DM in Scheinen im Voraus * Das im Oktober 94
erschienene Buch Bad Kleinen und die Erschiessung von Wolfgang Grams ist eine umfassende Dokumentation der "Todesumstaende" von Wolfgang Grams. Aus der detaillierten
Rekonstruktion der Vorgaenge vor, in und nach Bad Kleinen ergibt sich nicht nur, dass Wolfgang Grams ermordet wurde, sondern auch, dass dieser Mord nicht mit einem Ausraster eines
einzelnen, dem Corpsgeist verpflichteten Elitebullen erklaert werden kann. Das Buch enthaelt ausserdem zahlreiche Beitraege mit Hintergrundinformationen z.B. zur Kontinuitaet der
Todesschussfahndung in der BRD seit Anfang der 70ier Jahre, zur Funktion der angeblichen Objektivitaet von wissenschaftlichen Gutachten, zur veroeffentlichten Meinung der
bundesdeutschen Chef-Kolummnisten, zur KGT... Weitere Schwerpunkte sind die Auseinandersetzung um den Spitzel Klaus Steinmetz und die staatliche Repression, insbesondere der
Prozess gegen Birgit Hogefeld. Edition ID-Archiv, 320 S., DM 29.80

Naechste Prozesstermine

immer Dienstags und Donnerstags Einlass 8 Uhr 30, Beginn 9 Uhr

6.12. - 8. 12. - 13. 12. - 15.12. - 20. 12. ( 23. 12.) - 3. 1. - 5. 1. - 10. 1. - 12. 1. - 17.1. - 30.1-

Technics zum Prozess-Info

Das Prozessinfo wird in Wiesbaden gemacht.


Zuschriften gehen an die Adresse: Info-AG zum Prozess gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden. Das Telefon ist mittwochs von 17 bis 19 Uhr und freitags von 18 bis 20
Uhr besetzt: 0611 / 44 06 64. Info: Ueber das Telefon kann auch erfragt werden, welche Punkte bei den folgenden Prozessterminen anstehen - soweit das vorher bekannt ist
-.Besuchsplanungen von groesseren BesucherInnengruppen sollten ueber das Telefon koordiniert werden. Der Vertrieb des Prozessinfos ist bisher nur vorlaeufig organisiert. Eine zentrale
oder mehrere dezentrale Vertriebsgruppen werden noch gesucht. Die Nr. 1 wird wie folgt verbreitet: * Hamburg / Hannover / Luebeck / Kiel / Bremen: ueber Privatpersonen, in Infolaeden
usw. nachfragen * Berlin / Ex-DDR: Fuer die Freiheit der politischen Gefangenen, c/o Rote Saege, Falckensteinstr.. 46, 10997 Berlin * Heidelberg / Mannheim: ueber Privatpersonen, in
Infolaeden usw. nachfragen * Stuttgart: Infobuero fuer polit. Gefangene, Moerickestr. 69, 70199 Stuttgart * Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken *
Bayern: Infobuero c/o Buecherkiste, Schlehengasse 6, 90402 Nuernberg Regionale WeiterverteilerInnen, die auch hier in der Liste als Verteilstellen aufgefuehrt werden wollen, koennen
sich in Wiesbaden melden und erhalten ein kopierfaehiges Exemplar. Einzelversendungen koennen von Wiesbaden aus nicht erfolgen.

Prozess-Spendenkonto

Da sowohl die Kosten im Todesermittlungsverfahrens zum Nachteil Wolfgang Grams sowie die Kosten des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld von den Angehoerlgen alleine nicht getragen
werden koennen, sind Spenden dringend notwendig: Spendenkonto: Sonderkonto V. Luley, Bad Kleinen Postgiroamt Frankfurt, BLZ 50010060, Kto.-Nr. 16072-603

info zum prozess gegen birgit hogefeld

wiesbaden, den 1.1.1995


nummer 2

Dies ist die 2. Nummer des monatlichen Infos zum Prozess gegen Birgit
Hogefeld, Gefangene aus der RAF, der seit 15.11.1994 vor dem
Staatsschutz-Senat des OLG Frankfurt laeuft. Schwerpunkt dieser Ausgabe
ist der Bericht zum Verlauf des Prozesses. Neue Erklaerungen von Birgit
gibt es nicht. Bis jetzt haben uns auch noch keine Reaktionen bzw.
Diskussionsbeitraege zu ihren bisherigen Erklaerungen und zum Prozess
erreicht. Vielleicht war ja nur die Zeit zum Aufschreiben zu kurz?! Wir
moechten jedenfalls ausdruecklich darauf hinweisen, dass diese Diskussionen
fuer uns zum Prozess gehoeren und wir entsprechende Beitraege auch
dokumentieren wollen. Was die geplante monatliche Erscheinungsweise
angeht liegen wir ganz gut im Plan. Was dagegen noch nicht so gut laeuft,
ist der Vertrieb. Weiterhin gibt es grosse Luecken in der Verbreitung des
Infos, vor allem im Ruhrgebiet und in Hessen. Wir sind weiterhin
zuwenige, um neben der Herstellung des Infos auch die Verteilung zu
organisieren. Wir bitten deshalb alle, sich zu ueberlegen, ob sie einen
Teil der Verbreitung uebernehmen koennen (naeheres dazu in den Technics auf
der letzten Seite). info-ag

Ein ganz normales Verfahren oder ...

Zuerst einige erlaeuternde Anmerkungen, die den Verfahrensablauf


vielleicht eher begreifbar machen. Der Prozess gegen Birgit ist kein
normaler Prozess; wie in allen politischen Verfahren sind auch hier
juristische Selbstverstaendlichkeiten ausser Kraft gesetzt. Wie einer der
Anwaelte schonmal gesagt hat: Waere dies ein normales Verfahren, koennten
wir sehr optimistisch sein. Am Beispiel der Schriftgutachten wird das
sehr deutlich. Diese Schriftgutachten stellen einen der wesentlichsten
Beweise der Anklage gegen Birgit dar. Man/frau muss sich klarmachen, wie
duenn das Ganze ist - sieben Buchstaben auf Kauf/Mietvertraegen und die
teilweise noch nicht mal im Original - Diese Beweis-Kruecken sollen der
wesentliche Stuetzbalken fuer die Verurteilung werden. Bermerkenswert ist
der Umgang mit diesen wichtigen Beweisen: Die Gutachten werden eben mal
wie nebenbei zwischendurch hingenuschelt verlesen. Mit dieser Verlesung
die Befragung der Gutachter zu verbinden wurde vom Gericht abgelehnt
Eine wesentliche Stuetze fuer das Urteil sind die Richter undandere
Urteile aus den letzten Jahren politischer Justiz. Der vorsitzende
Richter Schieferstein zitiert sich hier selber; er hat auch das im
Prozess gegen Birgit als Beweis verlesene Urteil gegen Eva Haule, eine
Gefangene aus der RAF, gemacht. Als Vorsitzender des frankfurter
Staatsschutzsenats seit 10 Jahren hat er nicht nur Prozesse gegen Leute
aus der RAF gefuehrt, sondern auch Leute aus anderen linken
Zusammenhaengen hinter Gitter gebracht (z.Bsp. Startbahn). Er war auch
verantwortlich dafuer, dass Ali Jansen, Gefangener aus dem
antiimperialisitischen Widerstand, trotz seiner schweren
Asthma-Erkrankung bis zur Lebensgefahr in Haft gehalten wurde. Er wurde
erst 2 Monate vor dem reguaelren Haftende entlassen. Auch Richter Klein
ist in dem Zusammenhang kein unbeschriebenes Blatt. Abgesehen davon, dass
auch er schon seit 10 Jahren an den Urteilen des frankfurter
Staatsschutzsenates mitgebastelt hat, ist er ebensolange schon der
Zustaendige fuer die Postzensur. Er ist auch schon in anderen politischen
Prozessen durch seine rabiate Zensur-Praxis aufgefallen. Die anderen
Figuren: ebenfalls seit 10 Jahren dabei ist Kern. Die anderen beiden
BeisitzerInnen heissen Zeiher und Lange. Neben der Richterbank sitzt
rechts die Protokollantin, links ein Ersatzrichter. Die
Bundesanwaltschaft (BAW) wird vertreten durch die Staatsanwaelte
Hemberger und Phillips, erkenntlich an ihren roten Roben. Hinter diesen
sitzt der Vertreter der Nebenklage Dollmann. Er vertritt eine Frau, die
bei der Aktion der RAF gegen die US-Airbase in Frankfurt 1985 verletzt
wurde. Der Anwalt zeichnet sich durch haeufige Stellungnahmen aus, mitr
enen er das Anliegen des gesunden Volksempfindens in wortgewandter Weise
in den Gerichtssaal tragen will. Dem Gericht und der Staatsanwaltschaft
macht er gelegentlich Komplimente, bei der Verteidigung beschwert er
sich darueber, dass sie ihn ignoriere.

... ein politischer Prozess

Dass es gegen Linke eine Sondergerichtsbarkeit gibt, wird in der


Oeffentlichkeit inzwischen als normal hingenommen. Das juristische
Instrumentarium gegen Linke wurde durch die Gesetzgebung in den 60er und
70er Jahren in Stellung gebracht. Der õ 129 (Bildung, Mitgliedschaft und
Unterstuetzung einer kriminellen Vereinigung) ist noch aelter - er wurde
unter Bismarck im Zusammenhang mit den Sozialistengesetzen erfunden. In
den 50er Jahren wurden 370 000 Ermittlungsverfahren nach õ 129 gegen
KommunistInnen und WiederbewaffnungsgegnerInnen gefuehrt. Die Erweiterung
zum õ 129 a (Bildung, Mitgliedschaft und Unterstuetzung einer
terroristischen Vereinigung) dient als Mehrzweckwaffe gegen jede
radikale linke Kraft. Dabei bestimmt der Staatsschutz, was terroristisch
ist. Nach 129 a zu Knast verurteilt wurden in den 80er Jahren u.a.
Leute, die Veranstaltung zu den politischen Gefangenen gemacht oder
Flugblaetter verteilt haben, in denen ihre Zusammenlegung gefordert
wurde. 129 a bedeutet, dass allein die behauptete oder tatsaechliche
Mitgliedschaft in der RAF (oder einer anderen als terroristisch
definierten Gruppe) schon 10 Jahre Knast nach sich zieht, ohne dass
konkrete Taten nachgewiesen werden muessen. Das neueste 129 a Konstrukt,
mit dem Ursel Q. aus Saarbruecken eingeknastet wurde, heisst Gegenmacht
von unten. Der Haftbefehl, der mittlerweile ausser Vollzug gesetzt, aber
nicht aufgehoben worden ist, sagt, dass es Unterstuetzung der RAF sei, an
einer Gegenmacht von unten zu arbeiten, weil auch die RAF diese
Vorstellung formuliert hat. Belegt wird dies durch ihre Mitarbeit bei
einer Stadtteilzeitung, bei der antifaschistischen Gelbe Hand-
Initiative, ihren Briefkontakt mit politischen Gefangenen usw. Ein
anderes 129 a Konstrukt, die legale RAF, wurde in den 80er Jahren
geschaffen. Es baut auf der Behauptung auf, dass es legal lebende
Mitglieder der RAF gebe. Es ist jetzt wieder Grundlage fuer
Kriminalisierungsdrohungen gegen Linke mithilfe der Aussagen des
Verfassungsschutz-Spitzels Steinmetz.

Prozessbericht Dezember '94

Eine chronologische Berichterstattung zum Prozess ist nicht sinnvoll, da


die Beweisaufnahme sich durch eine wahrscheinlich absichtsvolle
Unstrukturiertheit auszeichnet. So wurde z.B. an einem Tag, dem 6.12.,
ein Zeuge zu einer Wohnug in Tuebingen vernommen, die 1985 von der RAF
benutzt worden sein soll. Ausserdem wurde eine BKA-Beamtin zu Birgits
Festnahme 1993 befragt. Schliesslich wurde ein Schriftgutachten zu einer
Unterschrift unter einem Auto-Mietvertrag von 1988 verlesen. Dieses
Chaos zielt vermutlich darauf ab, die Beobachtung des Prozessverlaufs zu
erschweren und so das oeffentliche Interesse am Verfahrensablauf
einzuschlaefern.

Schriftgutachten

BKA-Schriftgutachten wurden an 4 Verhandlungstagen verlesen. (am 29.11.,


am 1.12., am 6.12. und am 13.12.). Dabei dreht es sich jeweils um eine
Unterschrift auf einem Kauf- und auf einem Mietvertrag fuer Autos. Zum
Teil lagen diese den BKA-GutachterInnen nur als Kopie oder Durchschrift
vor. Dennoch wurde der Antrag der Verteidigung, die Frage der
Tauglichkeit von Kopien fuer Schriftgutachten unter Hinzuziehung der
GutachterInnen zu klaeren, was in jedem anderen Verfahren eine
juristische Selbstverstaendlichkeit waere, wie bislang jeder Antrag der
Verteidigung abgelehnt. Die Gutachten kommen jeweils nur zu einer
geringen bis mittleren Wahrscheinlichkeit. Durch ergaenzende Gutachten
wird sich dahingehend beholfen, dass die Urheberschaft durch vier andere
Frauen, nach denen im Zusammenhang RAF gefahndet wird, ausgeschlossen
wird. Dazu ist auch anzumerken, dass in den 80er Jahren nach wesentlich
mehr als 4 bzw. 5 Frauen gefahndet wurde und dass die Ermittlungsbehoerden
davon ausgingen, nicht alle zu kennen, die in der RAF organisiert sind.
Dass ein Autokauf lange S. Sternebeck zugeordnet wurde, spricht fuer
sich: S. Sternebeck war eine von denen, die sich Anfang der 80er von
der RAF getrennt hatten und in der DDR lebten. Die Verteidigung machte
die Fragwuerdigkeit der Schriftgutachten unter anderem daran deutlich,
dass es zum gleichen Schriftzug verschiedene BKA-Gutachten mit
unterschiedlichen Ergebnissen gibt, d.h. es existieren auch
BKA-Gutachten, diue diese Schriftzuege nicht Birgit zuordnen. Es ist
bemerkenswert, wie sich BKA-Gutachten bezueglich des gleichen Materials
im Laufe der Jahre wandeln, wie ein Verteidiger feststellte.

BKA-Video und Wiedererkennungszeugen

Am 29.11. wurde ein nach der Verhaftung Birgits vom BKA angefertigter
Videofilm gezeigt, den das BKA ZeugInnen vorzufuehrte, die darauf Birgit
wiedererkennen sollen. Was an dem Film sofort ins Auge faellt, ist, dass
drei der vier Vergleichspersonen sich sehr von Birgit unterscheiden. Sie
sind ziemlich kraeftig und haben blonde lange Haare.
Wiedererkennungszeugen, denen, wie sich jeweils in der Befragung
herausstellte, dieser Film vorgefuehrt worden war, waren am 6.12., am
20.12. und am 23.12. da. Am 6.12 kam der Zeuge Delor zu der tuebinger
Wohnung. Weder in seiner ersten Vernehmung 1985 noch in der Zweiten
hatte sich ein Hinweis auf Birgit ergeben. Erst in der dritten
Vernehmung 1993, nach der Verhaftung von Birgit, erkennt er sie als eine
der Personen, die haeufig in der Wohnung gewesen sein sollen. Genau das
Gleiche bei dem Zeugen Beier, der am 20.12. geladen war. Erst bei seiner
siebten (!) Vernehmung 1993 (!) erkennt er Birgit als die Frau, die 1985
ein Auto bei ihm gekauft habe. In der Hauptverhandlung deutet er wie
schon in vorherigen Vernehmungen auf S. Sternebeck, als ihm Fotos
vorgelegt werden. In diesem Zusammenhang kam es zu einem
Befangenheitsantrag gegen den beisitzenden Richter Zeiher, der bei
diesem Vorgang sein Desinteresse durch Weggucken demonstrierte. Vor der
Befragung des Zeugen Beier hatte die Verteidigung schon festgestellt,
dass (mal wieder) diverse Bilder, die dem Zeugen bei frueheren
Vernehmungen vorgelegt worden waren, in den Prozessakten fehlen. Eine
sinnvolle Befragung des Zeugen sei ohne diese Bilder nicht moeglich.Dass
der Senat den Antrag auf Verschiebung der Befragung des Zeugen Beier bis
zum Auftauchen der Bilder ablehnte, sah die Verteidigung als einen
neuerlichen Hinweis fuer die Befangenheit dieser RichterInnen.
Desweiteren hat auch dieser Zeuge den BKA-Video gesehen. Und bei einer
weiteren Lichtbildvorlage waehrend der Hauptverhandlung war das Foto von
Birgit mit einem roten Balken markiert, wie ein Anwalt empoert
feststellte.Trotz dieser Bemuehungen hat aber der Zeuge Birgit in der
Hauptverhandlung nicht als die Autokaeuferin von 1985 identifiziert.Nach
rechtsstaatlicher Logik muesste hier allerdings auch das Schriftgutachten
zu diesem Autokauf - das Birgit `mit geringer Wahrscheinlichkeitï als
Kaeuferin bezeichnet - gekippt sein. Am 23.12. gab es noch einen
Wiedererkennungszeugen, diesmal wieder zu der Wohnung in Tuebingen. Der
Zeuge Graf fiel durch unglaubliche Geschwaetzigkeit auf, die Befragung
machte allerdings deutlich, dass er kaum konkrete Erinnungen hat. Erneut
wurde deutlich, dass auch hier Bilder in den Akten fehlen. Und auch hier
haben zwischen 1985 und 1994 mindestens sechs Vernehmungen
stattgefunden. Davon erwaehnenswert ist eine, bei der der Zeuge Graf
offensichtlich an einer Observation in der stuttgarter Innenstadt
teilgenommen hat, um einen Mann (niemand von einem RAF-Fahndungsplakat)
zu identifizieren. Obwohl es moeglicherweise darauf angelegt war - auch
dieser Zeuge hat den BKA-Film gesehen - ergab seine Befragung keinen
Hinweis auf Birgit.

BKA-ZeugInnen

Ansonsten traten im Dezember noch 6 BKA-BeamtInnen als ZeugInnen in der


Hauptverhandlung auf. Am 29.11. Einer zu Sachen, die 1987 in einer
Wohnung in Frankreich gefunden wurden; am 1.12. Einer zur frueheren
Wohnung von Birgit und Wolfgang in Wiesbaden und ihrem damaligen
Arbeitsplatz; am 6.12. Eine zu Birgits Verhaftung 1993; am 15.12. zwei
zu einem PKW, der 1988 in Bonn sichergestellt wurde und am 20.12. Einer,
der Fingerabdruecke aus einem PKW ausgewertet hat (von Birgit war keiner
dabei). Die BKAlerin, die zu Birgits Verhaftung aussagte, hatte die
Aufgabe, die Sachen, die Birgit bei sich hatte, einschliesslich Kleidung,
zu asservieren. Schiefersteins erste Frage an sie war, ob die Waffe von
Birgit durchgeladen gewesen sei. Sie hat die Pistole, die Birgit
zugeordnet wird, von einem MEKiler bekommen, konnte sich aber nicht
erinnern, von wem. Sie konnte sich auch nicht erinnern, was Birgit ueber
Kopf und Gesicht hatte und wo dieses Etwas befestigt war. Immerhin wusste
sie noch, dass Birgit mit zwei Paar Handschellen gefesselt war, mit
Plastikfesseln und mit solchen zum Aufschliessen aus Metall. Die Frage,
ob ihr der Name Steinmetz etwas sagt, bejahte sie, zu jeder weiteren
Frage dazu hatte sie keine Aussagegenehmigung. Auch Fragen zur Dauer
ihres Einsatzes in Wismar und ihren weiteren Aufgaben dort beantwortete
sie nicht - keine Aussagegenehmigung.

ZuschauerInnen, Kontrollen etc.

Auch im Dezember war der Prozess immer gut besucht. Die BesucherInnen
sind vor allem junge Leute, die noch nicht so lange in politischen
Gruppen organisiert sind. Aus Frankfurt und Umgebung kommen auch einige
Unorganisierte. Menschen, die schon in den achtziger Jahren zum
antiimperialistischen Spektrum gehoerten oder die schon frueher politische
Prozesse besucht haben, sind selten da. Die Durchsuchungen bei den
Frauen sind nach wie vor unterschiedlich schikanoes. Eine Besucherin hat
beispielsweise ihre Hose aufmachen muessen und es wurde versucht, ihr die
Strumpfhose runterzuzerren. Schon vor dem Eingang stehen oft mehrere
Gruene in Kampfanzuegen und teilweise mit MGs, die auch manchmal
Taschenkontrollen durchfuehren. Weitere befinden sich massenhaft im
Prozessgebaeude, z.Bsp vor dem Raum im Keller, in den Birgit in jeder
Pause muss. Im Saal selbst sitzen vier, die mit Birgit kommen und gehen,
ausserdem noch 2-6 Zivile, darunter die Personenschuetzer der beiden
BAW-Anwaelte, und mehrere Gerichtsdiener. Auch im Zuschauerraum, der
durch eine Scheibe vom Verhandlungssaal getrennt ist, sitzen immer
Zivile. Ansonsten hat das Gebaeude eine zentrale Tuerverriegelung, ueber
die auf Knopfdruck alle Zwischentueren geschlossen werden koennen. Dies
wurde vor Prozessbeginn staendig geprobt. Birgit wird in einem Wagen ohne
Fenster zum Prozess gebracht. Dabei werden ihr die Haende auf dem Ruecken
gefesselt, sodass sie sich nicht festhalten kann, und es wird in einem
irren Tempo durch die Stadt gerast. Birgit ist davon jedesmal schlecht,
zweimal konnte die Verhandlung deswegen erst spaeter beginnen. Der Antrag
ihrer Verteidigung, die Haende - wenn schon nicht darauf verzichtet
werden kann - wenigstens vorne zu fesseln, wurde (was sonst) abgelehnt.
Im Gebaeude selbst wird sie durch einen extra angelegten Gang im Keller
gefuehrt, auch hier mit Handschellen.

ZDF-Talkshow mit Birgits Mutter und AnwaeltInnen

In einer ZDF - Talkshow am Freitag, den 18.11.94 um 22.45 Uhr konnten


die Mutter von Birgit, Marianne Hogefeld, die Anwaeltin Ursula Seifert
und Anwalt Thomas Kieseritzky darauf hinweisen, dass der Prozess gegen
Birgit Hogefeld bereits laufe, waehrend ein Ermittlungsverfahren wegen
der Erschiessung von Wolfgang Grams gegen die Polizisten immer noch nicht
eingeleitet sei. Marianne Hogefeld sagte, dass sie regelmaessig ihre
Tochter besuche, mit ihr aber nicht ueber politische Dinge reden koenne,
da sonst der Besuch sofort abgebrochen wuerde. Mit politischen Fragen
habe sie sich nicht erst seit dem Tod von Wolfgang und der Verhaftung
von Birgit befasst. Seit die beiden in den Untergrund gegangen seien,
habe sie Kontakt zur Angehoerigen-Gruppe der politischen Gefangenen
aufgenommen. Im Kontakt mit den Angehoerigen und den Gefangenen habe sie
viel ueber diesen Staat erfahren und vor allem gewusst, was auf Birgit im
Falle einer Verhaftung zukomme. Deswegen und weil sie eine positive
Einstellung zu Birgit un d ihrer politischen Arbeit hatte, habe sie auf
keinen Fall Erleichterung darueber verspueren koennen, dass die Jagd auf
ihre Tochter zu Ende sei. Aber dass es so schlimm kommen wuerde fuer ihre
Tochter - die Erschiessung ihres Freundes Wolfgang und die Isolationshaft
- hatte sie nicht voraussehen koennen und sie hatte Sorge, ob das ein
Mensch ueberhaupt aushalten koenne. Ursula Seifert und Thomas Kieseritzky
bezweifelten, dass Birgit ein faires Verfahren bekommen wuerde. Allein die
Tatsache, dass Birgit des Mordes an dem GSG-9-Beamten, der im Kugelhagel
von Bad Kleinen umgekommen war, angeklagt werde, obwohl feststehe, dass
sie nicht geschossen hat, bestaetigten die Zweifel. Gleichzeitig stelle
sich der Bundeskanzler vor seine GSG-9-Beamten und bezeichne Wolfgang
Grams in aller Oeffentlichkeit als Moerder, obwohl ueberhaupt noch nicht
feststehe, wer den GSG-9-Mann erschossen hat. Beweise, die Licht in das
Dunkel haetten bringen koennen, seien vernichtet worden, alle Gutachten,
die die vom Staat bestellten Gutachten widerlegen, wuerden nicht zur
Kenntnis genommen. Zum Schluss der Sendung versicherte Marianne ihrer
Tochter, dass sie fest zu ihr steht und rief Irmgard Moeller, die gerade
aus ihrer 22 jaehrigen Haft entlassen werden sollte, einen Gruss zu und
wuenschte ihr alles Gute. Der Moderator hat Marianne Hogefeld spaeter
mitgeteilt, dass es auf die Sendung eine Flut von Zuschriften gegeben
habe, die sich ueberwiegend positiv geaeussert haetten.

Gegenmacht von oben


Zur Veranstaltung der Jungen Welt am 15.12.94 in der berliner Volksbuehne

Die Raeume in der Volksbuehne fuer eine Soli- und Info-Veranstaltung zu


Birgits Prozess zu nutzen, fanden wir sehr gut, denn es kamen auch
andere, als die, die sowieso Zugang zu Infos darueber haben. Es waren
auch viele aus der ehemaligen DDR da. Die Junge Welt hatte gut
mobilisiert, so war der rote Salon uebervoll, und leider mussten auch
Leute aussen vor bleiben. Oliver Tolmein von der Jungen Welt machte eine
kurze Einleitung und stellte die Referenten vor: Rechtsanwalt Fresenius,
Anwalt von Birgit, und Michael, Autonomer Linker, der aus der
Frankfurter Startbahnbewegung kommt. Er kennt Birgit aus der Zeit, als
sie als legale Linke aktiv war, und heute besucht er sie im Knast.
Rechtsanwalt Fresenius schilderte in konkreten Beispielen die
Haftsituation von Birgit, wie die Isolation gegen sie angewandt wurde
und wird. Er zeigte an einzelnen Anklagepunkten, wie duenn und
konstruiert die Anklage der Justiz ist. Eine politische Anklage mit viel
heisser Luft, wo von vorneherein beabsichtigt ist, das Lebenslaenglich,
was die BRD-Justiz zum obligatorischen Urteil gegen Gefangene aus der
RAF erhebt, festzuschreiben. Er zaehlte eine Reihe von Behinderungen und
Schikanen gegen die RechtsanwaeltInnen auf, die eine Verteidigung
verunmoeglichen sollen. So das Zurueckhalten von Akten, Unterschlagen von
Beweismaterial, Unterdrueckung von Antraegen der Verteidigung usw. Michael
erzaehlte von den Auseinandersetzungen mit Birgit im Knast und von
Auseinandersetzungen, die sie damals hatten, als Birgit in der Lagalitaet
lebte, und er in der Startbahnbewegung aktiv war. So sieht er in Birgits
Entwicklung heute eine kritische Haltung zu Positionen von frueher.
Damals sei es ihr wesentlich darauf angekommen, das System anzugreifen,
zu destabilisieren, heute viel mehr, wie kann sich linke Politik in der
Gesellschaft materialisieren. Er verglich drei Widerstandsentwicklungen,
die durch Repression am Hochpunkt ihrer Mobilisierung einen schweren
Schlag erlitten, und dadurch eine tiefe Schwaeche offenlegten: die
Front-Entwicklung, wo der Staat mit duennsten Konstrukten die Bewegung
kriminalisieren konnte und etliche Aktive fuer Jahre in den Knast
steckte, die Startbahnbewegung, als nach den toedllichen Schuessen auf
Polizisten bei einer oeffentlichen Protestaktion am Bauzaun die ganze
Szene in der region kriminalisiert wurde, und wo viele zuerst belastende
Aussagen machten, und die Antifabewegung, wo hier in Berlin versucht
wurde, durch eine Mordanklage antifaschistischen Widerstand zu
kriminalisieren. Er problematisierte dabei die Gefahr zu
militaristischer Politik zu kommen, wenn die politischen Anstrengungen
an eine Grenze gestossen sind, wenn die Eskalation der Mittel ohne
Neubestimmung der Politik angewandt werden, wodurch die Bewegung
letztendlich entpolitisiert wird, und der Staat dadurch einen Hebel zur
Zerschlagung durch Kriminalisierung bekommen kann. Eine Erkenntnis von
ihm ist, dass der Staat seine Staerke nicht aus seinen Apparaten, der
Repression, Kontrolle und Gewalt zieht, sondern dass die Menschen hier
diese reaktionaeren Strukturen verinnerlichen. Deshalb sei allein der
Kampf gegen die VertreterInnen und Instititionen des Systems zu kurz.
Wesentlich sei viel mehr zu verstehen, wie es denn dazu kommt, dass die
Menschen den ganzen Dreck (Warenbeziehungen, Rassismus, Sexismus...)
aufnehmen, verinnerlichen, keinen Widerstand dagegensetzen. Trotz der
guten Beitraege und den wichtigen Fragen, die in der Veranstaltung
aufgeworfen wurden, war es eine typische Wessi-Veranstaltung, obwohl sie
ja im ehemaligen Ost-Berlin stattgefunden hat. Es wurde so ziemlich
alles vorrausgesetzt, was wir WestlerInnen so die letzten 20 Jahre an
Wissen angehaeuft haben. Es haette auf das Podium noch mindestens eine
Person gehoert (Frauen! bei sonst nur Maennern), die die Geschichte
vermitteln koennen. Es ist doch wichtig zu wissen, warum, in welcher
Situation, welchem Klima die einzelnen Aktionen der RAF stattgefunden
haben. Warum und wie ueberhaupt die RAF entstanden ist. Das ist doch
wesentlich, damit die Selbstkritik der RAF und die von Birgit ueberhaupt
verstanden werden kann. So blieb von diesem Teil seiner Ausfuehrungen
nur: die Politik der RAF war schon immer falsch, und er wusste es damals
schon und habe Recht behalten. Das wird mit dazu beigetragen haben, dass
die anschliessende Diskussion nicht so recht aufkam. Insoweit eine
verpasste Chance. Scha de.

Andere Veranstaltungen

In Wiesbaden und in Frankfurt fand jeweils eine Veranstaltung mit den


AnwaeltInnen von Birgit statt. Die anschliessenden Diskussionen verliefen
eher schleppend, obwohl auch diese Veranstaltungen relativ gut besucht
waren. Auch in Kiel fand eine Veranstaltung zum Prozess statt, von der
uns aber leider keine naeheren Informationen vorliegen. In Mainz fand
eine Veranstaltung statt, die mit 70 (vorwiegend jungen) Leuten sehr gut
besucht war. Es gab ein Referat zum Verlauf des Prozesses und Birgits
Mutter berichtete von den Haftbedingungen und ihren Besuchen bei Birgit.
Die anschliessende Diskussion war gepraegt von dem Interesse und der
Offenheit der Anwesenden.

Kommentar zum Kommentar Legendenbildung (TAZ, 10.12.94)

Es ist nicht so, dass es in der Bundesrepublik nie buergerliche


Prozessberichterstattung hoeherer Qualitaet gegeben haette. Gerhard Mauz hat
ueber Jahrzehnte im Spiegel - also umgeben von Spiegel-Schreibe und
Nachrichtenhandel - Massstaebe gesetzt (vgl. nur die erste Sammlung seiner
Arbeiten: Mauz: Die Gerechten und die Gerichteten. Frankfurt / Berlin
1968): zum Beispiel: Die Bedingungen der Zeit und eines Lebens und das
Verhalten und Handeln von Menschen in abgestuft reflektierten
Wechselbeziehungen zu sehen; zum Beispiel: die Tauglichkeit der Justiz
fuer die Eroerterung von und Auseinandersetzung mit Lebenssachverhalten je
neu und mit unterschiedlichem Ergebnis zu untersuchen; zum Beispiel:
Angeklagte in immer neuen Anlaeufen der Annaeherung zu beschreiben, das
Versuchshafte der Annaeherung kenntlich zu machen und sie abbrechen zu
koennen, wenn Respekt oder Grenzen des Verstaendnisses es gebieten. Das
diente der Wahrheitsfindung in gutem Sinn,. weil es immer auch eine
Wahrheitsfindung zur Gesellschaft und zum juristischen Instrumentarium
war. Beitrag zur Wahrheitsfindung unterstellte auch TAZ-Redakteur Arno
Widmann in einem Erlaeuterungskasten auf der Leserbriefseite der TAZ vom
22.12.1994 auch der Veroeffentlichung von Edith Kohn: Die TAZ hatte am
10. Dezember 1994 die freie Journalistin eine Entgegnung auf die
Prozesserklaerung von Birgit Hogefeld unter der Ueberschrift
Legendenbildung an hervorgehobener Stelle publizieren lassen: im Essay-
bzw. Dokumentationsteil der Seite 10. Kohn greift alles auf, was der
Staatsschutz seit Jahren auf die Muehlen der Propaganda kippt: Es gibt
keien politischen Prozese, RAF-Aktionen sind kriminelle Delikte und
gehoeren abgeurteilt wie alle anderen, die RAF-Kommandos haben viel
gemeinsam mit den suedamerikanischen Todesschwadronen, hoechstesn 200
Verblendete in der Bundesrepublik koennern der RAF etwas Politisches
abgewinnen; es gibt keine Isolationshaf t, hoechstens Haftbedingungen,
wie sie im Bereich organisierter Kriminalitaet praktiziert werden: Die
Semantik der Menschenrechtsorganisationen ist der Honig, der die jungen
Sympathisanten lockt und an dem sie haengenbleiben. Die leichthaendige
Einbeziehung psychologischer Kategorien - dieses Strandguts der
Trivialaufklaerung, das die therapeutische Linke und ihre vielen
Adressaten geschichtslos und ohnmaechtig gegnueber ihrer
gesellschaftlichen Wirklichkeit gemacht hat - dienen der Untermauerung
der bruchlos uebernommenen Staatsschutz-Positionen und lassen Wahn und
Krankheit assoziieren: Von Groessenphantasie, Verdraengung, Verleugnung ist
die Rede. ...die Beispiele aller RAF-Aussteiger zeigen, dass die Rueckkehr
in die Realitaet, das Erwachen, zu ueberleben ist lautet Kohns Schlusssatz.
Kein Wort von den Verbrechen des Imperialismus und den Schwierigkeiten,
gegen ihn aufzustehen oder ihn nur punktuell zu bremsen. Dass Birgit
Hogefeld Jean Amery liest und zitiert, stellt Kohn als unverfroren dar:
Ncht weil Kohn ihr Bewusstsein an Auschwitz entwickelt hat und daraus
ihren Blick auf die Welt herleitet, sondern weil sie gelenrt hat, alles
niederzumachen, was der affirmativen Rueckkehr in die Realitaet, der
Kronzeugenrealitaet, der alleingueltigen Realitaetstuechtigkeit a la Kohn
entgegensteht. Auschwitz ist ihr nur fuer eines gut: als Keule gegen
jene, die auch ueber Auschwitz die Massstaebe fuer Handeln und moralische
Pflichten neu dimensioniert sehen. Die Welt haette es nicht besser
gekonnt.

Und noch eins druff'

Deutschland ist nicht Chile und nicht Argentinien. Edith Kohn


verschweigt, dass gerade diese Laender Zufluchtsstaette der deutschen Nazis
nach dem verlorenen Weltkrieg waren, dass diese Laender das
Hitler-Deutschland und die BRD zum Vorbild nahmen, dass diese Laender von
deutschem Kapital und deutschen demokratischen Regierungen gehaetschelt
und gepflegt wurden, dass deutsches Geld und deutsche Waffen und Berater
die FGolterregime an der Macht halten. Die letzten Saetze in Kohns'
Artikel sprudeln von Offenbarungen. Da heisst es: Der Tag nach der
Urteilsverkuendung ist der Tag der Wahrheit. Ist es vermessen, daraus zu
schliessen, dass Edith Kohn, die Mitlaeuferin, weiss, dass der Tag der
Urteilsverkuendung der Tag der Unwahrheit ist, weiss, dass das Urteil auch
ohne Beweise feststeht, dass es von Edith Kohn schon jetzt gerechtfertigt
wird? Birgit Hogefeld, so wie sie dort sitzt im Prozess, ist Beweis
genug, so die Botschaft von Edith Kohn. Nach dieser Drohung wiederum das
schleimige Angebot ihrer Herren, diesmal praesentiert von der
Schreiberin: Dabei zeigen die Beispiele aller RAF-Aussteiger, dass die
Rueckkehr in die Realitaet, das Erwachen, zu ueberleben ist. Birgit
Hogefeld hat nichts, aber auch gar nichts mit der Person zu tun, die in
diesem Artikel zusammengeschmiert wird. Birgit Hogefeld wird sich ein
Leben im Knast, so schlimm es ist, noch eher vorstellen koennen als ein
Ueberleben in den Armen von Hemberger, Schieferstein und Co.

Naechste Prozesstermine

Einlass 9 Uhr, Beginn 9.30 Uhr


3. 1. - 10. 1. - 12. 1. - 17.1. (11Uhr) - 30.1. - 2. 2. - 7. 2. - 9. 2.
- 14. 2. - 16. 2. - 23. 2. - 2. 3. - 7. 3. - 9. 3. - 14. 3. - 21. 3. -
23. 3. - 28. 3. - 30. 3. - 4. 4. - 6. 4. - 11. 4. - 24. 4. - 27. 4.

Birgits Postadresse

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt,


5. Stafsenat, Postfach , 60256 Frankfurt/M.

Technics zum Prozess-Info

Das Prozessinfo wird in Wiesbaden gemacht. Zuschriften gehen an die


Adresse: Info-AG zum Prozess gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195
Wiesbaden. Das Telefon ist mittwochs von 17 bis 19 Uhr und freitags von
18 bis 20 Uhr besetzt: 0611 / 44 06 64. Info: Ueber das Telefon kann auch
- soweit das vorher bekannt ist - erfragt werden, welche Punkte bei den
folgenden Prozessterminen anstehen. Besuchsplanungen von groesseren
BesucherInnengruppen sollten ueber das Telefon koordiniert werden. Der
Vertrieb des Prozessinfos ist bisher nur vorlaeufig organisiert. Eine
zentrale oder mehrere dezentrale Vertriebsgruppen werden noch gesucht.
Leider hat sich daran seit der ersten Ausgabe noch nicht viel geaendert.
Grosse Luecken gibt es weiterhin im Ruhrgebiet und in Hessen, ausserdem
gibt es keine organisierte Verschickung an die Gefangenen und an die
Infolaeden. Die Nr. 2 wird wie folgt verbreitet: * Schleswig-Holstein:
Rote Hilfe, Postfach 644, 24125 Kiel, tel/fax 0431/75141 * Berlin /
Ex-DDR: Prozessgruppe Birgit Hogefeld, c/o PDS Kreuzberg,
Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, fax 030/6949354 * Stuttgart: Infobuero
fuer polit. Gefangene, Moerickestr. 69, 70199 Stuttgart * Saarland: basis,
Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken * Bayern:
Infobuero c/o Buecherkiste, Schlehengasse 6, 90402 Nuernberg * evt. in
eurer Mailbox - schaut mal nach Ansonsten koennen wir nur auf die
regionalen Infolaeden und andere Treffpunkte hinweisen. Regionale
WeiterverteilerInnen, die auch hier in der Liste als Verteilstellen
aufgefuehrt werden wollen, koennen sich in Wiesbaden melden und erhalten
ein kopierfaehiges Exemplar. Einzelversendungen koennen von Wiesbaden aus
nicht erfolgen.

Prozess-Spendenkonto

Da sowohl die Kosten im Todesermittlungsverfahrens z. N. Wolfgang Grams


sowie die Kosten des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld von den
Angehoerlgen alleine nicht getragen werden koennen, sind Spenden dringend
notwendig:

Sonderkonto V. Luley, Bad Kleinen


Postgiroamt Frankfurt,
BLZ 50010060, Kto.-Nr. 16072-603
Info zum Prozess gegen Birgit Hogefeld

Nummer 3
Wiesbaden, den 7.2.95

Prozessbericht 3. Januar bis 2. Februar 1995

Das Hin- und Her zwischen verschiedenen Zeiten und Themen ging weiter.
Am 3.1. wurden verschiedene Briefe von Eva Haule und Birgit Hogefeld
benannt, die zwar nicht verlesen, wie von der Verteidigung gewuenscht,
aber zu den Prozessakten genommen wurden, so dass sie jetzt Bestandteil
des Verfahrens sind und somit fuer das Zimmern des Urteils zerpflueckt
werden koennen, ohne den positiven Eindruck, den sie sonst beim Verlesen
in der Oeffentlichkeit erzeugen koennten, zu vermitteln. Ein BKA-Zeuge,
der eigentlich lediglich Sachbearbeiter war, erschien, um
Fingerabdruecke, die in der Tuebinger Wohnung abgenommen wurden, zu
erlaeutern. Zu 1988 (d.h. zu dem Versuch, Birgit in Verbindung mit dem
Tietmeyer-Anschlag 1988 zu bringen) hatte die Hauptzeugin am gleichen
Tag ihren Auftritt. Am 4. Verhandlungstag im Januar wurden zum
wiederholten Mal von der Verteidigung die Aushaendigung der
Merkmalsprotokollen zu den Schriftgutachten, die laengst Bestandteil des
Verfahrens sind, angemahnt.. Statt einer Antwort kuendigt Schieferstein
ein neues BKA-Gutachten an, auf das auch schon die Bundesanwaltschaft
wartet. Die Fotodokumentation des BKA zur Tuebinger Wohnung wird den
unmittelbaren Prozessparteien (also der Ansammlung hinter der
Trennscheibe) zur Einsicht vorgelegt; verlesen werden die umfaenglichen
Bemerkungen des BKA zu den Aufnahmen. Die demonstrierte Exaktheit
betrifft aber einen Nebenschauplatz. So nebenbei wird dann der
Verteidigung mitgeteilt, dass der Videofilm, den das BKA im Knast gedreht
hatte, um zu aktuellen Bewegungsaufnahmen von Birgit zu gelangen, nicht
zur naeheren Pruefung ausgehaendigt wird. Er sei im Prozesssaal vorgefuehrt
worden, das reiche.

Der Auftritt der Hauptzeugin Walter-Chorfi aus Wuppertal

Sie hat am 18.09.1988 den Ford Fiesta, der bei dem missglueckten Angriff
auf den (damaligen) Finanzstaatssekretaer Tietmeyer von einem Kommando
der RAF benutzt wurde, verliehen. Am 22.09.1988 wurden ihr vom BKA
Bildmappen, auch mit Ganzkoerperaufnahmen, vorgelegt. Sie identifizierte
darauf eindeutig Sigrid Sternebeck. Auch bei einer weiteren Vernehmung
in derselben Woche identifizierte sie wieder eindeutig Sigrid Sternebeck
und nicht Birgit Hogefeld, die ebenfalls in den Bildmappen zu sehen war.
Das ergibt sich aus den Vernehmungsprotokollen, die 1988 nach der
Vernehmung vom BKA gefertigt wurden. Heute, bei ihrem Auftritt im
Prozesssaal in Frankfurt, will die Zeugin davon nichts mehr wissen.
Besonders bestreitet sie, dass ihr Ganzkoerperbilder vorgelegt wurden.
Stattdessen tischt sie, vom BKA sorgfaeltig umgepolt, folgende Geschichte
auf: Die Frau, die das Auto bei ihr angemietet habe, sei nach Ausfuellen
der Formalien ueber den weitlaeufigen Platz vor dem Buero zu dem gemieteten
Auto gegangen. Sie, die Vermieterin, habe noch einmal einen Blick auf
die Unterschrift geworfen und dabei festgestellt, dass ein Buchstabe
nicht mit dem auf dem vorgelegten Fuehrerschein uebereinstimmte. Sie sei
der Mieterin nachgeeilt, um das zu klaeren. Dabei habe sie die Person von
hinten genau gesehen und es sei ihr aufgefallen, dass sie O-Beine habe
und komisch gehe. Im Juli 1993 wurde die Walter-Chorfi vom BKA nach
Preungesheim zitiert, wo sie von einem Versteck aus Birgit Hogefeld mit
anderen Kriminalbeamtinnen oder, wie sie sich schnell verbesserte,
Frauen beobachten konnte. Sie habe sofort auf Birgit Hogefeld gezeigt,
weil sie sie an den Beinen und an ihrem Gang erkannt haben will. Zu
dieser Situation sagt Birgit: Kurz nach meiner Verhaftung fand eine
Gegenueberstellung statt, die als verdeckte geplant war, die ich aber
bemerkt hatte und deswegen mir den Arm vors Gesicht gehalten habe. Eine
Zeugin sagt aus, dass sie als Mieterin des Autos vor sechs Jahren die
Person wiedererkennt, die immer den Arm vors Gesicht haelt und die auch
spaeter nicht dabei ist, als die Vergleichspersonen nebeneinander
aufgestellt dastehen. Das Ganze waere als Witznummer anzusehen, wenn es
dabei nicht um die wichtigsten Beweise fuer ein lebens-laengliches Urteil
gegen mich ginge. (aus einem Brief von Oktober 94)

Nicht geladen waren andere Personen aus der Autovermieterfamilie, die


mit der Automieterin zu tun hatten. Dies bestaerkt den Verdacht, dass nur
die praesentierte Wuppertaler Zeugin zur Reorganisation ihres
Gedaechtnisses nach Birgits breit in den Medien berichteter Verhaftung in
der Lage war.

Die Verteidigung stellte den Antrag, den Polizisten zu laden, der zuerst
die Zeugin vernommen hatte, der dann bestaetigen wuerde, dass die
Hauptzeugin aus frischer Erinnerung und nach Vorlage auch von
Ganzkoerperbildern eine andere Person und nicht Birgit Hogefeld
identifiziert habe und auch das Merkmal, das heute das
Haupterkennungsmerkmal sein soll, damals ueberhaupt keine Rolle gespielt
habe. Die Bundesanwaltschaft intervenierte mit der Bemerkung, die Zeugin
habe ja gar nicht behauptet, Birgit Hogefeld in der ersten Vernehmung
erkannt zu haben. Das Gericht hat noch nicht entschieden. Ihnen reicht
offensichtlich die unwahrscheinliche Geschichte der Wiedererkennung von
Ruecken und Beinen nach 6 Jahren, wobei die angeblich praezisen Merkmale
nicht mal stimmen. In ihrer die ersten Vernehmungen bestimmenden
Hauptaussage soll die Zeugin nicht wahrgenommen werden, denn dann wuerde
auch das Schriftgutachten, das ohnehin nur mit einer niedrigen
Wahrscheinlichkeitsstufe die Unterschrift Birgit Hogefe ld zuordnen
kann, gekippt sein. Bei politischen Gefangenen heisst es eindeutig: Im
Zweifel gegen die Beschuldigten oder noch deutlicher: Die Beschuldigten
sind so lange schuldig, bis sie das Gegenteil beweisen oder kooperieren.

Der Versuch, Birgits Verhandlungsfaehigkeit zu reduzieren

Zwei Tage nach dem Auftritt der Hauptzeugin verhaengte das Richterpaar
Schiefestein / Klein eine 14-taegige Isolationshaft ueber Birgit Hogefeld
fuer eine Monate zurueckliegende Auseinandersetzung, die als Verstoss gegen
die Knastordnung gewertet wurde. Birgit stellte den Antrag, entweder die
Disziplinarstrafe sofort aufzuheben oder den Prozess fuer 14 Tage zu
unterbrechen. Birgits Antragsbegruendung drucken wir im Anschluss an den
Prozessbericht ab. Bundesanwalt Hemberger bemerkte zynisch, sie sei doch
gar nicht in Isolation. Die Isolation, die sie beschreibe, treffe doch
jeden Gefangenen. Die Verteidigung wies darauf hin, dass amnesty
international die Isolationshaft von Birgit Hogefeld angeprangert habe
und es Gutachten gebe, die bewiesen, dass Isolationshaft die
Verhandlungsfaehigkeit erheblich beeintraechtige. Schieferstein setzt
jetzt auf Zeit. Er will erst nach diesem Verhandlungstag ueber den
Antrag entscheiden. Heute soll, wie vorgesehen, durchgezogen werden. Als
Birgit sich dagegen wehrt und noch mal betont, dass sie nicht in der Lage
sei, der Verhandlung zu folgen, haelt ihr die Bundesanwaltschaft vor,
allein ihr Agieren vor dem Gericht beweise, dass sie sehr wohl in der
Lage sei zu folgen. Ungeruehrt laesst Schieferstein den ersten Zeugen
hereinkommen und beginnt ihn zu belehren. Birgit unterbricht ihn dabei
und versucht ihm klarzumachen, dass sie nicht vorhabe, den Prozess zu
sabotieren, dass sie sich aber auch nicht von ihm zum Kasper machen
lasse. Statt einer Antwort liess er Birgit mit Gewalt aus dem Saal
zerren. Die Verhandlung konnte jetzt ungestoert weitergehen. Die
ZuschauerInnen hatten nach heftigem Buhen zum groessten Teil den Saal
verlassen. Nicht die Richter, sondern Birgit teilte den ZuschauerInnen
im Verhandlungstermin am 12.01. mit, dass ihr Einschreiten gegen die
neuen Haftschikanen Erfolg gehabt habe. Die Bundesanwaltschaft setzte
bei diesem Termin zu den Haftbedingungen nach, indem sie sich auf die
Kronzeugen-Verehrerin Kohn als Kronzeugin berief. Selbst die TAZ
schreibe, Birgits Schilderungen der Haftbedingungen stimmten nicht. Die
Sonderhaftbedingungen waren also zurueckgenommen. Die ProzessbesucherInnen
freuten sich darueber, die Richter und Bundesanwaelte offensichtlich
weniger, aber um nicht einen Revisionsgrund mehr zu liefern, informierte
Schieferstein in zusammengeraffter Form Birgit Hogefeld von dem, was in
ihrer Abwesenheit verhandelt worden war.

Weitere ZeugInnen

Weitere ZeugInnen, die im Januar vernommen wurden, gruppieren sich


weitgehend um die Hauptzeugin mit ihrem Ford Fiesta. Darunter ist die
Zeugin, die erklaert, wie und wo sie ihre Ausweispapiere verloren hat,
die bei der Autoanmietung vorgelegt wurden. Darunter einige ZeugInnen
aus dem Raum Bonn / Tietmeyer, die sich fast alle - als gute deutsche
BuergerInnen - freiwillig gemeldet hatten, die den Ford Fiesta mit dem W
auf dem Nummernschild 8 Tage vor dem Anschlag auf Tietmeyer mit 2
Maennern, gut getarnt als Vermessungsbeamte, gesehen haben oder
Vermessungsbeamte im Umkreis des spaeteren Anschlagsorts waehrend ihrer
Taetigkeit. Eine Zeugin bekraeftigte ihre spiessige Spitzfindigkeit mit der
Bemerkung: Ihr sei aufgefallen, dass die Vermessungsbeamten
Freitagnachmittag noch nach 16 Uhr gearbeitet haetten. Einer anderen
Zeugin, Anwaeltin von Beruf, war aufgefallen, dass die Vermessungsbeamten
auf der Vermessungsstange eine Kamera installiert hatten.
Unterschiedlich genau waren die Angaben zur Vorlage von
Fahndungsbildern. Eine Zeugin sagte aus, ein Vernehmungsbeamter habe
selber darauf hingewiesen, dass die Fotos aus den 70-er Jahren stammten
und schon deswegen die Identifizierungswahrscheinlichkeit gering sei.
Keine von den guten Deutschen, die sich nach dem Tietmeyer-Anschlag
gemeldet hatten, konnte aber auf den BKA-Bildern die Bonner
Vermessungsbeamten wiederfinden. Am 2.2. waren die beim
Tietmeyer-Anschlag verwendeten Waffen Hauptthema. Ihre Herkunft aus dem
Waffengeschaeft in Maxdorf, in dem die RAF Waffen beschafft haben soll,
wurde rekonstruiert.

Behinderung der Verteidigung


Wichtige Unterlagen, die die Schwaechen der Beweisfuehrung von
Bundesanwaltschaft und Gericht aufzeigen koennen, werden der Verteidigung
vorenthalten oder zu spaet geliefert. Zum wiederholten Male werden die
Merkmalsprotokolle zu den Schriftgutachten vergeblich angefordert. Das
Gericht ist nicht bereit, den Videofilm, der verdeckt im Knast gemacht
wurde, auszuhaendigen, um die Beweismanipulation, die da drin steckt,
genau benennen zu koennen. Briefe, die etwas ueber die Persoenlichkeit und
die politische Haltung von Birgit aussagen, werden nicht verlesen.
Sachverstaendige vom BKA, die in der minder gewichtigen Rolle des Zeugen
geladen werden, koennen die behauptete Identifikation von Fingerabdruecken
nicht sichtbar und klar darstellen, weil ihnen angeblich die technischen
Mittel fehlen. Wenn die Verteidigung den Antrag stellt, die Vernehmung
zu unterbrechen, damit der Sachverstaendige sich erst die technischen
Mittel besorgt, wird das abgelehnt, manchmal noch mit der Bemerkung,
dies sei Prozessverschleppung. Der BKA-Mann, der die Hauptzeugin mit
ihrer entlastenden Aussage fuer Birgit bestaetigen kann, wird nicht
geladen. Der Bundesgerichtshof hat die Beschwerde der Verteidigung ueber
unzureichende Akteneinsicht zurueckgewiesen. Es bleibt jetzt noch ein
Versuch beim Bundesverfassungsgericht. Die Verteidigung ist damit
einverstanden, dass die Zeugin L. (sie hatte das Gericht aus persoenlichen
Gruenden gebeten, nicht zu dem Prozess kommen zu muessen) nicht geladen
wird, wenn die zwei wichtigsten Seiten aus dem Vernehmungsprotokoll
verlesen werden. Die Bundesanwaltschaft kontert sofort dieses
Zugestaendnis damit, dass dann auch die Bemerkungen, die das BKA zu der
Zeugin gemacht hat, verlesen werden. Diese wollen den Wert ihrer Aussage
relativieren.

Prozessplanung Februar
7.2. Bekennerschreiben Tietmeyer
Erklaerung RAF / Rote Brigaden
9.2. Vernehmung Tietmeyer
14.2. Ermittlungen zu Pimental I
16.2. Bekennerschreiben zu Air-Base-Anschlag 1985

Antrag auf Unterbrechung des Prozesses waehrend der erneuten -


befristeten - Einzelhaft

Seit letzten Freitag bin ich wieder in Einzelhaft, also wieder 23


Stunden am Tag in der Zelle eingeschlossen - die Isolation ist diesmal
auf die Dauer von zwei Wochen befristet und laeuft formal als
Disziplinarstrafe (wegen eines Zusammenstosses, den SchliesserInnen im
Oktober 94 provoziert hatten und bei dem am Ende ausschliesslich ich
verletzt war und mir die Kleider vom Leib gerissen worden waren). Das
OLG hat diese befristete Einzelhaft in einem Beschluss von Ende Dezember
gegen mich verhaengt, also vier Wochen nachdem ich hier eine Erklaerung
ueber Isolationsfolter und ihre Wirkung vorgelesen habe. In dieser
Erklaerung habe ich sehr viele persoenliche Erfahrungen und Eindruecke aus
den 13 Monaten, die ich in Isolationshaft gewesen bin, beschrieben und
auch, dass ich diese Zeit fuer mich selber noch lange nicht fuer
abgeschlossen halte. Jeder Mensch, der eine solch persoenliche Erklaerung
schreibt, weiss, dass er sich damit angreifbar macht, das ist der Preis -
mir war das bewusst und ich habe heute keinen Grund mich darueber zu
beschweren; spaetestens nachdem mein Text breit veroeffentlicht worden war
und auch bei Leuten, die sich ansonsten nicht mit dieser Problematik
beschaeftigen, Diskussionen ausgeloest hat, war abzusehen, dass die
Bundesanwaltschaft und OLG mir frueher oder spaeter die Rechnung liefern
werden. Das ist jetzt der Fall.

Nach gerade mal 4 Monaten 'Normalvollzug' liegt es auf der Hand, dass ich
zwei Wochen Einzelhaft anders erfahre und erlebe als Menschen, die nicht
gerade eine laengere Zeit Isolationshaft hinter sich haben. Fuer mich ist
es nicht die 'normale Gemeinheit', die jeder Einschluss fuer Gefangene
bedeutet, ich durchlebe zwei Wochen lang 13 Monate Isolationshaft - vom
ersten Tag an war alles wieder da, 100 Erinnerungen, Gefuehle, Eindruecke.
Aus diesem Grund beantrage ich, dass der Prozess gegen mich fuer die Dauer
dieser befristeten Einzelhaft unterbrochen wird - oder dass diese
Disziplinarstrafe sofort aufgehoben wird. Ich bin unter diesen
Bedingungen nicht verhandlungsfaehig, weil ich mich schwerpunktmaessig mit
der Isolation und ihren Wirkungen bei mir und gegen mich
auseinandersetzen muss und auch will; ich kann mich z.Zt. also nicht in
dem Mass, wie ich es fuer richtig und notwendig erachte, auf diesen Prozess
vorbereiten und konzentrieren.

Aus der Ueberwachung meiner Briefe und meiner Besuche und der Kontrolle
der Post, die meine AnwaeltInnen mir schicken, ist der Bundesanwaltschaft
und dem OLG bekannt, dass ich z. Zt . an einer Erklaerung ueberlege und
schreibe, die sich auf die Aktion der Raf gegen die Rhein-Main Air-Base
und die ErschieBung des amerikanischen GI Pimental bezieht. Mich jetzt
wieder - zwar befristet, aber jederzeit in einer neuen Runde
wiederholbar - in Einzelhaft zu stecken, soll auch verhindern, dass ich
mich hier zur Geschichte der Raf und der gesamten Linken und einer
politischen Perspektive in Richtung auf eine menschliche
Gesellschaftsentwicklung aeussern kann . Aber auch bezogen auf die
aktuelle Prozessphase hat es Logik, dafuer zu sorgen, dass ich mich nicht
auf dieses Verfahren konzentrieren kann .

Lebenslaenglich wegen
angeblicher O-Beine

Die jetzige Prozessphase soll durch das systematische


Durcheinanderwuerfeln von z.b. Zeugenbefragungen zu verschiedenen
Anklagekomplexer nach aussen hin als ' uninteressant ' dargestellt
werden, um Medien-und Zuschauerinteresse zu verhindern. Am letzten
Prozesstag hat die Bundesanwaltschaft versucht, im Anklagepunkt
'Tietmeyer ' ihr mehr als duerftiges BKA-Schriftgutachten durch die
Aussage einer Zeugin untermauern zu lassen. Diese Zeugin ist im gesamten
Verfahren gegen mich - ansonsten basiert die Anklage in erster Linie auf
wackligen BKA-Schriftgutachten - die Hauptbelastungszeugin und so sollte
mit ihrer Aussage am letzten Verhandlungstag sozusagen 'ohne dass die
Oeffentlichkeit viel davon mitkriegt' das lebenslaenglich-Urteil gegen
mich festgeklopft werden. Die Zeugin hat bei ihrer ersten polizeilichen
Vernehmung die Anmieterin des Fahrzeugs wie folgt beschrieben: Die Frau
hatte eine schmale zum Gesicht passende Nase ... Nach intensiver
Durchsicht bin ich mir sicher, dass die Frau auf dem Lichtbild 2-16.2 ...
mit der Frau identisch ist, die ... das Fahrzeug anmietete. Auf dem
Lichtbild 2-16.2 war Sigrid Sternebeck abgebildet. Nun will die Zeugin
mich als die Mieterin wiedererkannt haben und zwar an O-Beinen, einer
krummen Nase und fleischigen Wuelsten unter den Augen.

Alle diese drei Merkmale treffen auf mich nicht zu. Es wird kein Problem
sein, beispielsweise ein Gutachten vorzulegen, das besagt, dass ich keine
O-Beine habe, jede/r Orthopaede/in wird bestaetigen, dass ich nach der Art
der Hueftgelenkoperationen, die ich hinter mir habe, gar keine O-Beine
haben kann. Auf all solche Fragen auch einer juristischen Verteidigung
soll ich mich im Moment nicht konzentrieren koennen - auch deshalb die
erneute Einzelhaft.

Auch der Bundesanwaltschaft muss mittlerweile aufgegangen sein, dass sie


mich schlecht wegen Mordes an diesem GSG 9-Mann verurteilen lassen kann,
wo heute wirklich jede/r weiss, dass ich zum Zeitpunkt der Schiesserei in
Bad Kleinen bereits mir einer Polizeipistole am Kopf auf dem Boden lag.
Die Knastsprengung in Weiterstadt gibt selbst bei einer Verurteilung
kein Lebenslaenglich her und bei der Anklage wegen 'Air-Base' gibt es nur
diese Schriftgutachten, mit denen bewiesen werden soll, dass ich ein Auto
gekauft haette - da haben sie nicht mal solche O-Bein-Zeugen aufzubieten.
Ausserdem ist bei diesem Anklagekomplex zu erwarten, dass das
Medieninteresse wieder groesser sein wird, weil diese Aktion und die
Erschiessung des GI selbst in linken Kreisen groesste Widersprueche und
Kritik ausgeloest hat. Von daher wird dann diese Art 'Beweisfuehrung', die
heute hier an der Tagesordnung ist, nicht so glatt ueber die Buehne gehen
koennen. Aus all diesen Gruenden wollen Bundesanwaltschaft und OLG gerade
in der aktuellen, als 'langweilig' und 'uninteressant' inszenierten
Prozessphase mit O-Bein-Zeugen und aehnlichen Konstruktionen die
'Beweisfuehrung' (Tietmeyer) fuer das Lebenslaenglich gegen mich schnell
abschliessen und in die Tasche kriegen - und ich soll mich waehrenddessen
in Isolation mit deren Wirkungen beschaeftigen.

Birgit Hogefeld
10.01.1995

Interview mit RA Berthold Fresenius und RAin Ursula Seifert,


VerteidigerInnen von Birgit

Info-AG: ?Wie ist der derzeitige Stand des Verfahrens und wie stellt ihr
euch den weiteren Ablauf vor?

RAin Ursula Seifert: Im Moment behandeln wir immer noch den Komplex
Tietmeyer und zumindest die naechsten beiden Verhandlugstage wird es noch
um Beweisaufnahme zu Tietmeyer gehen.

?Das heisst, der groesste Teil kommt noch?

U. S.: Ja, Airbase, Weiterstadt und Bad Kleinen stehen noch offen. Den
Ablauf bestimmt ja das Gericht durch seine Terminplanung.

RA Berthold Fresenius: Als Zuschauer hoert man oft, dass der Vorsitzende
verkuendet, nach õ 249 sei jetzt dies und jenes eingefuehrt und alle
haetten Gelegenheit gehabt, davon Kenntnis zu nehmen. Das sagt dem
Zuschauer wenig, da er ja keine Gelegenheit hat, davon Kenntnis zu
nehmen. Oder es werden Sachen vorgelesen, auch das als Zuschauer nur
schwer nachzuvollziehen, weil in der Regel nur auszugsweise verlesen
wird und der Zuschauer den Kontext nicht kennt. Diese schriftliche
Unterlagen sind fuer das Verfahren teilweise von sehr grosser Bedeutung,
indem das Gericht Gutachten oder Teile aus den Akten im sog.
Selbstleseverfahren in den Prozess einfuehrt. Mit dem Verlesen von
gerichtskundigen Tatsachen laeuft es genauso. Ziemlich zu Anfang ist ein
Urteil vorgelesen worden, was Angaben zur Struktur der RAF machen
solllte . Das Gericht hat mitgeteilt, dass das gerichtskundige Tatsache
sei, d.h. dass es davon ausgeht: so ist die Struktur der RAF. Dies ist in
dem vorliegenden Verfahren wie in allen sog. RAF-Verfahren von grosser
Bedeutung. In diesen Verfahren wird die individuelle Beweisfuehrung
ersetzt durch ein Konstrukt der Organisation. Ergebnisorientiert wird
dabei die vermeintliche Struktur der RAF zur Anwendung gebracht. In der
Oeffentlichkeitsarbeit der BAW wurde die RAF als eineOrganisation mit
hierarchischer Struktur dargestellt, in den Urteilen wurde sodann von
einer basis-demokratischen Struktur ausgegangen. Bedeutende Schritte in
der Beweisaufnahme vpllziehen sich somit, ohne dass dies fuer den
Zuschauer nachvollziehbar ist. Auch die ganzen Schriftgutachten sind
schlichtweg durch Verlesen eingefuehrt worden. Wir haben uns dagegen
jeweils gewehrt, haben immer Widerspruch eingelegt. Normalerweise werden
die Sachverstaendigen geladen und werden dann auch befragt. d.h. alle
Verfahrensbeteiligten koennen Fragen stellen, wie sie zu diesem Ergebnis
gekommen sind. Man kann versuchen, das nachzuvollziehen, Unterlagen
werden vorgelegt, Wahrscheinlichkeitsgrade erlaeutert. Das ist eine
Beweisaufnahme. Da sitzt jemand und muss sein Gutachten erlaeutern,
erklaeren und rechtfertigen. Bei uns war es bisher so, dass die Gutachten
vorgelesen werden. Das Gericht sagt: Im Rahmen der Beweiswuerdigung
werden wir schon sehen, wie wir damit umgehen. Es hat den Anschein und
wir gehen davon aus, dass es dem Gericht genuegen wuerde, in dieser Art und
Weise zu einem Urteil zu kommen.

U. S.: ... ohne dass diese Gutachterinnen vor Gericht erscheinen, obwohl
ihre Gutachten ja, wie wir in unseren Widerspruechen schon dargelegt
haben, aeusserst fragwuerdig sind. Wenn man einmal davon ausgeht, dass
Schriftgutachten bei so ganz geringen Schreibleistungen wie einer
Unterschrift ueberhaupt erstellt werden koennen - es sind ja hier in
unserem Verfahren meistens nur 5, 6 oder maximal 7 Buchstaben - dann
sind die Leute, die trotzdem Gutachten erstatten jedenfalls
uebereinstimmend der Meinung, dass bei fotografierten oder photokopierten
Unterschriften kein Gutachten erstattet werden kann. Die Unterlagen,
die den Gutachterinnen in diesem Verfahren vorlagen, waren zu einem
grossen Teil Fotokopien, Durchschriften oder Fotografien und sie haben
trotzdem begutachtet. Deswegen sind diese Gutachten an sich innerhalb
dieser Fachdisziplin sehr umstritten. Dann ist es doch sehr
verwunderlich, wenn das Gericht diese Gutachten lediglich duch Verlesen
einfuehrt und es noch nicht einmal fuer erforderlich haelt, dass die
Gutachterinnen kommen und erklaeren, wieso sie anhand so fragwuerdiger
Unterlagen ueberhaupt ein Gutachten erstatten koennen.

?Habt ihr beantragt, die Gutachterinnen zu laden?

U. S.: Nein, wir haben bisher lediglich der Verlesung widersprochen.

B. F.: Grundsaetzlich ist es im Strafverfahren so, dass das Gericht laut


Gesetz eine Aufklaerungspflicht hat. Das sind ja alles Punkte, denen das
Gericht von sich aus , auch ohne Antraege der Verteidigung nachgehen
muesste. Wenn das Gericht es angesichts der sehr schweren Anklagepunkte
nicht mal fuer noetig haelt, die Sachverstaendigen zu diesen
Schriftgutachten zu laden und von sich aus zu den Widerspruechen in
diesen Gutachten zu befragen - es gab ja teilweise auch zwei Gutachten
mit unterschiedlichen Ergebnissen - dann kann man schon den Eindruck
gewinnen, dass das Gericht nicht besonders offen an die Beweisaufnahme
herangeht, nicht neugierig darauf ist, wie der Sachverhalt wirklich ist.
Wir hatten bisher 2 ZeugInnen, die jeweils im Zusammenhang mit der
Anmietung bzw. dem Ankauf eines KFZ vor Gericht erschienen sind. Beide
ZeugInnen hatten Besonderheiten: bei dem Einen war aus der Akte zu
erkennen, dass sie unvollstaendig ist. Nicht alle Lichtbilder, die
vorgelegt worden waren, befanden sich in der Akte. Nun ist es fuer die
Nachvollziehbarkeit der Zeugenaussage natuerlich wichtig, zu wissen, was
dem Zeugen damals vorgelegt wurde, warum er was wiedererkannt hat. Das
Gericht hat keine Bemuehungen gestartet, bei der BAW auf
Vervollstaendigung der Akten hinzuwirken. Es war ihm schlichtweg egal.
Die zweite Zeugin, die zum Komplex Tietmeyer ausgesagt hat, hatte in
ihrer ersten Vernehmung bei Lichtbildvorlage mit Sicherheit - ich bin
mir ganz sicher - eine Person wiedererkannt, und zwar die Frau
Sternebeck. Auch da hat der Senat nicht nachgefragt, er hat der Zeugin
nicht vorgehalten, dass sie damals ausdruecklich und zweimal betont hatte,
Frau Sternebeck erkannt zu haben. Das ist eigentlich der entscheidende
Eindruck, den ich bei dem Verfahren bisher habe: dass dieser Senat die
Anklageschrift mit dem Beweismittelverzeichnis neben sich liegen hat und
jeweils abhakt. Er nimmt das als Beweismittel, was in der Anklage
drinsteht und befragt die Zeugen dann regelmaessig in der Art und Weise:
Wenn sie damals gesagt haben ... ist das dann richtig? Ich hab noch
keinen Zeugen erlebt, der dann sagt: Was ich damals gesagt habe, ist
nicht richtig, zumal wenn er sich nicht mehr gut erinnert. Es fehlt bei
dem Gericht voellig, dass nachgehakt wird oder eben mit dem Interesse
gefragt wird, einen Sachverhalt zu hinterfragen. Sondern es werden
schlichtweg die Stichworte abgehakt, die in der Anklage wichtig sind und
im Beweismittelverzeichnis stehen. Wenn alle Haekchen gemacht sind, dann
ist fuer das Gericht der Zeuge nicht mehr interessant. Die
Bundesanwaltschaft befragt sehr wenig und wenn wir befragen, schalten
sie ab. Allein durch die Beobachtung der einzelnen Senatsmitgliede r hat
man oft den Eindruck, dass sie nun in Gedanken ganz woanders sind.

U. S.: Das Gericht scheint nicht daran interessiert, zu erfahren, was


bei den Zeugenbefragungen im Einzelnen wirklich abgelaufen ist. Es ist
bei ganz vielen Vernehmungen so, dass aus den Akten klar wird, dass da
Vorgespraeche stattgefunden haben, deren Inhalt gar nicht in den Akten
ist - und dass es das Gericht ueberhaupt nicht interessiert, ob dem Zeugen
zum Beispiel bei diesem Vorgespraech auch schonmal Lichtbildmappen
vorgelegt worden sind, was ja meistens der Fall ist. Und es ist ja
gerade bei Wiedererkennungszeugen zu beobachten, dass sie, wenn sie ein
Bild oefters gesehen haben, das natuerlich irgendwann wiedererkennen -
aber nicht, weil sie die Person schon mal gesehen haben, sondern weil
sie das Bild schon oefter gesehen haben.

B. F.: Kurz etwas grundsaetzliches zu den Schriftgutachten, die fuer die


Anklage in diesem Verfahren eine zentrale Bedeutung haben. Ein
Schriftsachverstaendigen-Gutachten ist Produkt eines subjektiv gepraegten
Vorganges. Es gibt keine empirischen Daten, auf die sich diese Gutachten
stuetzen koennen. Entsprechend koennen auch keine prozentualen Zuordnungen
getroffen werden. Weiterhin haben wir es ausschliesslich mit Gutachtern
des BKA zu tun, die Gefahr des sich-gegenseitig bestaetigens liegt nahe.
Zu beruecksichtigen ist auch der Gegenstand der Begutachtung: Es handelt
sich jeweils um 1 Wort.

?Nochmal eine Frage zu dieser Autoanmietung. Als diese Frau


Walter-Chorfi als Zeugin da war, hat sie gesagt, dass die Frau, die
damals das Auto gemietet hat, erst mit dem Sohn gesprochen hat, dann mit
der Oma, dann mit dem Mann der Zeugin, der ein laengeres Gespraech mit ihr
hatte, und dann kam erst die Zeugin dazu, um den Vertrag zu tippen.
Jetzt wird aber nur sie als Zeugin vernommen, sie, die behauptet,
Birgit wiederzuerkennen. Die anderen tauchen garnicht auf.

U. S.: Ja, die anderen konnten entweder ueberhaupt niemand mehr erkennen
oder waren eben nicht sicher in ihrer Wiedererkennungsleistung. Sie war
die einzige, die sicher behauptet hat - nachdem sie wieder davon
abgekommen war, dass es Frau Sternebeck war, der sie damals gegenueber
stand - dass das Birgit Hogefeld war, die das Auto angemietet hat. Und
das ist ja genau das, was wir vorhin schon gesagt haben: den Senat
interessiert offensichtlich nur die Zeugin, die den Anklagevorwurf auch
stuetzt. Was eventuell entlasten koennte, findet keine Beruecksichtigung.

B. F.: Es ist genau wie Du gesagt hast: der Zeuge, der mit ihr zeitlich
viel mehr zu tun hatte, der die Verhandlungen gefuehrt hat und mit ihr
auch zum KFZ gegangen ist, war sich unsicher und hat keine 100%igen
Angaben gemacht, genauso die uebrigen Mitglieder der Familie. Sie haben
zwar unter Umstaenden Leute erkannt, aber das waren dann Personen, an
denen die Ermittlungsbehoerden kein Interesse hatten, oder sie haben von
vorneherein eingeraeumt, dass sie sich nicht mehr erinnern koennen - und
ich meine, wenn man Autos vermietet, ist der Umstand, dass da Leute ins
Haus kommen, um ein Auto zu mieten, ja nicht so untypisch. Nur diese
Zeugin war sich von Anfang an sicher - sie hat bei der ersten Vernehmung
zweimal betont, dass sie sich sicher sei - das Lichtbild 16, das ist
Sternebeck, wiederkannt zu haben. Mit der selben Sicherheit ist sie auch
im Laufe des Verfahrens aufgetreten. Sie kam ja als Zeugin rein und hat
nicht etwa gesagt: Da war eine Frau bei mir, die hat so und so
ausgesehen, son dern sie kam rein und sagte: Frau Hogefeld war bei mir.
Sicherlich hat sich die Person nicht als Frau Hogefeld vorgestellt.

U. S.: Dann gab es da noch eine verdeckte Gegenueberstellung der Zeugin


Walter-Chorfi mit Birgit in Preungesheim. Im wesentlichen sollte es sich
da um eine aehnliche Gegenueberstellung wie auf dem Videofilm, der im
Prozess gezeigt wurde, handeln - ausser, dass Birgit Hogefeld bemerkt hat,
dass eine Gegenueberstellung stattfindet und den Arm vorïs Gesicht
gehalten hat. Sie hat sich also laut Akte offensichtlich ganz anders
verhalten als die Vergleichspersonen. Ein anderer wesentlicher
Unterschied zu der auf dem Video zu sehenden Gegenueberstellung war wohl
gewesen, dass sich die Vergleichspersonen hinterher nocheinmal fuer die
Zeugin aufgestellt haben, ohne Birgit Hogefeld. Das ist die
Gegenueberstellung, auf die sich die Zeugin Walter-Chorfi bezieht. Sie
konnte Birgit Hogefeld zu dem Zeitpunkt wohl schlecht am Gesicht
erkennen, da Birgit Hogefeld den Arm davor gehalten hat und dann hat sie
sie wohl an den angeblichen O-Beinen erkannt haben wollen.

? Ist eigentlich inzwischen klar, wer auf diesem Ganzkoerperfoto zu sehen


war, das der Zeugin Walter-Chorfi vorgelegt wurde?

B. F.: Das ist das, wovon ich vorhin schon gesprochen habe: wenn die
Akten fehlerhaft gefuehrt werden - ob nun bewusst oder unbewusst sei mal
ganz dahingestellt - dann laesst sich das viele viele Jahre spaeter
natuerlich gar nicht mehr rekonstruieren, weil die Beamten alle sagen
Wissen wir nicht mehr. Das Gericht kann daraus Schlussfolgerungen ziehen.
Es kann sagen Interessiert uns doch alles nicht. Es kann aber auch
sagen, Wiedererkennungsleistungen sind ein unheimlich fehleranfaelliges
Gebiet. Und um die Fehleranfaelligkeit moeglichst gering zu halten, ist es
unumgaenglich, dass alle Beteiligten heute im Prozess nachvollziehen
koennen, wie dieser Wiedererkennungsprozess gelaufen ist, d.h. wann in
welcher Reihenfolge welche Lichtbilder vorgelegt wurden, wie die
Qualitaet der Bilder war, ob sie zum ersten Mal oder wiederholt vorgelegt
wurden usw. Das ist entscheidend, um die Wiedererkennungsleistung
beurteilen zu koennen. Nun kann man natuerlich sagen, die
Ermittlungsbehoerden haben hier schlecht und fals ch gearbeitet - aus
welchen Gruenden auch immer; das heisst, wir koennen dieses Beweismittel,
diese Zeugenaussage nicht mehr rekonstruieren: ob sie nachvollziehbar
ist, ob Fehlerquellen vorhanden sind, und sie kann von daher nicht mehr
verwandt werden. Das waere eine Folgerung, die als Nebenzweck dazu fuehren
koennte, dass die Ermittlungsbehoerden die Akten in Zukunft ordentlicher
fuehren.

Worueber wir jetzt noch gar nicht geredet haben: Steinmetz. Darueber
braucht man auch nicht viel zu dagen, aber wir wollten ihn doch mal
erwaehnen. Bei Steinmetz ist ja auch wieder die Frage der
Aktenvollstaendigkeit. Aus der Akte mit den Steinmetz-Vernehmungen ergibt
sich, dass die Akte unvollstaendig ist. Das braucht man nicht zu
analysieren, das steht in der Akte direkt drin. Weiterhin ist der
Verteidigung, dem BKA, der BAW und dem Gericht selbstverstaendlich auch
bekannt, dass es nicht stimmt, dass Steinmetz seit Januar 1994 , dem
Zeitpunkt - nach unserer Akte - seines Verschwindens, als er aus dem
Zeugenschutzprogramm offiziell entlassen wurde, keine ladungsfaehige
Adresse fuer unser Verfahren mehr haben soll. Das ist allen Beteilligten
bekannt, denn Steinmetz ist auch danach noch als Zeuge vernommen worden.
Die Hausdurchsuchungen, die es in Frankfurt gab, haben das ja fuer jeden
anschaulich dokumentiert. Das war ja sogar im Hessischen Rundfunk zum
Hogefeld-Prozess kurz vor Prozessbeginn, wo de r Pressesprecher der BAW
erklaerte, dass, falls das Gericht auf Steinmetz bestehen sollte, es schon
Mittel und Wege geben werde, Steinmetz auch zu laden. Das heisst, dass er
offensichlich fuer die Ermittlungsbehoerden greifbar ist. Jetzt hat in dem
ganzen Verfahren der Senat nicht einfach mal bei der BAW nachgefragt:
Koennen wir mit den Zeugen rechnen oder nicht, nach den Akten ist er
nicht erreichbar, nach Ihren Aussagen ist er erreichbar - eine ganz
einfache Frage. Der Senat hat keinmal bei der BAW nachgefragt, was denn
mit den weiteren Angaben ist, die es - das kann man sogar der Presse
entnehmen - im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren Weiterstadt
gibt. Fuer den Senat hat das ueberhaupt keine Schlussfolgerungen gehabt.
Auch wieder das voellige Desinteresse an einer Sachverhaltsaufklaerung -
diese Punkte stehen in der Anklage nicht drin, da kann man kein Haekchen
dranmachen, und wo man kein Haekchen dranmachen kann, das interessiert
dann halt nicht.

U. S.: Die BAW ermittelt da ja offensichtlich immer weiter, da gab's ja


auch Durchsuchungen in Frankfurt im Zusammenhang mit Weiterstadt. Das
ist alles bei uns in der Akte nicht drin. Wir erfahren das sozusagen aus
der Presse, oder von sonstwoher. Nur aus unserer Akte erfahren wir das
nicht, obwohl ganz klar ist, dass es in unmittelbarem Zusammenhang steht
und vielleicht auch Entlastendes enthalten koennte oder ueberhaupt was
Erhellendes fuer unser Verfahren, in welche Richtung auch immer der
Sachverhalt aufgeklaert wird. Und gleichwohl findet sich keines der
weiteren Ermittlungsergebnisse oder ueberhaupt der Ermittlungsverlauf bei
uns in der Akte wieder, die hoert fuer uns im Januar 94 auf.

?Koennt ihr noch weitere Beispiele sagen, wie die Verteidigung behindert
wird ?

U. S.: Ja, wir werden ja generell bei der Akteneinsicht behindert, z. B.


was die Lichtbilder anbelangt, das haben wir ja auch schon mehrmals im
Verfahren zum Thema gemacht. In der Akte befinden sich ja weit ueber 400
Lichtbilder, sei es Bildmappen mit Personen, die Wiedererkennungszeugen
vorgelegt wurden, seien es Lichtbilder zu Gutachten, wo
Schussentfernungen bestimmt worden sind, oder wo Projektile bestimmt
worden sind, Schmauchspuren, dann gibt es natuerlich auch zu Weiterstadt
massenhaft Tatortbilder. Also, es sind wahnsinnig viele Lichtbilder. Die
haben wir in den Akten alle als Schwarz/Weiss-Kopien gekriegt, und
Schwarz/weiss-Kopien haben nun mal an sich, dass man relativ wenig an
Details erkennen kann, wenn man ueberhaupt was darauf erkennen kann. Wir
hatten schon sehr fruehzeitig, naemlich im April 1994, beantragt, dass uns
diese Lichtbilder im Original oder als Abzuege zur Verfuegung gestellt
werden, oder dass uns Unterlagen zugaenglich gemachtwerden, damit wir
selbst uns Abzuege machen koe nnen. Wir streiten uns jetzt praktisch seit
April 94 darueber, ob uns das zusteht oder nicht. Bislang wurde das
immer abgelehnt, wir wurden darauf verwiesen, dass wir ja die Akten beim
Gericht einsehen koennten und wir hatten darauf hingewiesen, dass das
natuerlich ueberhaupt keine Akteneinsicht ist. Man kann nicht zum Gericht
gehen und sich ueber 400 Lichtbilder anschauen und dann im Kopf behalten,
was im Detail auf diesen Lichtbildern zu sehen ist

B. F.: ... und vor allem: wie denn dann diese Lichtbilder mit der
Mandantin besprechen, das geht ja gar nicht...

U. S.: Und es gibt zu ganz verschiedenen Themen Lichtbilder:


Schmauchspuren, Entfernung, Projektilbestimmung und und und. Es kann
auch notwendig sein, die Lichtbilder einem Sachverstaendigen zu zeigen,
der dazu etwas erklaeren kann. Dadurch kann man unter Umstaenden ueberhaupt
erst beurteilen, ob man da noch Antraege stellen oder weitere Gutachten
einholen muss. Der Senat hat uns, nachdem die Hauptverhandlung schon
begonnen hatte, in einem Pausengespraech mitgeteilt, sie haetten uns z.B.
die Obduktionslichtbilder des Polizeibeamten Newrzella und den Video und
die Gegenueberstellungslichtbilder nicht gegeben, weil wir die auch
veroeffentlichen koennten - das wuerden sie befuerchten. Daraufhin haben wir
beide Erklaerungen abgegeben, dass wir das Material natuerlich nur zu
Verteidigungszwecken brauchen. Offensichtlich war ihre Begruendung
vorgeschoben, denn bis heute haben wir nur eine ganz kleine Auswahl an
Abzuegen bekommen. Dann wollten sie, dass wir zu jedem einzelnen Lichtbild
begruenden, warum wir es haben wollen. Das wuerde bedeuten, dass wir zu
einem ganz fruehen Zeitpunkt unsere Verteidigungsstrategie offenlegen
muessten. Das kann ja nicht angehen. Das Gericht hat alle Lichtbilder im
Original, die BAW hat natuerlich jederzeit Zugriff, nur wir Verteidiger,
die ohnehin den kleinsten Apparat zur Seite haben, muessen wegen jedem
Lichtbild zum Gericht rennen und es uns dort anschauen.

?Wie geht ihr das Verfahren an?

U. S.: Wir haben schon immer gesagt, dass wir in diesem Verfahren
juristisch verteidigen. D.h. alle Beweismittel, die angefuehrt werden, um
Birgit Hogefeld zu ueberfuehren, werden wir dahingehend ueberpruefen, ob sie
Bestand haben koennen. Dazu gehoeren die Schriftgutachten. Dazu gehoeren
die angeblichen Wiedererkennungszeugen, deren Wiedererkennungsprozess wir
nachvollziehen lassen wollen.

B. F.: Die Schlussfolgerung daraus, wie das Gericht mit dieser


Verteidigung umgeht, den Charakter diese Verfahrens mag dann die
geneigte Zuhoererin und der geneigte Zuhoerer erkennen. An den Beispielen,
die wir genannt haben, wird denke ich schon deutlich, dass wir nicht in
einem normalen, juristisch gepraegten Verfahren sitzen. Wir sitzen nicht
vor dem Landgericht, Schwurgericht, mit Mordanklage, sondern wir sitzen
vor einem Staatsschutzsenat, der in der Person von zumindest dreien der
Senatsmitglieder seit vielen Jahren in Frankfurt in õ 129a-Verfahren
taetig ist - von Startbahn ueber die Verfahren gegen Ali Jansen, Ingrid
Barabass, Mareille Schmegner usw. Und er steht in der jahrzehntelangen
Tradition der Staatsschutzrechtssprechung in der Bundesrepublik.

U. S.: Und vor allen Dingen steht er ungebrochen in dieser Tradition.


Manche Staatsschutzsenate haben in den vergangenen Jahren ja ab und an
mal abweichende Urteile und Beschluesse erlassen, also gegen die BAW. Das
kann man von diesem Senat nicht sagen.

B. F.: Wozu man noch sagen kann, dass die BAW nach der Gesetzeslage bei
diesem Verfahren eine grosse Auswahl von Moeglichkeiten hatte, wo sie
anklagt. Es ist rechtlich nicht so, dass sie nach Frankfurt haette gehen
muessen, sondern sie haette mit dieser Anklage in der gesamten BRD
anklagen koennen. Dass die Wahl auf diesen Senat gefallen ist, ist denke
ich voellig nachvollziehbar.

?Wer wuerde bei einem Revisionsverfahren den Senat bestimmen?

B. F.: Das ist dann der 3. Senat des BGH, der laut Gesetz fuer
Staatschutzprozesse zustaendig ist, der auch schon in den 50er Jahren fuer
die KPD-Prozesse zustaendig war. Wobei man auch noch sagen muss, dass es ja
nicht nur wir sind, die da verteidigen, sondern dass es da noch eine
Angeklagte, eine Mandantin gibt, die da sitzt und die ja auch versucht,
sich aktiv an dem Verfahren zu beteiligen. Sie hat ja schon mehrmals das
Wort ergriffen und wird das auch im Laufe des Verfahrens noch mehrfach
tun. Sie hat sich nicht ausschliessen lassen, will teilnehmen und will
selbst, mit den Mitteln die sie hat, mit Erklaerungen, die sie schon
abgegeben hat und auch noch abgeben wird, dieses Verfahren fuehren.

?Koennt ihr zu dem Komplex Bad Kleinen noch was sagen?

U. S.: Bei Bad Kleinen ist wie bei den anderen Anklagekomplexen die Akte
nicht so gefuehrt, wie sie eigentlich gefuehrt sein muesste. Wir haben ja
am ersten Tag schon beantragt, das Verfahren hinsichtlich Bad Kleinen
einzustellen, mit der Begruendung, dass unserer Meinung nach entscheidend
ist, ob der Polizeibeamte Newrzella von Wolfgang Grams erschossen worden
ist oder nicht. Dazu hat uns der Senat mehrfach, auch schon vor der
Hauptverhandlung geschrieben, dass diese Frage mit unserem Verfahren
unmittelbar gar nichts zu tun habe. Wir denken aber, dass wenn Birgit
Hogefeld vorgeworfen wird, als Mittaeterin bei diesem vorgeworfenen Mord
beteiligt gewesen zu sein, fuer uns natuerlich die Grundvoraussetzung ist,
dass festgestellt wird, ob der Polizeibeamte Newrzella tatsaechlich von
Wolfgang Grams erschossen worden ist. Wir haben dazu schon gesagt, dass
die angeblichen Tatprojektile bei der Obduktion des Polizeibeamten von
den anwesenden BKA-Beamtinnen laut Akte weder mit einer Asservatennummer
verseh en wurden noch festgehalten worden ist, was mit den
Tatprojektilen, die aus dem Koerper des Polizeibeamten entfernt wurden,
im Laufe der folgenden vier Tage passiert ist. Nach der Akte sind sie
schlichtweg verschwunden. In einer normalen Akte darf das gerade bei dem
Hauptbeweismittel nicht vorkommen. Es wird ja gesagt, diese Projektile
stammten aus der Waffe von Wolfgang Grams, und alle gehen davon aus, dass
es sich dabei um die Projektile handelt, die aus dem Koerper von
Newrzella entfernt wurden. Aber es ist tagelang nicht nachvollziehbar,
wo diese Projektile abgeblieben sind. Sie tauchen dann in Muenster bei
Professor Brinkmann wieder auf, als angeblich - man muss 'angeblich'
sagen - diese zwei Projektile, die aus dem Koerper des Polizeibeamten
herausoperiert worden sein sollen. Erst ab da - vier Tage nach der
Obduktion des Polizeibeamten, bei Professor Brinkmann in Muenster - haben
diese beide Projektile Asservaten-Nummern. Das ist sehr sehr
ungewoehnlich. Normalerweise wird in allen Akten festgehalten, und zwar
minutioes festgehalten, wenn Tatmittel oder Beweismittel uebergeben
werden, von wem, an wen, Zeitpunkt der Uebergabe und was dann nach der
Uebergabe mit ihnen passiert. Es ist anhand der Akte fuer jeden, auch fuer
das Gericht, schon vor Beginn der Hauptverhandlung erkennbar gewesen,
dass dem in diesem Fall nicht so ist. Auch hier: keine Anfrage, keine
Initiative von Seiten des Gerichts, dass etwa die BAW aufgefordert worden
waere, die Akten insoweit zu komplettieren oder eine Erkaerung dafuer
vorzulegen. Das ist natuerlich nicht die einzige Besonderheit in diesem
Komplex. Aufgrund der mannigfachen Manipulationen bei der
Beweissicherung sind bis heute auch noch die Todesumstaende von Wolfgang
Grams ungeklaert. Das haben wir im Einstellungsantrag auch schon
ausfuehrlich dargelegt. Dann gibt es noch die an vielen Punkten
offensichtlich falschen Aussagen der GSG-9-Beamten.

?Was denkt ihr, welch Bedeutung der Komplex Bad Kleinen im Rahmen des
Verfahrens noch bekommen wird? Vorrausgesetzt ihr koennt ueberhaupt
durchsetzen, dass diese Widersprueche Gegenstand der Verhandlung werden?
Was denkt ihr, was das fuer eine Rolle in der Oeffentlichkeit spielen
wird?

U. S.: Wir hoffen natuerlich schon, dass die Oeffentlichkeit diesen Prozess
verfolgt, wobei wir natuerlich hoffen, dass sie nicht nur den Komplex Bad
Kleinen, sondern auch die anderen Anklagepunkte verfolgt und dass sich
breiter Widerstand bildet gegen diese Art der Prozess-und Beweisfuehrung

B. F.: So, das war ein schoenes Schlusswort..

Naechste Prozesstermine
Einlass 9 Uhr, Beginn 9.30 Uhr
9. 2. - 14. 2. - 16. 2. - 23. 2. - 2. 3. - 7. 3. - 9. 3. - 14. 3. - 21.
3. - 23. 3. - 28. 3. - 30. 3. - 4. 4. - 6. 4. - 11. 4. - 24. 4. - 27. 4.

Birgits Postadresse
Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt,
5. Stafsenat, Postfach , 60256 Frankfurt/M.

Technics zum Prozess-Info


Das Prozessinfo wird in Wiesbaden gemacht. Adresse: Info-AG zum Prozess
gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden. Telefon mittwochs
von 17-19 Uhr und freitags von 18-20 Uhr : 0611/44 06 64. Der Vertrieb
des Prozessinfos ist immer noch nicht zufriedenstellend organisiert. Eine
zentrale oder mehrere dezentrale Vertriebsgruppen werden noch gesucht.
Grosse Luecken gibt es weiterhin im Ruhrgebiet und in Hessen, ausserdem
gibt es keine organisierte Verschickung an die Gefangenen und an die
Infolaeden. Die Nr. 3 wird wie folgt verbreitet: * Schleswig-Holstein:
Rote Hilfe, Postfach 644, 24125 Kiel, tel/fax 0431/75141 * Hamburg: Ueber
den Tag hinaus c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schaeferkamp 46, 20357 Hamburg *
Berlin / Ex-DDR: Prozessgruppe Birgit Hogefeld, c/o PDS Kreuzberg,
Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, fax 030/6949354 * Stuttgart: Infobuero
fuer polit. Gefangene, Moerickestr. 69, 70199 Stuttgart * Saarland: basis,
Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken * Bayern:
Infobuero c/o Buecherkiste, Schlehengasse 6, 90402 Nuernberg * im
Spinnennetz und im CL-Netz Regionale WeiterverteilerInnen, die auch hier
in der Liste als Verteilstellen aufgefuehrt werden wollen, koennen sich in
Wiesbaden melden und erhalten ein kopierfaehiges Exemplar.
Einzelversendungen koennen von Wiesbaden aus nicht erfolgen. Die naechste
Ausgabe (Nr. 4) wird ca. am 10. -15. Maerz erscheinen

Prozess-Spendenkonto
Da sowohl die Kosten im Todesermittlungsverfahrens z. N. Wolfgang Grams
sowie die Kosten des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld von den
Angehoerlgen alleine nicht getragen werden koennen, sind Spenden dringend
notwendig:

Sonderkonto V. Luley, Bad Kleinen


Postgiroamt Frankfurt,
BLZ 50010060, Kto.-Nr. 16072-603

Info 4 zum Prozess gegen Birgit Hogefeld

Inhalt:
Prozessbericht 7. Februar bis 9. Maerz
Prozesserklaerung zu Pimental und zu Gegenueberstellungen im Prozess
Briefwechsel zwischen Goettinger Frauen und Birgit Hogefeld
Zur Diskussion gestellt: Zur ersten Prozesserklaerung von Birgit

Prozessbericht 7. Februar bis 9. Maerz 1995

Der Komplex Tietmeyer wurde am 9.2. mit der Ladung von Tietmeyer als
Zeugen abgeschlossen. Tietmeyer war 1988 Staatssekretaer im
Finanzministerium und ist inzwischen Bundesbankpraesident. Deutlich
wurde, wie bewusst und selbstverstaendlich solchen Kreisen die Gefahren
ihres Geschaefts sind, aber auch, wie unangetastet von Zweifeln sie sich
bewegen, wie sicher sie sich legitimiert sehen - legitimiert dadurch,
auf der richtigen Seite, auf der Seite der Macht zu stehen. Die Arroganz
der Macht ist die treffende Umschreibung von Tietmeyers Auftreten im
Prozess. Obwohl sein Erscheinen zu erhoehten Sicherheitsvorkehrungen
fuehrte, ist es ProzessbesucherInnen gelungen, fuer einige Sekunden ein
kleines Transparent mit der Aufschrift IWF - Moerdertreff im Prozesssaal
zu entrollen. Der Apparat zeigte sich hier erstaunlich schwerfaellig
(fehlte vielleicht die sitzungspolizeiliche Anweisung von
Schieferstein?) - erst in der darauffolgenden Woche kam es zu
Personalienkontrollen bei 3 ProzessbesucherInnen, denen wohl - dies ging
aus Andeutungen der Beamten hervor - die Transparentaktion zugeordnet
werden sollte. Am 9.3. wurden diese 3 sowie eine weitere
Prozessbesucherin waehrend des Prozesses im Vorraum festgenommen. Dieser
Einsatz war offensichtlich vorbereitet und lief mit dem Kalkuel, dass es
sonst niemand mitkriegen sollte. Die 4 wurden voneinander getrennt ins
Polizeipraesidium verschleppt, wo sie mehrere Stunden festgehalten und
ED-misshandelt wurden. Dass hier auf Anweisung von Schieferstein gehandelt
wurde, liess sich aus den Bewegungen einzelner Polizeibeamter schliessen.
Vorgeworfen wird ihnen õ 90 (Verunglimpfung des Staates und seiner
Symbole), was sich vermutlich auf einen Aufkleber bezieht, der bereits
des oefteren im Prozessgebaeude geklebt war (Hessenloewe in Richt errobe,
der mit seinen Pranken auf dem Grundgesetz steht und ein Urteil wie
einen Knueppel schwingt). Warum diese Festnahmen am 9.3. erfolgten, wird
im weiteren Verlauf deutlich (s.u.).

Am 2.3. und 9.3.1995 ging es um den Anschlag der RAF auf den
US-Luftwaffenstuetzpunkt Airbase in Frankfurt vom August 1985. Es wurden
mehrere Polizisten vernommen, die die Erklaerung der RAF und den Ausweis
des getoeteten US-Soldaten Pimental zur kriminaltechnischen Untersuchung
und Auswertung erhalten hatten. Ausserdem wurde der damalige Leiter der
amerikanischen Kripo befragt, der auch fuer die Einlasskontrolle an der
Air Base zustaendig war. Da diese alle Schieferstein und Hemberger nichts
gegen Birgit Verwertbares liefern konnten, wurden sie bald entlassen.
Danach sollte einer der Zeugen auftreten, der die Frau identifizieren
sollte, die am Abend vor dem Anschlag im Western Saloon in Wiesbaden in
der Dotzheimer Strasse mit dem Soldaten P gesehen worden war und mit
diesem die Kneipe verlassen hatte, um ihn - so die Vermutung der
Anklaeger - in den Hinterhalt zu locken. Unmittelbar nach dem Anschlag
wurden dem Zeugen Bilder von Frauen, die das BKA bei der RAF vermutet,
vorgelegt. Sie konnten keine Person identifizieren. 1993, also acht
Jahre nach den ersten Befragungen, wurden den Zeugen erneut Bilder von
Birgit vorgelegt, wohl in der Hoffnung, dass durch die Medienshow um die
Ereignisse von Bad Kleinen das Gesicht von Birgit auch den Zeugen
haeufiger begegnet sei und sich so vielleicht in die Vergangenheit
projizieren lasse. Danach wurde den Zeugen der schon erwaehnte
manipulierte Film gezeigt, der mit Birgit und fuenf Polizistinnen
versteckt gedreht wurde. Der Zeuge Kalkar, der heute geladen war, hatte
nach dieser Filmvorfuehrung gesagt, dass eine Vergleichsperson eine
gewisse €hnlichkeit mit der Begleiterin von Pimental haette. BAW und
Gericht bestanden jetzt darauf, dass sich der Zeuge in der
Hauptverhandlung nach der Befragung noch einmal umschauen solle, ob
nicht jetzt doch eine €hnlichkeit bei Birgit mit der gesuchten Frau vom
Western Saloon festzustellen sei. Die Verteidigung machte vergeblich auf
das Unzulaessige und Manipulative dieses Vorgehens aufmerksam. Sie wiesen
hin auf die Suggestivwirkung und die mangelnde Beweiskraft einer solchen
Gegenueberstellung und, dass schon zahlreiche Oberlandesgerichte diese
Vorgehensweisen in vergleichbaren Faellen zurueckgewiesen haetten.
Hemberger meinte, er wisse das alles, aber dennoch sollte wie vorgesehen
verfahren werden. Das Gericht lehnte den Antrag der Verteidigung, die
Befragung von Kalkar zurueckzustellen und auch die Gegenueberstellung
nicht durchzufuehren, ab. Daraufhin gab Birgit eine Erklaerung zu ihrem
bevorstehenden Verhalten bei der Gegenueberstellung ab, die wir weiter
unten vollstaendig abdrucken. Sie kuendigte an, sich bei dem Versuch der
Gegenueberstellung vom Gerichtsraum abzuwenden und mit dem Gesicht zur
Wand Platz zu nehmen. Das Gericht liess den Zeugen ohne Kommentar zu
Birgits Erklaerung hereinkommen und fast ausschliesslich Schieferstein
befragte ihn, waehrend Richter Klein seine Haekchen machte. Der Zeuge
beruft sich bei allen Fragen auf seine Aussagen, die er vor 10 Jahren zu
Protokoll gegeben hat, jetzt koenne er sich an nichts mehr erinnern,
weder an Gesichter noch an Vorgaenge in der Western Saloon-Kneipe vor 10
Jahren. Nebenklaeger Dollmann macht zum Schluss der Befragung den
Vorschlag, Birgit mit Gewalt umzudrehen, damit der Zeuge sie ansehen
kann. Das wurde vom Gericht abgelehnt, da der Gesichtsausdruck der
Angeklagten dann nicht mehr natuerlich wirke. Von dieser Haltung rueckte
Schieferstein, nachdem ihm wohl von der Bundesanwaltschaft der Kopf
gewaschen worden war, am naechsten Verhandlungstag nach der Befragung des
Zeugen Esquisito wieder ab. Esquisito war der Verkaeufer des Passat, der
beim Anschlag der RAF auf die Air Base benutzt wurde. Auch ihm wurden
einige Tage nach dem Anschlag Bilder vom BKA vorgelegt. Der Zeuge
erkannte eindeutig Sigrid Sternebeck als Kaeuferin des Passat wieder. Das
BKA war damals gluecklich ueber eine so klare Aussage. Als sich spaeter
herausstellte, dass Sigrid Sternebeck 1985 schon lange in der DDR weilte,
gab's lange Gesichter. Wer meint, dass damit die Sache erledigt sei,
verkennt den politischen und kriminalistischen Korruptions- und
Manipulationswillen des BKA und derer, die das benutzen, um zu dem
politisch erwuenschten Urteil zu kommen. Obwohl es klar war, dass die
Erinnerung des Zeugen, der nicht in der Lage war, schon kurz nach dem
Verkauf die Kaeuferin zu identifizieren, erst recht nicht mit
fortlaufender Zeit praeziser werden koennte, machte das BKA mehrere neue
Anlaeufe: 1990, also fuenf Jahre nach dem Verkauf des Passat, macht sich
das BKA wieder mit Lichtbildern - diesmal ohne Sigrid Sternebeck - auf,
um zu einem neuen Ergebnis zu kommen. 1993, nach der Verhaftung von
Birgit Hogefeld, wurde nochmals nachgesetzt, diesmal mit dem klaren
Ziel, dass Birgit Hogefeld die erwuenschte Person sei, wie der Zeuge es
selbst nannte, die er zu identifizieren habe. Mit 80%iger Sicherheit
meinte er schliesslich, es koennte Birgit Hegefeld gewesen sein. Einige
Tage spaeter wurde ihm der schon mehrfach erwaehnte Videofilm von
Preungesheim vorgefuehrt, diesmal identifizierte er eine
Vergleichsperson, also eine Polizistin, als Kaeuferin. Die Dokumentation
der polizeilichen Zeugenbefragungen und Lichtbilder-Identifizierungen
aus frueheren Jahren ist in den Akten stets unvollstaendig. Dies
erschwert, die Sicherheit, mit der Zeuginnen und Zeugen zu frueheren
Zeitpunkten zu Identifizierungen kamen, abzuschaetzen und zu bewerten.
Deswegen draengen die Anwaelte schon seit Wochen auf Vervollstaendigung der
Akten, u.a. um alle den Zeuginnen und Zeugen jeweils vorgelegten
Lichtbildmappen. Das alles ficht die Bundesanwaltschaft und das Gericht
nicht an. Sie lassen bisher auch nicht die Polizisten vor Gericht
erscheinen, die diese Zeugenfuehrungen in die jeweils gewuenschte Richtung
vorgenommen haben. Denn dann wuerde die Schieberei in aller
Oeffentlichkeit noch deutlicher. Stattdessen wollen sie dem ganzen die
Krone aufsetzen, indem sie Birgit mit Gewalt den Zeugen vorfuehren. Die
Bundesanwaltschaft drueckt das so aus: Was der Zeuge vor 10 Jahren
erkannt und gesagt hat, ist uninteressant, entscheidend ist, was er
heute sagt und erkennt. Das ist mehr als Manipulation, d.h. das Wasser
nach oben fliessen lassen. Fuer diese Dreistigkeit haben sie die
Oeffentlichkeit verkleinert und vier BesucherInnen, die die Verhandlung
kontinuierlich, kritisch und intensiv verfolgt haben, fuer diesen
Nachmittag mit fadenscheinigen Gruenden festgesetzt. Mit einem
Befangenheitsantrag versuchte die Verteidigung, Bundesanwaltschaft und
Schieferstein noch zu bremsen. Vergeblich. Schieferstein gab den Befehl,
zwei Polizistinnen stuerzten sich auf Birgit, reissen sie vom Stuhl,
verdrehen ihr die Arme auf den Ruecken, schlagen Handschellen um ihre
Handgelenke. Birgit schreit, sie reissen ihr die Kapuze vom Kopf und
hebeln den Kopf mit solcher Gewalt hoch, dass sie ihr gleichzeitig die
Luftroehre zudruecken. Birgit kann noch herauspressen, dass sie keine Luft
bekomme. Die Polizistinnen lassen ein wenig locker. Die
ProzessbesucherInnen hinter der Scheibe schreien und bruellen. Richter und
Anklaeger vor der Scheibe betrachten mit Ruhe das Geschehen,
Schieferstein stellt eiskalt seine Frage, ob der Zeuge die Angeklagte
als Kaeuferin wi edererkenne. Er verneint es. Schieferstein gibt Befehl,
die Gefesselte freizugeben. Eine Versorgung der verletzten Handgelenke
durch einen Arzt oder Sanitaeter lehnt er ab. Eine kurze Erholungspause
gesteht er nach langem Hin und Her Birgit zu, lehnt es aber ab, dass ihre
Mutter, Marianne Hogefeld, zu ihr gehen darf. Da sie bekanntlich wenig
in der Hand haben, setzen sie darauf, durch diese unzulaessigen
Suggestiv-Gegenueberstellungen in der Hauptverhandlung Beweise, die sie
noch nicht haben, zu produzieren. Die Gegenueberstellung in der
Hauptverhandlung wird moeglicherweise neue Erkenntnisse bringen...,
meinte die BAW bereits in der Anklageschrift. Es ist damit zu rechnen,
dass sie so schnell von dem in der Anklageschrift angekuendigten Vorgehen
nicht ablassen und dass es bei den naechsten Prozessterminen auf
richterliche Anordnung zu weiteren Gewaltanwendungen gegen Birgit kommt.

Prozess-Erklaerung von Birgit Hogefeld vom 2. Maerz 1995


zu Pimental und zu beabsichtigten Gegenueberstellungen im Prozess

Vor kurzem hat die Beweisaufnahme zu den Anklagekomplexen Air-Base und


Pimental angefangen und ab dieser Woche sollen Zeugen vernommen werden,
die an dem Abend, als Pimental erschossen worden ist, mit ihm zusammen
in der Kneipe waren.

Die Erschiessung des GI Edward Pimental war eine der schlimmsten


Fehlentscheidungen der Raf. Ich denke, dass das, was damals abgelaufen
ist: einen einfachen US-Soldaten zu erschiessen, um an dessen Ausweis zu
kommen, in keiner Weise mit revolutionaerer Moral und Utopien von einer
menschlichen Gesellschaft vereinbar ist. Eine Aktion wie diese ist aus
menschlicher und moralischer Sicht ganz einfach nicht zu rechtfertigen.
Nie war die Kluft zwischen dem Denken und Fuehlen von linken bzw.
fortschrittlichen Menschen in diesem Land und einer Aktion der Raf
groesser als bei dieser Erschiessung - es waren zwei Welten. Meiner Meinung
nach reicht es aber nicht aus, die Erschiessung Pimentals einfach bloss
als schlimme Fehlentscheidung zu bezeichnen, ohne zugleich eine Antwort
auf die Frage zu suchen, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen, die
mit der Vorstellung aufgestanden waren, fuer eine bessere Welt zu
kaempfen, sich so weit von ihren eigenen Idealen entfernen konnten. Ueber
diese Frage, darueber, was in der Raf-Geschichte falsch gelaufen ist, und
was aus den Fehlern, aber auch aus den Staerken fuer die Zukunft zu lernen
sein kann, darueber werde ich demnaechst ausfuehrlich reden.

Gerade wegen der massiven Kritik, auf die die Erschiessung Pimentals
gestossen ist, will die Bundesanwaltschaft unbedingt meine Verurteilung
in diesem Fall. Sie will die Verknuepfung zwischen dieser Erschiessung und
mir nicht nur, weil sie damit das lebenslaenglich-Urteil gegen mich in
der Tasche haette, das natuerlich sowieso. Die Bundesanwaltschaft will
diese Verknuepfung auch deshalb, weil ich seit meiner Verhaftung
sozusagen als Person fuer die inhaltliche Neuorientierung der Raf stehe,
die 1992 zur Ruecknahme der Eskalation von unserer Seite aus gefuehrt hat
- fuer uns war das die Entscheidung dafuer, mit all denen, denen es in
diesem Land darum geht, Wege fuer eine menschliche
Gesellschaftsentwicklung zu suchen, zusammen-kommen zu koennen. Die
Pimental-Anklage gegen mich richtet sich auch gegen diesen Versuch. Die
Anklage wegen der Erschiessung des US-Soldaten, die damals zu einer
tiefen Kluft zwischen grossen Teilen der Linken und der Raf gefuehrt hat,
soll heute dazu dienen, alte Trennungen neu festzuklopfen und ihre
Ueberwindung verhindern.

Die bisherigen Ermittlungen haben nicht zu dem von der


Bundesanwaltschaft erwuenschten Ergebnis gefuehrt. Obwohl alle Zeuginnen
und Zeugen immer wieder vernommen worden sind und ihnen dabei unzaehlige
Lichtbildmappen und Videofilme auch mit Fotos von mir vorgelegt worden
sind, sagt niemand, dass ich die Frau gewesen waere, die mit Pimental
zusammen die Kneipe verlassen hat - nur einer der GIis sieht zu mir eine
grosse €hnlichkeit, gibt aber gleichzeitig an, dass er kurzsichtig ist und
dass er an dem betreffenden Abend seine Brille nicht dabei gehabt haette.
Andere Zeugen schliessen aus, dass ich diese Frau bin. Die
Bundesanwaltschaft hat also bei all ihren Versuchen, mich als die
'Pimental-Begleiterin' zu praesentieren, ihr Ziel nicht erreicht und
startet jetzt hier waehrend der Hauptverhandlung ihren letzten Anlauf, um
es doch noch zu erreichen. In der Anklageschrift heisst es: Ob die
Angeschuldigte tatsaechlich die Frau ist, die zusammen mit Edward
Pimental den 'Western Saloon' verliess, kann erst nach einer
Gegenueberstellung der Angeschuldigten mit diesen Zeugen in der
Hauptverhandlung beurteilt werden. Schon am letzten Prozesstag hat meine
Anwaeltin einen Beschluss dieses Senats zitiert, in dem es heisst, dass die
Verlaesslichkeit einer Wiedererkennung in der Hauptverhandlung nach den
gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft und der kriminalistischen
Praxis fragwuerdig ist, da sie durch vorangegangene Lichtbildvorlagen
beeinflusst sein kann. Diesen Beschluss hat dieses Gericht natuerlich nicht
in einem politischen Prozess gemacht. Den Zeugen wurden oefter Lichtbilder
- auch von mir - vorgelegt, ohne dass sie mich erkannt haetten. Dem Zeugen
Kalka, der heute kommt, wurde sogar der Videofilm vorgefuehrt. Er stellte
€hnlichkeiten mit einer Vergleichsperson fest, nicht aber mit mir. Und
es ist auch nicht verwunderlich, dass das Gericht seinen eigenen Beschluss
im Prozess gegen mich ausser Kraft setzt, indem es diese Anklage auch in
diesem Punkt zugelassen hat und mit den Zeugen hier eine
Gegenueberstellung inszenieren will. Schon mehrmals ist in den letzten
Monaten hier vorgefuehrt worden, dass Zeugen nach l aengerer Bearbeitung
mit solchen Bildern und Videofilmen ihre Aussagen aendern - eine Zeugin
will beispielsweise bei ihren ersten Vernehmungen mit Sicherheit Sigrid
Sternebeck als Mieterin eines Autos erkannt haben - nachdem ihr
nahegelegt wird, dass sie mich als die Automieterin identifizieren soll,
behauptet sie ploetzlich, dass sie nun mich wiedererkennen wuerde.

Aber auch die Auswahl der ZeugInnen, die geladen werden bzw. nicht
geladen werden, zeigt, dass dieses Gericht nichts unversucht laesst,
endlich den angeblichen Beweis fuer meine Taeterschaft bei irgend einem
der Anklagevorwuerfe zu kriegen. Entlastungszeugen werden grundsaetzlich
gar nicht erst geladen. In einem Fall wurde ein Autoverkaeufer geladen,
allerdings nicht auch seine Frau, obwohl diese laut Akten bei dem
Verkaufsgespraech anwesend war. In den Akten steht auch, dass die Frau
ausgesagt hat, die Kaeuferin des Autos haette schlechte und lueckenhafte
Zaehne gehabt, sie selbst wuerde bei allen Leuten sehr auf die Zaehne
achten, weil sie in einem Zahnlabor arbeitet. Wenn diese Zeugin ihre
Aussage vor Gericht wiederholt haette, waere zumindest dieser Autokauf
gegen mich vom Tisch gewesen, denn ich habe weder schlechte noch
lueckenhafte Zaehne. Es kann kein Problem sein, einen Zahnarzt zu finden,
der bestaetigt, dass auch bei Raf-Mitgliedern keine dritten Zaehne
nachwachsen und ich also die Zaehne, die heute in meinem Mund sind, von
Kindheit an immer gehabt habe.

Zurueck zu der Pimental-Anklage - die Personenbeschreibung dieser Frau


ist derart allgemein, dass sie auf Millionen Frauen zutrifft. Nach dem
bisherigen Prozessverlauf muss ich davon ausgehen, dass, wuerde hier statt
mir eine Schaufensterpuppe auf der Anklagebank sitzen, dann haette diese
Puppe vermutlich grosse Chancen, als die Frau identifiziert zu werden,
die mit Pimental die Kneipe verlassen haben soll. Aus diesem Grund
rechnet sich die Bundesanwaltschaft gute Chancen fuer ihren letzten
Versuch aus, mich doch noch als diese Frau identifizieren zu lassen. Ich
habe lange zusammen mit meinen Anwaelten ueberlegt, wie ich dem begegnen
soll - eigentlich habe ich dabei nur die Wahl zwischen verschiedenen
schlechten Moeglichkeiten, aber eins ist klar, ich werde mich hier nicht
zum Objekt dieser Inszenierung machen lassen. Ich werde mich nicht auch
noch daran beteiligen, wie dieses Gericht (entgegen seiner eigenen
Rechtsprechung in nicht-politischen Prozessen) hier eine
Wiedererkennungs-Inszenierung durchzieht, um sich Zeugenaussagen zu
basteln, die dann als Beweis gegen mich herhalten sollen, um dieser
Veranstaltung den Schein von 'Rechtsstaatlichkeit' zu verleihen.

Die hier geplante Gegenueberstellung werde ich nicht mitmachen, ich werde
mich waehrend der Zeugenvernehmungen mit dem Ruecken zu den Zeugen setzen.
Das ist zwar keine gute Loesung, doch ich will mich nicht ausschliessen
lassen, sondern auf jeden Fall an diesem Prozess teilnehmen. Aber ich
lasse mich hier auch nicht zum Objekt dieser Inszenierung der
Bundesanwaltschaft machen.

Briefwechsel zwischen Goettinger Lesben und Birgit

Im Oktober 1994 kam es zu einem von SchliesserInnen provozierten


Uebergriff gegen Birgit im Knast. Beim Aufschluss hatte eine andere
Gefangene Birgit ein Bild geschenkt, was von SchliesserInnen als
verdeckte Uebergabe deklariert und zum Anlass genommen wurde, Birgit
gewaltsam nackt auszuziehen. Die Misshandlungen gegen sie, sagte Birgit
dazu, hatten auch den Charakter eines sexuellen Uebergriffs. Birgit hat
zu dem Vorfall eine veroeffentlichte Erklaerung geschrieben (abgedruckt im
Angehoerigeninfo Nr. 158 und auszugsweise in der Jungen Welt vom
23.1.95), in der sie auch den sexuellen Charakter des von Schliesserinnen
ausgefuehrten Uebergriffs gegen sich benannt und den Satz: Dazu muss mensch
wissen, dass die Struktur in Frauenknaesten die ist, dass hier sehr viele
lesbische Schliesserinnen arbeiten, die zu ihrem Lesbisch-Sein nicht
stehen ... sondern die versteckte Formen dafuer suchen und deshalb einen
Job im Frauenknast annehmen (auch um Macht ueber andere Frauen ausueben
zu koennen). Dies war fuer Goettinger Lesben Anlass zu Fragen und Kritik an
Birgit. Wir drucken hier den Brief der Goettingerinnen und die Antwort
von Birgit ab. Diese Auseinandersetzung, die mit diesen beiden Briefen
sicher nicht beendet sein wird, enthaelt Fragen nach Macht, Gewalt,
Sexismus und dem Zusammenhang dazwischen und betrifft so nicht nur
Birgit und einige Lesben. info ag

Liebe Birgit
Im Angehoerigen Info, Nr. 158 haben wir deinen Bericht zu einem Ueberfall
auf dich gelesen. In dem Teil, in dem du etwas zu lesbischen
Schliesserinnen schreibst, stutzten wir. Nach einer Diskussion darueber
entschlossen wir uns, dir zu schreiben, damit Fragen und Unklarheiten
diskutiert und vielleicht geklaert werden koennen. Wir sind eine Gruppe
von Lesben, die schon seit einigen Jahren in autonomen
Frauen-Lesbenzusammenhaengen aktiv sind. Wir sind unterschiedlicher
Herkunft, Alters und arbeiten in verschiedenen Berufen. Es geht um deine
Darstellung zu lesbischen Schliesserinnen. Wir wissen, dass Lesben als
Schliesserinnen arbeiten, das erst mal vorweg. Eine unserer Fragen an
dich ist, woher du weisst, dass es sehr viele lesbische Schliesserinnen
gibt, wenn die Schliesserinnen doch versteckt ihr Lesbisch-Sein leben,
wie du schreibst. Uns ist auch nicht klar, was du mit versteckte Formen
meinst. Wenn es aber um die Machtausuebung ueber andere Frauen/ Lesben
geht, dann hat das erstmal gar nichts mehr mit Lesbisch-Sein zu tun,
sondern es geht allgemein um Machtausuebung ueber andere, egal ob Lesbe,
Hetera oder Typ, und es geht um die verschiedenen Motivationen dazu. Das
sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Lesbisch sein bedeutet nicht,
Macht ueber andere Frauen/ Lesben zu haben, haben zu wollen. So wie du
das aber schreibst, setzt du Lesbischsein mit Machtausuebung gleich. Hier
solltest du doch etwas mehr differenzieren. Welches Verhaeltnis hast du
eigentlich zu Lesbisch-Sein? Was bedeutet Lesbisch-Sein fuer dich? Auch
haben wir uns gefragt, was mit den heterosexuellen Schliesserinnen ist?
Warum ueben sie den Beruf aus? Sind sie die Untergeordneten in ihren
Heterobeziehungen und muessen sie ihre unterdrueckten Aggressionen an
weiblichen Gefangenen abreagieren/ausueben? Wir haben uns ziemlich ueber
deine Beschreibung geaergert, weil wir nicht automatisch wegen unserer
lesbischen Identitaet gewalttaetig sind. Natuerlich wissen wir auch, dass es
zu solchen Uebergriffen, wie du sie leider schon oefters erlebt hast,
kommt - auch von Lesben, aber die heterosexuellen Schliesserinnen da
aussen vor zu lassen, ist falsch. Ebenso ist es voellig falsch, die
maennlichen Schliesser in diesem Zusammenhang nicht zu erwaehnen, obwohl
sie ja auch offensichtlich an dem Ueberfall beteiligt waren. Zitat: war
die Provokation laengst abgesprochene Sache zwischen den
Schliesserlnnen..., und weiter haben mich mit 6-8 Leuten (die Haelfte
davon Maenner) zur Kammer geschleift. In der Kammer haben sie mir alle
Kleider vom Leib gerissen, die Kleider haben sie bezeichnender Weise
nicht mal durchsucht, es ging ihnen ganz offen nur um Misshandlung und
Erniedrigung. Wir fragen uns, warum du die lesbischen Schliesserinnen so
herausstellen musstest. Gerade durch deine Einleitung: dazu muss mensch
wissen... e rweckst du den Eindruck, als ob du eine ganz wesentliche
Hintergrundinformation ueber die Struktur in Frauenknaesten gibst. Nicht
Macht, sexuelle Uebergriffe und Misshandlungen im Knast erscheinen dadurch
mehr fuer die Leserlnnen als das eigentliche Problem, sondern die
lesbischen Schliesserinnen. So, das waren erst mal die Fragen, die wir an
dich hatten. Wir hoffen, du hast Lust und findest Zeit, sie uns zu
beantworten, was dazu zu schreiben. Wir wuerden uns darueber freuen,
moechten das gerne verstehen, dich nicht falsch verstehen. Alles Liebe
und herzliche Gruesse Einige Lesben aus Goettingen Nachwort zu unserem
Brief Vielleicht hat Birgit Hogefeld, der wir diesen Brief auch direkt
zugeschickt haben, es gar nicht so gemeint, sich schlicht
missverstaendlich ausgedrueckt. Aber Klischees und Vorurteile gegenueber
Lesben sind nach wie vor auch unter Linken und Linksradikalen weit
verbreitet. Und es gibt leider sicherlich genuegend Leserlnnen ihres
Berichts, fuer die eine gewalttaetige Lesbe voller Machtgelueste genau zu
ihrem Bild von Lesben allgemein passt. Wir veroeffentlichen unseren Brief
an sie, damit solche Klischees nicht einfach stehenbleiben, ueberlesen
werden und nicht hinterfragt doch irgendwie in den Koepfen herumspuken.

Antwort von Birgit

Liebe ...
ich habe Euren Brief bekommen und jetzt auch in der JW gelesen und ich
finde es gut, dass ihr mir geschrieben habt. Es stimmt, dass meine
Darstellung zu einem Ueberfall von Schliesserinnen gegen mich so
interpretiert werden kann, als wuerde ich Lesbisch-Sein und Machtausuebung
gegen andere Menschen gleichsetzen und das will ich auf gar keinen Fall.
In eurem Nachwort gesteht ihr mir zwar zu, dass ich mich vielleicht
einfach missverstaendlich ausgedrueckt haette, aber ich weiss von mir, dass
ich mich darum bemuehe, unmissverstaendlich zu reden und zu schreiben und
ich muss mich deshalb fragen, warum ich damit so sorglos umgegangen bin.
Die Klischees und Vorurteile gegen Lesben und Schwule sind mir natuerlich
bekannt und bei einer Freundin und einem Freund, mit denen ich noch
waehrend meiner Schulzeit in einer WG zusammengelebt habe, habe ich
unmittelbar mitbekommen, wie sehr Menschen unter diesen Vorurteilen und
dem Druck zur Anpassung an die Normalitaet leiden. Fuer beide hat sich in
dieser Zeit entschieden, dass sie zu ihrem lesbisch-sein bzw. schwul-sein
stehen und es gegen alle gesellschaftlichen und v.a. auch familiaeren
Widerstaende leben wollen. Beide haben sich auf ihrem Weg dahin immer
wieder in normale Beziehungen gequaelt, x-mal versucht, ob es nicht doch
auch bei ihnen funktioniert, bis endlich die Entscheidung und auch das
Bewusstsein reif war, zu sagen: ich bin lesbisch bzw. ich bin schwul. Aus
dieser und anderen Erfahrungen von und mit Freundinnen und Freunden,
denke ich, dass ich diese Vorurteile so nicht habe, aber ich selber habe
darunter nie gelitten, habe sie immer nur von aussen mitgekriegt. Gerade
aus diesen Erfahrungen muesste ich aber Verantwortung dafuer uebernehmen,
solche Klischees abbauen zu helfen. Insofern war Euer Brief fuer mich ein
wichtiger Anstoss, darueber nachzudenken und mir diese Verantwortung
bewusst zu machen und z.b. Texte zukuenftig dahingehend abzuklopfen, dass
ich auf keinen Fall Formulierungen gebrauche, die dazu beitragen koennen,
solche Vorurteile zu reproduzieren. Die Formulierung lesbische
Schliesserinnen kann so nicht stehen bleiben, richtig ist, dass es hier
Schliesserinnen gibt, die lesbisch sind und die sich diesen Job
ausgesucht haben, um Macht - auch in Form von sexuellen Uebergriffen -
gegen gefangene Frauen auszuleben und die (und das sind nicht wenige)
waren damit gemeint. Es geht natuerlich auch von den Schliesserinnen, die
heterosexuell sind, Macht und Erniedrigung gegen uns aus, aber da kommt
das Moment des sexuellen Uebergriffs nicht auch noch dazu - und es gibt
auch Schliesserinnen, die lesbisch sind, von denen nie gegen eine von uns
ein sexueller Uebergriff ausgeht. Jetzt noch mal zu dem Bericht selber -
ich schrieb: Uebergriff von Schliesserinnen, weil ich zwar von Maennern und
Frauen in die Kammer geschleppt worden bin, dort aber ausschliesslich von
Frauen festgehalten wurde, die mir die Kleider vom Leib rissen - ich
vermute, dass die Maenner draussen geblieben sind. Aber ich will auch
versuchen zu erklaeren, warum mir die Tatsache, dass es hier derartige -
auch sexuelle - Uebergriffe von Schliesserinnen gibt, wichtig und
erwaehnenswert ist. In meinem ganzen Leben vor meiner Verhaftung habe ich
unzaehlige Uebergriffe von Maennern erlebt (von Spruechen bis Angrapschen),
also das, was jede Frau kennenlernt - wenn sie Glueck hat und ihr nichts
Schlimmeres passiert - und von daher habe ich Maennern gegenueber, die
ich nicht kenne, all die typischen Schutzinstinkte entwickelt, die
Frauen im Laufe ihres Lebens entwickeln muessen. Deshalb war ich z.b.
nicht ueberrascht, dass Maenner von dem Spezialkommando, die mich zum
Prozess bringen, immer wieder Versuche unternehmen, mich als Frau zu
erniedrigen, indem sie mich am Arm oder am Ruecken anfassen, ohne dass es
dafuer einen Grund gibt oder im Auto ihr Bein gegen meins pressen - mich
gegen solche Uebergriffe durch Maenner wehren zu muessen, kenne ich.
Dagegen gab es letztes Jahr in Bielefeld eine Situation, die mich sehr
irritiert und auch unglaublich wuetend gemacht hat. Wir kamen vom Hof und
ich lief neben einer anderen Frau und wollte mir noch schnell was von
ihr aus der Zelle geben lassen. Als wir bei der Zellentuer ankommen, haelt
eine Schliesserin ihren Arm vor meinen Koerper und fasst meine Brust an -
uns beiden, also der anderen Frau und mir, war schlagartig klar, dass das
eine dieser Sorte Beruehrung gewesen ist, die als zufaellig getarnt ein
sexueller Uebergriff gegen mich war - wir haben dann in der Folgezeit
oefter darueber geredet und viele andere Frauen hatten x aehnliche
Erlebnisse mit dieser oder anderen Schliesserinnen. Fuer mich war es das
erste mal, dass ein sexueller Uebergriff gegen mich von einer Frau
ausgegangen ist - das lag fuer mich bis dahin ausserhalb jeder
Vorstellung. Hier im Knast ist das Gang und gaebe, kuerzlich hat wieder
eine Schliesserin im Vorbeigehen mir an den Hintern gefasst - natuerlich
weiss ich, dass so was theoretisch auch ein Zufall gewesen sein kann, aber
ich bestehe darauf, dass ich dafuer ein Gespuer habe, dass jede Frau, gerade
aus diesen x-tausend-fach erfahrenen Erniedrigungen und Uebergriffen
durch Maenner dafuer spezielle Antennen hat, und unterscheiden kann, was
Zufall ist und was sexueller Uebergriff. soweit mal - viele Gruesse von mir

Zur Diskussion gestellt

Wir veroeffentlichen hier auszugsweise einen Artikel, der in der


Zeitschrift Die Beute 1/95 unter der Ueberschrift Oeffentliche Prozesse -
Zum Verfahren gegen Birgit Hogefeld erschienen ist. Wir haben als
Info-AG keine gemeinsame Position zu diesem Text, finden ihn aber als
Anstoss fuer eine Diskussion geeignet. info ag

... Die Abwendung der RAF von gezielt toedlichen Aktionen und die
Hinwendung zur Politik der Gegenmacht von unten ist von der Absicht
geleitet, sich an die politische Basisarbeit, an soziale Initiativen,
kurz, an die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen anzukoppeln. Als
die RAF Anfang der 80er Jahre im Rahmen des Frontkonzepts die
Entscheidungsschlacht ausrief, ging sie davon aus, dass saemtliche Formen
der Integrationspolitik und des Sozialdemokratismus endgueltig
gescheitert waeren. Anfang der 90er Jahre schenkte sie den integrativen
Dynamiken kapitalistischer Gesellschaften, der Problematik des
Einbindens sozial sinnvoller Projekte in den Modernisierungsprozess des
Bestehenden ueberhaupt keine Beachtung mehr. Allerdings nicht etwa, weil
die Problematik nun als vollends irrelevant angesehen wuerde, sondern
weil man/frau heute Teil dieser Projekte sein will. Die einstige
Ignoranz der gesellschaftlichen Widersprueche verlaengert sich in der
Affirmation des unten, der sozialen Prozesse, die al s Antwort auf den
ratlosen Kapitalismus interpretiert werden. Die Erklaerung von Birgit
Hogefeld, die sie zur Eroeffnung der Hauptverhandlung am 15. November
1994 verlas, ist denn auch durchsetzt von Undeutlichkeiten, wenn sie auf
die gesellschaftlichen Subjekte zu sprechen kommt. Nachdem sie zunaechst
unmissverstaendlich klar gemacht hat, dass die Moerder von Wolfgang Grams
frei und staatlich gedeckt draussen rumlaufen, waehrend sie vor Gericht
sitzt, geht sie auf die Auswirkungen der historischen Ereignisse am Ende
der 80er Jahre ein: Buergerkrieg in der Welt um Raum, Nahrung, Wasser und
andere Ressourcen; Millionen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut
auf der Flucht sind; Zerfallserscheinungen im Innern, massenhafte
Arbeitslosigkeit, materielle Armut, Obdachlosigkeit, soziale
Entwurzelung von immer mehr Menschen, Ausweitung von Gewalt und
Rechtsradikalismus - all das zeigt, dass der Kapitalismus nicht mehr
funktioniert. Die Vorstellung, dass Armut, die Ausweitung von Gewalt (was
immer damit gemeint sei) und Rechtsradikalismus zeigten, dass der
Kapitalismus nicht mehr funktioniere, ist nur stimmig, wenn Kapitalismus
gleichgesetzt wird mit einer Prosperitaetsphase, an der die Mehrheit der
Bevoelkerung sozialpartnerschaftlich teilhat. Diverse nicht minder
funktionsfaehig e Formen des Kapitalismus stuetzen sich unter anderem auf
einen autoritaetsstaatlich abgesicherten Wirtschaftsliberalismus, bei dem
kein geringer Teil der Bevoelkerung unter die Armutsgrenze gedrueckt wird.
Im weiteren muendet eine derart auf den Wohlfahrtsstaat verkuerzte
Vorstellung von Kapitalismus in den unbestimmten Menschen: Das
Wesentliche, auf das es sich zu konzentrieren gelte, sei die Frage, wie
wir hier trotz aller Schwierigkeiten und gegenlaeufiger Tendenzen eine an
den Menschen orientierte gesellschaftliche Entwicklung erkaempfen koennen.
Fragt sich, an wem genau orientiert. Sicherlich sind nicht jene gemeint,
die von der Verschlankung des Standorts Deutschland profitieren. Schon
etwas schwieriger ist es mit der ganzen Menge Menschen, die im Anschluss
an Politikerphrasen tatsaechlich den Mangel an innerer Sicherheit
empfinden koennen. Nicht zu vergessen sind auch die oft zitierten
Arbeitslosen und Vereinigungsverlierer. Doch die voluntaristische
Behauptung, es gaebe eine klare Herrscha ftsgrenze zwischen oben und
unten, ist an der Anschlagsserie der vergangenen fuenf Jahre in ihrer
rassistischen Affirmation kenntlich geworden. Um recht verstanden zu
werden, es geht um den Sachverhalt, dass in allen Bereichen der
Gesellschaft die Widersprueche zwischen denen mit und denen ohne
deutschen Pass, zwischen Fluechtlingen und Einheimischen aufbrachen.

Die auch von Birgit Hogefeld aufgegriffene und jahrelang ueberfaellige


Selbstkritik der RAF an der Ausrichtung ihrer Analysen einzig an den
Strategien des Imperialismus, die eine Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlich jeweils virulenten Widerspruechen allenfalls in hoechster
Abstraktion zuliess, muendet bei ihr in der Schlussfolgerung: Kaempfe, die
langfristig an der Negation ausgerichtet sind, koennen auf Dauer keine
Mobilisierungskraft entwickeln ihnen fehlt das Moment des Aufbaus. Die
Art, wie Machtstrukturen nicht wahrgenommen werden, bleibt dieselbe, nun
in der Konkretion. Diesmal faellt die Kenntnisnahme der sozialen
Widersprueche der veredelten Maxime meines Gemeinschaftskundelehrers zum
Opfer, dass man nicht immer nur gegen etwas sein koenne. Die RAF habe - so
Birgit Hogefeld - 1990 angefangen, ihre Initiativen auch als Kraft fuer
die unmittelbare Durchsetzung gesellschaftlich richtiger und sinnvoller
Entwicklungen zu bestimmen. Spaeter heisst es: Das Lebensgefuehl vieler
Jugendlicher ist Langeweile, und immer mehr Menschen fuehlen sich ihrer
Lebensperspektive und ihres Lebensinhalts beraubt oder sehen diese
bedroht. Und auch die Freiheit, zwischen Camel und Marlboro, ZDF und
RTL, Kohl und Scharping waehlen zu koennen, ersetzt nicht fehlenden
Lebenssinn, zumindest nicht auf Dauer. Und schliesslich: Der Kapitalismus
hat heute auf fast alle brennenden Fragen, die sich im nationalen und
internationalen Rahmen stellen, keine Antworten. Diese fehlende
Loesungskompetenz in bezug auf die heute aktuellen Menschheitsprobleme
ist ihnen durchaus bewusst - ob Hunger oder der drohende oekologische
Kollaps, sie haben keine Antworten, weil jeder vernuenftige und
menschlich sinnvolle Loesungsansatz den Profitinteressen der Konzerne
zuwider laeuft und das Ueberleben des imperialistischen Systems in Frage
stellt (...). Dagegen brauchen wir den Aufbau einer gesellschaftlichen
Kraft, die gegen diesen Wahnsinn aus Barbarei und Zerstoerung eigene
Vorstellungen und soziale Inhalte formuliert. Es geht dab ei einerseits
um die Erstellung einer politischen Gesamtvorstellung und zugleich um
Basisarbeit, in der konkrete Schritte fuer die Loesung konkreter Probleme
bestimmt und durchgesetzt werden. Das heisst natuerlich auch, sich die
Loesungskompetenz fuer Probleme der verschiedensten Bereiche anzueignen -
das betrifft die Frage nach der Bestimmung und Gestaltung menschlich
sinnvoller und nuetzlicher Arbeit genauso wie beispielsweise oekologische
Probleme und die Gestaltung von Stadtvierteln. Sinn und Loesungen, welch
eine Herkulesarbeit. Mal abgesehen davon, dass ein Haufen Leute mangels
Wahlrecht nicht mal zwischen Kohl und Scharping waehlen koennen, war es
ueber Jahrzehnte ein zentrales Problem der Linken, dass die Sinn- und
Identitaetshalluzinationen im Konsum ziemlich gut funktionierten. Da
einerseits Konsum, wie im Weltmassstab schon lange konstatiert, auch im
nationalstaatlichen Massstab BRD ein Privileg wird und andererseits
gerade bei Jugendlichen haeufig ein Gefuehl des Mangels (trotz Konsum)
auftra t, gibt es eine Reihe von Dienstleistern, die in die
Sinnproduktion eingestiegen sind. Linke, die sich mit an den Start
begeben, werden die Erwartungshaltung bedienen muessen, die sie mit der
Suggestion, unter den gegebenen Verhaeltnissen Sinn entwickeln zu koennen,
geweckt haben. Eines wird unter dem Druck, konstruktiv sein zu muessen,
zwangslaeufig relativiert werden: die radikale, auch negatorische Kritik
des Bestehenden.

Wem das zu orakelhaft ist, der mag probehalber die Loesung fuer das
Problem menschlich sinnvolle und nuetzliche Arbeit bestimmen. Es
existierte dereinst eine vage Uebereinkunft unter radikalen Linken, dass
ohne Aufhebung des Besitzes an Produktionsmitteln oder gar ohne
Beseitigung der Ware-Geld-Oekonomie derartiges schlechterdings nicht
moeglich sei. Komplizierter wurde die Angelegenheit, nachdem gleiches
auch fuer die Geschlechterverhaeltnisse behauptet wurde. Seither gab es
einige Versuche, diese Gesellschaft von Grund auf zu zivilisieren, ihr
ueber die Oekologie auch den Sozialismus schmackhaft zu machen oder
aehnliches. Spaetestens Ende der 80er Jahre konnte niemand mehr behaupten,
dass eine/r der konkreten LoesungssucherInnen ausser der Teilhabe an der
Modernisierung des Modells Deutschland mit all seinen
Gewaltverhaeltnissen irgend etwas gefunden haette. Vielleicht ist die
Ironie fehl am Platz. Aber die Unterscheidung in kapitalistische
Loesungen - als solche muss Hunger zum Beispiel gesehen werden - und
menschlich sinnvolle Loesungen, die den Profitinteressen der Konzerne
zuwider laufen, entspricht der Differenz zwischen der Gestaltung der
Verhaeltnisse und dem Kampf dagegen. Der Begriff Loesungen laesst sich
unter Beibehaltung des Verstaendnisses eines Wahnsinns aus Barbarei und
Zerstoerung nicht in den Kontext des Widerstands gegen denselben
ueberfuehren. Nicht nur sprachlich existiert keine Loesung der Barbarei.

Nur wer Anspruch auf die Gestaltung des Ganzen erhebt, redet von
Loesungen. Das Problem dabei ist nicht die Aufforderung zur
Unbescheidenheit, auch nicht die Erinnerung daran, dass Befreiung nur im
Weltmassstab ihrem utopischen Gehalt gerecht wird, sondern dass eine
isoliert bewaffnet kaempfende Gruppe in Deutschland 1994 damit gegenueber
einer marginalen Linken ihren Uebergang zu einer anderen Widerstandsform
konkretisiert. Mit dem Versprechen, dass Loesungen auf der Tagesordnung
stuenden, einen Mobilisierungsgewinn verzeichnen zu wollen, schlaegt den
ebenfalls ausgerufenen emanzipatorischen Entwicklungen, die in vielen
politischen Zusammenhaengen ueber lange Zeit real nur eine untergeordnete
Rolle gespielt haben, ins Gesicht. Denn Emanzipation in einem der
reichsten Laender der Erde heisst doch, sich als gesellschaftlichen
Menschen, als zerstoerendes und zerstoertes Subjekt zu begreifen, das im
Kontext sozialer Revolte auch sich selbst veraendern muss. Eine dieser
Veraenderungen ist doch wohl, Aufbegehren, Solidarischsein und
Widerstehen als lebens-notwendig zu begreifen, ohne dass ein Lohn in Form
eines ideologischen Grossganzen am Horizont aufgezogen werden muss. Einmal
mehr zeigt sich, dass - ist die Erstellung einer politischen
Gesamtvorstellung erst projektiert - sogleich die Verhaeltnisse etwas
schoengefaerbt werden muessen. Sonst kann sie nicht gelingen. Nach
bescheidenem medialem Echo zu Beginn, laeppert der Prozess so dahin. Die
ZeugInnen bezeugen Banalitaeten oder sind in ihrer Unglaubwuerdigkeit fast
komisch. Die BesucherInnen fuellen den Saal mal halb, mal ganz. Einige
bemuehen sich um die Herstellung von Gegenoeffentlichkeit, um die
Dokumentation des Prozessverlaufs als Grundvoraussetzung fuer eine
Einmischung. Die Empoerung ueber Bad Kleinen und darueber, dass ausgerechnet
Birgit Hogefeld wegen eines Mordes in Bad Kleinen angeklagt wird,
muendete in Resignation. Zerfaserte Zusammenhaenge und ermuedete
AktivistInnen stehen einem an Zahl, Rueckendeckung und gesellschaftlicher
Legitimation gestaerkten Sicherheitsapparat gegenueber, der sich solche
Dreistigkeiten erlauben kann. Grundlegender noch als der Mangel an Ideen
und Initiativen zur Einmischung von seiten der Linken wirkt sich das
Fehlen jeglicher Auseinandersetzung aus. Woher ruehrt die Zurueckhaltung,
die Weigerung zur Stellungnahme? Neben dem abschreckenden rigiden
Moralismus, der die Diskussi onen um militanten Widerstand, RAF und
Isolationshaft oftmals begleitete und der Scheu, zwischen die Fronten
einer eventuell wieder aufflammenden, ziemlich rabiat gefuehrten
Auseinandersetzung zwischen RAF und RAF zu geraten, steht diese
Zurueckhaltung wohl auch fuer ein Gefuehl der Sinnlosigkeit angesichts der
eigenen Einflusslosigkeit. Doch auch ein Klaerungsprozess unter wenigen,
eine Diskussion der schlechten Bedingungen ist notwendig, um den Prozess
der Diskussion weiterzutreiben, trotz seiner derzeit geringen
Moeglichkeiten sich zu entfalten. Die Auseinandersetzung mit einer
derjenigen, die die militante Praxis logistisch perfektioniert und als
Option erhalten haben, waere eine Moeglichkeit, die Frage des Widerstands
unter den Bedingungen der Marginalitaet theoretisch zu fassen zu kriegen.
Zu dieser Moeglichkeit kommt die Chance, anlaesslich des staatlichen
Bemuehens noch jemand fuer den toten GSG-9-Mann buessen zu lassen, die
offizielle Geschichtsschreibung von Bad Kleinen zu ramponieren. Eine
Chance - mehr nicht. Christoph Schneider aus: Die Beute, Heft 5,
Fruehjahr 1995, Edition ID-Archiv

Naechste Prozesstermine
Einlass 9 Uhr, Beginn 9.30 Uhr
21. 3. - 23. 3. - 28. 3. - 30. 3. - 4. 4. - 6. 4. - 11. 4. - 24. 4. -
27. 4. Da manchmal Prozesstermine kurzfristig ausfallen ist es v..a. fuer
Leute mit weiter Anreise sinnvoll, kurz vorher bei der Info-AG (Tel.
siehe unten) anzurufen.

Birgits Postadresse
Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach , 60256 FFM

Technics zum Prozess-Info


Das Prozessinfo wird in Wiesbaden gemacht. Adresse: Info-AG zum Prozess
gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden. Telefon mittwochs
von 17-19 Uhr und freitags von 18-20 Uhr : 0611/44 06 64. Der Vertrieb
des Prozessinfos wird allmaehlich besser. Es gibt allerdings immer noch
keine organisierte Verschickung an die Gefangenen und an die Infolaeden.
Die Nr. 4 wird wie folgt verbreitet: * Schleswig-Holstein: Rote Hilfe,
Postfach 644, 24125 Kiel, tel/fax 0431/75141 * Hamburg: Ueber den Tag
hinaus c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schaeferkamp 46, 20357 Hamburg * Berlin
/ Ex-DDR: rozessgruppe Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin,
FAX 030/6949354 * Stuttgart: Infobuero fuer politische Gefangene,
Moerickestr. 69, 70199 Stuttgart * Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am
Landwehrplatz 2, 66111 Saarbruecken * Bayern: Infobuero c/o Buecherkiste,
Schlehengasse 6, 90402 Nuernberg * im Spinnennetz und im CL-Netz Weitere
regionale WeiterverteilerInnen, die auch hier in der Liste als
Verteilstellen aufgefuehrt werden wollen, koennen sich in Wiesbaden melden
und erhalten ein kopierfaehiges Exemplar. Einzelversendungen koennen von
Wiesbaden aus nicht erfolgen. Die naechste Ausgabe (Nr. 5) wird Anfang
Mai erscheinen.

Spendenkonten
Da sowohl die Kosten im Todesermittlungsverfahrens z. N. Wolfgang Grams
sowie die Kosten des Verfahrens gegen Birgit Hogefeld von den
Angehoerigen alleine nicht getragen werden koennen, sind Spenden dringend
notwendig: Sonderkonto V. Luley, Bad Kleinen Postgiroamt Frankfurt, BLZ
50010060, Kto.-Nr. 16072-603 Spenden fuer Birgits persoenlichen Bedarf
bitte auf folgendes Konto: Sonderkonto Birgit Hogefeld R. Limbach,
Oekobank BLZ 50090100, Kto.-Nr. 250228

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 5

Wiesbaden, Juni 1995

Prozeßbericht Mitte März bis Mitte Mai

Nach der Gewaltanwendung gegen Birgit während des Prozesses am 9.3. stellte die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen die Richter Schieferstein, Klein, Kern, Zeiher und die
Richterin Lange.

Gründe:

- die zwangsweise Einzelgegenüberstellung von Birgit gegenüber dem Zeugen Esposito.

- der offensichtliche Versuch der Manipulation des Zeugen Esposito über Jahre hinweg, in denen er schließlich immer wieder andere Personen als die Angeklagte identifizierte.

- das Handeln des Senats gegen seinen eigenen Beschluß vom vorherigen Verhandlungstag - gegen die Angeklagte keine Gewalt zur Gegenüberstellung anzuwenden - jetzt mit der
scheinheiligen Begründung umzuwerfen: Aufklärungspflicht.

Zur Aufklärungspflicht gehört für den Senat allerdings nicht, die Akten für die mehrfache Vernehmung des Zeugen Esposito zu vervollständigen und die BKA-Spezialisten zu laden, die
den Zeugen über Jahre hinweg bearbeitet haben, um nachvollziehen zu können, wieso manche Zeugen zu dem jeweils gewünschten Ergebnis kommen.

Lediglich am 4.4. wurde der BKAler geladen, der bei Esposito die Erstvernehmung geleitet hatte und wobei der Autoverkäufer Esposito aus frischer Erinnerung mit 99%iger Sicherheit
eine andere Person als Käuferin identifiziert hatte.

Der Befangenheitsantrag wurde inzwischen abgelehnt..

Auch der zweite Ansatz, Birgit eine direkte Tatbeteiligung an der AirBase Aktion nachzuweisen, nämlich weitere Zeugen aus dem Westernsaloon, läuft noch weiter. Was bei dem Zeugen
Kalka schief ging, der trotz heftigsten Bemühungen von BKA, Anklage und Gericht, Birgit nicht als die Frau aus dem Western-Saloon benennen wollte, sollte bei dem gefügigen Zeugen
Tui (damaliger GI) teilweise gelingen.

Pimental habe sich an dem Abend fast ausschließlich mit der Frau unterhalten, er selber habe die Frau nicht direkt gesehen, auf Nachfrage gibt er an, Brillenträger zu sein, an dem
fraglichen Abend habe er sie aber nicht aufgehabt. Bei den ersten Vernehmungen mach-te er allgemeine Anga-ben zu Körpergröße, Haare, Gesicht, Augen usw., die auf viele Frauen
zutreffen, auf Birgit eher weniger.

Auf den Fahndungsplakaten habe er in den Tagen nach dem Anschlag keine Frau gesehen, die der aus dem Western Saloon geähnelt habe. Ihm seien dann wochenlang Bilder vorgelegt
worden, wo er dann doch schließlich eine Frau ausgedeutet habe, die auch auf dem Fahndungsplakat war (aber nicht Birgit).

November 1993 wurde ihm der schon bekannte Videofilm 4-5 mal vorgeführt und weitere Vernehmungen durch das FBI gemacht. Schließlich deutet er Birgit Hogefeld in dem Video als
die Frau aus, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau aus dem Western Saloon habe.

An seine Aussagen von vor 10 Jahren kann er sich nicht mehr erinnern, dennoch will er in dem Video nach 9 Jahren die Frau erkannt haben, die damals im Western Saloon war. Seine
Kurzsichtigkeit kam den Manipulationen zugute, weil er damals die Frau nicht so gut erkennen konnte, kann er jetzt besser beeinflußt werden.

So durch viele Bilder von Birgit und häufiges Ansehen des Videos auf Birgits Gesicht programmiert, sollte der Höhepunkt der Identifizierungskommödie durch die
Einzelgegenüberstellung im Verhandlungssaal vollendet werden. "Ja, die war es", hätte er wahrscheinlich auch dann gesagt, wenn sie Birgit mit Gewalt und schmerzverzerrtem Gesicht
umgedreht hätten. Aber sie ließen es dann doch bei der Androhung, die "Identifizierung" aus dem Video genügte ihnen offensichtlich.

Einige Wochen später trat Tui's Soldatenfreund Johnson auf. 1985 nach dem Anschlag waren ihm zahllose Lichtbilder vorgelegt worden, aus denen er schließlich eines ausgesucht hatte,
das eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau, die im Western Saloon mit Pimental zusammen war, hatte. Es handelte sich nicht um ein Foto von Birgit. Die gewisse Ähnlichkeit machte er vor
allem an der Augenpartie fest, die Augen seien groß gewesen und blau oder grün, auf keinen Fall braun. Richter Klein hielt ihm vor, daß ein weiterer Soldatenkollege, der selbst nicht zur
Verhandlung erschien, bei den Vernehmungen damals gesagt habe, die Augen seien braun gewesen. BAW Hemberger verhalf dem Zeugen zu einem ehrenvollen Rückzug, indem er auf
die schummrigen Lichtverhältnisse in dem Etablissement hinwies. Aller Protest der Verteidigung ob dieser unzulässigen Zurechtbiegung half nicht, Klein und Hemberger schlossen die
kleinen Manipulationslücken von BKA und FBI. Aus "ganz sicher keine" wurden "möglicherweise doch" braune Augen.

Auf Nachfrage der Verteidigung bestätigte Johnson, daß Tui Brillenträger war und daß beide am fraglichen Abend ziemlich betrunken waren. Zum Schluß wieder der Versuch, Birgit dazu
zu bewegen, sich umzudrehen, um ihr Gesicht diesem für Suggestionen offenen Typen auszusetzen, aber sie belassen es bei der Androhung von Gewalt. Möglicherweise schadet ihnen die
allzu offene Gewalt im Gerichtssaal zur Zeit eher.

Am 24.3. hatten sie eine Zeugin, die aushilfsweise als Bedienung im Western Saloon gearbeitet und die fragliche Frau aus de Nähe gesehen hatte. Sie sagte, wenn sie ihr begegnen würde,
würde sie sie wiedererkennen. Sie sagte, daß die Frau ihr selber ähnlich gesehen habe und beschrieb sich und sie wiederholt als "lange, dünne". Sie schilderte auch, daß sie einige Tage
nach dem fraglichen Abend von einigen GI's vor dem Western Saloon festgehalten und als die Pimental-Begleiterin verdächtigt wurde. Der Geschäftsführer mußte sie aus dieser peinlichen
Situation befreien.

Auf den 1985 ihr vorgelegten Bildern erkennt sie nur eine gewisse Ähnlichkeit bei einem Foto, daß nicht Birgit zeigt.

Auch ihr wurden nach Bad Kleinen wieder Bilder vorgelegt und der Video vorgeführt. Sie sagt eindeutig, daß sie weder auf den Bildern noch auf dem Film die Frau wiederfindet, die
damals im Western Saloon war.

Am 18.5. war wieder einer der GI's aus dem Western Saloon da. Dieser Zeuge, McCutchen, hatte sich bereits mit Tui und Johnson ausgetauscht, obwohl sie die 10 Jahre über keinen
Kontakt mehr miteinander hatten. Den manipulativen BKA-Video hat auch dieser Zeuge gesehen und zwei Vergleichspersonen ausgeschlossen. Er hat dazu gesagt, es wäre klar, daß er
jemanden ausdeuten sollte aus dem Film, er habe die ausgedeutet, von denen er dachte, daß eine davon die sein könnte, die er ausdeuten solle. Er bekam dann noch Lichtbilder vorgelegt,
hat aber niemanden identifiziert. Auch hier brachte er offen zum Ausdruck, daß er keine klare Erinnerung mehr hat, sondern sich das "Image" der Frau zusammensetzt aus seiner
Erinnerung und den vielen Fotos, die er im Laufe der bereits gesehen hat. Daß die Frau attraktiv war, wußte er noch - und nach diesem Kriterium betrachtete er die vorgelegten Bilder. Hier
tauchte auch eine neu gefertigte Lichtbildmappe auf, deren Vorlage vom Anwalt widersprochen wurde, da sie tendenziös zusammengestellt ist. Aber auch in dieser Mappe war dem
Zeugen kein Foto attraktiv erschienen, obwohl es so aussah, als wollte das Gericht seine Verlegenheit ob dieses ihm dann doch etwas peinlichen Kriteriums ausnutzen.

Aus der Einführung (Verlesung) zumindest eines Teils der Lichtbildmappen wird nicht nur deutlich, daß die ZeugInnen mit massenhaft Lichtbildern bombardiert wurden, sondern ferner,
daß in diesen BKA-Mappen auch reichlich Leute sind, die nicht in der RAF organisiert sind oder waren. Dies zeigt noch einmal, wie das BKA in dieser Zeit an den Konstruktionen
gebastelt hat, nach denen auch Leute eingeknastet wurden, aber auch, wie offen sie sich ihre "Ermittluingsergebnisse" gehalten haben und immer noch halten.

Wieder traten in dem Berichtszeitraum ausgewählte BKAlerInnen auf, meist um Banalitäten ihrer Arbeit zu schildern, beispielsweise wie sie die Erklärungen abgeholt haben, nach
Fingerabdrücken gesucht haben; sie beschreiben zerstörte Autos und was sie alles asserviert haben, kommentieren Lichtbilder vom Tatort , oder was sie bei Zellenrazzien bei Gefangenen
aus der RAF gefunden haben wollen etc..

Es sind ZeugInnen, die weder bei der BAW noch bei der Verteidigung Fragen aufwerfen. Wohingegen die BKAlerInnen, die Schriftgutachten, Sprengstoffgutachten usw. erstellt haben
und meist zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen, sondern mit vagen Vermutungen operieren, nicht geladen werden, weil dies die Gutachten als Farce entlarven und eventuell kippen
könnte. Durch die schriftliche Einführung dieser Gutachten bleibt der BAW und dem Richterkollegium vorbehalten, wie sie sie bei der Verurteilung von Birgit verwenden.

Ähnliches gilt für die BKA-SpezialistInnen, die über Jahre hinweg ZeugInnen befragt, geführt und manipuliert haben. Es soll nicht klar werden, wie sie das gemacht haben, die
schriftlichen Unterlagen sind nicht vollständig, fast nie wird deutlich, wieviele und welche Lichtbilder zu welchen Zeiten den zu bearbeitenden ZeugInnen vorgelegt wurden. Nur eine
Befragung der ZeugenführerInnen könnte etwas Klarheit bringen, dies scheint aber nicht zur Aufklärungspflicht zu gehören, auf die sich das Gericht an anderen Punkten so gerne beruft.
Eher scheint es das Ziel zu gefährden, das Birgit einmal so ausdrückte:

"Nach dem bisherigen Prozeßverlauf muß ich davon ausgehen, daß, würde hier statt mir eine Schaufensterpuppe auf der Anklagebank sitzen, dann hätte diese Puppe vermutlich große
Chancen, als die Frau identifiziert zu werden, die mit Pimental die Kneipe verlassen haben soll."

Im Prozeß traten auch einige der bei Anschlägen Angegriffenen auf, wie zum Beispiel Tietmeyer, die nicht die Funktion haben, Häkchen für die Anklageschrift zu liefern, so daß Richter
Klein hier nicht in Aktion tritt. Hier kommt eher die "sensible" Richterin Lange zum Zuge, die sich sonst nicht sehr hervortut Sie fragte den Tietmeyer:"Was macht das mit Ihnen" und sie
meinte mit "das" wohl den mißglückten Anschlag und nicht die Folgen seiner Finanzstrategie in Vergangenheit und Gegenwart, die Millionen von afrikanischen BäuerInnen in Elend und
Hunger treibt, sonst hätte sie die aufklärende Frage stellen müssen:"Herr Tietmeyer, was machen Sie mit denen?"

Auch bei dem AirBase Anschlag Verletzte traten Ende März im Prozeß auf. Von der Richterbank wurden sie ausführlich nach ihren Verletzungen befragt und mit Bildern ihrer toten
Armeeangehörigen konfrontiert, wobei ihre Gesichter Abscheu zum Ausdruck brachten. Aber sie wurden nicht gefragt, ob sie diese an sich natürliche Abscheu auch empfinden über die
Tausenden von Toten und Verletzten, die ihre Militärmaschine von Frankfurt aus startend im Libanon, im Irak, im Iran, in Libyen verursachte.

Die Militärärzte, die aus den USA eingeflogen wurden, schilderten nochmals in allen Einzelheiten die Verletzungen und ihre Bemühungen, die Soldaten wieder wehrtüchtig zu machen.

Es ist kein Zufall, daß sie das in diesem Prozeß so ausbreiten.

Weil ihnen Birgit angreifbar erscheint, da sie Fehler, eigene und die der revolutionären Bewegung der 80er, benennt. Aber Fehler benennen und daran arbeiten bedeutet nicht Schwäche,
sondern Stärke.

Es richtet sich auch gegen die Prozeßöffentlichkeit, die zwar nicht groß, aber vielfältig ist.

18.5. - Erneuter Überfall gegen ProzeßbesucherInnen

Nachmittags nach dem Prozeß wollten wir zusammen den Geburtstag einer Prozeßbesucherin feiern. Zwei Prozeßbesucherinnen verließen den Zuschauerraum vor Prozeßende, um das
Auto mit den Sachen für die Fête herzuholen. Als der Prozeß zuende war, ist der Rest (9 Leute) zu ihnen zum Auto gekommen. Ihnen folgte kurz danach ein Trupp Uniformierter, um die
beiden Frauen in Gewahrsam zu nehmen, wie sie ankündigten. Die gewaltsame Festnahme konnte nicht verhindert werden, aber die restlichen Leute ließen sich nicht davon abbringen, die
beiden zu begleiten und blieben vor dem Gebäude stehen, bis die beiden nach ca. einer Stunde wieder freigelassen wurden. Was ihnen vorgeworfen wurde, blieb unklar, lediglich, daß die
Beamten eine Anordnung des Richters ausführten, ließen sie durchblicken, Die an dem Überfall beteiligten Beamten waren relativ jung, zwei Frauen waren dabei, die durch besondere
Brutalität hervorstachen. Außerdem zwei Zivile, die sich eher im Hintergrund hielten.

Nachdem der martialische Konvoi zum Abtransport von Birgit durch war, kamen die beiden Frauen wieder raus.

Trotz der sehr widrigen Umstände wurde im Anschluß wie geplant Geburtstag gefeiert. Als die beiden zuvor festgenommenen Frauen danach zu ihrem Auto kamen, war ein Vorderreifen
plattgemacht. Keine Frage, wer das wohl war.

Nachdem Schieferstein bei der letzten Festnahme von ProzeßbesucherInnen im Gerichtsgebäude jede Verantwortung von sich gewiesen hat, wurde bei diesem Überfall klar, daß er auf
richterliche Anordnung hin geschah.

Das Kalkül, die ProzeßbesucherInnen einzuschüchtern, wird nicht aufgehen!

Aus der Diskusssion der InfoAG

Der Prozeß gegen Birgit und damit unsere Arbeit als InfoAG fallen in eine Phase, in der sich der Bezugsrahmen linker, radikaler linker Politik völlig aufgelöst hat. Dieser Zerfallsprozeß ist
nur vordergründig an Bad Kleinen / Steinmetz bzw. der Entscheidung der Raf 1992 und der sog. Bruchpolitik festzumachen.

Vielmehr drückt sich darin aus, daß eigenständige Orientierungen, auf die jetzt zurückgegriffen werden könnte, nicht entwickelt wurden. In dieser Situation greift eine Schärfe als Form um
sich, die inhaltlich merkwürdig unscharf und ungreifbar bleibt. Die "Schärfe" drückt sich aus in den Deutungen und Bewertungen der Person Birgits; dabei findet keine politische
Auseinandersetzung , sondern Individualisierung statt. Diese Individualisierung kann eines der Mittel sein, politische Widersprüche auf andere zu projizieren, abzuspalten, anstatt sich mit
ihnen auseinanderzusetzen. Die "Auseinandersetzung" bleibt auf der Ebene von Klatsch und Tratsch, Unterstellungen, persönlichen Angriffen und laienpsychologischen Deutungen.
Gegen Birgit wird der ganze Charakter einer Individualisierung solcher Art sichtbar. Nicht nur in der harten Entsolidarisierung, die fast sofort nach Bad Kleinen einsetzte, sondern auch
darin, daß in den Psycho-Deutungen und Unterstellungen etwas Grenzverletzendes, Übergriffiges liegt.

Es ist so, daß durch die Formen, die sich in der Auseinandersetzung etabliert haben, jeder tatsächlich kritisch hinsehenden Auseinandersetzung die Luft abgedrückt ist - daß darin Kritik
oder Fragen, die nicht gleich auf Abgrenzung, Gegenlinie, Polarisierung abzielen und diese nicht befördern wollen, keinen Raum haben.

Eine Auseinandersetzung mit den Fragen und Gedanken, die Birgit aufwirft, findet nicht statt. Birgit ist hier nicht nur Einzelperson, sondern sie steht für die Diskussion in der Raf und auch
weitergreifend für die Versuche und Bewegungen in den 80-er Jahren, an denen ja nicht nur die Raf Anteil hatte. Mit Blick darauf würde Kritik (an Birgit, an der Raf, an der "Front") Sinn
machen. Gerade diese Anstrengung steht aber noch aus.

Als wir mit dem Info angefangen haben, dachten wir, diese Fragen müßten doch vielen unter den eigenen Nägeln brennen, zumal der Einschnitt Bad Kleinen sie nochmal schärfer jeder/m
einzelnen gewahr werden ließen.

Unsere Hoffnung und teilweise Befürchtung, in einer Papierflut unterzugehen, trat nicht ein.

Uns wurde öfter unterstellt, wir würden Kritik an Birgit unterdrücken. Abgesehen davon, daß das nicht unsere Intention ist, hatten wir dazu bislang gar keine Gelegenheit: Es kam nichts
bei uns an. Schwammig und vom Hörensagen kennen wir folgende Kritikpunkte:

- Birgit stehe nicht zu ihrer Geschichte

- sie "hat's nicht klar"

- sie sei unehrlich

Diesen Punkten ist gemeinsam, daß sie schwer greifbar und überprüfbar sind, da sie sich auf der Ebene von Deutungen und Interpretationen der Person bewegen. So bleibt es
Geschmackssache, sich ihnen anzuschließen oder nicht.

Desungeachtet sind sie ungeheuer abwertend. Und wirkungsvoll, wie nicht nur an der schwachen Solidarität, sondern auch an dem starken Polarisierungsdruck deutlich wird, der sich
gegen Birgit wie gegen uns richtet.

Aus der Verantwortung für die Wirkungen dieser unreflektierten Bilder, Projektionen und subtilen Wertungen kann sich niemand davonstehen, egal ob er sie in die Welt gesetzt hat oder
nur nachplappert.

Nach unserer Aufforderung an uns und andere im Vorwort in Info 1, eine je eigene Verantwortlichkeit für die Entwicklungen der letzten 10 Jahre zu entwickeln, hatten wir uns vorgestellt,
daß dieses Sich-in-Abgrenzung-zu- oder In-Anlehnung-an- Definieren, was auch ein sehr beredtes Schweigen über die jeweils eigenen Anteile einschließt, bald aufhören würde. Daß
vielen das Schweigen, auch das eigene, bald unerträglich werden müßte. Daß das Bewußtsein der eigenen Verantwortung bald breiter die Auseinandersetzung bestimmen würde.

Daß das Schweigen nicht nur nicht durchbrochen würde, sondern sich eher verstärkt, war für uns nicht absehbar. Und auch nicht die Formen, die das annehmen würde.

Weithin bleibt der Blickwinkel auf Birgit, auf die Raf oder auf uns als Info-MacherInnen gerichtet.

Für uns stehen Fragen an andere nicht so im Vordergrund, sind nicht der Kristallisationspunkt, an dem wir unsere Verantwortung und Solidarität festmachen. Die Entscheidung, etwas zum
Prozeß zu machen, haben wir, jede/r von uns, aus ihrer eigenen Geschichte getroffen und nicht nur aus dem Verhältnis zu anderen abgeleitet.

In der Unterstellung, Birgit stünde nicht zu ihrer Geschichte, wird der Maßstab eines "richtigen Verhältnisses" zur eigenen Geschichte angewandt, bevor er entwickelt und definiert ist.

Bedeutet, zu etwas "zu stehen", immer noch, keine Fragen stellen zu dürfen ?

Ist, zu etwas zu stehen, nicht viel eher, auch Fragen zuzulassen, die Widersprüche nicht abzuspalten, und sich die eigene / kollektive Geschichte kritisch neu anzueignen, so wie es die Raf
versucht hat, ohne bislang die weitertreibenden Momente ihres Ansatzes zu reformulieren. Notwendigerweise stößt sie dabei an Grenzen, wo es nicht politisch breiter diskutiert wird.

Statt diese Suchbewegung als solche wahrzunehmen und

aufzugreifen, wird durch Unterstellungen, Schuldzuweisungen und schnelle Wertungen ein Klima geschaffen, in dem individueller Rückzug oder die Neuauflage alter
Lautsprechermentalitäten zu vorherrschenden Reaktionen werden. Auch Birgit soll, wenn sie "nichts klar hat", doch lieber den Mund halten, ist verschiedentlich zu hören oder zu lesen.
Hier tradiert sich die Bedeutung von "Klarheit" als die individuelle Fähigkeit, Fragen und Widersprüche zu "überwinden", anstatt sich ihnen zu stellen, unserer Meinung nach ein großer
Fehler der an die Raf angelehnten Politik der 80-er Jahre.

Die Personifizierung (Individua-lisierung) von Widersprüchen und damit ihre Entpolitisierung ist keineswegs neu. Sie zog schon immer starre Aus- und Eingrenzungspraktiken nach sich
und es scheint darin ein irrationales und auch ein repressives Moment durch. Die unhinterfragte Ebene platter Bewertungen (gut-schlecht; straight - naiv etc.) hantiert kriterienlos und fragt
schon garnicht nach deren Bedingtheit und Herleitung . Dies wäre aber eine Voraussetzung für den kritischen Blick auf die Geschichte (als individuelle und kollektive) und die
Auseinandersetzung damit.

Andererseits ist manches gutgemeinte Schulterklopfen für Brigit darauf gerichtet, ihre bislang geäußerten Andeutungen von Fragen zum Einfallstor für ihre Ablösdung von ihren politischen
und geschichtlichen Grundlagen zu machen.

Am 03.05.1995 war in der "Jungen Welt" ein fataler Appell von Kirchenleuten zur "Zu-sammenlegung" abgedruckt. Hierin wird, was in den Ansätzen der Raf an richtigem und auch an
Herausforderung in die Gesellschaft hineinwirkte, auf ein "Terrorismusproblem" reduziert. Die Gefangenen aus diesem Zusammenhang werden als Individuen mit fehlerhaftem Lebensweg
eingeordnet, den aufzuarbeiten sie durch die Zusammenlegung Gelegenheit bekommen sollen.

Darin trifft sich dieser Text mit Bestrebungen des VS, der nicht nur bei Birgit an die Zellentür klopfte, weil er es sich nur als Schwäche vorstellen kann, wenn es Fragen gibt.

Der individuelle Weg, die eigene Geschichte über den Haufen zu werfen, stand jederzeit offen, dafür braucht es weder eine Zusammenlegung noch eine Erklärung der Raf wie die von
August 1992.

Die "resozialsierende" Intention der Christen ist nur eine Variation der Erwartung, daß die Zusammenlegung die wechselseitige Zerfleischung herbeiführe. Daß der Zusammenlegung
Wirkungen zugedacht werden, die das politische Klärungsinteresse aushebeln, kann nicht gegen die Forderung von Gefangenen nach Zusammenlegung sprechen. Sie bleibt zu
unterstützen, auch wo Gefangene die Einbeziehung von Birgit Hogefeld ablehnen.

Auch manche gutgemeinte Solidarisierung mit Birgit und der Versuch, sie als positiv besetztes Gegenbild zu etablieren, zurrt die Auseinandersetzung auf die Ebene der individuellen
Bewertung fest.

So fällt auch in solidarischen Äußerungen zu Birgit (z.B. M. W. im Schwarzen Faden, siehe gekürzt auch: Junge Welt vom 17.02.95) die Tendenz auf, Birgit aus ihrem Zusammenhang
herauszulösen und sie und die Raf in einer Schwarz-Weiß-Zeichnung zu enthistorisieren (früher: böse - heute: gut). Diese Tendenz beinhaltet die Gefahr, in dem Aufbruch der Raf die
emanzipativen und für den Kampf notwendigen Elemente nicht mehr wahrzunehmen und so jegliche Kontinuität zu zerschneiden und so dazu beizutragen, daß das "Innehalten",die
"Kampfpause", die "Besinnung", das "Ringen um neue Wege und Ziele" zum Bruch mit der Geschichte uminterpretiert werden.

Starre Bewertungskriterien und die Unfähigkeit., sich in Widersprüchen zu bewegen, ohne sie abzuspalten und bei "anderen" zu verorten, prägen -auch wenn es dazwischen immer wieder
Aufbrüche gab - lange Phasen linker Geschichte in der BRD. Dies ist also keineswegs nur ein "Problem" der Raf und der an sie angelehnten Politik.

Mit der Raf ist untrennbar der Versuch verbunden, in diese Gesellschaft verändernd einzugreifen und die Erkenntnis, daß eine emanzipative Politik den ganzen Menschen erfordert. Gerade
diese Elemente, die auch in andere Teile linksradikaler Politik einflossen, spielen in den aktuellen Äußerungen nahezu nirgends mehr eine Rolle. Sie gilt es - im Bewußtsein der Fehler,
Fragen, Widersprüche - wieder und vor allem eigenständig zu entwickeln.

Dies kann - wenn überhaupt - nicht geschehen, ohne sich zur gemachten Geschichte eigenverantwortlich ins Verhältnis zu setzen. Dies schließt eine solidarisch-kritische
Auseinandersetzung mit Birgit und dem Prozeß gegen sie ein, aber auch die Aufforderung,auch nach allen Prellungen, die das einfache Solidaritätsgebot gegenüber den Gefangenen
erfahren haben mag. für die Freilassung aller politischen Gefangenen weiterhin einzutreten.

Zu den weiterzuführenden Aufgaben gehört auch der rückwärtsgewandte Punkt, kon-kret-persönliche Verantwortung für Steinmetz' Gedeihen in Wiesbaden zu übernehmen wie dessen
Werdegang als Typus einer Karriere im Anti-Imp-Rahmen zu entschleiern.

Das Abkehren vieler in die Zurückhaltung können wir verstehen und finden wir auch angebrachter als so tun, als wäre nichts geschehen. Andererseits ist das Kopf-in-den-Sand-Stecken
nicht der Gipfel der schönen Tugend der Redlichkeit.

Wer auch die Fäden wieder aufnimmt, die aus der Geschichte der Raf schlagen, wird die Erfahrungen derer brauchen, die jetzt so laut reden und nichts sagen, und derer, die schweigen und
auch derer, die einen Bezugsrahmen radikalen Denkens und Handelns weiterschreiben wollen, der weder mit der Raf angefangen hat noch mit ihr zu Ende wäre.

Beitrag aus Saarbrücken:


 

basis: Zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Wir haben im Rahmen der von der Initiative LIBERTAD! organisierten Prozeßbegleitung am 28. 3. und 4.4. den Prozeß von Birgit besucht. An beiden Prozeßtagen war der gemeinsame
Angriff von RAF und Action Directe gegen die US Air Base in Frankfurt/Main im August 1985 Gegenstand der Verhandlung gewesen.

Bei unserem Prozeßbesuch in Frankfurt am 4. April, als auch zwei Vertreter nationaler Befreiungsorganisationenen aus den USA, der MLN(M) (Movimiento Liberation National/Mexico)
und NAPO (New Africans People Organisation), als Besucher im Prozeß gegen Birgit Hogefeld waren, haben wir kurz nach Ende des Verhandlungstags mitbekommen, wie Birgit aus
dem Gebäude des Oberlandesgerichts gebracht wurde. Die Straßen wurden weiträumig abgesperrt, dann kam, mit Blaulicht und Sirenengeheul ein grauer BMW aus der Einfahrt
geschossen, in dem Birgit auf dem Rücksitz gesessen haben muß. Sehen konnten wir sie nicht, die Fenster waren rundum zugehängt.

Es muß für sie so sein, als würde sie einen Sack über den Kopf gezogen bekommen. Die Methode, die dahinter steckt ist bekannt: die Gefangene soll, entsprechend den
Isolationshaftbedingungen, denen alle politischen Gefangenen immer noch unterworfen sind, von all dem abgeschirmt werden, was für sie Anhalt von Orientierung sein könnte, sie soll das
Gefühl des Ausgeliefertseins verinnerlichen.

Die Methode hat auch einen Namen: systematische, weiße Folter!

Der Prozeß gegen Birgit spiegelt etwas von dem wider, was in diesem Moment spürbar war: mit ihm soll der Sack über die Köpfe all derer gestülpt werden, für die die militanten Kämpfe
in den achtziger Jahren Anhaltspunkte geben können für die Auseinandersetzung innerhalb der radikalen Linken in Deutschland über die Neubestimmung eines revolutionären Projekts.

Der Prozeß selbst hat als Inhalt den von den westeuropäischen Guerilla- und militanten Widerstandsgruppen dem imperialistischen System erklärten revolutionären Krieg in seiner ganzen
Dimension im Laufe der achtziger Jahre. Angesichts der Niederlage der Linken eine scheinbar erdrückende Last, sich damit verantwortlich auseinanderzusetzen. Alleine konnte bisher kein
Zusammenhang, keine Gruppe dieser Verantwortung gerecht werden.

Erwartungen sind auch daran geknüpft, welche Antworten Birgit, die zehn Jahre lang in der RAF gekämpft hat, im Zusammenhang mit dieser Phase revolutionären Kampfs in der BRD
geben kann. Die Ausgangsbedingungen angesichts der Defensive, Zersplitterung und Zersetzung, in der sich die Reste der revolutionären und linksradikalen Bewegung immer noch
bewegen, machen es ihr nicht einfach, sich dieser Verantwortung zu stellen.

Dies kennzeichnet den gesamten bisherigen Prozeßverlauf, in dem sich ein individualisiertes politisches Herangehen kultiviert.

Das Diktat über den Prozeßverlauf haben Bundesanwaltschaft und der 5. Strafsenat eindeutig in der Hand. Dem alleine juristisch beikommen zu wollen, heißt sich in die Falle der eigenen
Entpolitisierung zu begeben. So oder so verläuft die Konfrontationslinie politisch, manövrieren der Senat und die Bundesanwaltschaft damit, die Delegitimierung revolutionärer Intervention
zum Inhalt des Verfahrens zu machen.

Wie sieht das aus? Schon eine Woche vorher, am 28. März, inszenierten die BAW und der Senat den Prozeß als Reality-TV: Zwei Stunden war ausschließlich - im Zusammenhang mit der
Air-Base-Aktion - die Rede von zerstörten menschlichen Körpern, abgerissenen Gliedmaßen, aufgerissener Bauchdecke usw. Offensichtlich geht es der politischen Justiz am wenigsten um
die für ihre Prozeßführung notwendigen "polizeilichen und juristischen Tatsachen". Um so mehr um Stimmungsmache. Die Atmosphäre im Gerichtssaal wird bewußt emotionalisiert und
sorum die politisch-militärische Aktion der Guerilla als sinnloses Blutbad entpolitisiert.

Inwieweit sich die restlichen Prozeßbeteiligten dafür benutzbar machen lassen, müssen sich sowohl Birgit, ihre AnwältInnen als auch die Prozeßbesucher selbst fragen und fragen lassen.

Am 2. März 1995 hat sich Birgit mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt, in der sie die Absicht der Bundesanwaltschaft, die Erschießung des GIs Pimental im Jahre 1985 durch
die RAF zum Prozeßgegenstand zu machen als einen Versuch bewertet, die Politik der RAF seit Anfang 1992 zu denunzieren und damit die radikale Linke zur Neuauflage von alten
Grabenkämpfen zu bringen. Diese Einschätzung ist schon alleine darüber zu widerlegen, daß bereits Ende 1993 Eva Haule, als eine der Gefangenen aus der RAF, die noch nicht mit
lebenslanger Haftstrafe verurteilt war, eben aus Anlaß des Versuchs der Auseinandersetzung mit der Erschießung Pimentals erneut der Prozeß gemacht wurde. Mit dem alleinigen
materiellen Ziel, "lebenslänglich" gegen sie zu verhängen. Dieser Prozeß hat weder dazu geführt, daá sich die radikale Linke zum Einschnitt der RAF im April 1992 neu ins Verhältnis
gesetzt hätte noch an Auseinandersetzungen angeknüpft worden wäre, die 1985 zwar einige Wellen hochschlagen ließen, jedoch nie zu einer wirklichen Klärung von Fragen für die
Weiterentwicklung eines revolutionären Projekts beigetragen haben. Der Prozeß gegen Eva Haule war für den überwiegenden Teil der Reste der linksradikalen Bewegung schlichtweg
ohne weitergehende politische Bedeutung, obwohl sich auch mit ihm die beabsichtigte Abrechnung mit revolutionärer Politik in den achtziger Jahren und endgültige Einbetonierung der
politischen Gefangenen manifestierte.

An diesem Punkt ein - sicher verkürzter, aber notwendiger - Blick zurück: Der Angriff auf die US-Air-Base, und damit zusammenhängend die Erschießung des GI's Pimental, war keine
isolierte Aktion, die für sich allein betrachtet und politisch bewertet werden kann, sondern integriert in die Entwicklung der Antiimperialistischen Front in Westeuropa und dem damit
verbundenen Aufbau einer revolutionären Gegenmacht im Herzen der Metropole.

Getrieben aus dem Zwang, die fundamentale Krise des imperialistischen Systems in einer ganzen Phase von kaltem und heißem Krieg zu lösen, holten die westlichen Staaten zur
Gegenoffensive aus. Wenn sie sich in vielem auch uneins waren, darin waren sie sich einig: Die Befreiungsbewegungen des Südens sollten zerschlagen, vom Imperialismus unabhängige
Wege fortschrittlicher Länder zertreten, die Sowjetunion und die Länder des Warschauer Vertrages - auf deren Kollaps man spekulierte - totgerüstet werden. In den Zentren ihrer Macht
stellten sie dafür die Weichen: Durch politisch-militärisch-ökonomische Umstrukturierung und einer Strategie der präventiven Konterrevolution mit der Konsequenz einer militarisierten
Gesellschaft. Als Beispiele seien genannt: Raketenstationierung, Reagens "Krieg der Sterne" SDI, Hochtechnologie, flexible Automatisierung und Massenentlassungen, Aufrüstung und
Ausbau der Polizei und der Geheimdienste...

Die greifbare Möglichkeit zur Befreiung und der Gestaltung menschenwürdiger Lebensbedingungen, die Kämpfe um politische und soziale Emanzipation, wie sie für die unterdrückten
und ausgebeuteten Massen verbunden waren und sind mit dem Sieg des vietnamesischen Befreiungskampfes, mit Kuba, mit dem ehemals revolutionären Nicaragua sollte für lange Zeit
zerstört werden.

Es war eine Zeit, in der für die revolutionären Kräfte auch in Westeuropa wenig Zeit war: "Wir waren uns bewußt, was in dieser Schlacht wirklich auf dem Spiel stand, wir alle, die wir in
Italien, in Deutschland und anderswo neue Wege gesucht, ausprobiert und umgesetzt haben, um auf die fundamentalen Veränderungen, die im Gang waren, und auf das wahre Niveau der
Konfrontation dieser Epoche zu reagieren." (Kampfkomitee der Gefangenen aus Action Directe, 1993).

Soweit zu den historischen Ausgangsbedingungen, ohne die nichts zu begreifen und eine politische Kritik dieser Kampfphase gar nicht zu leisten ist. Sicher gab es Fehler, vermeidbare wie
auch unvermeidbare. Fehler aufgrund persönlicher Unerfahrenheit, genauso wie es praktisch-organisatorische Schwächen und auch eine fehlerhafte und bisweilen oberflächliche Analyse
politisch-sozialer Ausgangsbedingungen und der internatio-nalen Kräfteverhältnisse gab. Das wiederum stand in wechselseitiger Beziehung dazu, daß der Blick der Kämpfenden fast
ausschließlich auf die Strategie des imperialistischen Roll-Backs fixiert war und weitergehende politische Vorstellungen und gemeinsam bestimmte gesellschaftspolitische Ziele nur
unterbelichtet vorhanden waren.

Birgit sagte in ihrer Prozeßerklärung: "...meiner Mei-nung nach reicht es aber nicht aus, die Erschießung Pi-mentals einfach bloß als schlimme Fehlentscheidung zu bezeichnen, ohne
zugleich eine Antwort auf die Frage zu suchen, wie es dazu kommen konnte, daß Menschen, die mit der Vorstellung aufgestanden waren, für eine bessere Welt zu kämpfen, sich soweit
von ihren eigenen Idealen entfernen konnten...".

Mit der Behauptung, daß mit der Erschießung des GIs Edward Pimental 1985 die RAF "eine der schlimmsten Fehlentscheidungen" ihrer Geschichte begangen hat, hat sich Birgit sehr viel
Beifall von verschiedenen Seiten ge-fallen lassen müssen. Sie hat daran anknüpfend einen moralischen Anspruch für die Legitimität revolutionärer Intervention angedeutet und abzustecken
versucht, der Tür und Tor öffnet für die Psychologisierung der politischen Praxis revolutionärer Gruppen. Angesichts der tatsächlichen politischen Konfrontation, die mit diesem Prozeß
von Staats wegen geführt wird, der sich immer noch im Krieg mit der RAF wähnt und daraus auch in Bad Kleinen keinen Hehl gemacht hat, hat sich Birgit auf einen Pfad begeben, auf
dem sie selbst zum Objekt dieser Kriegsführung wird.

Keiner hat die Erwartung, daß in Bezug auf die kritische Auseinandersetzung mit der Erschießung Pimentals Birgit die Position des Genossens aus den USA einnehmen könnte, der als
Mexicano zum Schluß kommt, daß Pimental einfach auf der falschen Seite der Barrikade ge-kämpft hat. Diese Klarheit kann und darf der Genosse haben, für die radikale und revolutionäre
Linke hier kann sie jedoch nicht alles gewesen sein. Aber sie muß Bestandteil der Auseinandersetzung darüber sein, daß die Dimension des revolutionären Kriegs international die achtziger
Jahre bestimmt hat und auch wieder in die imperialistischen Zentren zurückkehren wird, auch wenn es momentan kaum Anhaltspunkte dafür gibt.

Jede Ignoranz gegenüber dieser Dimension, egal ob in die Geschichte zurückblickend oder die aktuelle Situati-on bewertend, verwandelt die Subjekte des revolutionären Prozesses in
Spielfiguren der Herrschenden.

Bei aller notwendigen politischen Kritik im Zusammenhang mit der Entwicklung der antiimperialistischen Front von Guerilla und militantem Widerstand in den achtziger Jahren kann der
Schluß nicht dahin gehen, daß alle gemachten Erfahrungen, gerade auch die gemachten Fehler, so zur Disposition stehen, daß sie je nach Befindlichkeit und persönlichem Kalkül den
Herrschenden zum Fraß vorgeworfen werden.

"Die Air Base in ihrer Funktion als Drehscheibe des imperialistischen Krieges und Geheimdienstzentrum steht unmittelbar in der Konfrontation zwischen internationalem Befreiungskampf
und Imperialismus - die Krieg ist - und damit alle Soldaten, die dort sind."

(aus der 2. Erklärung der RAF vom 25. 8. 85 zur Aktion gegen die Air Base und zur Erschießung des GI's Pi-mental)

Am 8. August 1985 detonierte auf dem Gelände der US Air Base in Frankfurt eine Autobombe; zwei US Mili-tärangehörige kamen bei diesem Angriff ums Leben, Gebäudeteile des
Headquarters der Air Base wurden zerstört. Ein Kommando George Jackson der Guerillagruppen Action Directe und RAF erklärte zu dem Angriff u.a.:

"Die Strategen des imperialistischen Krieges in Washington, Brüssel, Bonn, Paris...werden von hier aus nicht länger vom gesicherten Einsatz ihrer Militärmaschine und der ruhigen
Planbarkeit ihres Krieges ausgehen".

Die US Air Base in Frankfurt war und ist eine der größten Drehscheiben für den Krieg der westlichen Industrieländer gegen die sogenannte Dritte Welt. In den achtziger Jahren
konzentrierte sich die Strategie des im-perialistischen roll backs gegen die international um Befreiung kämpfenden Völker u.a. auf die verstärkte militärische Intervention im Nahen und
Mittleren Osten.

Der Militärputsch in Ankara im Herbst 1980 war begleitet von einem Manöver der NATO in der Türkei; 1980 versuchten Spezialtruppen der US Delta Forces eine Landung im Iran, um
völkerrechtswidrig, dort gefan-gengenommene US-Bürger militärisch zu befreien; die Massaker an palästinensischen Flüchtlingen in Lagern im Libanon durch die israelische Armee und
libanesische Falangisten 1982 wurden unter dem Schutz von US-Fregatten vor der Küste Libanons durchgeführt; mit dem sogenannten Camp David Abkommen zwischen Ägypten und
Israel verstärkten die USA ihre Truppenpräsenz im Nahen Osten durch ständige gemeinsame Manöver mit der ägyptischen Armee.

Von Frankfurt aus wurde der Truppentransport und der Transport militärischen Geräts abgewickelt. Überhaupt lief und läuft der Großteil an Nachschub und Versorgung aller in
Westeuropa, im Mittleren und Nahen Osten und in Afrika stationierten US-Truppen über die Air Base. So stand die Air Base auch während des 2. Golfkriegs 1991 im Zentrum der
Planungen für den Blitzkrieg gegen den Irak, bei dem in wenigen Tagen über 100000 Menschen getötet wurden.

Die Air Base trägt auch den Namen "Gate Way To Europe". Sie war schon immer als militärisches Einfallstor für den imperialistischen Krieg gegen die ehemaligen Staaten des
Warschauer Vertrages gedacht gewesen. So wurden auch die ersten Cruise missiles über die Air Base in die BRD eingeflogen.

Als Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre die Planung des Baus einer neuen Startbahn für den zivilen Teil des Frankfurter Flughafens bekannt wurde und sich dagegen breiter
Widerstand organisierte, wurde schon bald der Zusammenhang zwischen militärstrategischen Planungen der Imperialisten und dem Bau der Startbahn West hergestellt. Das Kommando
George Jackson hat damals in seiner Erklärung auch Bezug auf den Widerstand gegen dieses Projekt genommen.

Durch die Erschießung des GI's Pimentals und die daraufhin folgenden Auseinandersetzungen in großen Teilen der revolutionären Linken über die Legitimität dieser Aktion geriet einiges
von der anvisierten Zielbestimmung der gesamten Aktion in den Hintergrund. Die RAF hatte den GI erschossen, um mit Hilfe seiner ID-Card in die US Air Base eingelassen zu werden.

Gruppe basis

Saarbrücken, April 1995

Zuschrift:

Lesehinweise

Wir hoffen auf jene, "die bei aller notwendigen Kritik an Stasi und RAF das ebenso deprimierende wie historisch bewiesene Axiom verteidigen, daß der Kampf um eine bessere
Gesellschaft eines bewaffneten Elements bedarf"

(Junge Welt 10.05.1995)

Die Verteidigung dieses Axioms besteht zunächst in der Fundierung und Herausarbeitung einer politischen und gesellschaftlichen Erkenntnis; weniger im schnellen Bejubeln jedweder
Regelverletzung oder in der Reaktivierung von Bruchstücken aus der politischen Argumentation der RAF.

Das Bergen der Erkenntnisse aus dem Kampf der RAF muß auf ihre Einbettung und Verbindung mit dem analytischen Instrumentarium des revolutionären und sozialistischen Lagers
hinauslaufen.

Georg Fülberths Untersuchung zur Nachkriegs KPD und zur DKP verfolgt die Frage, warum die Politik der Organisationen sich beinahe gesetzmäßig von den objektiven und subjektiven
Bruchlinien der Gesellschaft wegbewegt hat.

Diese Frage könnte auch gegenüber der RAF aufgeworfen werden. Ergänzt um die Untersuchungsebene der notwendig minoritären Rolle revolutionärer Politik in der kapitalistischen
Metropole. Die soziale und politische Substanz der Ressonanz-Gruppen und - Bereiche der RAF-Politik sollte auch mithilfe analytischer Entzauberung der Bezugnahme auf sie erschlossen
werden. Hilfreich könnte dabei das Buch "Bewegungslehre" sein (Agentur BILWET: Bewegungslehre. Botschaften aus einer autonomen Welt. Berlin / Amsterdam - Edition ID-Archiv -
1991).

Die gegenkulturellen Stichworte, die in den Texten der Raf aus dem Jahr 1992 und gelegentlich in Birgit Hogefelds Prozeß-Erklärungen anklingen, sind kategorial noch nicht ausreichend
u nd zu sehr dem Kultur- und Lebensgefühl der jugendkulturell geprägten Bewegungen der letzten 25 Jahre verhaftet.

Indem Positionen und Orientierungen der Raf mit einer Begrifflichkeit untersucht werden, die vor und nach diesem strategischen Ansatz bewaffneten Widerstands in Westeuropa Relevanz
haben, werden auch Raf-spezifische Setzungen bewertungsmäßiger und strategischer Art entideologisiert (nämlich ihres Glaubenscharakters beraubt) und politisiert: nämlich in ihre
Elemente zerlegt und damit für ihre Aufgreifbarkeit und Weiterführbarkeit vorbereitet.

Die Einsicht, die auch eine deprimierende ist, daß der Kampf um eine bessere Gesellschaft eines bewaffneten Elements bedarf, wird neu formulierbar.

Zu dieser Kategorienbereinigung können viele Schritte und Texte beitagen: Z.B.Merleau-Ponty: Humanismus und Terror, der in einer historisch-politischen Auseinandersetzung mit der
Sowjetunion der 30-er und 40-er Jahre und den Moskauer Prozessen philosophische und strategische Kategorien gewinnt, die sowohl für die Annäherung an die DDR wie für die
Einordnung der beaffneten Strategien der 70-er und 80-er Jahre in Westeuropa wesentliches austragen.Rosa Luxemburgs "Junius"-Broschüre: "Die Krise der Sozialdemokratie" reißt die
Fragestellung der beinahe notwendig minoritären Rolle internationalistischer Politik in den kapitalistischen Zentren in weittragender Klarsicht an.

Beiträge und Anstrengungen, die zu einem historisch-politischen Denken befähigen und von daher auch eine Annäherung an die Geschichte und Politik der Raf ermöglichen, sind das
Gebot der Stunde.

Wo im Zerfallsprozeß der an die Raf angelehnten politischen Rahmen Erkenntnis- und Bewertungssplitter aus dem bisherigen Orientierungssystem zum Besen werden, auf dem man / frau
mit oder gegen Birgit Hogefeld reitet., kehren nur das objektiv Sektiererische der Raf-Ideologie und Raf-Politik wieder und das Unvermögen, abweichende Positionen auf das
gesellschaftliche Substrat abzuklopfen, das in sie eingegangen ist.

Sekten zeichnen sich nach einer Bemerkung von G. Lukacs dadurch aus, daß sie versuchten, den Reichtum der Gattung in sich zu verkörpern, obgleich ihnen die Kapazität dazu abgehe.
Was heißt: Der Handwerkskasten der wenigen festliegenden Antworten, die oft schnell erlernbar scheinen, ist dem Gegenstand der historischen und gesellschaftlichen Prozesse nicht
ausreichend angemessen. In dem vertretenen Weltbild fehlen der Reichtum der Geschichte des Menschen: seiner Denk-. Leidens- und Befreiungsgeschichte und das Ausschreiten der
Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Prozesse.

Es geht nicht um Kontemplation. Sie will nicht, daß "die Politik etwas Gefährliches oder auch nur Ernsthaftes sei. Was man letztlich verteidigt, ist die Unverantwortlichkeit des politischen
Menschen."

"Wer offensive Perspektiven aufzeichnet, kann immer Provokateur gescholten werden; wer Rückzugsperspektiven aufzeichnet, kann immer Konterrevolutionär gescholten
werden ..." (Merleau-Ponty).

M.L.

Der Anstoß zur Zuschrift:

Junge Welt: 10.05.95:

Stasi: Viel geRAFft

Der Prozeß gegen MfS-General Neiber und fünf seiner Kollegen soll in Kürze beginnen. Die Berliner Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, nach 1980 zehn RAF-Mitglieder in der DDR
aufgenommen, ihnen neue Papiere, Arbeit und Wohnung besorgt zu haben. Der ursprüngliche Plan der Anti-Terroristen, Neiber & Co. dafür Beihilfe zum Mord anhängen zu können, ist
nicht aufgegangen; nun bleibt als Delikt Strafvereitelung übrig.

Eigentlich müßte Neiber von Bundespräsident Herzog einen Verdienstorden erhalten, denn er hat dazu beigetragen, aus erbitterten Staatsfeinden angepaßte Bürger zu machen. Doch es
geht offensichtlich nicht um die Unterordnung des gesellschaftlichen Antagonismus unter das staatliche Gewaltmonopol, wie es in bürgerlich-demokratischen Republiken üblich ist,
sondern um die Liquidierung dieses Antagonismus: ein Element totalitärer Herrschaft. Deswegen gibt sich der starke Staat nicht mit der Auflösung der RAF zufrieden, wie sie nach 1980
Neiber mit seinen Mitteln betrieben und nach 1990 die RAF selbst angeboten hat. Er will Rache und exemplarische Abstrafung: Die in die DDR Geflüchteten wurden gleich nach der
Wiedervereinigung doch noch eingesperrt, selbst wenn sie zuvor andere denunziert hatten. Und nun sind diejenigen dran, die ihnen Asyl gewährten.

Aber bitte kein Lamento. Das Einklagen der bürgerlichen Rechte sollen jene betreiben, die sich wie Antje Vollmer mit der Vorstellung besoffen gemacht haben, Deutschland sei nach 1968
>>zivilisiert<< worden. Der Clou wird nur sein: Ausgerechnet jetzt, wo es drauf ankäme, werden sie ihr Fähnlein von der notwendigen Zivilität einrollen und gemeinsam mit der Reaktion
reißmüllern: Kreuziget sie!

Für eine nüchterne Solidaritätsarbeit mit den Angeklagten bietet der Prozeß dennoch gute Möglichkeiten: Drängelten sich bei den Verfahren gegen Honecker oder Mielke oft Stalinisten
und selbsternannte Spartakisten in den Vordergrund und verbreiteten eine muffige Atmosphäre, könnten sich dieses Mal auch standhafte Linksliberale in der Tradition von Heinrich Böll
gerufen fühlen. Er, der der Springer-Presse einst ein >> Freies Geleit fur Ulrike Meinhof<< entgegenschleuderte, würde sich heute wohl für die MfS-Genossen, die eben dieses freie Geleit
gewährt haben, stark machen. Vor allem aber darf auf das Zusammenstehen der besten Linken aus 0st und West gehofft werden: jener, die bei aller notwendigen Kritik an Stasi und RAF
das ebenso deprimierende wie historisch bewiesene Axiom verteidigen, daß der Kampf um eine bessere Gesellschaft eines bewaffneten Elements bedarf.

Dieter Fleiner

Technics und Hinweise

Das Prozeßinfo wird in Wiesbaden gemacht. Beiträge möglichst als Diskette auf Word for Windows 06 (oder 02). Adresse: InfoAG zum Prozeß gegen B. Hogefeld, Werderstr. 8, 65195
Wiesbaden

Telefon nur: freitags 18- 20 Uhr: 0611 / 44 06 64

Da manchmal Prozeßtermine ausfallen, ist es vor allem für Leute mit weiter Anreise sinnvoll, kurz vorher bei der InfoAG anzurufen.

Vertrieb:

Die Nr. 5 wird verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 644, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, Fax: 030 / 649354

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen


* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

n Weitere regionale VerteilerInnen werden gesucht, um hier in der Liste als Verteilstelle aufge führt zu werden.

n InteressentInnen für die Zusendung von Einzelexemplaren wenden sich an eine dieser Adres sen in ihrer Nähe, nicht nach Wiesbaden (Geld jeweils beifügen !)

Birgits Postadresse:

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach. 60256 Frankfurt

Veranstaltungen zum Prozeß:

26.05.95: Dortmund

21.06.95: Heidelberg: 20 Uhr: Marstallhof / Marstallsaal Altstadt (Bad Kleinen & Prozeß)

wahrscheinlich Anfang Juli: Trier

Entschuldigungen:

Ein nicht gezeichneter - auch ohne Ortsstichwort eingegangener - Beitrag -: "Mythos odr kritische Solidarität - der Fall Birgit Hogefeld" erreichte uns während der Fertigstellung von Info
4. Er fehlt auch diesmal: Die Zusendung war als Druckvorlage nicht verwendbar mangels Qualität. Das Einskannern, zu dem wir ausnahmsweise Gelegenheit hatten, scheiterte dann heute
am Fertigstellungstag ebenso an der mangelnden Typendeutlichkeit. Jetzt können wir es selber nicht mehr abschreiben.

Fotos aus Berlin zum Preungesheimer Knast in Frankfurt veröffentlichen wir das nächste Mal.

Viel Post und Einzelbestellungen, die wir nicht ausführen können, sind unbeantwortet geblieben.

Spendenkonto:

zu Verfahren Birgit Hogefeld und Todfesermittlungsverfahren z.N. Wolfgang Grams:

Sonderkonto V. Luley, "Bad Kleinen", Postbank Frankfurt, BLZ: 50010060, Kto-Nr.: 16072-603

für Birgits persönlichen Bedarf: Sonderkonto Birgit Hogefeld:

R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228

Das nächste reguläre Info erscheint im Juli 1995: Wir warten auf Diskussionsbeiträge ! Sollte Birgit Hogefeld eine grundsätzlichere Prozeßerklärung abgeben, werden wir eine Ausgabe
dazwischen schieben, die ihrer Verbreitung dient.

Foto von der Demo gegen das UN-Treffen-Gipfeltreffen über Sozialpolitik, in Kopenhagen am 10. März 1995. Es nahmen ungefährt 3.000 Leute aus dem linken Spektrum teil.
Darunter um die 200 - 300 aus dem autonomen Spektrum.

Der Transparent-Text lautete:

Freedom for: Mumia Abu-Jamal (USA), Birgit Hogefeld (D), Marc Rudin (DK) and all other politcal prisoners !

Aufruhr - Widerstand, kein ruhiges Hinterland ! Autonomi-Kollektiv

Verfassungsschutz-Aktivität

Der äußere im April 1995 in Berlin abgestempelte Umschlag war an die InfoAG in Wiesbaden adressiert. Der einliegende zweite an eine frühere Bekannte von Klaus Steinmetz, dem Bad
Kleinen-Spitzel, der aus Wiesbaden stammte. Die Weiterleitungsbitte war auf einen mit Susanne unterzeichneten Papierstreifen geschrieben; dieser Bitte wurde entsprochen.

Der Inhalt des zweiten Umschlags entpuppte sich als Schreiben von K.S. bzw. seiner Kollegen an die Empfängerin. Es hatte die selbe Bauart wie jene Schreiben, mit denen der VS über
K.S. nach Bad Kleinen Gruppen und Einzelpersonen aus seinem früheren Betätigungsfeld zu steuern suchte.

Zwar hat der Brief Elemente des Versuchs, gegenüber der Empfängerin an einer früheren persönlichen Beziehung anzuknüpfen; insgesamt ist er jedoch auf Veröffentlichung und
Weiterverbreitung angelegt; auch das Lob, das der InfoAG gespendet wird, kann nur die Funktion haben, die Spaltungswirkung, die dem bösen Wort von der "Steinmetzchen Einheit"
zukam, zu vertiefen.

Die InfoAG erklärt:

1.

Beim Erhalt doppelter Umschläge werden wir in Zukunft beide öffnen. Es sei denn, eine derartige Übermittlungsweise an Dritte ist vorher abgesprochen.

2.

Der Brief ist mit einer distanzierenden Stellungnahme der Empfängerin im Adressenverteiler der Infoläden verbreitet worden. Daß er dann - wie geschehen - bei der Presse landete (bisher:
Junge Welt: 06.05.1995), war nur logisch.

Wir halten die Veröffentlicheung für falsch; es gibt keinen Grund, den vom VS beabsichtigten Wirkungen von Bewertungen, die K.S. in den Mund gelegt werden, auf die Beine zu helfen.

Wir hätten es vorgezogen, den Brief an den VS Rheinland-Pfalz mit der Bemerkung "Annahme verweigert" zurückzuschicken. Daß dem mangels Absenderkennung eine Öffnung
vorausgegangen wäre, ist kein Widerspruch.

3.

Es gibt keinen Grund, sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen oder den Brief als "Dokument" in Umlauf zu bringen und für die "Analyse", Kaffeesatzleserei oder den pornografischen
Blick auf alles,was mit Geheimdiensten zu tun hat, bereitzustellen.

Die linke Diskussion braucht wahrlich andere Materialien.

4.

Die Wahl der Adresse betrachtet die InfoAG als Angriff des VS auf ihre Arbeit, den sie jedoch unirritiert ignorieren kann.

___________________________________________________________________

Aus: Stadtratte Nr. 26, München:

Nächste Prozeßtermine

Dienstag 30. Mai 1995

Donnerstag 08. Juni 1995

Dienstag 13. Juni 1995

Donnerstag 22. Juni 1995 Beginn erst 13.30 Uhr !

Donnerstag 29. Juni 1995 Beginn erst 13.30 Uhr !

Donnerstag 06. Juli 1995

Donnerstag 13. Juil 1995

Freitag 21. Juli 1995

Montag 21. Aug. 1995

Gerichtskomplex Frankfurt / Eingang Hammelgasse (ebenerdig) / Nähe S- Bahnstation Konstabler-Wache - Beginn: jeweils 9.30 Uhr

 Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 6

Wiesbaden, den 22. Juli 1995

Prozeßbericht Mitte Mai bis Mitte Juli

Am 30.5. präsentierte Schieferstein ein Schreiben "An die Justizbehörden Frankfurt" ohne Datum und Absender. Es war eine Sprengstoffattrappe in die Tiefgarage des Justizgebäudes
gelegt worden, geht daraus hervor. Birgits Anwalt protestierte gegen die Einführung dieses obskuren Schreiben, da es mit dem Verfahren nichts zu tun habe und es sich bei der Verlesung
um Stimmungsmache handele. Schieferstein bestand darauf, daß das Schreiben nicht obskur sei und sagte, die ZuschauerInnen "sollen von der Bedrohung in Kenntnis gesetzt werden".

Noch ZeugInnen zu Tietmeyer

Am 6.7. war die restliche Familie der Zeugin Walter-Chorfi (Auto-vermietung) da. Zur Erinnerung: Walter-Chorfi ist die einzige Belastungszeugin im Zusammenhang mit Tietmeyer. Sie
hat Birgit erstmals bei einer versteckten Gegenüberstellung 1993 im Knast Preungesheim an angeblichen O-Beinen "erkannt"; Birgit hatte sich den Arm vors Gesicht gehalten, als sie
merkte, was gespielt wird (siehe Info 3).

Nun war der Ehemann Herr Walter und die Mutter, Frau Chorfi, geladen. Diese beiden hatten an der Gegenüberstellung 1993 ebenfalls teilgenommen, jedoch Birgit nicht identifiziert.

Dennoch begann Frau Chorfi, zu der Autovermietung 1988 befragt, mit den Worten: "Also, da kam die Frau Hogefeld..."

Bei der Vernehmung dieser Zeugin wurde transparent, mit welchen Mitteln eine "Wiedererkennung", die sogar den eigenen Erinnerungen der Zeugin widerspricht, herbeigeführt werden
kann. Die Zeugin Chorfi, überzeugt davon, daß sie Birgit Hogefeld identifizieren soll, bleibt bei ihrer Aussage von 1988, daß die Automieterin blaue Augen und einen hellen Teint gehabt
habe. Mit Blick auf die Angeklagte, die ziemlich eindeutig keine blauen Augen hat, ergänzt sie, sie könnte ja gefärbte Kontaktlinsen getragen haben.

Befragt, seit wann sie denn "wisse", daß es sich bei der Automieterin 1988 um "Frau Hogefeld" gehandelt habe, sagt sie: Seit ihrer Vernehmung im Juni 1993. Und zwar nicht etwa, weil
sie sie da wiedererkannt habe (sie hat bei dieser wie bei allen anderen Vernehmungen "die Falsche" ausgedeutet). Sie hatte die vernehmenden Beamten gefragt, um wen es denn ginge und
ob sie "die Richtige" ausgesucht habe, woraufhin die ihr antworteten, daß sie ihr das nicht sagen dürften und daß sie um 22.00 Uhr Fernsehen gucken sollte, da käme es dann. Seitdem
"weiß" sie, daß das "die Frau Hogefeld" war, die damals 1988 ein Auto geliehen und vor allem nicht zurückgebracht hat. Auch die Tochter hat an diesem Abend erfahren, "daß es Frau
Hogefeld war".

Auch bei der Gegenüberstellung in Preungesheim hat sie "die Falsche" ausgesucht, wie sie dem Gericht schilderte. Vom Anwalt befragt, woher sie denn wußte, daß sie die Falsche
ausgedeutet habe, erklärte sie, daß die drei ZeugInnen zusammen nach Wiesbaden zum BKA gebracht wurden, um dort nochmals befragt zu werden. Frau Chorfi sah im BKA die Frau,
die sie bei der Gegenüberstellung identifiziert hatte, an einer Glastür vorbeilaufen und schloß messerscharf, daß das wohl nicht Frau Hogefeld sein könne, sondern eine BKA-Beamtin, die
als Vergleichsperson aufgetreten war. Da wußte sie, daß sie auf dem Zettel, den die Beamten in Frankfurt schon eingesammelt hatten, "die Falsche" angegeben hatte.

Auch der Schwiegersohn Herr Walter hatte bei keiner Vernehmung bislang Birgit identifiziert.

Auch er fragte die Vernehmungsbeamten, ob er die "Richtige" ausgedeutet habe. Als der Zeuge aufgefordert wurde, sich im Gerichtssaal umzuschauen, ob er jemanden wiedererkenne,
schaute er Birgit an, äußerte sich aber unklar. Schieferstein forderte ihn auf, doch näher ranzugehen, woraufhin er sich glotzend Birgit näherte. Das war derart widerlich und zudringlich,
daß sich Birgit dem entzog. Auch nach einer Wiederholung dieser schmierigen Attacke hat der Zeuge Birgit nicht identifiziert.

Zum Komplex Tietmeyer gab es (am 22.6.) noch einen weiteren Zeugen, und zwar den 1934 geborenen Herrn Lohmer. Hier ging es um eine Frau, die dieser im September 1988 an
seinem Geburtstag bei einem Auto mit Vermessungsgerätschaften gesehen hat. Er schildert die Frau schwärmerisch als "sehr schön", "sehr gepflegt", "fein", "graziös", "wie Nana
Mouscouri" etc.

Er hatte bei früheren Lichtbildvorlagen kein Bild erkennen können, nur auf einem Ähnlichkeit festgestellt, aber die Frau, die er gesehen hatte, hatte ein viel feineres Gesicht gehabt, betonte
er mehrmals. Er würde sie sicher wiedererkennen, wenn er sie sehe. Aufgefordert, sich im Gerichtssaal umzuschauen, ob er eine sehe, die Ähnlichkeit mit der Frau von damals hat, deutete
er nach langem Zögern auf eine der uniformierten Wachtmeisterinnen; er schien beleidigt über diese Zumutung an seinen guten Geschmack, weil die Frau von damals eben "viel feiner"
ausgesehen hat.

Weitere Zeugen zu Airbase

Am 13. und 29.6. ging es um zwei Autokäufe 1985, also zu Airbase. Dazu waren vier Zeugen geladen, die sich naturgemäß kaum noch erinnern konnten. Was sie noch wußten und was
sich aus der Verlesung der Vernehmungsprotokolle ergab, wies eher nicht auf Birgit hin.

Unauffälligkeit war das einzigste Merkmal, an das sich der Zeuge Hendrix (GI) am 30.5. erinnert.

Hier ging es wieder um die Pimental-Begleiterin. Er hat bei Lichtbildvorlagen und bei der Vorführung des BKA-Videofilms keine Frau identifizieren können. Zu Fotos von Birgit, die er in
der Zeitung auch gesehen hat, sah er keinen Zusammenhang mit der damaligen Pimental Begleiterin. Aber daß die Frau aus dem Western-Saloon große Augen gehabt habe, bestätigte er
nach mehrmaligen Nachfragen seitens der Richterbank, na, wenigstens ein Häkchen für Herrn Klein.

Mehr Häkchen konnte er hingegen am 13.7. machen, da ging es wiederum um die Frau aus dem Western-Saloon. Der Zeuge White ist ähnlich überraschend wie der kurzsichtige GI Tui
(siehe Info 5) nach der Verhaftung von Birgit 1993 und der Manipulation durch den BKA-Videofilm zu der "Erkenntnis" gekommen, daß es sich bei der Pimental-Begleiterin 1985 um
Birgit gehandelt habe. Wie bei Tui war die Vorführung des BKA-Films im Gerichtssaal schon vorbereitet.

Der Zeuge White, früher Soldat, heute Aufsichtsbeamter beim Atommüll, hatte bei den ersten Vernehmungen zuerst kein Foto ausgedeutet, nach weiteren intensiven Lichtbildvorlagen
benannte er eine Person, bei der er Ähnlichkeit feststellte. Beschrieben hatte er sie sehr allgemein: Dunkles kurzes Haar, sehr dünn, mittelgroß, große braune Augen. Es stellte sich heraus,
daß er das Foto einer der Frauen aus der RAF ausgedeutet hatte, die schon 1980 in die DDR übergesiedelt waren.

In den erneuten Befragungen nach Bad Kleinen wurde ihm der BKA-Film vorgeführt und Fotos vorgelegt - die Lichtbilder der Aussteigerinnen befanden sich nicht mehr darunter. So
mußte er sich neu orientieren, was anhand des Filmes leichtfiel. Von den 5 Frauen in dem Film sind 3 hellblond und vier kräftig, nur eine ist dunkelhaarig und schmal. Die vorbereitete
Wiederholung dieser Farce im Gerichtssaal entlarvte sich vollends, als der Zeuge, von Birgits Anwalt befragt, ob er der Ansicht sei, daß alle Frauen in dem Video dunkelhaarig und dünn
gewesen seien, ein wahrheitsgemäßes "Nein" sehr zögerlich hervorbrachte.

 
Prozeßerklärung vom 21.07.1995

I ch will heute einen Text vorlesen, in dem ich mich vor allem mit der RAF-Geschichte, unseren Erfahrungen und dem, was meiner Meinung daraus zu lernen ist, auseinandersetze. Daß
ich gezwungen bin, für diesen Text einen Vorspann zu schreiben, hängt damit zusammen, daß es aus staatlicher Sicht eine solche Auseinandersetzung nie geben sollte und auch heute nicht
geben soll. Die Liste der Maßnahmen, die darauf zielen, das zu verhindern, reicht von Bücherverboten, der Kriminalisierung unzähliger Menschen, einer Postzensur bei uns Gefangenen,
die inhaltliche Auseinandersetzungen an bestimmten Fragen nicht zuläßt oder derart verschleppt, daß das Schreiben sinnlos wird; den Besuchsverboten ehemaliger RAF Gefangener bei
Christian Klar bis dahin, daß Eva Haule allein aufgrund einer politischen Diskussion über Aktionen Mitte der 80-er Jahre ein lebenslänglich-Urteil bekommen hat. Eva's "wir" in diesen
Diskussionspapieren sagt selbst laut BKA-Analysen nichts darüber aus, ob sie persönlich an den Aktionen, um die es darin geht, beteiligt war oder nicht; trotzdem hat dieser
Staatsschutzsenat daraus eine "Tatbeteiligung" konstruiert und sie zu lebenslanger Haft verurteilt. Das war das letzte Glied in einer Kette: RAF-Mitgliedschaft und die Tatsache, daß jemand
zu seiner bzw. ihrer Geschichte steht und auch im Knast die inhaltliche Diskussion daran weiterführt, reicht für ein solches Urteil aus. Damit soll eine Auseinandersetzung mit unserer
Politik und Geschichte sogar für uns selber verhindert werden und damit soll - was in der aktuellen Situation hier mindestens genauso wichtig ist- die Geschichtsschreibung über unsere
Politik der 70-er und 80-er Jahre in die Hände der Bundesanwaltschaft gelegt werden. Mit Hilfe von Leuten wie Boock und den "DDR-Aussteigern", den späteren Kronzeugen, soll ein
Bild gezeichnet werden, das unseren Aufbruch und Versuch, hier für die Umwälzung der Verhältnisse zu kämpfen, als unbegründet und sinnlos darstellt. Vor dem Hintergrund, daß von
uns eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, unseren Erfahrungen und Fehlern weitgehend fehlt, ist das natürlich besonders leicht und so reichen oft ein paar selbstkritisch
wirkende Sätzchen einer Silke Maier-Witt oder eines Werner Lotze oder die erstaunlichen Phantasiegeschichten eines Boock und schon ist das Bild über die RAF auch in den Köpfen
vieler linker und fortschrittlich denkender Menschen festgeklopft.

Aber im Grunde ist das auch gar nicht verwunderlich - endlich redet jemand von denen, die die RAF von innen kennen, über Fehler und spricht Kritiken aus, die viele so oder ähnlich
sehen. Ich selbst finde auch nicht jeden Satz und jede Kritik, die aus diesem Personenkreis kommt, falsch, aber das alles hat für mich nichts mit einer selbstkritischen Betrachtung des
eigenen Lebenswegs zu tun - wenn es ihnen tatsächlich darum ginge, dann würden sie trotzdem zu ihrer Geschichte und auch zu dem, was sie im Nachhinein als Fehler ansehen, stehen,
aber nicht auf Kosten anderer die eigene Haut retten. So ist das alles nur Mittel zum Zweck: das Bild, das sie über die RAF zeichnen, die selbstkritisch wirkenden Sätze und genauso die
Aussagen über die, mit denen sie während ihrer Zeit in der RAF zusammen waren. Das ist der Preis, den die Bundesanwaltschaft festgesetzt hat und sie zahlen ihn.

Wir anderen dagegen sollen nicht öffentlich zu Wort kommen. Erst vor 3 Wochen hat dieser Senat wieder einen Beschluß verfaßt, in dem es heißt: "die Angeklagte ist von der Außenwelt
streng getrennt zu halten", vorletzte Woche wurde der x-te Antrag eines Fernsehsenders auf ein Interview mit mir abgelehnt und dieser Prozeß gegen mich ist der einzige Ort, wo ich mich
öffentlich äußern kann. Ich denke, wir müssen die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte endlich selbst anpacken - und das geht mit Sicherheit nicht, wenn immer noch ein Großteil
von denen, die irgendwann in ihrem Leben in der RAF waren, entweder irritiert und kopfschüttelnd vor diesem Abschnitt ihres Lebens stehen oder im Gegensatz dazu keinerlei Kritik
aushalten. Beides ist falsch, denn beides verhindert eine Auseinandersetzung und Begreifen, womit ich aber nicht blinde Zustimmung meine, sondern Verstehen. Ich denke, ohne die eigene
Geschichte zu begreifen, kann niemand etwas neues anfangen, es sei denn, er oder sie schneidet alles hinter sich ab, was ja auch viele gemacht haben.

Auch wenn ich heute denke, daß wir viele Fehler gemacht haben - unser Aufbruch und Kampf für eine andere Welt war zu jeder Zeit begründet und gerechtfertigt und ein solcher Kampf
muß konfrontativ geführt werden. Jetzt geht es darum, daß wir Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen ziehen, weil die für die Bestimmung zukünftiger Kämpfe wichtig sind und weil es auch
nicht darum gehen kann, daß andere unsere Fehler wiederholen, weil wir nicht darüber reden.

Im folgenden Text geht es um die gesamte RAF-Geschichte, natürlich fehlt darin vieles - eine genaue inhaltliche Darstellung unserer Bestimmungen in ihrem jeweiligen Kontext habe ich
beispielsweise weitgehend weggelassen, das hätte sonst den Rahmen gesprengt. Über all das ist sehr viel mehr zu sagen, schließen sich viele Fragen an usw. .Ich begreife den Text als
einen Beitrag und konzentriere mich auf die Punkte und Fragen, die mir am wichtigsten erscheinen. Ich habe den gesamten Text da, wo es um die RAF geht, in 'wir'-Form abgefaßt - mein
Lebensweg- ist jetzt seit 20 Jahren eng mit dieser Gruppe verbunden und deshalb denke ich, daß ich für die gesamte Geschichte Verantwortung trage.

 
Vor einiger Zeit hatte ich das im Zusammenhang mit der Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental angekündigt, denn meiner Meinung nach reicht es nicht aus, einzelne Aktionen
kritisch zu hinterfragen und zu beleuchten, ohne sie in ihrer Entwicklung und ihrem Zusammenhang anzuschauen. Das würde nicht nur allem nicht gerecht werden, aus einer solch
reduzierten Betrachtung wären auch keine Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen, zumindest nicht sehr weitreichende. Wie ich schon gesagt habe, halte ich die Erschießung des US-
Soldaten für eine der schlimmsten Fehlentscheidungen in der RAF-Geschichte. Eine solche Aktion: 1985 hier einen einfachen GI der US-Armee zu erschießen, um an dessen Ausweis zu
kommen, ist mit revolutionärer Moral und revolutionären Zielen nicht vereinbar. Ich denke, es ist falsch und ignorant, diese Aktion sozusagen als `politischen Unfall' abzutun, wie wir das
damals gemacht haben, denn in Wirklichkeit spiegelt sich in ihr die Denklogik wieder, die unserem Politikverständnis und unseren Bestimmungen Mitte der 80-er Jahre entsprach.

Von heute aus betrachtet schließen sich für mich daran vor allem zwei Fragen an. Zum einen, wie konnte es dazu kommen, daß Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte
und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernt haben, und außerdem, wie konnte eine Gruppe wie die RAF sich derart von der sozialen Realität
im eigenen Land entfernen? Selbst zu großen Teilen der Linken hin hat diese Aktion eine tiefe Kluft geschaffen, Aber die Kluft ist nicht allein auf diese Aktion und die Tatsache, daß
damals fast die gesamte Linke ungläubig bis fassungslos vor der Erschießung des GI stand, zurückzuführen. Ich denke, eine mindestens ebenso große Rolle spielt in dem Zusammenhang,
daß wir uns damals jeder Kritik entzogen haben - und gerade aus dem Spektrum der radikalen Linken gab es Ansätze solidarischer Kritik und Versuche, eine Diskussion darüber in Gang
in setzen. Und, bei vielen hat diese Erschießung Assoziationen und Parallelen zu 77 geweckt - den Soldaten wegen des Ausweises zu erschießen, drückt ein rein funktionales Verhältnis
aus, degradiert diesen Menschen zum Objekt; ähnlich war es 77 bei der Entführung der Lufthansamaschine, auch da waren Menschen, Mallorca-Urlauber, zum Objekt gemacht worden.
Aber 77 wurde in einer Zwangssituation gehandelt: Schleyer war entführt und die Bundesregierung lehnte die Freilassung der Gefangenen ab und setzte auf einen Fahndungserfolg. Das
war der Rahmen, in dem damals die Entscheidung für die Flugzeugentführung getroffen worden war und bei aller Kritik an dieser Aktion, haben viele Linke die Umstände, unter denen es
zu dieser Entscheidung, zu diesem Fehler gekommen war, gesehen. Eine ähnliche Zwangssituation hat es 1985, als der US-Soldat wegen des Ausweises erschossen wurde, nicht gegeben
und auch deshalb kam danach von verschiedensten Menschen und Gruppen umfassende Kritik, verbunden mit der Aufforderung, die Diskussion daran öffentlich zu führen. Doch anstatt
sich dieser Kritik zu stellen, wurden Kritikerinnen und Kritiker diffamiert, indem ihnen unterstellt wurde, die Konfrontation, die revolutionärer Kampf bedeutet, zu scheuen, und daß sie die
Schärfe der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Befreiungskämpfen nicht sehen wollten. Diese Reaktion auf Kritik war durchaus nicht unüblich in unserem
Verhältnis zur Linken - aber, um das auch mal zu sagen, sie gehörte und gehört auch bei anderen Gruppen und linken Zusammenhängen zur bewährten Abwehrstrategie gegen Kritik; ich
sage das nicht, um unsere eigenen Fehler zu relativieren, sondern weil mit dieser Umgehensweise auch heute noch viele Diskussionen blockiert und verhindert werden und weil ich es für
längst überfällig halte, damit zu brechen und eine neue Streitkultur zu entwickeln. Jedenfalls hat unsere Verweigerung einer öffentlichen Diskussion für die darauffolgende Zeit den Weg
für eine gemeinsame Ausrichtung unserer Kämpfe und Initiativen mit anderen Gruppen versperrt - und das, obwohl 'zusammen kämpfen eine unserer zentralen Parolen war. Das wurde für
uns damals aber nicht zum Wider spruch, weil wir die Gründe, die ein Zusammenkommen mit anderen Gruppen (über unser 'traditionelles politisches Umfeld' raus) verhindert haben,
ausschließlich bei anderen und nie bei uns selber gesucht haben.

Heute denke ich, daß es bei uns Fehlentwicklungen gegeben hat, die ihren Ausgangspunkt schon sehr früh in den 70-ern hatten und zwar v.a. in unserer zunehmenden Abwendung von der
gesellschaftlichen Realität, dem Zorn, dem Frust, dem Leiden vieler Menschen hier. Aus der 68-er Revolte entstanden, bezogen wir uns in unserer Aufbauphase sehr stark und direkt auf
die Massenproteste dieser Zeit. Im ursprünglichen Organisationskonzept ging es noch um die unmittelbare Verbindung von Stadtguerilla und Basisarbeit, darum, daß alle gleichzeitig auch
in Stadtteil- oder Betriebsgruppen mitmachen sollten. Daß diese Vorstellung schnell aufgegeben wurde, hatte zum Teil sicher die praktischen Gründe, von denen die GenossInnen aus
dieser Zeit reden, nämlich daß der sofort hochgepuschte Apparat der politischen Polizei, der alle linken Gruppen und Zusammenhänge unter Observation nahm, diese Zweigleisigkeit
unmöglich erscheinen ließ. Aber die sehr schnelle Isolierung selbst innerhalb des linken Spektrums ist allein daraus nicht zu erklären. Ich will hier nur kurz einige Stichpunkte nennen: die
Diskussionen wurden von beiden Seiten aus zunehmend unsachlicher und dogmatischer; gegenseitige Unterstellungen wie Putschismus und Militarismus einerseits - Reformismus,
Integrations- bzw. Karrierewille und Unterwerfung unter das System andererseits; auf jeden Fall waren sie nicht mehr geprägt vom Willen des gegenseitigen sich-zuhörens und verstehen-
wollens und es ging von beiden Seiten aus nicht mehr darum, hier zusammen eine Befreiungsperspektive zu entwickeln.

Manifestiert wurde dieser Bruch nach der ersten großen Verhaftungswelle und der Tatsache, daß es angesichts des offensichtlichen Vernichtungswillens gegen politische Gefangene keine
Kraft gab, die dem eine Grenze setzte. Aus Sicht der Gefangenen verweigerte ihnen der allergrößte Teil der Leute, mit denen sie der gemeinsame Aufbruch verband, an dieser
fundamentalen Frage die Solidarität. Gleichzeitig war es aber auch so, daß damals, wie fast in der gesamten RAF-Geschichte, kritische Solidarität immer abgelehnt und diffamiert wurde -
solidarisches Handeln an der Frage der Haftbedingungen bei gleichzeitiger Kritik oder Infragestellung unserer politischen Konzeption war nicht erwünscht. Was blieb und zum Teil in
seinen Rückwirkungen bis heute zu spüren ist, sind Verbitterung, Verletztheiten und Distanz auf beiden Seiten.

Unser frühes Abwenden von der gesellschaftlichen Realität als Bezugspunkt unserer Politik und die damit einhergehende Isolierung sind zu kritisieren, weil so keine tatsächlich relevante
politische Kraft aufzubauen war. Es ist aber auch wichtig zu verstehen, vor welchem Hintergrund es zu dieser Isolierung gekommen ist, denn die ist ja nicht einfach im luftleeren Raum
entstanden, sondern hängt zusammen mit eigenen Erfahrungen und der gesellschaftlichen Situation, auf die wir getroffen sind. Ich denke, zur RAF sind zu jeder Zeit nur Menschen mit
ganz bestimmten Erfahrungen, Weltbildern, Vorstellungen usw. gestoßen; für mich, genauso wie für alle anderen, hätten objektiv unzählige andere Lebenswege offengestanden. Daß wir
uns für diesen entschieden haben, hat Gründe, die ganz sicher auch mit unseren persönlichen Lebensgeschichten zu sammenhängen, die - obwohl sie sehr unterschiedliche sind - für jede
und jeden von uns zum im Kern ähnlichen Erfahrungen und dann Konsequenzen geführt haben. Daß das so ist, hat seine Gründe in der gesellschaftlichen Situation, aber auch in der
Geschichte dieses Landes, in deren Schatten wir aufgewachsen sind. Deshalb war die RAF trotz unserer relativen Isolierung immer auch Ausdruck und Antwort auf diese Realität - anders
hätte es die mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende Kontinuität, also die Tatsache, daß sich immer wieder Menschen für diesen Weg entschieden haben, nicht gegeben. Wir haben nicht
einfach im luftleeren Raum agiert, es gab immer Menschen, die eine Verbindung zwischen ihren eigenen Kämpfen und unserem Kampf sahen und immer auch welche, die sich in unserem
Kampf - und sei es allein als Antwort auf ihre permanente Entwürdigung und Unterwerfung - wiederfinden konnten.

Während meiner Kindheit erlebte dieses Land - und so auch meine Familie - die Zeit des "Wirtschaftswunders", mit all ihrer Sinnentleerung und Verknüpfung des Lebensinhalts mit
materiellen Werten und Konsum. All das konnte nicht darüber hinweg täuschen, daß darunter etwas anderes, unausgesprochenes verborgen werden sollte. Faschismus, seine Verbrechen
und Krieg - auf den familiären Rahmen bezogen z.B., die Rolle meines Vaters während seiner Zeit als Wehrmachtsoldat - waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit,
Enge und Schweigen über allem. Ich hatte, wenn auch anfangs nicht das Wissen, so doch die Ahnung, daß es da eine ungeheure Schuld gibt, über die niemand redet.

In einem Brief an Freunde hatte ich Erinnerungen aus meiner Kindheit beschrieben, von de nen ich denke, daß sie so oder ähnlich zu unzähligen Biographien von Menschen meiner
Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind, gehören. Für mich waren sie sehr einschneidend und ich bin mir sicher, daß sie mein Leben entscheidend mit geprägt haben.

"In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, lebt seit Generationen die Familie meiner Mutter - während der Nazi-Herrschaft war am Rande dieses Dorfes ein Arbeitslager mit
Kriegsgefangenen und durch unser Dorf fuhren regelmäßig Busse mit körperlich und/oder geistig behinderten Menschen, die nach Hadamar gebracht wurden. In Hadamar ist eine
psychiatrische Anstalt, in der im Dritten Reich Gaskammern installiert wurden und dorthin wurden die Menschen in den Bussen gebracht, sie wurden alle vergast und verbrannt.

Als Kinder wußten wir von beidem, vom Arbeitslager und auch von dem Gas bzw. von den Öfen, in denen die Leichen verbrannt worden sind; Mit uns wurde aber nie darüber
gesprochen, wir kannten das nur aus Gesprächsfetzen von Erwachsenen, die wir heimlich in unbeobachteten Momenten aufgeschnappt hatten. Wenn dabei die Erwachsenen die
Anwesenheit von uns Kindern bemerkten, wurden solche Gespräche - die immer in geflüstertem Ton geführt wurden - sofort abgebrochen. Wir hatten von allem auch keine genaue
Vorstellung, sondern versuchten uns aus Halbsätzen wie: 'alle wußten doch, was mit den Menschen in den Bussen passiert' oder 'alle konnten es doch riechen' ein Bild zu machen,"

Gerade vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen ist es heute schwer nachvollziehbar, daß wir - genauso wie andere linke Zusammenhänge - zu einen Faschismusbegriff kommen konnten,
in dem Faschismus in erster Linie als über der Gesellschaft stehende, den Kapitalinteressen dienende Herrschaftsstruktur gesehen wurde. Dabei hätten doch gerade wir das aus unserem
eigenen Leben besser wissen können. Die Kontinuität des NS-Faschismus zeigte sich nicht nur in der Kontinuität von Nazi-Richtern usw. - bis in die kleinsten Winkel der Gesellschaft, des
täglichen Lebens hatten sich nach 45 wesentliche Tugenden, Denk- und Wertvorstellungen weitergehalten, wurden reproduziert und an uns weitergegeben. Aber das wurde in seiner
ganzen Dimension lange Zeit auch in Teilen der Linken viel zu wenig gesehen. Die Konsequenzen aus der Geschichte waren in erster Linie eine radikale Verurteilung von Faschismus,
Abgrenzung zu den Eltern und eine tiefe moralische Verpflichtung für einen selber - wobei diese Abgrenzung mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle auch für die Ausrichtung
und Bestimmung unserer Kämpfe gespielt hat. Die Linke in Deutschland hat alles "Deutsche" immer weit von sich gewiesen, aber so richtig und notwendig Internationalismus war und ist,
mit unserer internationalistischen Identität haben wir uns lange Zeit auch viele Fragen vom Hals gehalten, z.B. solche, die seit einigen Jahren mit der Rassismus-Diskussion auf den Tisch
gekommen sind, unsere eigenen Wertmuster und Vorurteile betreffend. Auch bei der Ausprägung unseres Moralbegriffs hat die Haltung dieser Elterngeneration meiner Meinung nach eine
wichtige Rolle gespielt. Die Erfahrung mit diesen Eltern, ihrer Ignoranz und Weigerung, wenigstens im Nachhinein die eigene Verantwortung auch durch Nichteinmischen, Nicht-helfen
oder Mitläufertum anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen, hat bei vielen Menschen meiner Generation zu sehr festgelegten Moralvorstellungen zu bestimmten Fragen geführt.
Dazu gehört z.B. die unbedingte Verpflichtung für Schwache, für Menschen, die niedergemacht werden sollen, einzutreten und im Umkehrschluß genauso die unbedingte Verurteilung
derer, die dafür verantwortlich sind bzw. auf der Seite der Verantwortlichen stehen. In dieser schwarz-weiß-Sichtweise, der Einordnung in "Mensch oder Schwein", war uns lange der
Blick auf die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit sowie auch der einzelnen Menschen verstellt. In diesem Bild steht ein US-Soldat natürlich auf der Seite 'der
Schweine' - was. er objektiv ja auch tut, denn Pimental wäre höchstwahrscheinlich bereit gewesen, an Kriegen und Massakern der US Armee egal wo auf der Welt mitzumachen. Aber da
muß es auch eine zweite Seite geben, nämlich die, daß es nicht dasselbe ist, ob einer ein kleiner GI ist, dem so sehr viele Alternativen im Leben meist nicht geboten wurden oder ob einer
ganz oben im Apparat weitreichende Entscheidungen trifft und so in ganz anderer Form Verantwortung trägt. Diesen Unterschied festzustellen, wurde KritikerInnen damals als
'sozialarbeiterischer Blick" vorgeworfen. Wir selbst haben mit unserer eingeengten schwarz-weiß Einordnung der Welt solche Unterschiede nicht gesehen und nicht sehen wollen.

Aber zurück zu den Verbindungen zur Geschichte dieses Landes. Für viele hat sich bei den Bildern aus Vietnam, dem Einsatz von Napalmbomben und chemischen Waffen wie agent
orange, der Bombardierung von Staudämmen, eben dem offensichtlichen Willen, dieses Volk auszulöschen, die Parallele zu Auschwitz aufgedrängt - für Jugendliche in Deutschland, die
die Augen nicht vor den Verbrechen der Vergangenheit verschlossen, konnte das nicht anders sein. Für viele ergab sich daraus zwingend die Notwendigkeit - als moralische Verpflichtung
gegenüber der Geschichte - sich auf die Seite dieses Volkes zu stellen, zu überlegen, was man selber machen kann gegen seine Vernichtung, eben nicht zuzuschauen, sondern zu handeln
und Verantwortung zu übernehmen. Und natürlich gab es gleichzeitig die Identifizierung mit den Befreiungszielen, die sich mit unseren eigenen Utopien deckten - es war beides. Selbst für
mich, die ich zu dieser Zeit noch Schülerin war und selber nur an den letzten Vietnam-Demos beteiligt war, entstand daraus eine Verpflichtung, die sich bis heute durch mein Leben zieht.
Vietnam, dieser Krieg ist für mich zum Synonym für Verbrechen und Unterdrückung geworden. Das Bild des napalm-verbrannten nackten Kindes, das damals tausendfach um die Welt
ging, dieses Bild war für mich einzige Aufforderung und Verpflichtung zu handeln und Verbrechen nicht zuzuschauen. Fast mein ganzes Leben lang habe ich in Situationen, die ich
schwer zu bewältigen fand oder vor denen ich große Angst hatte, mir das Bild dieses Kindes ins Gedächtnis gerufen - mit ihm habe ich viele für mich wichtige und schwierige
Entscheidungen getroffen.

Wenn ich mich an die Zeit meiner eigenen Politisierung zurückerinnere - anfangs war ich an ganz unterschiedlichen Fragen und in vielen sehr verschiedenen Bewegungen aktiv; das ging
von Arbeit in einem sozialen Brennpunkt mit überwiegend türkischen Kids; Initiativen für selbstverwaltete Jugendzentren oder an der Schule für die Durchsetzung von mehr
Selbstbestimmung; Fahrpreiskämpfen bis zu Demos gegen den Vietnamkrieg, oder das Folterregime in Spanien. Diese Vielfältigkeit meiner Aktivitäten hat sich fast schlagartig mit der
Ermordung von Holger Meins geändert. An diesem Hungerstreik, in dessen Verlauf ich angefangen habe, mich mit Isolationsfolter, toten Trakts, der systematischen Vernichtung von
politischen Gefangenen auseinanderzusetzen und an dessen Ende der Tod von Holger Meins stand, lief eine der zentralen Weichenstellungen für mein Leben. Das Bild des toten Holger
Meins werden die meisten, die es kennen, ihr Leben lang nicht vergessen - sicher auch deshalb, weil dieser ausgemergelte Mensch so viel Ähnlichkeit mit KZ-Häftlingen, mit den Toten
von Auschwitz hat. Um Mißverständnissen vorzubeugen, ich will keine Parallele ziehen zwischen Vernichtung und Mord an politischen Gefangenen und den Verbrechen des NS-
Faschismus in Auschwitz und anderswo, aber bei diesen Bildern haben sich solche Assoziationen aufgedrängt - bestimmt nicht nur mir. Für mich wurde daraus eine zentrale
Herausforderung, mit einer zutiefst moralischen Fragestellung, nämlich der, ob alles, was ich bis dahin über NS-Faschismus wußte und meine tiefe Ablehnung, verbunden mit dem
Vorwurf an den Großteil der Generation vor uns, nichts dagegen unternommen zu haben, ob all das bloß hohles Geschwätz war und ich im Grunde genauso ignorant und feige gegenüber
solchen Verbrechen bin oder ob ich dagegen Partei ergreife. Diese Frage, die Frage nach meiner eigenen Identität, Glaubwürdigkeit und Verantwortung war ab diesem Zeitpunkt (und für
lange) an die Bedingungen und das Leben der politischen Gefangenen geknüpft. Ich stand damals kurz vor dem Abitur und eigentlich hätte ich entsprechend meiner Neigungen und
Interessen gern ein Musikstudium angefangen oder Orgelbau gelernt, aber ich habe mich (nicht ohne innere Überwindung) entschlossen, Jura zu studieren, um so die Situation dieser
Gefangenen zu verbessern und um zu versuchen, weitere Morde zu verhindern. Das, was damals Leute wie Croissant, Schily usw. gemacht haben, fand ich sinnvoll und darin habe ich
meine Perspektive als Rechtsanwältin gesehen.

Schwerpunkt meiner politischen Initiativen wurde sehr schnell die "Rote Hilfe", eine Gruppe, die den "Komitees gegen Folter" entsprach. Ich habe angefangen, Gefangene zu besuchen,
bin zu Prozessen hingegangen, damals der Stammheimer- und der Stockholm Prozeß, In dieser Zeit konnte man förmlich spüren, wie die Situation sich ständig zuspitzte. Dann der Mord an
Ulrike Meinhof, das war alles vorauszusehen. Ich habe noch Bilder vor Augen, von Gefangenen, die im Hungerstreik waren, dünn, klapprig, mit glasigen Augen. Ich kann mich erinnern,
daß ich nach einem solchen Besuch bei Karl-Heinz Dellwo hinterher nicht wußte, worüber wir geredet hatten - ich war nur von der Angst besetzt, daß er sterben könnte.

Aber es war natürlich nicht allein die Situation der Gefangenen, die dazu geführt hat, daß alle aus unserem damaligen politischen Zusammenhang sich von anderen Initiativen, die vorher zu
ihrem Leben gehörten, zurückgezogen und ausschließlich auf die Haftbedingungen konzentriert haben. Von allen oder fast allen, die in diesen Jahren zu den Anti-Folter-Komitees oder
ähnlichen Gruppen gestoßen sind, gab es von Anfang an eine weitgehende Zustimmung zur Politik der RAF. Bei den meisten war es in erster Linie die Zustimmung zu der Radikalität des
Bruchs und der Negation. Das hat meinem Lebensgefühl entsprochen - ich konnte hier nicht leben. Das war das Lebensgefühl eines nicht kleinen Teils einer ganzen Generation. Für jedes
Ausbrechen aus dieser dumpfen Enge gab es innerhalb dieser Gesellschaft keinen Platz. Die Reaktionen auf die kleinsten Versuche, selbst etwas in die Hand zu nehmen und zu bewegen -
ob vorher in dieser Initiative mit den türkischen Kids, an der Schule oder auf Demos - haben mir und vielen anderen schnell klargemacht, daß es hier in diesem Land eine Grundhaltung
von großen Teilen der Gesellschaft und genauso von der Staatsseite aus gibt, die für andere Vorstellungen, Utopien und Lebensformen keinen Raum läßt. Schon als 15 oder 16jährige
Schülerinnen und Schülern wurde uns das z.B. bei Demonstrationen (egal ob für mehr Selbstbestimmung an der Schule oder gegen den Vietnamkrieg) sofort deutlich entgegengehalten.
Uns wurde ständig von Passanten zugerufen, wir sollten doch in die DDR gehen, wenn es uns hier nicht gefällt - das bestenfalls, aber auch Sprüche wie: "solche wie euch hätte man bei
Hitler durch den Schornstein gejagt" waren keine Seltenheit, Das waren durchaus keine Einzelerscheinungen, solche Leute konnten fast immer sofort MitstreiterInnen um sich scharen und
Gegenstimmen waren eine wirkliche Ausnahme. Antiautoritäre Bewegung, der 68-er Aufbruch, also eine Jugend, die das Leben, das ihr vorgegeben und aufgezwungen werden soll,
radikal ablehnt und nach neuen Orientierungen sucht, die anfängt, Lebensvorstellungen zu leben, bei denen die Menschen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen anstatt Geld,
Konsum, Karriere und Konkurrenz, eine solche Jugend sollte es hier nicht geben. Und entsprechend wurden uns dann die altbekannten Antworten: 'ausmerzen' oder eben 'ab durch den
Schornstein' entgegengeschleudert. Das alles, also dieses Klima, die gesamte gesellschaftliche Situation mit dieser Enge und Intoleranz, gehört unbedingt dazu, wenn es um die Frage geht,
warum es hier von uns aus so lange Zeit eine fast ausschließliche Orientierung unserer Politik an der Negation gegeben hat. Wir waren oft schon als Jugendliche mit diesem System aber
auch mit dieser Gesellschaft fertig.

Die Kontinuität aus der Zeit des NS-Faschismus war nicht zu übersehen: Nazi-Größen in allen zentralen Bereichen von Staat und Gesellschaft einerseits, aber auch ganz konkret: KPD-
Verbot oder schon in den 50-er Jahren wieder erschossene und verletzte Demonstranten andererseits; später dann die Notstandsgesetze, dann die Erschießung von Benno Ohnesorg - das
sind nur einige Stichpunkte. All das war hier Realität, wohlgemerkt bevor der erste Schuß von einer bewaffneten revolutionären Gruppe abgegeben wurde. Aber auch die, Theorien vom
institutionellen Faschismus, dem Apparat, der sich ein ganzes Arsenal von Repressionsmitteln geschaffen hat und einzusetzen bereit ist, sobald sich Widerstand entwickelt, konnte ich
ziemlich bald mit meinen eigenen Wahrnehmungen und der Realität, die mich umgab, zusammenbringen: ermordete Gefangene waren der schärfste Ausdruck, aber auch gegen mich selber
lief ab dem Zeitpunkt, als ich 1974 die Gefangenen im Hungerstreik unterstützt hatte, die Maschine an. Wer damals, Mitte der 70-er Jahre RAF-Gefangene unterstützt und zu ihnen Kontakt
hatte, war augenblicklich im Visier der politischen Polizei. Ich weiß nicht mehr, wieviel Hausdurchsuchungen ich erlebt habe, wieviele Autokontrollen, bei denen wir mit schußbereiten
Maschinenpistolen umstellt wurden, wie viele Observationen - zeitweise konnte man leichter die Tage zählen, an denen es keine gab, als umgekehrt - das alles war und sollte es ja auch
sein, eine massive Drohung. Jede und jeder, die oder der mit RAF-Gefangenen solidarisch war und eine Auseinandersetzung suchte, wurde kriminalisiert und sollte durch diverse
Einschüchterungsmethoden davon abgehalten werden. An vielem hat sich bis heute nicht so seht viel geändert - eine Auseinandersetzung mit unserer Politik und Geschichte soll es nicht
geben, davon zeugen nicht zuletzt die schon erwähnten Beschlüsse dieses Staatsschutzsenats.

Die Repressions- und Einschüchterungsmaßnahmen, die damals Mitte der 70-er Jahre gegen Leute wie uns in Gang gesetzt wurden, haben natürlich stark unsere gesamte Lebenssituation
bestimmt. Das und die ständige Verschärfung der Situation der Gefangenen bis hin zum Mord, hatten unter anderem zur Folge, daß sich unser Bild, bezogen auf die Wahrnehmungen der
gesamten Gesellschaftsentwicklung und v.a. unsere Staatswahrnehmung zunehmend auf den Ausschnitt der eskalierten Reaktionen verengt hat. Ich kann das nachträglich zu mir selber und
auch zu anderen, mit denen Ich in dieser Zeit zusammen war, sagen: die Eingrenzung dessen, wofür wir uns - noch - interessiert haben, war ziemlich umfassend, ich habe nur noch einen
kleinen Ausschnitt der gesamten Realität und Entwicklung hier und international bewußt wahrgenommen und wahrnehmen wollen das ging bis hin zum Zeitung-Lesen, wo mich nur noch
Berichte zu ganz bestimmten Themen interessiert haben. Ich wußte Bescheid über Nato-Strategien und -Manöver, las jede Meldung über einen bei einer Kontrolle von Polizisten
erschossenen Autofahrer oder Einbrecher oder auch über brutale Bulleneinsätze gegen Anti-AKW-Demonstrationen - dagegen wußte ich reichlich wenig über inhaltliche
Auseinandersetzungen und Fragen in diesen Bewegungen. Unsere auf einen bestimmten Ausschnitt reduzierte Wahrnehmung der Welt, einen Ausschnitt, der zwar real existiert hat und
auch heute existiert, aber eben nur einen Teil der Realität ausmacht, führte zwangsläufig zu einem falschen, weil eingeengten Bild, in dem alles zu einem schwarz-weiß Schema
zusammengepreßt wurde. In unserem Weltbild waren Widersprüche, eben die Facettenhaftigkeit sowohl auf unserer wie auch auf der Gegenseite ausgeblendet.
 

Für uns hieß das damals, daß wir unsere Initiativen in Bezug auf die Haftbedingungen nur noch halbherzig machen konnten, immer mit einem schlechten Gewissen nicht konsequent zu
sein; denn nach unserer Sicht der Welt bedurfte es einer Praxis, die unmittelbar darauf zielt, die Machtfrage an das System zu stellen. Eigentlich hätten wir entsprechend unserem
Politikverständnis den bewaffneten Kampf aufnehmen müssen, fühlten uns subjektiv dazu aber nicht in der Lage. Das wurde für die meisten zu einem massiven Druck, der nach außen,
also anderen gegenüber kaschiert wurde, und wie das in solchen Fällen häufig ist, mit zunehmendem Dogmatismus und zunehmend radikaleren Sprüchen. Unsere Praxis in dieser Zeit war
weiterhin an der Verbesserung der Haftbedingungen orientiert, gleichzeitig machten wir uns aber zu einer Art politischem Sprachrohr der RAF - was weder für uns selbst gut war noch für
die RAF. Denn es ging über Proklamationen und Bekunden bzw. das Abfragen von Zustimmung bei anderen nicht hinaus. Jede ernsthafte Auseinandersetzung über Bestimmung,
Zielsetzung und Möglichkeiten bewaffneter Politik wurde verhindert, indem jeder Kritik oder Infragestellung die Verbrechen des Imperialistischen Systems entgegengehalten wurden.

Bezogen auf Freunde und Freundinnen aus der Zeit vorher, mit denen uns der gemeinsame Aufbruch, gemeinsame Initiativen und Erfahrungen verbanden, die aber andere politische Wege
eingeschlagen hatten, ihnen traten wir - genauso wie der gesamten Linken - stur und rechthaberisch gegenüber. Vorwürfe wie der, sie wollten die Schärfe der gesamten Entwicklung nicht
sehen und würden persönlichen Konsequenzen ausweichen, (der sich so oder ähnlich durch viele RAF-Texte bis Ende der 80-er Jahre zieht) haben jede auch nur ansatzweise kritische
Auseinandersetzung abgewürgt und sollten das im Grunde auch.

Das alles führte zu immer mehr Trennungen und Spaltungen und zu unserer Isolierung. Wir selber bewegten uns immer mehr in einer Art Subkultur bestehend aus einem relativ kleinen
Zusammenhang von Leuten, verteilt über die ganze BRD, die Kontakt zu RAF-Gefangenen hatten und sich - wie gesagt - als politisches Sprachrohr der RAF verstanden haben. Zu diesem
Kreis gehörten viele von denen, die 77 und danach zur RAF gegangen sind, sich bald wieder getrennt haben und in der ehemaligen DDR lebten und die sich nach ihrer Verhaftung der
Bundesanwaltschaft als Kronzeugen angedient haben, um auf Kosten anderer die eigene Haut zu retten. Als nach den Verhaftungen in der Ex-DDR bekannt wurde, daß sie alle auf das
Kronzeugenangebot eingehen und bis auf eine Ausnahme alle frühere GenossInnen verraten, hatten wir daran viele Gespräche, in denen es auch über die Zeit, die ich oben beschrieben
habe, ging. Sicher, die fast 10 Jahre, die sie im dortigen 'sozialistischen Alltag' verbracht hatten, waren vermutlich nicht in der Form identitätstiftend, daß sie daraus viel hätten ziehen
können, um dem Druck der Bundesanwaltschaft standzuhalten, aber das allein finde ich als Erklärung für diese massenhafte Kronzeugenandienerei zu wenig. Was hatten sie aus dieser Zeit
vorher, woraus sie in dieser schwierigen Situation hätten Kraft ziehen können? Aus unserer zum Teil gemeinsamen Zeit ab Mitte der 70-er Jahre sicher nicht viel, eben weil wir uns in den
oben beschriebenen Widersprüchen bewegt haben, in denen wir Fragen und Unsicherheiten nicht zuließen und Diskussionen abgewehrt haben. Die, die später zu Kronzeugen zeugen
geworden sind und 77 noch legal gelebt haben, gehörten damals - und auch das er scheint mir logisch - zu den vehementesten Verfechtern, jede Kritik an der Offensive 77, dieser
Eskalation und der Flugzeugentführung dann, abzublocken. Sie konnten nur kritiklose Zustimmung aushalten und haben z.T. langjährige Freunde als politische Verräter diffamiert, weil
diese eine Auseinandersetzung daran forderten. Ich kenne die Diskussionen innerhalb der RAF Ende der 70-er Jahre über die Ereignisse von 77 nicht, aber allein aus der Tatsache, daß es
in den danach veröffentlichten Texten nie auch nur die Andeutung selbstkritischer Reflexionen gibt, lassen sich meiner Meinung nach Rückschlüsse ziehen. In unser Weltbild paßten viele
Fragen nicht, weil es eben nur zwei Seiten gab - richtig oder falsch. Eine solche Sichtweise verhindert eine wirkliche Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Praxis, denn die
Fragen dürfen einen bestimmten Rahmen nicht sprengen, weil am Ende immer wieder alles nahtlos und widerspruchsfrei in dieses Weltbild eingepaßt werden muß. Gruppenstrukturen, die
keine Differenzen geschweige denn Widersprüche aushalten, müssen nicht, aber können leicht verhindern, daß Menschen wachsen und an innerer Stärke gewinnen. Ich will damit den
Verrat unserer ehemaligen Mitglieder, mit dem sie auf dem Rücken von GenossInnen ihre eigene Haut gerettet haben, nicht entschuldigen, aber ich denke auch, daß es dabei einen
hausgemachten Anteil gibt.

Aber noch mal zurück zu der These vom institutionellen Faschismus und dem, was wir daraus abgeleitet haben. In alten Texten heißt es:

"durch Angriffe kleiner bewaffneter Gruppen den Apparat zu überdeterminierten Reaktionen zwingen, dazu, seine faschistische Fratze immer offener zu zeigen"

Diese Überlegungen resultieren aus den vielen geschichtlichen Erfahrungen, daß sich Entwicklungen zu offen faschistischen Regimes oft so schnell vollzogen haben, daß die
fortschrittlichen Kräfte davon überrollt worden sind. Vieldiskutiertes Beispiel für diese Gefahr war seinerzeit der Militärputsch in Chile, aus dem zum einen die Notwendigkeit der
Organisierung der Illegalität abgeleitet wurde. Gerade das Beispiel Chile hat damals viele Linke beschäftigt. Kürzlich habe ich in einem Text eines Genossen vom 2. Juni gelesen, daß das
auch in ihren Überlegungen eine große Rolle gespielt hat. Andererseits wurde damit auch die oben zitierte These, daß es darum geht, den Staat schon zu einem frühen Zeitpunkt zu
zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen, untermauert. Alle sollten sehen können, was sich hinter der demokratischen Maske verbirgt; und es ist ja auch eine Tatsache, daß durch unseren
Kampf vieles davon an die Oberfläche befördert worden ist - Mord an Gefangenen, Ausnahmezustand, Killfahndung, 77 die Forderung von führenden Politikern während der Schleyer-
Entführung Gefangene in einer öffentlichen Inszenierung hinzurichten. Unser beabsichtigtes politisches Ziel, daß sich dagegen eine breite Mobilisierung entwickelt, hat sich allerdings in
keiner Weise bestätigt, im Gegenteil. Gerade in Teilen der Linken hat diese Ausrufung des Ausnahmezustands und des offenen Polizeistaats viel eher Ohnmacht erzeugt als Widerstand;
und das finde ich eigentlich nachträglich auch nicht verwunderlich.

Die ganze Auseinandersetzung war schon damals zu einer zwischen RAF und Staat geworden den, bei der die Gesellschaft, aber auch der allergrößte Teil der Linken außen vor stand und
das ganze als ZuschauerInnen betrachten konnte. Die harten staatlichen Reaktionen waren relativ zielgenau gegen uns, unser enges politisches Umfeld und die Gefangenen gerichtet und
selbst da, wo diese Reaktionen wie im 'deutschen Herbst' quer durchs Land gingen, hat unsere gesellschaftliche Isolierung einerseits und die durch die Manipulation des Staates
gleichgeschaltete Medienmacht andererseits dazu geführt, daß die Allermeisten nicht dem Staat, sondern uns und unserer Intervention die Verantwortung für Kontrollen, Überwachungen
usw. zugeschrieben haben. Schon daran zeigt sich, daß allein die Tatsache, einen Staat zu zwingen, das, was sich hinter seiner rechtsstaatlichen Fassade verbirgt, offen zu zeigen, nicht
automatisch dazu führt, daß sich dagegen Widerstand entwickelt - was im übrigen auch aus den Erfahrungen aus der Zeit des NS-Faschismus hätte abgeleitet werden können. Aber selbst
von den Linken, denen bewußt geworden ist, daß sie sich entsprechend ihres eigenen Selbstverständnisses angesichts der Erfahrungen 77 und v.a. der Morde an den Ge Gefangenen in
Stammheim neu zu diesem Staat hätten ins Verhältnis setzen müssen, haben sich die meisten dann doch lieber an Zweifeln an der Mordthese festgehalten, um Konsequenzen gar nicht erst
in Erwägung ziehen zu müssen. Es ist entweder die Erfahrung und das Bewußtsein von vielen, die nach grundlegenden Veränderungen der Gesellschaftsrealität schreien und Kämpfe für
Veränderungen auf die Tagesordnung setzten und eine Organisierung dafür entwickeln oder Umwälzungen finden nicht statt. Die einfache Übertragung der Analysen und Theorien von
Guerillabewegungen aus Lateinamerika auf die Realität hier, war ein Fehler. Das konnte so nicht aufgehen, weil die gesellschaftliche Situation hier eine völlig andere ist und von den
Menschen völlig anders erlebt wird. Nicht daß ich denke, daß es hier weniger Elend und Leid gibt, aber es war und ist in seinen Ausdrucksformen sehr verschieden zu dem offen
zutagetretenden Elend durch Krieg, Hunger, brutale Ausbeutung und Ausplünderung der Menschen und Länder im Trikont. Hier war und ist es immer noch sehr viel mehr eine sozial-
psychische Verelendung als eine materielle. Hier leiden die Menschen sehr viel mehr an dem Fehlen gesellschaftlicher Vielfalt des sozialen Lebens, an fehlendem Sinn und Vereinsamung -
die Menschen, die weiß und deutsch sind, wohlgemerkt. Diese Sorte Verelendung ist für viele nur schwer zu begeifen und schon gar nicht auf ihre tatsächlichen Ursachen zurückzuführen.
Vielen erscheint sie als persönliches Schicksal, oft auch als individuelles Versagen und Unfähigkeit darüber hin aus sollen Konsumentenkultur, massenhafter Konsum verschiedenster
Drogen usw. dazu beitragen, die Realität zu verschleiern.

Die Tatsache, daß wir uns im Laufe der Jahre immer weiter von der gesellschaftlichen Realität hier entfernt haben und entfernen konnten, ist nur vor dem Hintergrund nachzuvollziehen -
und trotzdem zu kritisieren - daß wir uns von Anfang an als Teil eines historischen Prozesses begriffen haben: unser Aufbruch hat sich zum einen gegen dieses System und die
Lebensrealität, die uns aufgezwungen werden sollte und in der wir weder leben konnten noch wollten, gerichtet, aber er war auch sofort verbunden mit den unterdrückten und für ihre
Befreiung kämpfenden Völkern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Zum einen waren sie sozusagen unsere natürlichen Verbündeten und wir ihre, weil wir entsprechend der
weltumspannenden Herrschaftsstruktur des internationalen Kapitals einem gemeinsamen Feind gegenüber standen, den es in einer gemeinsamen Anstrengung zu besiegen galt. Parolen wie:
'der Imperialismus ist der Todfeind der Menschheit' hatten in den 70-er und Anfang der 80-er Jahre weltweit Sinn und Aussagekraft auf Seiten derer, die hier wie dort für ihre Freiheit
gekämpft haben. Und zum andern gab es Übereinstimmung in den allgemeinen Befreiungs zielen und Utopien. Allen war klar, daß der Krieg gegen die Völker im Trikont von hier, von
den imperialistischen Metropolen unter Führung der USA ausging - auf die BRD traf das in doppeltem Maß zu. Hier standen die Computer für die Steuerung der Bombeneinsätze in
Vietnam, hier war zentrale Hinterlandbasis für viele Kriege - Vietnam, gegen den Libanon, die Bombardierung libyscher Städte oder 1992 der Krieg gegen das irakische Volk - um nur
einige zu nennen. Angesichts dieser Aufteilung der Welt und der realen Kräfteverhältnisse erschien hier und weltweit in den 70-er Jahren vielen die Theorie oder ein Modell der
'Einkreisung der Städte durch die Dörfer', also der Metropolen durch die Befreiungskämpfe im Trikont nur logisch. Und daß es dabei auch und nicht unwesentlich auf die revolutionären
Kräfte in den reichen Ländern selbst ankommen würde, lag auf der Hand, denn hier waren Macht und Mittel konzentriert und von hier aus wurden sie zum Einsatz gebracht. Das war
damals allen, die es wissen wollten, genauso deutlich, wie heute jeder und jede wissen kann, daß beispielsweise der Krieg gegen das kurdische Volk ganz wesentlich von der BRD
mitgetragen wird. Von hier kommt ein Teil der Waffen, von hier aus werden Menschen in die Türkei abgeschoben, in Folter und Tod - und auch weil es hier keine politische Kraft gibt, die
das verhindert, werden weiterhin kurdische Dörfer mit deutschen Waffen zerstört. Dieser internationale Zusammenhang ist heute genauso real wie in den 70-er oder 80-er Jahren und das
internationalistische Moment ist für unsere Seite genauso wichtig wie damals gerade auch angesichts der Rolle Deutschlands innerhalb der "neuen Weltordnung", die Bundeswehreinsätze
im früheren Jugoslawien sind nur der Anfang.
 

In diesem internationalen Rahmen haben wir unsere Aufgabe und Funktion gesehen. Anfangs als politische Kraft hier, die im weltrevolutionären Prozeß den Sieg der Befreiungskräfte mit
durchsetzt und später - angesichts der internationalen Entwicklung der Tatsache, daß das imperialistische System ein sehr viel stärkeres Ausharrungs- und Durchsetzungsvermögen hat, als
viele erwartet hatten, ging es darum, ein weiteres Zurückdrängen der revolutionären Seite zu verhindern. Ich denke, gerade die Tatsache, daß wir uns immer in diesem internationalen
Kontext der Befreiungskämpfe begriffen und bestimmt haben, hat dazu geführt, daß wir uns des ungeheuren Zeitfaktors aus der internationalen Entwicklung bewußt waren: das Rad der
Geschichte sollte zurückgedreht werden und die um ihre Befreiung kämpfenden Völker in ihrem Blut erstickt - um seine Weltherrschaftspläne durchzusetzen, schreckte der Imperialismus
selbst vor der Planung des Einsatzes atomarer Waffen nicht zurück.

Aus dieser bedrückenden und eskalierenden Entwicklung haben wir allerdings z.T. fatal falsche Konsequenzen gezogen - eine davon war, daß wir angesichts der Erkenntnis der
Notwendigkeit einer politischen Kraft hier, die in diese Entwicklung eingreifen und Grenzen setzen kann und der Tatsache, daß es aber nur eine schwache Linke gab, zunehmend auf
Eskalation und das militärische Moment gesetzt haben. In unserem Denken und unseren Überlegungen stand die Frage des Aufbaus einer emanzipatorischen Kraft und gesellschaftlicher
Verankerung hier, immer auch gegen diesen Zeitfaktor - wir dachten immer, daß dafür nicht der richtige Zeitpunkt ist und daß die gesamte Entwicklung sofortiges Eingreifen erfordert.

Aber die Tatsache, daß wir zunehmend die Situation und Lebensrealität der Völker im Trikont zum zentralen Bezugspunkt bestimmt haben und die damit einhergehende Abwendung von
der gesellschaftlichen Realität hier, wirft auch die Frage nach unserer Haltung gegenüber der Gesellschaft, den Menschen in diesem Land, auf. Unser Verhältnis zum Großteil der
Bevölkerung hier war äußerst ambivalent - dafür gab es in unserer Anfangszeit gerade in Deutschland gute Gründe. Wie hätten denn wir, die 68 und in der Folgezeit aufgestanden sind, um
für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen und deren Elterngeneration fast allesamt Nazitäter oder Mitläufer gewesen sind, auch nur auf die Idee kommen können, daß hier in
diesem Land - in dem zu dieser Zeit naturbedingt die übergroße Mehrzahl der erwachsenen- Bevölkerung aus dieser Geschichte kam und sich ihr Leben lang aus der Verantwortung
gestohlen hat - mit diesen Menschen revolutionäre Umwälzungen durchzukämpfen sein könnten. Dieser Gedanke allein wäre damals allen absurd erschienen, und so gesehen hatten wir
hier ganz andere Ausgangsbedingungen als die Linke in anderen Ländern. Das ist auch der Hintergrund, vor dem für uns ein Revolutionsmodell mit der Vorstellung, daß hier eine
Minderheit grundlegende Veränderungen erkämpfen kann, durchaus einen realen geschichtlichen Bezugspunkt und Legitimation hatte - eben diese Elterngeneration, die Faschismus
getragen und möglich gemacht hatte. Alle Utopien von einem anderen Leben, einer anderen Gesellschaftsausrichtung, konnten nur in einem Weg begründet sein, bei dem diese Generation
rechts liegen gelassen wird.

Aber die Tragweite einer solchen Sichtweise und eines Revolutionsmodells, bei dem eine Minderheit grundlegende Veränderungen durchsetzt - und so war das für hier ja gedacht und dann
auch über eine Neusetzung bestimmt, wurde von uns weder thematisiert noch problematisiert. Wenn es - von heute aus gesehen: unreales Szenario, sicher- aufgrund des Zu
sammenwirkens der weltweiten Kämpfe gegen imperialistische Herrschaft und für Befreiung tatsächlich zu systemsprengenden Kräfteverschiebungen gekommen wäre, dann wäre eine
solche Entwicklung und Veränderung der Gesellschaftsrealität für die Mehrzahl der Menschen hier wieder von 'außen' also von einem anderen 'von oben' gekommen. Ich will das hier
nicht weiter ausmalen, aber es gibt heute die Erfahrung, daß alle Versuche - auch die von noch so gut-meinenden RevolutionärInnen - aus einer eigenen Machtposition die Gesellschaft in
eine positive, am Freiheitsgedanken orientierte Richtung umzugestalten, sich ins Gegenteil verkehrt haben. Eine Gesellschaft, in der Menschen frei, selbstbestimmt und eigenverantwortlich
sowohl ihr Leben als auch die gesamte Gesellschaftsentwicklung und -ausrichtung bestimmen und gestalten, kann nur über Bewegungen und Kämpfe erreicht werden, bei denen wir genau
das auch lernen, in denen wir Inhalte und Werte, die gesamten Lebensbedingungen betreffend, hinterfragen, überprüfen und bestimmen bzw. neubestimmen. Die Aneignung solcher
Fähigkeiten umfaßt für mich den zentralen Sinn und Inhalt von 'emanzipatorischen Prozessen'.

Aber zu unserem Blick auf die Menschen hier gehörte über lange Zelt ein zweites Moment, nämlich die Tatsache, daß wir hier in den reichen Ländern auf Kosten der Menschen im Trikont
unseren Wohlstand aufbauen' - für unseren Reichtum sterben unzählige Menschen an Hunger oder heilbaren Krankheiten, arbeiten selbst Kinder unter brutalsten Ausbeutungsbedingungen,
werden ganze Landstriche ausgeplündert und zerstört und damit auch die Lebensgrundlagen der dort lebenden Menschen. Vor diesem Hintergrund und weil das von den meisten als
selbstverständlich angesehen wird, hat sich unser Verhältnis zu der Bevölkerung hier, auch zu fortschrittlichen Kreisen der Gesellschaft, ihren Bewegungen und Forderungen, bestimmt. Im
Unterschied zu den alltäglichen Kämpfen von Menschen in Trikontländern, die dort für eine Verbesserung ihrer Lebenssituation eintreten, beispielsweise durch Landbesetzungen oder
ähnliches, zu denen wir eine uneingeschränkt positive Haltung hatten, war unser Verhältnis zu entsprechenden Bewegungen hier lange Zeit seht ambivalent. Einerseits fanden wir Kämpfe
an den unterschiedlichen Fragen - ob gegen AKW's, Startbahn-West usw. - positiv und sie waren uns oft aus unserer eigenen Geschichte nah, gleichzeitig standen sie aber bei uns auch
immer im Verdacht ,Kämpfe für weitere Metropolenprivilegien zu sein.

Aber gerade die Kämpfe, die an den eigenen Erfahrungen und Lebenssituation ansetzen, sind Wurzel und Basis für jeden Aufbruch und daraus entsteht Bewußtsein - oder kann entstehen
das über den konkreten Ansatz hinausgeht. Aber selbst wenn das nicht so ist, sind Forderungen, die die eigenen Lebensgrundlagen verbessern oder sichern oder die Kriege verhindern
sollen für sich genommen legitim. Wir dagegen haben solche Kämpfe und ihre Inhalte lange Zeit nicht ernst genommen, sondern haben darin vielmehr nur den geringen Teil der Leute
gesucht, die über den jeweiligen konkreten Anlaß hinaus zu systemsprengenden Perspektiven und Bestimmungen kommen wollten. Wenn wir mit solchen Leuten zusammengekommen
sind, hieß das immer, daß sie sich dann von den Bewegungen aus denen sie kamen, getrennt haben, was ich im Nachhinein als große politische Dummheit sehe, weil das unsere Isolierung
und in den 80-er Jahren die Isolierung des 'Front-Zusammenhangs' zementiert hat. Die gesamte Front-Konzeption' mit der ab Anfang der 80-er Jahre unter der Parole 'zusammen kämpfen'
unterschiedliche Ansätze zusammengebracht werden sollten, war letztendlich sehr viel enger und ausschließender, als uns das selbst damals bewußt gewesen ist. Es gab die nach außen
behauptete Vielfalt nicht und es konnte sie auch gar nicht geben, denn in ihren politischen Bestimmungen wurden die zentralen Linien der RAF-Politik übernommen:

'Strategie gegen die Strategie des Imperialismus' also eine Ausrichtung in erster Linie an der Negation. Es gab Genosslnnen, die in dieser Zeit versucht haben, sich mit ihrer eigenen
Geschichte und Erfahrungen aus den Bewegungen, aus denen sie kamen, mit entsprechenden z.T. sehr konkret bestimmten Initiativen dort einzubringen. Aber das wurde von uns
abgewehrt und mit Totschlag-Argumenten niedergehalten. Ich kann mich beispielsweise an Diskussionen erinnern, wo Leute bewußt von dieser Negation weg wollten und die Ausrichtung
unserer Initiativen an Zielen wie 'NATO zerschlagen" oder "das imperialistische System zerrütten' ablehnten. Es gab die Überlegung, bei einer damals im Raum stehenden und angedrohten
Militärintervention in Nicaragua gemeinsam und koordiniert einzugreifen, um in einer solchen Situation zusammen politischen Druck dagegen aufzubauen. Das war ihre Vorstellung von
konkretem Internationalismus. Heute denke ich, daß Bestimmungen in dieser Richtung sehr viel sinnvoller gewesen wären und auch effektiv, auch weil dann unsere Initiativen mit denen
ganz unterschiedlicher Gruppen und Bewegungen zusammengekommen wären - aber solche Überlegungen wurden von uns abgeblockt. Uns erschien damals die Ausrichtung unserer
Politik gegen die politische Formierung der imperialistischen Staaten richtig - die Bestimmungen unserer Initiativen wurden immer abstrakter.

Mit dieser zunehmenden Abstraktion haben wir auch immer mehr von uns selbst, von unseren Wurzeln, die aus den eigenen Erfahrungen hier kommen und sich zum Teil mit den Er
fahrungen anderer Menschen decken, verloren. Unsere eigene Realität in der Illegalität hat sich stark von der Alltagsrealität der Mehrzahl der Menschen hier unterschieden. Wir haben sie in
ihrer Unsicherheit und Eskalation der vieler Menschen in den Trikont-Ländern ähnlicher empfunden als die Realität der allermeisten Leute hier. In der Illegalität muß mensch ständig mit
einer Konfrontation rechnen, die mit Verhaftung oder dem Tod enden kann, das ist in einem solchen Leben jederzeit möglich. Ich denke, es hängt auch mit dieser Schärfe unserer
Lebenssituation zusammen, daß uns eine Verbindung zu den Völkern im Trikont oft näher war, als eine zu der Gesellschaft hier. In einem solchen Leben erscheinen einem viele Fragen
und Probleme, die sich für Menschen hier aus ihrer Lebensrealität stellen, leicht nebensächlich oder unwichtig. Auch deshalb haben wir immer wieder auf eskalierende Situationen hier und
die Schärfe der Entwicklung im Trikont hingewiesen und uns politisch darauf bezogen. Daran schließt sich eine wichtige Fragestellung in Bezug auf unsere politischen Bestimmungen an,
nämlich die, ob es richtig ist, die eigenen Initiativen - so wie wir das lange Zeit gemacht haben - immer an der Schärfe eskalierter Situationen und Entwicklungen auszurichten. Oder ist es
nicht vielmehr so, daß die Bestimmung der Schärfe unserer Angriffe daran zwangsläufig in die gesellschaftliche Isolierung führen mußte, weil die unmittelbare Verbindung zur
Lebensrealität der Menschen hier dadurch abgeschnitten war und unsere Aktionen oft für viele eine nicht nachvollziehbare Eskalation darstellten.

Heute denke ich, daß unsere Politik - gerade zwischen 78 und 92 nicht nur durch unsere oft abstrakten politischen Bestimmungen, sondern auch die von uns gesetzte Schärfe der
Konfrontation abgetrennt von der politischen Entwicklung hier und auch von den Kämpfen an den unterschiedlichsten Fragen war und sein mußte. Wir standen neben den Kämpfen und
Bewegungen der Linken, ohne daß es eine konkrete politische Beziehung und ein Zusammenwirken über die Tatsache hinaus, daß wir gegen denselben Gegner kämpfen, gegeben hätte.

Im Zusammenhang mit der Frage der Bestimmung der Schärfe bzw. Eskalation politischer Interventionen, will ich eine Passage aus einem Text vom August 92 zitieren, in der wir versucht
haben, die Zeit Anfang/Mitte der 80-er Jahre zu skizzieren:

"Es war die Zeit vieler Kämpfe an unterschiedlichsten Fragen: Anti-Nato-Bewegung; 81 der Hungerstreik der politischen Gefangenen, in dem Sigurd Debus ermordet worden ist, Kämpfe
gegen AKW's, gegen die Startbahn West; Hausbesetzungen und natürlich die Massenmobilisierung gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen. Wir haben selbst in manchen dieser
Kämpfe dringesteckt und haben dabei dieselben Erfahrungen gemacht wie alle anderen: Wir kommen gegen diese Macht nicht durch. In dieser Zeit waren hier an all diesen Kämpfen und
Forderungen nicht nur Hunderttausende auf der Straße, es waren insgesamt Widersprüche von Millionen Menschen, und an keiner einzigen ihrer Forderungen hat sich die Macht bewegt -
logisch, daß da die Kämpfe auch immer radikaler und militanter geführt wurden. Viele haben sich in diesen Jahren entschlossen, verschiedenste militante Initiativen gegen Brennpunkte der
Vernichtungspolitik zu organisieren, d.h. zu dieser Zeit hauptsächlich die US/NATO Militärstrategie anzugreifen. Das sollte unseren Kämpfen eine neue Schärfe und Durchsetzungskraft
geben. Es sprang einen jeden Tag an, daß dieser Staat hunderttausendfachen Protest einfach ignorieren will und gleichzeitig die Menschen, die ihre Forderungen auf die Straße tragen,
immer brutaler und gewaltsamer attackiert. Daß es in den Kämpfen dieser Jahre nicht viel mehr Tote auf unserer Seite gab und nicht noch mehr Schwerverletzte, war reiner Zufall. Die
Grausamkeit und Brutalität gegen die Gefangenen im Hungerstreik 81, die Knüppel- und Gaseinsätze von Polizei und paramilitärischen Einheiten haben deutlich gezeigt, daß der Staat
Tote auf unserer Seite eingeplant hatte. Kohls Satz zur Stationierung der Mittelstreckenraketen: "sie demonstrieren, wir regieren" hat die Haltung der Macht gegenüber allen, die was
anderes wollten, auf den Punkt gebracht."

Dieser Ausschnitt beschreibt ein Lebensgefühl dieser Zeit, in dem ich mich gut wieder finde - einerseits Kämpfe an unterschiedlichen Fragen und Forderungen, die nicht bloß von kleinen
Gruppe getragen wurden, sondern gerade in Bezug auf die Stationierung durchaus Massencharakter angenommen hatten und gleichzeitig das fortwährende Gefühl: wir sind zu schwach,
wir kommen nicht durch. In dem Text ist die Rede davon, daß dann die Kämpfe logischerweise immer radikaler und militanter geführt werden und das finde ich eine wichtige Frage: was
ist das für eine Logik, wo stimmt sie und wo stimmt sie nicht und führt in die Sackgasse - was in diesem Fall dann Militarismus bedeutet ?

In Situationen, wo sich herausstellt, daß der bis dahin entwickelte politische Druck nicht ausreicht, die gestellten Forderungen und Ziele durchzusetzen, muß natürlich überlegt werden, wie
dieser Druck verstärkt werden kann. In dem Moment aber, wo die Antwort auf Nicht-durchkommen, die eigene Defensive und Ohnmacht automatisch Eskalation heißt, kommt man in eine
falsche Logik. Ich denke, darin lag einer unserer Hauptfehler seit mindestens Ende der 70-er Jahre - auch die zentralen Bestimmungen und die Umsetzung des 'Front Konzepts' waren im
wesentlichen eine Verlängerung unserer vorherigen Politik auf erweiterter Stufe sozusagen: eine Zusammenfassung und Koordinierung bewaffneter und militanter Gruppen, die sehr
schnell genauso isoliert selbst innerhalb der Linken war, wie vorher wir. Gerade das ist aus unseren und den Front-Erfahrungen zu lernen: Militanz und militärische Eskalation können nie
Kompensation für den Aufbau, die Verankerung und Ausweitung einer politischen Kraft sein - allenfalls ihr Teil und bestimmt zur Verstärkung ihrer anderen Komponenten.

Gerade Aktionen wie die gegen die Air-Base in Frankfurt 1985, die Erschießung Pimentals oder die Aktion in Ramstein 1982 machen deutlich, wie in dieser Logik als Antwort auf die
weltweite Verschärfung von Krieg, damals auch Atomkriegsdrohung, sich alles zum Militärischen hin schieben kann. Die eingangs zitierten Sätze aus einer Erklärung von mir zur
Erschießung des US-Soldaten, wurden von verschiedenen Seiten mit Irritation aufgenommen. In linken Zusammenhängen ging das vom 'Entpolitisierungs-Vorwurf' über ich würde
'moralisieren" bis hin zu, ich würde mit solchen Äußerungen der Gegenseite in die Hände spielen. Die Vorwürfe der 'Entpolitisierung" und ich würde damit der Gegenseite in die Hände
spielen, finde ich nicht interessant, weil es sich bei beidem um beliebte 'Kritiken' handelt, die in meinen oder unseren Kreisen sehr oft dann kommen, wenn GenossInnen eine fundierte
Gegenargumentation zu kompliziert erscheint oder eine inhaltliche Auseinandersetzung gar nicht gewollt wird. Auf den dritten Einwand bzw. Kritik, ich würde 'moralisieren" will ich
allerdings eingehen. Es ist oft verbunden mit Aussagen wie: es gibt keine anständige Gewalt und keinen Krieg, der nicht verroht, das muß man akzeptieren und deswegen kann die Frage
nach revolutionärer Moral so gar nicht gestellt werden. Es gibt wohl keine allgemeingültigen Kriterien, die losgelöst von der jeweiligen Realität, für die Festlegung des Moralbegriffs taugen
und es stimmt auch, daß es keinen 'sauberen Krieg' gibt - Krieg ist immer unmenschlich. Trotzdem enthebt das ja revolutionäre Gruppen nicht von der Beantwortung der Frage nach der
Bestimmung eigener Kriterien und auch der Festlegung von Grenzen. Was beispielsweise während der Nazi-Herrschaft in Ländern, die von der Wehrmacht besetzt waren, von vielen als
legitime Widerstandshandlung angesehen wurde und das, was in der BRD 1995 als legitim betrachtet wird, ist nicht identisch und kann es auch gar nicht sein, weil die Realitäten
grundverschieden sind. Aber wir leben heute in einer Welt, in der im Interesse von Profit und Macht Kriege geführt werden und Unterdrückung, Erniedrigung, Hunger, Ausbeutung und
Entwürdigung den Menschen keine andere Wahl lassen, als sich entweder in ihr Schicksal zu fügen oder es selbst in die Hand zu nehmen. Und das heißt, daß sich die Frage danach,
welche Mittel in welcher Situation sinnvoll und gerechtfertigt sind, immer wieder stellt. Diese Bestimmung kann nicht im luftleeren Raum stattfinden, sie braucht Bezüge und ich denke, sie
braucht andere Bezüge, als das bei uns lange der Fall gewesen ist. Wir sind in unseren Bestimmungen vom Bruch ausgegangen, nicht nur von dem zum System hin, sondern auch dem zur
Gesellschaft hin - noch Mitte der 80-er Jahre war in einem Text aus dem 'Front'-Zusammenhang zu lesen: 'wir gehören dieser Gesellschaft nur insoweit an als daß wir sie bekämpfen' - das
ist die Basis dafür, daß wir jede moralische Instanz innerhalb der Gesellschaft und auch der Linken, vor der wir uns und unsere Politik hätten rechtfertigen müssen, verloren hatten. Eine
solche Instanz wurde für uns selber immer fiktiver, weil unkonkreter, nämlich die Völker im Trikont. Wir haben in dem Bewußtsein gehandelt, unsere Praxis hier in diesem Land und selbst
gegenüber der Linken nicht rechtfertigen zu müssen und so gab es auch keine Diskussionen und Reibungen, in denen immer wieder die eigene Praxis an die Realität und
Entwicklungsprozesse angebunden und dahingehend korrigiert werden konnte.

Genau diese Grundhaltung ist ja auch gerade in Situationen, in denen es massive Kritik an uns gab, wie beispielsweise nach der Erschießung des US-Soldaten, zum Tragen gekommen.
Aber in Bezug auf unsere Ignoranz und Abwehr gegen jede Kritik und Infragestellung, die es damals aus dem gesamten linken Spektrum gegeben hat, spielt noch ein ganz anderes
Moment eine wichtige Rolle. Nachträglich haben alle zumindest gespürt, daß diese Kritik stimmt, daß mit dieser Aktion Grenzen überschritten worden waren und revolutionäre Politik
vollkommen unkenntlich geworden ist und jeden Bezugspunkt hier verloren hatte. Es gab da eine spürbare Entfremdung zur eigenen Geschichte, zum Lebensweg und zum politischen
Selbstverständnis jeder und jedes einzelnen - aber daß ist erst hinterher bruchstückhaft an die Oberfläche getreten. Das, was es dann von unserer Seite als Reaktionen auf die Kritik, die von
anderen formuliert wurde, gab: Legitimation in einem völlig abstrakten Begriffsgebilde, hat sich im wesentlichen mit dem gedeckt, wie auch in unserem engeren Zusammenhang damit
umgegangen wurde. Erklärungen wie die, daß dieser GI auch genausogut an der Air- Base hätte stationiert sein können und dann wieder die zentrale Funktion dieser Einrichtung für die
Kriegsführung von NATO und USA gerade zu dieser Zeit gegen die Völker im Nahen Osten oder daß Pimental sich ja schließlich dafür entschieden hatte, sein Geld als Söldner der US-
Armee zu verdienen - sollten und haben über die eigenen Widersprüche hinweggetäuscht. Das war alles über den einzelnen Menschen weg rationalisiert und das haben alle irgendwie auch
gespürt, doch anstatt den eigenen Fragen und Widersprüchen nachzugehen, wurde alles unter den Teppich gekehrt und unterm Strich blieb dann diese völlig ignorante öffentliche
Erklärung, die diese Erschießung als politischen Fehler abtut und ansonsten anderen vorhält, sie würden vor der Realität die Augen verschließen und eigentlich nur ihren Nischenplatz im
System suchen.

Heute denke ich, daß damals alle in der RAF und aus dem engen politischen Zusammenhang gespürt haben, daß die Entscheidung, sich ernsthaft der Kritik an der Erschießung des GI zu
stellen, unweigerlich eine ganze Lawine von Fragen losgetreten hätte, die weit über diese konkrete Aktion hinausgegangen wären. Auch daraus kam diese massive Abwehr. Bei einer
solchen Diskussion hätte deutlich werden müssen, daß diese Aktion keinesfalls als eine Art politischer 'Unfall' oder Fehler angesehen werden kann, sondern eine direkte Verbindung und
logische Entwicklung aus unserem damaligen Denken und Politikverständnis war. Nachträglich bin ich der Meinung, daß wir immer wieder Möglichkeiten verpaßt haben, schon weit
früher zu grundlegenden Neuorientierungen zu kommen, zu Bestimmungen. die die soziale Realität hier zum Ausgangspunkt und den Aufbau emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe
für systemsprengende Gesellschaftsveränderungen zum Ziel hätten haben müssen. Aber unsere Enge und unser Dogmatismus haben kritische Fragen und eine selbstkritische Reflexion
ewig verhindert; bei uns hat es bis Anfang der 90-er Jahre gedauert, bis wir endlich damit gebrochen haben. Bis heute gibt es in unserem politischen Zusammenhang GenossInnen, die wie
eh und je mit persönlichen Diffamierungen und Unterstellungen und mit Ausgrenzung auf jeden Versuch einer eigenen Geschichtsbetrachtung, in der nicht nur alles im Nachhinein als
richtig eingeordnet wird, sondern auch über Fehler und Fehlentwicklungen offen geredet wird, reagieren. Eine solche Haltung hat zur Folge, auch wenn das mit Sicherheit nicht
beabsichtigt ist, daß wir die Geschichtsschreibung über die RAF der Bundesanwaltschaft und den Ergüssen ihrer Gehilfen von Boock bis zu den DDR-Aussteigern überlassen, In dem Fall
wäre es dann tatsächlich so wie es von der reaktionären offiziellen Geschichtsschreibung beabsichtigt ist:

Vieles von unserem Aufbruch, von unserem Versuch auch hier eine Befreiungsperspektive zu entwickeln, wäre sinnlos gewesen, weil wir keine Erkenntnisse aus unseren Erfahrungen und
das schließt natürlich unsere Fehler mit ein, ziehen.

Es wird hier keine relevante Gegenmacht geben, wenn wir - und damit meine ich nicht nur die RAF - uns weiterhin weigern, unsere eigene Geschichte zu begreifen. Wir brauchen für die
Bestimmung zukünftiger Kämpfe nicht nur eine genaue Analyse der aktuellen Situation und Entwicklung, wir brauchen dafür auch die Erfahrungen und die Erkenntnisse aus den letzten 25
Jahren.

Frankfurt, den 21. Juli 1995

 
Aufgefangener Brief von Eva Haule

Am 4. Mai wurde bei einer Besucherin des Prozesses gegen Birgit Hogefeld ein Schriftstück beschlagnahmt.

Am 13.6. - zeitgleich mit den Durchsuchungen von 80 Wohnungen, linken Projekten und Betrieben - lancierten BAW/BKA in der Presse, sie hätten ein "Kassiber" von Eva Haule
gefunden.

Dieser Fund wurde zum Anlaß genommen, die Zellen von Eva Haule und Birgit Hogefeld zu durchsuchen und Ermittlungsverfahren nach [[section]]129a einzuleiten.

Am 7.7. veröffentlichte die taz ein Fragment des abgefangenen Briefes, der beim BKA unter Verschluß ist. Die AnwältInnen haben bislang keine Akteneinsicht erhalten.

Es ist davon auszugehen, daß die Veröffentlichung von den Verfolgungsbehörden betrieben wurde. Daß ein Ziel der Veröffentlichung ist, das Klima der Spaltung und Distanz zu nähren,
wird an der Hervorhebung der Worte "Böse Schwester" deutlich, die - bezogen auf die Spaltung Gefangene/RAF - auf Birgit gemünzt sein sollen. Dies war sicherlich nicht Evas Intention,
da der Brief nicht für die Öffentlichkeit geschrieben wurde. Der Brief war Teil einer " Diskussionsstruktur abseits der totalen Kontrolle und Überwachung", so die Stellungnahme des
Anwaltes von Eva Haule.

Die Liste der einschneidenden Maßnahmen zur Einschränkung und Verhinderung der Kommunikation unter und mit den politischen Gefangenen reicht von Postzensur und Verschleppung
von Post über Wochen und Monate bis hin zu dem lebenslänglichen Urteil gegen Eva Haule aufgrund einer politischen Diskussion während ihrer Haftzeit.

(siehe Prozesserklärung von Birgit in diesem Info).

Die Diskussion unter den Gefangenen wird insbesondere in Bezug auf Fragen, die die Spaltung betreffen, verhindert, was sich in dem Kontaktverbot zwischen Eva Haule und

Birgit oder in den Besuchsverboten ehemaliger Gefangener bei Christian Klar zeigt.

Jede weitere Auslegung des Briefes verbietet sich für alle, die unzensierte Äußerungen und unkontrollierte Kommunikation von Gefangenen mit der Außenwelt als selbstverständliches
Recht ein fordern.

Zuschrift zu Info 1 (Birgits Erklärung vom 15.11.94)

Metropolen- "Menschen" ?

"Solidarität"

Die seit November andauernde Verhandlung gegen Birgit Hogefeld vor dem Staatsschutzsenat des OLG Frankfurt/M erfährt arbeitsteilige Betreuung von AnwältInnen, Angehörigen und
FreundInnen: Die VerteidigerInnen Birgits versuchen in sorgfältiger Kleinarbeit alle juristischen Mittel auszuschöpfen, die ihnen unter den für Staatsschutzprozesse gegebenen
Bedingungen und Sonderregelungen bleiben, um ihr eine lebenslängliche Haft zu ersparen. Eine Prozeßgruppe bringt kontinuierlich ein Info heraus, das die Verhandlungstage sehr genau
dokumentiert und die Willkür und Entschlossenheit von BAW nebst Richtern festhält, trotz der Anstrengungen der Verteidigung die äußerst fadenscheinigen Anklagen zu einem
vernichtenden Urteil gegen Birgit Hogefeld zurechtzukonkunstruieren. Mit den zu Gebote stehenden Mitteln soll eine Öffentlichkeit für den Prozeß hergestellt werden, soll abseits der
"Skandale" um Bad Kleinen, die zu Anfang des Prozesses diesem noch ein gewisses Interesse seitens der Medien sicherten, die Gesinnungsjustiz der rechtsprechenden Gewalt offenbar
gemacht werden. Um Birgit Hogefeld möglichst den Gang in die lebenslange Isolationshaft zu ersparen, ist - trotz der verschwindend geringen Aussicht darauf - beides notwendig und steht
als solches nicht zur Diskussion.

Was hingegen zur Diskussion steht, ist das beinahe vollständige politische Schweigen, das die Verhandlung, vor allem aber Birgit Hogefelds Prozeßerklärung vom 15.11.94, die eine
konsequente Ausführung der "RAF-Zäsur" vom April 92 ist, begleitet. Im Text der InfoAG (Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld Nr. 5, Wiesbaden) wird die Lage wohl treffend so
zusammengefaßt: "In dieser Situation greift eine Schärfe um sich, die inhaltlich merkwürdig scharf und ungreifbar bleibt. Die `Schärfe' drückt sich aus in den Deutungen und Bewertungen
der Person Birgits; dabei findet keine politische Auseinandersetzung, sondern Individualisierung statt. (...) bleibt auf der Ebene von Klatsch und Tratsch, Unterstellungen, persönlichen
Angriffen und laienpsychologischen Deutungen." Die platten Beurteilungen durch die Raster straight/reformistisch oder ehrlich/unehrlich zeigen, daß mensch den politischen Konzepten
Birgit Hogefelds offensichtlich keine inhaltliche Argumentation entgegenzuhalten hat. Diese verweisen eher auf die Selbstzufriedenheit einiger Linker, die sich damit begnügen, die
richtigen Schubladen aufgemacht zu haben. Dabei wäre eine politische Auseinandersetzung, die Birgit Hogefeld über ihre Prozeßerklärung möglich macht und ausdrücklich will, auch als
ein Akt der Solidarität relevant, der über die kritische Dokumentation des Prozeßverlaufes und seine juristische Beeinflussung hinausgeht bzw. diese ergänzt. Die Sonderhaftbedingungen,
denen Birgit Hogefeld unterworfen wird und wie sie für politische Gefangene in der BRD üblich sind, dienen dazu, anhaltend die Persönlichkeit der Gefangenen zu schädigen und ihren
politischen Willen zu brechen. Eine ihrer Strategien gegen die staatliche Vernichtungsabsicht war die Analyse von Reizentzug, Sonder- und Isolationshaft (nachzulesen u.a. im ersten
Prozeßinfo), eine andere, sich in besagter Erklärung als Individuum mit politischem Willen der Auseinandersetzung ihrer Neudefinition linker Politik zu stellen. Die Wahrnehmung von
ihrem Diskussionsangebot zielt also zum einen darauf, das staatliche Interesse an ihrer politischen Isolation zu durchkreuzen. Zum anderen ist die Auseinandersetzung um Inhalte, Wege
und Ziele linksradikaler Politik in der und vor allem gegen die BRD 1995 - angesichts der Marginalisierung der radikalen linken Kräfte - bitter nötig; auch mit dem Spektrum der
antiimperialistischen Gruppierungen und Zusammenhänge, das wesentliche Bestimmungen seiner politischen Arbeit aus der Auseinandersetzung mit den Konzepten der RAF bezog.

...GESTALTUNG DER VERHÄLTNISSE ODER DER KAMPF DAGEGEN ?

Das neue Konzept der "Gegenmacht von unten", wie es im April und August 1992 von der RAF formuliert wurde, soll als Konsequenz auf die Wahrnehmung weltweiter gesellschaftlicher
Umbrüche verstanden werden, das die Diskussionsprozesse der RAF öffnen sollte. In der April-Erklärung der RAF heißt es dazu: "Gezielt tödliche Aktionen gegen die Spitzen aus Staat
und Wirtschaft können den jetzt notwendigen Prozeß im Moment nicht voranbringen, weil sie die gesamte Situation für alles, was in den Anfängen da ist, und für alle, die auf der Suche
sind, eskalieren." Die Politik der unmittelbaren Konfrontation mit der Staatsgewalt sei abzulösen zugunsten einer breit mobilisierten "emanzipatorischen Bewegung, die gegen den `Irrsinn
des Kapitalismus, die Barbarei des globalen Marktes und die Verwertung von Mensch und Natur' einen eigenen sozialen Sinn entwickelt und diesen an konkreten praktischen Fragen des
Alltags durchsetzt". Den Kern der Überlegungen bildet der Ausgangspunkt, daß es der Kapitalismus bis zu einer Systemkrise gebracht habe und keine Antworten "auf fast alle brennenden
Fragen, die sich im nationalen und internationalen Rahmen stellen" wüßte. Dagegen sei es für die revolutionäre Linke unabdingbar, "sich die Lösungskompetenz für Probleme der
verschiedensten Bereiche anzueignen". Wenn Birgit Hogefeld konstatiert, der Kapitalismus sei am Ende und es käme deshalb zu all den katastrophischen Entwicklungen, so verharmlost
sie ihn und seine imperialistischen Verlaufsformen gegen ihre eigene Absicht. "Die Vorstellung, daß `Armut', die Ausweitung von `Gewalt` (...) und `Rechtsradikalismus' zeigten, daß der
Kapitalismus nicht mehr funktioniere, ist nur stimmig, wenn Kapitalismus gleichgesetzt wird mit einer Prosperitätsphase, an der die Mehrheit der Bevölkerung sozialpartnerschaftlich
teilhat." ("Öffentliche Prozesse", in: die beute 1/95, S. 92) Nicht nur, daß die Bevölkerung in den "Krisenzeiten" nicht am Reichtum teilhat, sondern die gesamte Befriedigung
gesellschaftlicher Bedürfnisse und überhaupt die gesamte gesellschaftliche Reproduktion finden im Kapitalismus nur insofern statt, wie sich damit ein Geschäft machen läßt. Die Ökonomie
ist nicht Funktion des gesellschaftlichen Lebens, - aus Geld mehr Geld zu machen, lautet die Devise. Dafür wird das Geld vom bürgerlichen Staat per Gewalt in die Welt gesetzt, dem am
Gelingen des Geschäfts, das auch seinen Reichtum in harten DM mehrt, gelegen ist. Und dafür hat "er" auch das "Recht auf Eigentum" installiert, dem jedes Individuum der Gesellschaft
unter Androhung von Strafe verpflichtet sein soll. So ist die Klassengesellschaft errichtet: Produktionsmittel und Geld in den Händen weniger und andererseits nichts als die Möglichkeit,
gegen Lohn den Profit der wenigen zu steigern. Die Befriedigung von Bedürfnissen der Leute findet eben nur unter der Bedingung statt, daß sie nützlich sind für die Reichtumsvermehrung
des Kapitals. Es ist nur die notwendige Kehrseite und nicht das Versagen des Kapitalismus, wenn Menschen arbeitslos, obdachlos werden oder verhungern. Und deshalb ist auch schon in
"normalen Zeiten" dafür gesorgt, daß über die Abhängigkeit von Geld Armut als fester Bestandteil dieser Gesellschaft etabliert ist und nicht erst in Zeiten der Krise für die Menschen zum
Problem wird.

Birgit Hogefeld legt aber letztendlich eine Vorstellung des Kapitalismus nahe, der in nicht näher bestimmten "Phasen" scheinbar doch für die Menschen da sein, ihnen ein Auskommen und
die Freiheit von Not und Gewalt gewähren könnte *

So scheint es, daß es die eskalierenden Tendenzen des Imperialismus seien, die die revolutionäre politische Intervention nötig machten und nicht die Normalität von Geschäft und Gewalt.

In diesem Bild ist es dann auch nur konsequent, daß die Menschen letztendlich nur noch als "Opfer" der aus den Gleisen geratenen Verhältnisse vorkommen. Für Birgit Hogefeld geht es
um "die Frage, wie wir hier trotz aller Schwierigkeiten und gegenläufiger Tendenzen eine an den Menschen orientierte gesellschaftliche Entwicklung erkämpfen können." Darum kann sie
sich so vorbehaltslos den Individuen nähern. Sie kommen nicht vor als das, was sie sind, ParteigängerInnen von Recht und Ordnung, einem ausländerInnenfreien Deutschland, einer
Marktwirtschaft in der sie bereit sind, jede Härte hinzunehmen, allgemein: des Erfolgs des Standorts Deutschland. Die StaatsmacherInnen hierzulande treffen auf eine Bevölkerung, denen
nichts selbstverständlicher ist, als die vorgegebenen Bedingungen anzunehmen und positiv als Lebenschance zu interpretieren, die deshalb die ideale Manövriermasse für die Herrschaften
der BRD sind, weil sie aus eigenem Willen das tun, was sie ohnehin tun sollen. Sie praktizieren ihren Nationalismus tagtäglich durch braves Arbeiten, Ruhehalten und
Zurechtkommenwollen in der Arbeitslosigkeit, Wählengehen der vorgegebenen "Alternativen", wenn's gefordert wird, in den Krieg ziehen "weil die Deutschen Verantwortung tragen". So
fängt der Rassismus der BRD-Bevölkerung nicht erst beim Sturm auf die AsylbewerberInnenheime an, sondern wird da geboren, wo ihr Hauptidentifikationspunkt liegt - Deutsche zu sein.

Auch die multikulti- und ausländerfreundlichen RassistInnen nehmen hier ihren Ausgangspunkt, die sich verständnisvoll an der Trennung von "In- und AusländerInnen" abarbeiten wollen,
anstatt diese zu kritisieren. Und das ist der Grund, warum die ganze Scheiße viel zu gut funktioniert, als daß sie vor "unlösbare Probleme gestellt, (...) den gesamten Zersetzungsprozeß
beschleunigt durchläuft.

Es ist unserer Meinung nach falsch, in bezug auf die Interessen der BRD-Bevölkerung von einer Art "Leerstelle ...die neu gefüllt werden muß" zu sprechen, "der durch den Aufbau einer
gesellschaftlichen Kraft, die (...) eigene Vorstellungen und soziale Inhalte formuliert"** mit dieser Bevölkerung zusammen begegnet werden müßte. Radikale Politik hat unserer Meinung
nach auch einen radikalen Perspektivenwechsel vorzunehmen: sie muß diese NationalistInnen in ihrem Alltag und ihren Interessen konsequent angreifen - muß sie als GegnerInnen ihres
eigenen Anliegens wahrnehmen.

Der Wille Mobilisierungsgewinne zu verzeichnen läuft, solange er als Abkehr von Kämpfen "die langfristig an der Negation ausgerichtet sind," letztendlich dem Interesse linker Theorie
und Praxis zuwider. Unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre der positive Bezug auf das Bestehende oder dessen konsequente theoretische wie praktische Kritik, die "Differenz
zwischen der Gestaltung der Verhältnisse und dem Kampf dagegen" ("Öffentliche Prozesse", die beute 1/95 S.93/94).

Skarabäus! (Juli 1995)

* "Bürgerkriege in der Welt um Raum, Nahrung, Wasser und andere Ressourcen; Millionen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Armut auf der Flucht sind; Zerfallserscheinungen im
Inneren, massenhafte Arbeitslosigkeit, materielle Armut, Obdachlosigkeit, soziale Entwurzelung von immer mehr Menschen, Ausweitung von Gewalt und Rechtsradikalismus - all dies
zeigt, daß der Kapitalismus nicht mehr funktioniert."

** " Es geht dabei einerseits um die Erstellung einer politischen Gesamtvorstellung und zugleich um Basisarbeit, in der konkrete Schritte für Lösungen konkreter Probleme bestimmt und
durchgesetzt werden. (...) das betrifft die Frage nach der Bestimmung und Gestaltung menschlich sinnvoller und nützlicher Arbeit genauso wie beispielsweise ökologische Probleme oder
die Gestaltung von Stadtvierteln."

Zuschrift zu Info 2 + 3 (traf ein während Fertigstellung von Info 4, fehlte in Info 5,

da Scannern scheiterte, siehe dort S. 12)

Zu wenige Fragen zu Birgit Hogefeld ?

"Mythos oder kritische Solidarität -

der Fall Birgit Hogefeld -"

Inzwischen ist das Info 3 zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld herausgekommen. Um einen Diskussionsprozeß in Gang zu setzen, wollen wir dazu ein paar grundsätzliche Anmerkungen
machen. Ziel dieses Artikels soll es ausdrücklich nicht sein, Spaltungen voranzutreiben oder Birgit die Solidarität zu entziehen. Es geht viel mehr darum, Diskussionen und Gedanken in die
Öffentlichkeit zu bringen und die "radikale Linke", die Gefangenen

aus RAF, RZ und anderen Widerstandszusammenhängen und, wie sie oft benannt werden, "alle um Freiheit Kämpfenden" zusammen weiter zu bringen, neue Konzepte und Perspektiven
zu entwickeln, endlich aus alten Fehlern zu lernen.

Ein Problem dabei ist, daß Kritik innerhalb "der Linken" häufig nur "plattmacht" und Einzelne / Zusammenhänge nicht weiterbringt. Oder aber Kritik wird gar nicht erst geäußert, weil man
als "guteR LinkeR" bestimmte Fragen und Gedanken gar nicht erst hat.

Zum Prozeß-Info:

Einigermaßen wütend und enttäuscht sind wir darüber, daß der Brief einiger Lesben aus Göttingen, gewollt oder ungewollt, totgeschwiegen wurde. Dieser ist am 23.1.95 in der "Jungen
Welt" erschienen. Wenn er schon nicht im Prozeß-Info veröffentlicht wird, hätte wenigstens ein Hinweis auf dessen Existenz hineingehört ! Bei uns entsteht so der Eindruck, daß eine
Kritik, die fundiert und bedenkenswert ist, nicht weiterverbreitet wird, weil das Birgit Hogefelds Image nicht gut tun könnte. (Was keineswegs so ist - schließlich ist sie wie alle ein Mensch
mit dem Recht, Fehler zu machen und Positionen neu zu überdenken.) In Wirklichkeit ist Birgit Hogefeld längst eine Frau, um die sich ein gewisser Mythos spinnt, in dem sie zur Heldin
"der Linken" gemacht wird. Wer war nicht auf ihre erste Prozeßerklärung gespannt und hatte besonders hohe Erwartungen, weil das alles "so nah an der sonst so konspirativen RAF" ist ?

Was hat es bedeuten, daß auf ihren Brief keine Reaktionen kamen ? Sie als Linke, gestützt von anderen Linken, kann (fast) unkommentiert Vorurteile über Lesben ausbreiten. Unterstreicht
das nicht, daß es (auch) innerhalb "der Linken" eine handfeste Lesben- und Schwulenfeindlichkeit gibt ?

Des weiteren finden wir es gefährlich, daß Birgit Hogefeld immer wieder in die Rolle der "besonders hart Getroffenen" gehoben wird. Beim Lesen der Prozeß-Infos entsteht (trotz
Anführungszeichen) der Eindruck, daß es "normale" Verfahren in der BRD gibt: siehe Prozeß-Info Nr. 2. "Der Prozeß gegen Birgit ist kein `normaler' Prozeß. Wie in allen politischen
Verfahren sind auch hier juristische Selbstverständlichkeiten außer Kraft gesetzt. Wie einer der Anwälte schon mal gesagt hat: `Wäre dies ein normales Verfahren, könnten wir optimistisch
sein.'" Immer wird suggeriert, daß es normale und politische Verfahren gibt. Wo fängt denn Bitteschön das politische Verfahren an? Bei demjenigen, der einen Knast in die Luft sprengt,
bei dem, der beim Sprühen oder bei einer Demo festgenommen wird, oder bei dem, der beim Klauen erwischt wird? Wir müssen uns klar machen, daß es bei allen Prozessen um die Justiz
von Herrschenden über/gegen Beherrschte geht. Daß Abstufungen gemacht werden und daß sich diese Justiz beispielsweise bei Prozessen gegen RAF-Mitglieder besonders profilieren
will, ist dabei klar!

Außerdem halten wir den "Kommentar zum Kommentar der Legendenbildung" (siehe Prozeß-Info 2 und taz vom 10.12.94) für nicht besonders geglückt.

Verschiedene Punkte bleiben ungeklärt: auch wenn es an den Qualen Birgit Hogefelds nicht viel ändert, ob sie im sogenannten "Toten Trakt" (nur eine belegte Gefängniszelle im
betreffenden Trakt) oder in einer geräuschisolierten Einzelzelle saß, ist es doch um die Glaubwürdigkeit von ihr wichtig, klar zu sagen, ob der taz-Artikel lügt bzw. der von ihr geschilderte
Sachverhalt stimmt oder nicht.

Aus dem taz-Artikel stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich wie alle wegen organisierter Kriminalität Einsitzende in Einzelhaft war oder ob dies ausschließlich bei ihr erzwungen wurde.
Wenn dies nicht so ist, wird verleugnet, daß andere Gefangene den gleichen Scheiß-Bedingungen ausgesetzt sind: Klar find den wir es schlimmer, wenn Birgit Hogefeld die Einzige ist,
weil das den besonderen Haß des Staates auf sie noch vergrößert/deutlicher macht. Wenn andere genauso in Einzelhaft sitzen, macht es die Situation von Birgit Hogefeld dadurch nicht
besser: Es macht aber deutlich, daß es eben keine "unschöne Ausnahme" ist, Gefangene mit Einzelhaft zu foltern.

Wenn die "Linke" sich zum größten Teil sperrt, den Themenkomplex um Birgit Hogefeld herum kritisch zu sehen, muß man sich fast freuen, dies in der "Zeit" anders beleuchtet zu lesen.
In dem Artikel "Ein Prozeß als Ritual" (17.2.95) werden einige Punkte aufgegriffen, die zurecht kritisiert, zumindest aber diskutiert werden müssen. Durch fehlende kritische Diskussionen
oder durch einseitige Berichterstattung (z.B. teilweise im Prozeß-Info) wird ein Mythos um die RAF und somit auch um Birgit Hogefeld geschaffen. So kann man sich sicher sein, daß es
viele UnterstützerInnen im Prozeßsaal wichtiger, wahrscheinlich auch spannender finden, einen "RAF-Prozeß" zu besuchen als sich für vorort anliegende politische Prozesse zu
engagieren.

Dennoch können die im Zeitartikel erwähnten "Hallo-Birgit-Rufe" nicht so undifferenziert als das Schaffen einer "gewünschten Atmosphäre der Verbundenheit" abgetan werden.
Schließlich befinden sich viele FreundInnen, Bekannte, die Mutter von Birgit Hogefeld und manchmal Verwandte von Wolfgang Grams im Zuschauerraum. Ein kritischer Punkt ist
ebenfalls die Opferrolle, die laut "Zeit" und "taz" von Birgit Hogefeld zu sehr strapaziert wird. In ihrer Darstellung der "Methode Isolationshaft" versucht sie angeblich die Nähe zu den
frühen Stammheim-Häftlingen herzustellen. Obwohl sie in ihrer "Erklärung zu den Haftbedingungen vom 22.4.94" nie den Vergleich zu Stammheim zieht, sondern sich auf eine
Beschreibung ihrer eigenen Haftbedingungen beschränkt, wäre es trotzdem klarer, die Bedingungen der Isolation von heute und damals zu vergleichen.

Dagegen zieht Birgit Hogefeld zum Vergleich das südamerikanische Folterregime und Jean Amery mit seinen Auschwitzerlebnissen heran. Dies erachtet der Zeitautor, in einer rhetorischen
Frage verpackt, für ungerechtfertigt. In einer Diskussion dieses Punktes muß auf jeden Fall beachtet werden, daß sich Birgit Hogefeld sehr wohl im Klaren darüber ist, daß sie sich
verschiedene Aspekte aus den Amery-Erinnerungen herausnimmt (z.B. die Folterer als Gegenmenschen zu sehen, wie lange Folgen der Folter anhalten können, um, wie sie schreibt, "in
Ähnlichkeiten oder Beschreibungen, an denen mir Unterschiede deutlich werden, meine eigene Situation besser begreifen zu können.")

Die Polemik, mit der im Zeit-Artikel kritisiert wird, zieht sich in der Überleitung zu einem wichtigen Punkt weiter fort: "In Wahrheit sind die Opfer andernorts zu suchen...". Die "Zeit"
meint damit die Menschen, die bei RAF-Anschlägen ums Leben kamen oder fast getötet wurden. Auch wenn es wichtig ist, die "Opfer" zu benennen, kann man trotzdem nicht ohne jeden
Kommentar den Anschlag auf die US-Air-Base in Frankfurt, bei dem der US-Soldat Pimental von einem Kommando der RAF erschossen wurde, in eine Reihe mit der Erschießung des
GSG9-Beamten Newrzella in Bad Kleinen stellen. Der Tod des Polizeibeamten kann Birgit Hogefeld nur über ein höchst fragwürdiges juristisches Konstrukt angelastet werden. Dieses
Konstrukt besagt, daß es in der RAF den Konsens gibt, sich bei Verhaftungen gegenseitig zu unterstützen.

Als nächstes wird behauptet, daß die Anwälte "das Hogefeld-Verfahren zum RAF-Klassiker" machen. D.h., daß Art der Anträge und Verteidigungsstrategien aus anderen RAF-Prozessen
bekannt sind und übernommen werden. Bleibt die Frage offen, ob die Strategie gewählt wird, um den Mythos aus den 80ern aufleben zu lassen, oder ob sich diese Prozeßführung in der
Praxis bewährt hat. Die Richter hingegen werden in Schutz genommen, obwohl sie ein genauso klassisches Verhalten an den Tag legen.

Während mehrere Abschnitte mit einer positiven Haltung zu Birgit Hogefeld folgen (April-Erklärung 1992, absurdes Rechtskonstrukt im Fall Newrzella, entlastende Aussagen des
Verfassungsschutzspitzels Klaus Steinmetz) endet der Artikel dann mit einer Kritik an der pessimistischen Einstellung der Anwälte zum Ausgang des Prozesses. Dies unterstreicht den
Grundton des Artikels deutlich. Schade, daß es im Fall von Birgit Hogefeld so gängig ist, in eindeutigen Gut-Böse-Schemata zu urteilen.

Durch Polemik und Verschweigen von Tatsachen ist es schwer, aus dem Zeit-Artikel tatsächlich einen Anstoß zu einer fairen Diskussion zu bekommen. Vielleicht gelingt es uns, diese
faire Diskussion in dieser Zeitung zu führen.

(Ihr könnt auch selbst Artikel oder LeserInnenbriefe schreiben.)

Wir fordern:

- eine kontinuierliche, objektive Prozeßberichterstattung !

- kritische Solidarität für Birgit Hogefeld !

- sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen !

(leider ohne Orts- oder Gruppenkennung)

Anmerkung: Nach nochmaligem Lesen im Zug der Fertigstellung von Info 6 haben wir den Text nur mit Bedenken aufgenommen: vor allem, weil der zweite Teil, der entlang des Zeit-
Artikels argumentiert, sprachlich und begrifflich immer unklarer wird. Nach unserem Eindruck wird oft nicht deutlich, was gemeint ist; teilweise entwächst den unausgereiften
Formulierungen ein merkwürdiger Sinn: wie etwa der, Anklage und Verurteilung wegen Pimental seien nicht fragwürdig. Pauschalurteile über die mythenwillige Linke u.ä. scheinen uns
nicht belegt usw. .

Zuschrift zu Info 4

Briefwechsel zwischen Göttinger Lesben und Birgit

- Fortsetzung -

 
In Info 4 haben wir den offenen Brief von Göttinger Lesben und Birgits Antwort dokumentiert. Für die Göttingerinnen ist diese Auseinandersetzung damit überhaupt nicht beendet - im
Gegenteil.

Sie haben einen weiteren Brief geschrieben, den wir hier veröffentlichen.

Hallo Birgit,

jetzt endlich haben wir die Zeit und Lust gefunden, Dir auf Deinen Brief zu antworten, denn viele Punkte wollen und können wir so nicht stehenlassen.

Offensichtlich hast Du den Kern unserer Kritik nicht verstanden oder: es lag eben doch kein Mißverständnis vor. Du stellst nun zwar richtig, daß Du keinesfalls Lesbisch-Sein mit
Machtausübung gegen andere Menschen gleichsetzt, aber weiterhin können Deiner Meinung nach sexuelle Übergriffe von Frauen gegen Frauen nur von Lesben ausgehen. Zitat: "es geht
natürlich auch von den Schließerinnen, die heterosexuell sind, Macht und Erniedrigung gegen uns aus, aber da kommt das Moment des sexuellen Übergriffs nicht auch noch dazu". Birgit,
wie kommst Du auf diese abstruse Idee?? "Sexuelle Übergriffe" haben grundsätzlich nichts mit der sexuellen Präferenz oder Orientierung des Täters/der Täterin zu tun! Sie sind statt dessen
eine grausame Form der Machtausübung und der Erniedrigung. Seit Jahren, nein, inzwischen eher seit Jahrzehnten kämpfen Feministinnen (darunter auch viele Lesben), die z.B. in
Frauenhäusern und Frauennotrufen arbeiten, gegen diese in unserer Gesellschaft HERRschenden Vorurteile. Aber das scheint völlig an Dir vorbeigegangen zu sein. Die Erfahrungen
vergewaltigter Frauen und sexuell mißbrauchter Kinder beweisen tagtäglich aufs Neue, daß die Motivation der TäterInnen nicht nur "sexuelles lnteresse", "Geilheit" oder "Lust am Sex" ist,
sondern vor allem "Machtgeilheit" und "Lust an der Qual und Demütigung des Opfers". Ein Beispiel: wenn frau als Prozeßbeobachterin an einem politischen Gerichtsprozeß teilnehmen
will, wird sie vorher immer - von einer Frau! - kontrolliert, durchsucht, abgegrapscht. Nach unserer eigenen Erfahrung ist es dabei durchaus üblich, daß jene besagte Frau gerne mit dem
"Pieps-Ding" in die Hose, manchmal sogar Unterhose, der Prozeßbesucherin fährt. Und oft wird beim Abgrapschen auch ganz "versehentlich" der Busen mit abgegrapscht. Für uns sind
das eindeutige sexuelle Übergriffe. Und es ist für uns zugleich völlig absurd, diese Frauen deswegen für Lesben zu halten. Verdammt, Birgit, als Frau weiß frau doch schließlich total
genau, wie sie am besten eine andere Frau demütigen kann. Dazu muß frau wahrlich keine Lesbe sein. Und was ist mit den Männern, die Jungen sexuell mißbrauchen? Sind die alle
schwul? Was ist mit den Familien, wo Mutter, Vater, Tanten und Onkel gemeinsam Kinder zu Kinder-Pornos zwingen und mißbrauchen? Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: uns
ging/geht es zu keinem Zeitpunkt darum, Dir Dein Gespür für die Unterscheidung zwischen "Zufall" und "sexuellem Übergriff'' abzusprechen. In den von Dir beschriebenen Situationen
handelte es sich bestimmt um sexuelle Übergriffe. Aber es hat nichts mit der sexuellen Präferenz der Täterin zu tun; der Kontext, in den Du die erlebten sexuellen Übergriffe setzt, ist falsch
und fatal.

Leider hast Du nicht auf unsere Frage geantwortet, woher Du weißt, daß es "sehr viele lesbische Schließerinnen" gibt, wenn diese doch versteckt ihr Lesbisch-Sein leben, wie Du schreibst.
Und woher weißt Du so gut über ihre Motivation Bescheid, weshalb sie Schließerinnen geworden sind ("richtig ist, daß es hier Schließerinnen gibt, die lesbisch sind und die sich diesen Job
ausgesucht haben, um Macht - auch in Form von sexuellen Übergriffen - gegen gefangene Frauen auszuleben, und die (und das sind nicht wenige) waren damit gemeint")? Unserer
Meinung nach läßt sich nur darüber spekulieren, warum Menschen den Beruf SchließerIn wählen - wir kennen auch keineN persönlich. Aber wie wenig relevant die Fragen nach
Motivation und sexueller Präferenz sind, wird auch in dem Interview der jungen welt vom 31.3.95 mit einer anderen (ehemaligen) Gefangenen, Margit Czenki, das Du sicherlich gelesen
hast, deutlich: "Bei den Wärterinnen, den Wachteln, muß man nicht anfangen auszusortieren, ob diese oder jene nun lesbisch ist oder Mutter von fünf Kindern. Die begegnen mir erst mal
als Wachteln. Das bedeutet, sie sind Untertanen, sie werden jeden Befehl ausführen, sie werden immer auf der anderen Seite stehen. Auf dieser Unterdrückung basiert der Knast und dazu
gehört auch jede Form von Erniedrigung. Ob das nun ein Anfassen am Po ist, wie Birgit das beschreibt, oder ob es mit Worten geschieht. Ich hab das erlebt von Beamtinnen in der
Krankenstation wenn du dich ausziehen mußt, daß sie Sprüche über deinen Körper machen. Die dann sagen: "ja, ja, Ihren Busen haben wir ja jetzt schon gesehen, so toll ist der nicht, daß
Sie den noch rausstrecken müssen." Und ob sie dich dabei noch anfassen oder nicht, ist kein großer Unterschied. Das gehört zur Palette der Unterdrückung."

Bzgl. unseres Verdachts, daß Du Vorurteile gegenüber Lesben hegst, schreibst Du, daß Du diese aufgrund der Erfahrungen Deiner WG-MitbewohnerInnen und anderer FreundInnen "so
nicht hast". Sicher, durch Deine WG hast Du mitbekommen, mit welchen Vorurteilen und Diskriminierungen Lesben und Schwule alltäglich konfrontiert werden, aber das sagt noch nichts
über Dein Verhältnis dazu aus. Es sagt auch nichts darüber aus, ob bei Dir selbst auch Vorurteile und Klischees rumspuken und wie Dein Gefühl dazu ist. Eigene Texte auf
vorurteilsbehaftete Formulierungen hin "abzuklopfen", ist sicherlich ein gutes Mittel zur Selbstreflexion und eigenen Bewußtwerdung, auch eine lobenswerte Absicht, aber für sich allein
erinnert es mehr an die Männer, die sich für unglaubliche Anti-Sexismus-Kämpfer halten, weil sie gelernt haben, beim Sprechen und Schreiben auch die weiblichen Formen zu benutzen.
Vorurteile können nur abgebaut werden, indem mensch sie sich bewußt macht, zugesteht und dann mit Herz und Verstand ein anderes Verhältnis dazu aufbaut. Gleiches gilt für uns in
Bezug auf Rassismus. Schwarze Feministinnen waren die ersten, die Kritik an Rassismus, ethnozentristischer Sichtweise und paternalistischer Haltung der weißen feministischen
"Schwestern" übten. Durch ihre Kritik war/ist die weiße FrauenLesbenbewegung gezwungen, sich mit dem. eigenen verinnerlichten Rassismus auseinanderzusetzen. Und in den letzten
Jahren hat diese Auseinandersetzung auch allmählich in der gemischten "Linken" begonnen. Wenn es so einfach wäre, Vorurteile "loszuwerden", wie Du es beschreibst, weshalb ist dieser
Veränderungsprozeß bzgl. Rassismus immer noch nicht abgeschlossen? Wozu gibt es dann diese ganzen "Anti-Rassismus-Workshops", "Bewußtmachungs-Seminare" usw. ?

Die Gesellschaft, in der wir hier leben, ist u.a. heterosexistisch und homophob (verinnerlichte Ängste vor eigenen homosexuellen Gefühlen). Ob Erziehung oder Roman, ob Werbung oder
billigste Lohnsteuerklasse für verheiratete Paare, ob "hohe" Politik oder die Nachbarin, die das Mädchen fragt: "na, hast Du schon einen Freund?", das Bild der Heterosexualität HERRscht
überall. Deshalb prägten Lesben auch den passenden Begriff "Zwangsheterosexualität". Denn selbst dort, wo der Lesben- und Schwulenhaß gar nicht offen benannt wird, werden lesbische
und schwule Identität permanent durch die Zwangsheterosexualität negiert.

Wie umfassend und tiefgreifend die mit "Heterosexismus" und "Homophobie" bezeichneten Prozesse sind. verdeutlicht das folgende Zitat: "Die Begriffe Heterosexismus und
Feindseligkeit konzentrieren sich stärker auf den sozialen Kontext, auf das patriarchale Macht- und Wertegefüge, während Homophobie den Aspekt der Angst in seinen Auswirkungen in
den Vordergrund stellt. Homophobe und heterosexistische Haltungen und Handlungen sind Ausdruck eines Schutzmechanismuses. Eigene innere Konflikte und Ängste werden dadurch
abgewehrt, daß sie auf lesbische Frauen projiziert werden. Der Vorgang der Projektion und die damit verbundene negative Haltung ermöglichen es, die unbewußten Konflikte bzgl. der
eigenen Geschlechtsidentität oder/und der eigenen sexuellen Orientierung auszudrücken. Dabei werden die eigenen unakzeptablen und beängstigenden Bedürfnisse und Wünsche
zurückgewiesen durch die ausdrückliche Ablehnung von lesbischen Frauen, die diese Bedürfnisse quasi symbolisieren. (...) Dieser Aspekt bringt vorrangig den homophoben Ursprung
gesellschaftlicher Diskriminierung gewissermaßen als einen fehlgeleiteten Versuch persönlicher Angstbewältigung zum Ausdruck." (aus: Waltraud Dürmeier u.a. `Wenn Frauen Frauen
lieben", München 1991, S. 71f.) Logisch, daß solche verinnerlichten Ängste sich nicht ohne weiteres durch rationale Überlegungen auflösen lassen. Darüber hinaus machen Lesben oft die
Erfahrung, daß gerade heterosexuelle Frauen besonders deutlich mit Ablehnung auf sie reagieren, weil sie sich völlig in der Selbstverständlichkeit ihrer eigenen (= heterosexuellen)
Orientierung angegriffen fühlen.

Weshalb solltest Du also der verinnerlichten Homophobie so Ieicht entkommen sein? Wie setzt Du Dich damit auseinander und welches Verhältnis hast Du wirklich zu Lesben?

Übrigens, Birgit, von "Klischees und Vorurteile abbauen helfen" war unsererseits nie die Rede. Wir Lesben brauchen keine Heteras, die immer gleich helfen wollen, Vorurteile anderer
abzubauen, bevor sie sich auch nur gefragt haben, ob sie ihre eigene Homophobie nicht nur verleugnen, anstatt sie anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen. Wirkliche Solidarität
ist keine Frage von Formulierungen und auch nicht von Mitleid. Zumal der von Dir ausführlich beschriebene "Leidensweg" Homosexueller glücklicherweise nur ein kleiner Ausschnitt aus
unserem Leben ist. Wie singt die lesbische Liedermacherin Carolina Brauckmann so schön:

Frauen zieh' ich tiefer ins Vertrauen,

schenk' mein Herz ich und begehre sie aus tiefster

Überzeugung.

Meine frühgeprägte Neigung

gilt dem schöneren Geschlechte,

alles Wahre, alles Echte

kann bei ihnen ich nur finden.

Meine Liebe, meine Sünden

werden nur durch sie entfacht,

ein Leben lang werd' ich erglühen,

mich vergessen und bemühen.

Ach, es ist glatt zum Berauschen,


welche möchte da schon tauschen,

keine Spur bin ich verzagt,

sondern denke mir im Stillen:

Haste Schwein gehabt!

 
Viele Grüße von uns

Zuschrift zu Info 5

Reaktion kirchlicher ProzeßbeobachterInnen auf die Kritik der InfoAG

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir würden es sehr begrüßen, wenn die InfoAG sich um eine möglichst objektive Berichterstattung über den Prozeß gegen Birgit Hogefeld bemühen würde. Wir halten es auch für
sinnvoll, wenn gleichzeitig eine politische Diskussion geführt wird. Dabei sollten unserer Meinung nach Gründe und Ziele der einzelnen Beiträge klar erkennbar sein. Eine wichtige
Voraussetzung ist in diesem Zusammenhang eine offene und faire Haltung gegenüber den Gesprächspartnern. Wir halten es für ein bedenkliches Zeichen, wenn wir bei der
Prozeßbeobachtung Seite an Seite sitzen und dann, ohne vorheriges Gespräch, eine Erklärung von uns öffentlich in einem Stil kritisiert wird, den wir deutlich zurückweisen müssen.

Wer unsere Erklärung vom 7. April 1995 aufmerksam und vorurteilsfrei gelesen hat, kann nicht oberlehrerhaft über "manches wohlgemeinte Schulterklopfen" sprechen und wird auch
keinen Anhaltspunkt finden, unseren Text als "fatal" zu bezeichnen. Fatal finden wir allerdings die Unterstellung: "Die `resozialisierende' Intention der Christen ist nur eine Variation der
Erwartung, daß die Zusammenlegung die wechselseitige Zerfleischung herbeiführe". Wer ohne mit uns zu reden und ohne irgendwelche Anhaltspunkte im Text zu solchen Unterstellungen
greift, sagt viel über sich aber nichts über uns aus. Ähnliches gilt für den Hinweis, daß sich unser Text mit Bestrebungen des VS treffe. Solche Phantasien lassen nur den Schluß zu, daß an
unserer Äußerung Probleme abgearbeitet werden, die mit uns und unserer Erklärung nichts zu tun haben,

Jede und jeder sollte sich freuen, wenn nicht alle ProzeßbeobachterInnen der gleichen Meinung sind. Dadurch kann unserer Meinung nach produktives Nachdenken und Dialog in Gang
kommen.

Wenn wir von einem "Terrorismusproblem" reden, meinen wir selbstverständlich auch die Gründe und Ursachen, die in unserer Gesellschaft zu suchen sind. Auch wir sehen z.B. in der
zunehmenden Verarmung und Verelendung großer Stadtbezirke, ganzer Länder und Kontinente einen Skandal, der eine radikale Umkehr unserer Gesellschaft nötig macht. Radikalität
heißt für uns, daß es um die Wurzeln unseres Systems geht. "Ungerechten, todbringenden Systemen mit Schweigen oder Nachsicht begegnen, heißt, deren Waffen zu segnen" sagt der im
Amazonasgebiet tätige Bischof Kräutler.

Dieser radikale menschenrechtliche Ansatz verbindet sich für uns eindeutig mit einer Haltung der Gewaltlosigkeit, wie sie von M. -L. King, M. Gandhi und anderen vorgelebt wurde. Wir
sind deshalb nicht zu einer blinden Solidarität bereit. Wir halten sie für gefährlich und glauben, daß sie Birgit Hogefeld und anderen nichts Gutes bringen würde. Einzelne Taten bewerten
wir an diesem Maßstab der Menschenrechte und Gewaltlosigkeit.

Das heißt jedoch auch, daß wir uns bemühen, auf jeden Menschen möglichst vorbehaltlos zuzugehen und ihn in seiner Geschichte und individuellen Situation zu verstehen. Wir wollen
Menschen nicht einfach nach "gut und böse" einordnen. Gerade die Geschichte des Terrorismus in unserem Land zeigt, daß auf beiden Seiten, sowohl von der Staatsgewalt, als auch von
Bürgerinnen und Bürgern "Schlimmes" passiert ist. Wir haben deshalb bewußt formuliert: "Die Geschichte des Terrorismus in unserem Land ist eine Geschichte von Leid, das nicht
vergessen noch verharmlost werden darf. Damit sich diese Geschichte nicht endlos fortsetzt, muß sich der Rechtsstaat dialogbereit und an der Menschenwürde orientiert zeigen.
Dialogverweigerung oder Machtdemonstration sind Irrwege."

Wir bekräftigen, daß diese Forderung an jeden gestellt werden muß, der von Gewalt Gebrauch gemacht hat. Dialog ist nie eine Einbahnstraße. Es geht dabei nach unserem Verständnis
nicht um Sieger und Besiegte, sondern um Menschen, die sich in ihrer Würde respektieren.

Wir sind deshalb immer bereit, uns mit Menschen zu solidarisieren und zu sympathisieren. Es geht uns ganz konkret um Birgit Hogefeld, um sie persönlich und nicht das, was die
Öffentlichkeit, das Gericht oder wer auch immer in sie hineinprojeziert. Natürlich sind auch wir nicht frei von Bildern, die wir uns über den anderen und die andere machen. Aber wir sind
bereit, sie immer wieder zu korrigieren zu lassen. Wir wollen niemanden vereinnahmen oder in die Ecke drängen. Und wir wollen, daß dies auch mit uns nicht geschieht. Deshalb halten
wir es für angebracht, daß unsere Reaktion im Info veröffentlicht wird.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Gisela Wiese, Hanno Heil, Hubertus Janssen

Erwiderung der InfoAG

Wir danken Gisela Wiese, Hanno Heil und Hubertus Janssen für die Zuschrift.

Wenn der Eindruck entstanden ist, wir wollten die Initiative der Verfasser sarkastisch auflaufen lassen und seien dabei etwa von einer Häme gegen Kirchenleute geleitet (...nämlich
Probleme abzuarbeiten, "die mit ...(der) ... Erklärung nichts zu tun haben"), bedauern wir das sehr.

Insbesondere aus folgendem Grund: Die Verfasser machen das Thema Birgit Hogefeld und der anderen Gefangenen in ihrem gesellschaftlichen Bezugsrahmen: in kirchlichen Kreisen und
in kirchlichen Strukturen zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Wir kennen keine Beispiele, wo das anderswo geschieht: An keinem Arbeitsplatz sonst wird das Thema aufgeworfen,
bei keiner gewerkschaftlichen Versammlung oder Delegiertenkonferenz.

 
Zu den sachlichen Unterschieden möchten wir 4 Punkte anmerken:

1.

Wir halten die Aussage, daß auf beiden Seiten "Schlimmes" passiert ist oder Fehler gemacht wurden, auch durch die Zuschrift noch nicht ausreichend erläutert. Die Analyse der
strukturellen Gewalt der "ungerechten, todbringenden Systeme" legt frei, daß hier Gewalt endlos reproduziert wird und notwendiger Bestandteil ist. Hinter den Reihen der schlimmen
Einzelerscheinungen wird das strukturelle Grundprinzip erkennbar: die operative, ggf. militärische Durchsetzung von Übervorteilung gegen ganze Kontinente, wo Seuchen, Hunger, Blut
als Optimierungs- oder Minimierungsfaktoren gerechnet werden.

Diese operativen Strategien und strukturellen Mechanismen mit der Widerstandsgewalt auf eine Stufe zu stellen, wirft die Frage auf, ob die ungerechten, todbringenden Systeme wirklich
ausreichend analysiert sind. Ein entfalteter Begriff von gesellschaftlicher Herrschaft und Herrschaftsmethoden würde es jedenfalls verbieten, ein Gleichheitszeichen zu setzen zwischen
Batista und Castro, zwischen den regierungsbeauftragten Todesschwadronen der spanischen GAL und bewaffnetem Widerstand in Westeuropa.

2.

Ein radikal menschenrechtlicher Ansatz ist sich der Herkunft des Menschenrechtsgedankens bewußt: nämlich seiner historischen und begrifflichen Einbettung in eine
Befreiungsperspektive, die machtförmiger Verfügung über Menschen und ihre Bedingungen entgegentritt.

Der Menschenrechtsbegriff, der immer gegen staatliche und herrschaftliche Gewalt gerichtet ist, ist nicht notwendig mit einem Konzept von Gewaltlosigkeit als gesellschaftlicher
Wirkungsstrategie verbunden.

Ist er radikal begriffen, so erzeugt er auch nicht zwangsläufig eine Abgrenzung von bewaffneten Elementen eines Befreiungskampfs. Als einigender Punkt kommt das Einfordern von
Menschenrechten auch zwischen Positionen in Betracht, die bei klarer Analyse gesellschaftlicher Macht unterschiedliche gesellschaftliche Gegenstrategien bevorzugen.

3.

Der Staat kennt immer nur eine Gewalt, die er als katastrophisch darstellt: die nicht von ihm oder anderen herrschenden Formationen (Kapitalmacht, Patriarchat usw.) ausgeht.

Äußerungen von Gruppen und Menschen, die eine Position zur strukturellen Gewalt und zu Menschenrechten haben, sollten darauf bedacht sein, diese Bedingung zu erkennen und selber
ausreichend Widerhaken in ihre Rede zu legen, die eine Vereinnahmung für die staatliche Rede über Gewalt verhindern.

Denn das Stichwort "Gewalt" wirft eher die Frage danach auf, mit welcher Gewalt man paktiert als die, ob man "für" sie oder gegen "sie" ist. Denn sie wird vorgefunden, nicht erfunden.

Ein Jubelverhältnis zu revolutionärer Gewalt ist fast immer unangebracht. In der Metropolengesellschaft nimmt jede Ausbildung einer menschlichen Orientierung den Weg über den
Pazifismus. Jeder darüberhinausgehende Schritt wird auf dieser Grundlage zur Notwendigkeit, die mit mittelbezogenen Neigungen nicht im Gleichklang sein darf.

Wo Gewalt "ohne Vergnügen" ausgeübt wird, "wie es die Revolutionäre immer taten, besteht noch Aussicht, sie aus der Geschichte zu vertreiben" (Merleau-Ponty: Humanismus und
Terror I, Frankfurt 1966, S. 77, urspr. Paris 1947)

4.

In dem von der InfoAG kritisierten Text, wie er in der "Jungen Welt" vom 03.05.1995 abgedruckt war, fehlte unseres Erachtens ebenfalls jener Widerhaken, der ihn sprachlich von den
gesellschaftssanitären und konfliktregulierenden Positionen im Verfassungsschutz absetzte.

Blinde Solidarität mit Birgit Hogefeld liegt uns als Konzept und als Forderung fern. Wir freuen uns, daß die Verfasser aktive Prozeßbeobachter sind. Ein breites Spektrum, das den
einigenden Punkt in der Prozeßbeobachtung hat, muß für stark unterschiedliche Bewertungen gerüstet sein. Diese muß ein solches Spektrum aushalten.

Daß wir unsere Kritik an der Erklärung der Verfasser nicht vorab mit diesen besprochen haben, bedauern wir als Fehler. Auch ein Gespräch hätte allerdings wesentliche Unterschiede in
den Bewertungen nicht ausräumen können.

Wir werden künftig versuchen, als erstes das Beitragshafte in allen Einzelinitiativen zu erkennen und zu sehen. Wo Unterschiede und Diskrepanzen vorliegen, sollte prinzipiell von allen
Seiten auf Häme, Ironie, Unterstellungen und Bösartigkeit verzichtet werden.

Unterschriftenaktion vom Jahresanfang

Für die Aufklärung der Erschießung von Wolfgang Grams und für ein faires Verfahren gegen Birgit Hogefeld

Am 15. November begann vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. der Prozeß gegen Birgit Hogefeld. Angeklagt wird sie wegen verschiedener Aktionen der Roten Armee Fraktion
(RAF) zwischen 1985 und 1993. Sie wurde am 27. Juni 1993 in Bad Kleinen verhaftet. In dem Zusammenhang wird ihr auch Mord und sechsfacher Mordversuch an Beamten der GSG9
vorgeworfen, Bevor in Bad Kleinen der erste Schuß fiel, lag sie bereits überwältigt und gefesselt am Boden. Bei der Verhaftungsaktion wurde Wolfgang Grams getötet und der
Verfassungsschutzagent Klaus Steinmetz freigelassen.

Während Birgit Hogefeld einer Tat angeklagt wird, die sie nachweislich nicht begangen hat, sind die Ermittlungsverfahren gegen jene GSG9-Beamten, die in Verdacht standen, Wolfgang
Grams erschossen zu haben, eingestellt. Die staatliche Version: Selbstmord!

Die Anwälte von Wolfgang Grams' Eltern haben im Juni 1994 dagegen Beschwerde eingelegt. Sie halten nach gründlicher Auswertung aller Akten und nach Einholung zusätzlicher
Gutachten "den Schluß für zwingend, daß Wolfgang Grams von Beamten der GSG9...getötet worden ist".

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld bietet vielleicht die letzte Chance, die Auseinandersetzung um die Verhaftungsaktion von Bad Kleinen und insbesondere um die Todesumstände von
Wolfgang Grams wieder aufzunehmen.

Eine Aufklärung, die der Wahrheitsfindung dient, ist bisher nicht erfolgt. Die bisher veröffentlichten staatlichen Untersuchungsergebnisse sind in sich widersprüchlich und in ihren
Schlußfolgerungen unglaubwürdig. Sie sind vor allem von dem politischen Kalkül geprägt, eine Tötung von Wolfgang Grams durch GSG9-Beamte auszuschließen. Die sogenannten
"Fehlerpannen" von Spezialisten des Bundeskriminalamtes (BKA) lassen eine staatliche Obstruktionspolitik vermuten, allen Aufklärungsversuchen die Beweisgrundlagen zu entziehen.
Die Öffentlichkeit, insbesondere die Medien, haben sich schließlich doch mit sowohl politisch als auch untersuchungstechnisch äußerst fragwürdigen und lückenhaften Aussagen und
Ergebnissen durch die Gutachten, Behörden und die Bundesregierung zufriedengegeben. Die Aussage des damaligen Innenministers Seiters in seiner Rücktrittsrede: "Ich übernehme die
politische Verantwortung für Bad Kleinen", läßt die Frage offen: Verantwortung - wofür?

Wir gehen davon aus, daß im laufenden Prozeß gegen Birgit Hogefeld die staatliche Untersuchungsversion juristisch und im öffentlichen Meinungsbild festgeschrieben werden soll. Des
weiteren sollen die Aussagen des Verfassungsschutzagenten Klaus Steinmetz "gerichtsverwertbar" gemacht werden. Die Verteidigung von Birgit Hogefeld beklagt grundsätzlich eine
erhebliche Beeinträchtigung ihrer Arbeit durch das Vorenthalten von Akten und anderem durch die Bundesanwaltschaft (BAW) und das Gericht.

Die übrigen Anklagepunkte gegen Birgit Hogefeld stehen nicht im öffentlichen Blickpunkt: Mittäterschaft bei einem Sprengstoffanschlag auf die US-Airbase Rhein-Main, die Tötung eines
Soldaten, ein versuchtes Attentat auf den damaligen Staatssekretär Tietmeyer, die Sprengung des Gefängnisses Weiterstadt und Mitgliedschaft in der RAF. Unzweifelhaft ist nur die von
Birgit Hogefeld selbst eingeräumte Mitgliedschaft in der RAF. Bei allen anderen Anklagepunkten steht die Beweisführung der BAW auf schwachen Füßen. Es ist zu erwarten, daß auch
diese Anklagepunkte ohne faire und angemessene juristische Würdigung im Verfahren durchgeboxt werden sollen.

Im Zuge der Gesetzesänderungen in den letzten Jahren im Bereich "innere Sicherheit" sind einige elementare Grund- und Menschenrechte unter die Räder gekommen. So ist z. B. die
Trennung von Geheimdiensten und Polizei, die nach den Erfahrungen mit der "Geheimen Staatspolizei" (Gestapo) im Nationalsozialismus gesetzlich festgelegt wurde, wieder aufgehoben
worden. Gerade nach der koordinierten Geheimdienst- und Polizeioperation von Bad Kleinen ist deutlich geworden, wie sehr eine öffentliche und gesellschaftliche Opposition als Kontrolle
notwendig ist, die solche Operationen aufklärt bzw. unmöglich macht. Es ist bisher nicht möglich gewesen, eine kontinuierliche und kritische Gegenöffenlichkeit herzustellen, die das
erreicht. Wir möchten mit unserer Unterschriftenkampagne deutlich machen, daß dieser Aufgabe und die öffentliche Aufklärung und Bewertung der Umstände und Ereignisse von "Bad
Kleinen" noch nicht abgeschlossen ist.

Wir erklären hiermit, daß die Bundesregierung, die staatlichen Kontrollorgane und die handelnden Behörden vor Ort nicht aus ihrer Verantwortung entlassen sind! Wir wollen damit
Bedingungen schaffen, eine öffentliche und unabhängige Untersuchungskommission zu ermöglichen!

Wir fordern alle auf, die Anwälte und Eltern von Wolfgang Grams bei ihrer Nebenklage mit allen ihren Möglichkeiten zu unterstützen! Wir fordern die Wiederaufnahme der Ermittlungen
gegen die GSG9-Beamten!

Wir fordern die Veröffentlichung aller Einsatzprotokolle und unbeschränkt Akteneinsicht für die Verteidigung von Birgit Hogefeld!

Wir fordern alle auf, den Prozeß gegen Birgit Hogefeld zu beobachten und zu besuchen!

...Kontakt und Information: Initiative "Über den Tag hinaus", c/o St. Pauli Hafenstraße 110, 20359 Hamburg, Fax: 040/3172546.

(Mit vielen ErstunterzeichnerInnen am 25.3.95 in der "jungen welt" dokumentiert)

Veranstaltungsberichte

Ruhrgebiet: Bochum-Langendreer 29.05.95

Am 26.5. war im Bahnhof Bochum - Langendreer eine Veranstaltung "Die Erschießung von Wolfgang Grams in Bad Kleinen - Politische Justiz in den 90ern". Die Veranstaltung war mit
ca. 200 Leuten (aus dem Ruhrgebiet und darüber hinaus) ziemlich gut besucht. Das Interesse war groß und die BesucherInnen bunt gemischt: ältere, aber auch viele jüngere, aus
verschiedensten politischen Zusammenhängen oder einfach Interessierte. Es ging um zwei thematische Schwerpunkte: 1. Bad Kleinen - Fakten und Einschätzung und 2. der Prozeß gegen
Birgit Hogefeld und die Situation der politischen Gefangenen aus der RAF. Das war natürlich viel zu viel für 3 Stunden; deshalb kurz eine Erklärung wie die Veranstaltung zu Stände kam.
Vor einem halben Jahr gab es eine Unterschriftenaktion, daß das Ermittlungsverfahren wegen der Tötung von Wolfgang Grams neu aufgerollt werden muß. Bei einer Gruppe in Dortmund
kam daraus die Überlegung, daß es nicht ausreicht, nur zu unterschreiben, sondern daß wir uns mit den Ereignissen um Bad Kleinen und unserem Verhalten dazu auseinandersetzen
müssen. Und es kam die Frage auf, wie verhalten wir uns überhaupt noch zu den politischen Gefangenen. Nach einem ersten Treffen in Dortmund bildete sich eine Vorbereitungsgruppe.
Bad Kleinen sollte der Schwerpunkt der Veranstaltung sein, dazu wurden auch die Referenten Andreas Groß (Anwalt der Eltern von Wolfgang Grams) und Oliver Tolmein (Journalist)
eingeladen. Zum anderen wollten wir mit der Veranstaltung auch erreichen, daß sich wieder mehr Gruppen und Menschen mit den Prozessen und der Situation der politischen Gefangenen
auseinandersetzen. Im östlichen Ruhrgebiet hat es seit dem Hungerstreik 1989 und dem Kirchentag 1991 keine größeren Diskussionen und Aktionen zu den Gefangenen mehr gegeben.
Deshalb war die Veranstaltung auch so vollgestopft. Die ersten 1 _ Stunden wurden von den Referenten bestritten. Andreas Groß faßte ein paar Fakten zu der Hinrichtung von Wolfgang
Grams zusammen und fand es wichtiger, daß Fragen gestellt werden, als daß er sich in Details verliert. Oliver Tolmein ging auf die Reaktion der Medien ein, verglich die Situation vom
Herbst 1977 und Bad Kleinen 1993 und stellte fest, daß es eine Gegenöffentlichkeit in beiden Zeitabschnitten nicht gegeben hat und daß die Öffentlichkeit die Hinrichtung von Wolfgang
Grams akzeptiert hat. Fragen gab es zu den Themen: Rolle und Geschichte der KGT, zum Rücktritt von Seiters und Stahl, zu einzelnen ZeugInnen, welche Chancen hat die Neuaufnahme
des Verfahrens, um vor Gericht den Tod von Wolfgang Grams klären zu lassen ... und andere. Im 2. Teil haben wir über den bisherigen Prozeß gegen Birgit berichtet und anschließend die
aktuelle Situation der Gefangenen aus der RAF dargestellt und die einzelnen Gefangenen mit Dias und Kurzbiographien vorgestellt.

Wir haben noch zu einem Nachbereitungstreffen eingeladen, um mit möglichst vielen neuen oder alten Interessierten weiterzureden, auch über die Fragen, die wir auf der Veranstaltung
bewußt rausgehalten haben, wie Geschichte und Erfahrungen des bewaffneten Kampfes, Bruch in der RAF, Unterstützungsaktionen, Nachfolgeveranstaltungen. Obwohl das Interesse auf
der Veranstaltung zwar groß war, blieb bei dem Folgetreffen der Vorbereitungskreis weitgehend unter sich. Wir treffen uns aber trotzdem weiter. Wer Interesse hat, kann den Termin über
den Infoladen in Dortmund erfahren. (Oesterholzstr. 90, 44145 Dortmund, Tel/Fax 0231/839959)

Veranstaltungen am Rande des Ev. Kirchentags in Hamburg am 15./16.06.95

Am Rande des Kirchentages in Hamburg fanden sich Leute mit unterschiedlichen Bezugspunkten, um 2 Tage zu Politischen Gefangenen zu gestalten.

Das Programm in der Friedenskirche von Altona spiegelte die verschiedenen Annäherungen und Bezüge zu den Politischen Gefangenen wieder und war durch eine intensive
Gesprächsatmosphäre geprägt. Diese zwei Tage waren erfüllt von vorbehaltlosen, auf Verständigung ausgerichteten Begegnungen. Von dieser Atmosphäre, die derzeit nicht gerade
alltäglich ist, werden die Anwesenden sicher noch lange zehren. Bleibt zu hoffen, daß etwas davon in den Alltag der Auseinandersetzungen hinüberwächst. Gerade die
Auseinandersetzung um die Politischen Gefangenen und deren Freilassung hätte dies bitter nötig.

Die Veranstaltung zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld war sehr gut besucht und in den Redebeiträgen aus dem Kreis der verschiedenen ProzeßbesucherInnen und der InitiatorInnen des
Abends wie auch in der Diskussion kam viel zur Sprache.

In den weiteren Programmpunkten hatten die unterschiedlichen Aspekte einen Raum (Bibelarbeit, Gesprächskreise mit ehemaligen Gefangenen, zu kurdischen Gefangenen, Film "Was
aber wären wir für Menschen...", Bilderausstellung...)

Die zweite Abendveranstaltung, die ebenfalls gut besucht war, stand unter dem Motto "Die Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume"(H.Heine) - Einen Gruß in die Zellen. Hier wurden Texte
vorgetragen und der Chor Hamburger GewerkschafterInnen trat auf. Die Texte, die politischer, philosophischer, theologischer und literarischer Natur waren, erweiterten nochmals den
Horizont der Möglichkeiten, sich mit den Politischen Gefangenen auseinanderzusetzen.

Nach der Fülle der Eindrücke dieser zwei Tage fiel der Abschied vielen spürbar schwer. So bliebt noch, Allen, die zur Gestaltung der beiden Tage beigetragen haben, auf diesem Wege
Dank auszusprechen.
 

Zum Auftakt des Kirchentages am 14.6. haben Leute ein 72m2 großes Transparent am Turm des Michel befestigt (siehe Bild). Darauf stand:

Bad Kleinen: Staatsterrorismus

Solidarität mit Birgit Hogefeld

Sofortige Freilassung unserer GonossInnen

Weg mit dem [[section]]129a

Aktueller Anlaß waren die Durchsuchungen von ca. 80 Wohnungen, Läden und Betriebe am 13.6. im Auftrag der BAW. Dabei wurden 4 Leute verhaftet. Innenminister Kanther erklärte,
die Razzia habe in erster Linie zur Einschüchterung der Linken gedient. (Aus Anlaß der Hausdurchsuchungen und Verhaftungen fand am 16.6. in Hamburg eine Demonstration statt).

Die Presseerklärung zu der Transparentaktion benennt als weitere Anlässe den Prozeß gegen Birgit und die Ermordung von Wolfgang Grams. Es darf nicht sein, daß Bad Kleinen
widerstandslos hingenommen wird und daß im Prozeß gegen Birgit die Staatsversion als Wahrheit verwendet wird, sagen sie und fordern:

Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Vollständige Aufklärung der Ereignisse in Bad Kleinen !

Weg mit den Abschiebeknästen !

Keine Kriminalisierung des kurdischen Befreiungskampfes !

Heidelberg, 21.06.95

Am 21.06.95 fand in Heidelberg eine Veranstaltung zu Bad Kleinen und dem Prozeß gegen Birgit Hogefeld statt.

Veranstalter war das Antifa AK der FSK (Fachschaftskonferenz).

Eingeladen waren Ursula Seifert (RA von Birgit Hogefeld) und Thomas Kieseritzky (RA der Eltern von Wolfgang Grams).

Die Veranstaltung war sehr gut besucht, ungefähr 100 bis 120 Leute waren gekommen.

Zuerst sprach Ursula Seifert und gab einen Abriß über den bisherigen Prozeßverlauf in Frankfurt und die permanente Behinderung der Verteidigung von seiten der Bundesanwaltschaft und
des 5.Strafsenats, u.a. in dem Anträge der Verteidigung ständig abgelehnt werden.

Ursula Seifert ging auf das Schriftgutachten zu einer Unterschrift ein, die unter einem Automietvertrag stand.(Der Wagen wurde beim Tietmeyer-Anschlag benutzt).Dabei gehen die
Ankläger davon aus, daß Birgit den Mietvertrag unterschrieben hat. Anhand eines Namenszuges ist ein Schriftgutachten erstellt worden!

Weiter berichtete Ursula Seifert über die Anklageerweiterung gegen Birgit. Ursprünglich wurde sie wegen RAF-Mitgliedschaft angeklagt, jetzt zusätzlich wegen der Anschläge auf
Tietmeyer, die Air-Base ,Pimental und Weiterstadt sowie des versuchten Mordes an dem Polizisten Newrzella in Bad Kleinen und des mehrfachen Mordversuchs an GSG 9 Beamten.

Desweiteren informierte Ursula Seifert über die unvollständige Erfassung der Waffen und der verwendeten Munition der GSG 9 in Bad Kleinen und über die Obduktion des GSG 9 -
Mannes Newrzella. Z.B. waren bei der Obduktion zwei Frauen vom BKA dabei, die Fotos von der Leiche machten aber nicht von den Projektilen, die aus der Leiche entfernt worden
waren. Vielmehr waren die Projektile einige Tage verschwunden und tauchten dann wieder auf (?).

Thomas Kieseritzky berichtete über die medizinischen Gutachten die zu der Todesursache von Wolfgang Grams erstellt wurden. Dabei ging er insbesondere auf das Gutachten des von den
Eltern von Wolfgang bestellten Gutachters Prof. Bonte, Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts der Uni Düsseldorf ein. Dieser erstellte ein Gutachten, in dem er die Argumente des von
der StA Schwerin bestellten Gutachters ,Prof. Brinkmann und des Wissenschaftlichen Dienstes der Stadtpolizei Zürich auf wissenschaftliche Richtigkeit und Schlüssigkeit überprüft. In
einem anderen Gutachten hat Prof. Bonte sich mit Spuren beschäftigt die dafür sprechen, daß Wolfgang die Waffe mit Gewalt entwunden wurde. Prof. Brinkmann ist der einzige der
vorgibt, einen Selbstmord beweisen zu können.

Weiter berichtete Thomas Kieseritzky über die Beobachtungen der Zeugen bei der Schießerei in Bad Kleinen, die Rollen die die einzelnen GSG 9 Beamten spielten und über die
Sicherstellung der Kleidung der GSG 9 Beamten.

Auch T. Kieseritzky berichtete über massive Behinderung der Verteidigung durch die Staatsanwaltschaft Schwerin. Z.B. wurde monatelang die Akteneinsicht verwehrt.

(Ausführliche Informationen bietet das Buch :"Bad Keinen und die Erschießung von Wolfgang Grams", Hrsg.:ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam,
1994).

Trier 07.07.95

Am 7. Juli fand im Orli-Torgau-Zentrum / Trier eine Veranstaltung mit Menschen aus der Prozeßgruppe Wiesbaden zum laufenden Prozeß gegen Birgit Hogefeld statt. Gekommen waren
20 Menschen aus einem eher breiten politischen Spektrum. Die Veranstaltung dauerte ca. drei Stunden. Der Rahmen der Veranstaltung ermöglichte es, sich durch Diskussion und
genaueres Nachfragen ausführlich mit Birgits Situation im Knast und mit dem Prozeß insgesamt auseinanderzusetzen. Das Themenspektrum ging von den Anklagekonstruktionen der
BAW bis zu den Problemen, eine solidarische Öffentlichkeit innerhalb der Linken und auch darüber hinaus zu mobilisieren. Nach unserer Einschätzung ist die Veranstaltung trotz des
kleinen Rahmens erfolgreich gewesen: es war möglich, in einer offenen Atmosphäre zu genaueren Einschätzungen zu kommen und damit einen Anstoß für eine weitergehende Diskussion
in der Stadt zu geben.

Die Veranstaltungsgruppe

Anmerkung: Ein Teil des Redebeitrags zur Trierer Veranstaltung soll in Info 7 abgedruckt werden.
27.06.95: Am Grab von Wolfgang Grams

Am 27.6. fanden sich am Grab von Wolfgang Grams in Wiesbaden die Eltern, Marianne Hogefeld, FreundInnen und GenossInnen ein, um an den Menschen zu denken, der vor zwei
Jahren gleichsam vor den Augen der Öffentlichkeit hingerichtet wurde und dem dann durch lügenhafte Konstrukte unterstellt wurde, Selbstmord begangen zu haben. Mindestens zwei
unparteiische, glaubhafte Zeugen bestätigen, daß einer von den zahlreichen mit Pistolen und Maschinengewehren bewaffneten Polizisten zu dem schwerverwundeten, auf den Gleisen
liegenden Wolfgang Grams sprang, diesem die Pistole an die Schläfe hielt und abdrückte.

Die beiden klaren Zeugenaussagen wurden beiseite geschoben, die zahlreiche Polizisten auf dem Bahnsteig, die den Mord nicht bezeugen wollen, den Selbstmord nicht bezeugen können,
werden nicht belangt.

Beim Prozeß gegen Birgit geschieht umgekehrt das Unerhörte, daß ZeugInnen, die am Anfang aus frischer Erinnerung klar und deutlich sagten, daß Birgit keine Ähnlichkeit hat mit der
Käuferin des Tatfahrzeugs oder mit der Person, die den Pimental aus dem Western Saloon begleitete, nach 10 Jahren nochmals mit Fragen, Verhören, psychischem Druck, neusortierten
Bildern, Videos und manipulativen Gegenüberstellungen so beeinflußt werden, daß sie jetzt nicht mehr ausschließen können, daß Birgit wahlweise die Käuferin des Tatfahrzeugs oder die
Begleiterin von P. gewesen sein soll.

Die Soldaten vom Western Saloon und die Polizisten auf dem Bahnsteig sind auf jeden Fall dem kapitalistischen Rechtsstaat verpflichtet.

Auch die philosophisch tröstenden bzw. nachdenklichen Texte konnten die bedrückte Stimmung nicht auflösen, die aus der etwas ratlosen Unverbundenheit der Anwesenden resultiert
haben mag wie aus der Einsicht in die versäumten Proteste gegen die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, die mit dem Tod von Wolfgang Grams verbunden sind.

Technics und Hinweise

Das Prozeßinfo wird in Wiesbaden gemacht. Beiträge möglichst als Diskette auf Word for Windows 06 (oder 02). Bei Zusendung von Beiträgen, die nicht auf Diskette sind, bitte
unbedingt hochwertige Kopien feritgen !

Des öfteren besteht eine Möglichkeit zum Einskannern, so daß uns bei guter Vorlagenqualität unnötige Eintipparbeit erspart wird.

Material: Zeitungsberichte und Artikel und Beiträge aus linken Zeitschriften und Organen zum Prozeß und zu Birgit Hogefeld sind in Wiesbaden stes nur zufällig oder aufgrund von
Zusendungen verfügbar. So liegt auch der Zeitartikel, auf den die Zuschrift zu Info 2 + 3 Bezug nimmt, hier nicht vor. Wir bitten um Unterstützung durch Materialübermittlung. Die
Annahme, bestimmte Artikel seien mit Sicherheit hier, ist fast immer falsch. Vielen Dank !

Adresse: InfoAG zum Prozeß gegen B. Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Telefon nur: freitags 18- 20 Uhr: 0611 / 44 06 64

Da manchmal Prozeßtermine ausfallen, ist es vor allem für Leute mit weiter Anreise sinnvoll, kurz vorher bei der InfoAG anzurufen.

Vertrieb:

Die Nr. 6 wird verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 644, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, Fax: 030 / 6949354

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen

* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

n Weitere regionale VerteilerInnen werden gesucht, um hier in der Liste als Verteilstelle aufgeführt zu werden.

n InteressentInnen für die Zusendung von Einzelexemplaren wenden sich an eine dieser Adressen in ih rer Nähe, nicht nach Wiesbaden (Geld jeweils beifügen !)

Birgits Postadresse:

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach. 60256 Frankfurt

Veranstaltungen zum Prozeß:

Montag, 21. August 1995, 19 Uhr: Göttingen

T-Keller, Geismar-Land-Str. 19

mit Rechtsanwältin Ursula Seifert, Frankfurt

Veranstalterin: bunte / lila hilfe

Druckkosten des Info: Dringender Appell:

Der Druck des Infos wurde in Vergangenheit des öfteren kostenlos ausgeführt. Ab Info 7 müssen wir einen

Verkaufspreis festlegen. Darüberhinaus kann Info 7 nur gedruckt werden, wenn mindestens 1500 DM als Druckkostenvorschuß verfügbar sind.

Wir erwarten deswegen von allen Weiterverteilstellen, daß sie bei Verbreitung des Info Nr. 6 Geld sammeln und dieses bis 15. August 1995 auf folgendes Konto einzahlen:
Linke Projekte e.V., Wiesbaden, Wiesbadener Volksbank: Kto-Nr: 9 314 407, Bankleitzahl: 510 900 00

Stichwort: "InfoAG" Einzelpersonen müssen den Spendenaufruf nicht überhören !

Für Abo-Kosten werden wir in Info 7 eine andere Bankverbindung benennen.

Spendenkonto:

zu Verfahren Birgit Hogefeld und Todfesermittlungsverfahren z.N. Wolfgang Grams:

Sonderkonto V. Luley, "Bad Kleinen", Postbank Frankfurt, BLZ: 50010060, Kto-Nr.: 16072-603

für Birgits persönlichen Bedarf: Sonderkonto Birgit Hogefeld:

R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228

 Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 7

Ende September 1995

Prozeßbericht August bis Mitte September

Nach der Sommerpause begann am 21. August die Verhandlung des Komplexes Weiterstadt.

Im März 1993 sprengte die RAF den noch nicht bezogenen Knastneubau in Weiterstadt.

Die insgesamt 10 Männer, die sich in den Gebäuden befanden, wurden zuvor "evakuiert".

In dem Knast waren drei Männer zur Bewachung sowie 7 weitere, die dort schliefen. Diese Männer waren als Zeugen im Prozeß und schilderten den Hergang in jener Nacht.

Die Bewacher, zwei von einer Wach- und Schließgesellschaft und ein Justizbeamter, saßen biertrinkend vor der Glotze, als (wahrscheinlich) 4 Leute vermummt in die Pforte kamen, sie
aufforderten, sich zur Wand zu drehen und sie fesselten. Über die Bewaffnung des Kommandos gab es unterschiedliche Aussagen, die Wachleute waren nicht bewaffnet.

Die BesucherInnen stellten sich als Raf - Kommando Katarina Hammerschmidt - vor, ein Text wurde verlesen, in dem es, wie sich einer der Zeugen erinnerte, um politische Gefangene
ging. Dann wurde gefragt, ob noch mehr Leute im Gebäude seien und die Sprengung angekündigt, weswegen alle raus müssten. In Gebäude 11 schliefen noch 7 Azubis aus der
ehemaligen DDR, die sich für den Justizvollzugsdienst umschulen ließen. Diese wurden aus ihren Betten geholt, ebenfalls gefesselt und zur Pforte gebracht. Alle zehn wurden dann in
einem Kleinbus aufs Feld gefahren. Das Ganze dauerte etwa von 1.30 bis 4.50 Uhr.

Die Zeugen schilderten, daß sie die Aktion zeitweise für eine Übung hielten, vor allem, da das Kommando nicht brutall auf sie wirkte, niemand wurde geschlagen, einem wurden auf seine
Bitte die Handschellen gelockert, einer bekam auf Wunsch eine Zigarette, anderen, die, da sie aus dem Bett kamen, nicht viel anhatten, wurden Decken geholt. Vor allem die 7 Ex-DDRler
glaubten an eine Übung. Einer ist zwischendurch mal wieder eingeschlafen. Einer fragte: "Was seid denn ihr für ein Verein", auf die Antwort "RAF" erwiderte er:"Quatsch, die gibt's doch
garnicht mehr..." Es kam daraufhin zu einem Gespräch zwischen ihm und jemandem von dem Kommando, was aber leider keiner der Zeugen mehr wiedergeben konnte. Später kamen
noch so Sprüche wie: "Das kann doch nicht so lang dauern, einen Knast zu sprengen", "Bring mal `ne kalte Cola", oder "Die Übung Knastsprengung habt ihr aber nicht bestanden".

Einer der Wachleute fragte, ob vielleicht jemand die Bierflaschen verstecken könnte - das wurde ihm zugesagt.

Als der Bus abgestellt worden war, bekamen sie noch gesagt, sie würden bald gefunden werden und an einen Satz erinnerten sich alle Zeugen, nämlich, daß sie jetzt Zeit hätten, sich über
ihre Berufswahl Gedanken zu machen.

Nachdem sie den Explosionsknall gehört hatten, hat einer von ihnen einen Seitenschneider im Handschuhfach gefunden, mit dem dann eine der Ketten, mit denen sie gefesselt waren,
durchtrennt werden konnte. Zwei der Zeugen machten sich auf den Weg in Richtung JVA, um Hilfe zu holen. Dort begegneten sie einem Justizbeamten, der um halb sechs seinen Dienst
angetreten hatte. Auch er war als Zeuge geladen.

Er kam also um halb sechs mit dem Auto zum Dienst. Die Straße war mit rot-weißem Markierungsband abgesperrt: Ein Schild mit der Aufschrift "Knastsprengung in Kürze - Lebensgefahr
- schnell wegrennen! - RAF",

das dort angebracht war, nahm der Zeuge ab und fuhr weiter. Am Knast angekommen, wunderte er sich, daß das Tor halb aufstand und in der Pforte kein Licht war. Erst dann hat er
gesehen, daß es eine Explosion gegeben hatte. Nachdem er in Gebäude 11 nachgesehen hatte, ob den dort vermeintlich Schlafenden etwas passiert ist, fuhr er weg, um zu telefonieren. Als
er zurück kam, kamen ihm die beiden aus dem Bus entgegen und Polizei war auch schon da.

Soweit die Zusammenfassung der Zeugenaussagen zum Komplex Weiterstadt. An diesen fiel auf, daß sie sehr sachlich waren; der Sprachgebrauch derer aus der ehem. DDR unterschied
sich angenehm von dem gängigen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie in ihrer Schilderung Worte wie "politische Gefangene", "RAF", "Katarina Hammerschmidt war wohl eine RAF-
Kämpferin" benutzten, produzierte einige gequälte Gesichter im Saal. Auch die Versuche seitens der BAW und vom Richtertisch, über Nachfrage nach davongetragenen Verletzungen, gar
nachhaltigen Schäden, die Zeugen aufzustacheln, schlugen mehrheitlich fehl. Außer bei einem, bei dem schon aus den Akten ersichtlich war, daß er psychische und Alkoholprobleme hat.
Hier versuchte der Nebenkläger, es so hinzustellen, als seien diese auf den Überfall zurückzuführen. Als Birgits Anwalt Bertold Fresenius dann anhand der Akten klarstellte, daß es diese
Probleme schon vorher gab, taten BAW und Nebenklage furchtbar empört, als ob der Anwalt damit angefangen hätte, sowas in der Öffentlichkeit zu debattieren.

Dem Zeugen fehlte in seiner Erinnerung eine Stunde, dazu hatten die vernehmenden BKA-Beamten ihm nahegelegt, er solle sich wohl besser einen Anwalt nehmen. Der Zeuge hat sich
dann "freiwillig" einer Vernehmung unter Hypnose unterzogen. Das Ergebnis dieser Vernehmung hat er selber nie zu Gesicht bekommen. Dieser Zeuge ist vor Ostern 1995 nochmals
vernommen worden. Diese Vernehmung befindet sich nicht in den Akten. Ihm wurden 50 Lichtbilder vorgelegt und er wurde "zu seinem Umfeld" befragt. Die BAW lehnte ab, diese
Vernehmungsprotokolle zu den Akten zu nehmen, da dies weitere Ermittlungen gefährden würde.

Weitere Zeugen wurden (auch nach Eröffnung der Hauptverhandlung) zu Weiterstadt erneut vernommen, auch diese Protokolle fehlen in den Akten. Es geht dabei um eine rote Textilspur,
die auf dem Beifahrersitz des Kleinbusses gefunden worden sein soll. Einem Zeugen wurde (vor kurzem?) eine (rote?) Tasche oder Rucksack vorgelegt, was in den Akten nicht
dokumentiert ist und was sich erst jetzt in der Hauptverhandlung herausstellte. Auch scheinen die Vernehmungsprotokolle von 1993 unvollständig zu sein. So sagte ein Zeuge aus, er sei
damals 3-4 Tage vom BKA vernommen worden, in der Akte befindet sich aber nur ein Protokoll von einem Tag.

Auch die Aussagenprotokolle von dem VS-Agent Steinmetz (siehe Info Nr. 1, Seite 3) sind nicht vollständig in den Akten. Ein Teil der Aussagen ist vom BKA gesperrt, ein weiterer Teil
gehört angeblich zu einem anderen Verfahren. Birgits Verteidigung hat beantragt, alle diese fehlenden Akten zu bekommen.

Ein Verhandlungstag fiel aus, da Birgit aufgrund von Menstruationsbeschwerden nicht teilnehmen konnte. Zuerst war Zwangsvorführung angedroht worden, nach einigem Hin und Her
wurde unterbrochen bis Nachmittags. Richter und Staatsanwälte meinten, über das Befinden von Birgit mit männlichem Kenntnisreichtum debattieren zu müssen. Birgit hat dem
vorsitzenden Richter eine Binde auf den Tisch geworfen. Als er am Schluß fragte, ob sie "das Ding" wiederhaben wolle, antwortete Birgit, er könne es zu seinen Beweisakten legen.
 

Am 14.9. stellte sich dann heraus, was es mit der roten Faserspur auf sich hatte.

Das Gericht präsentierte ein neues BKA-Gutachten (von August 1995). Es ging darin um den Vergleich von Faserspuren, die an Gegenständen, die im Zusammenhang mit der Aktion in
Weiterstadt stehen, gefunden wurden, und solchen, die in Bad Kleinen beschlagnahmter Kleidung, Taschen etc. zugeordnet werden könnten.

Von Birgit wurden neben zwei T-Shirts, einem Tuch, Socken, Tasche, Badeanzug und Strickzeug eine weinrote Strickjacke und eine pinkfarbene Jogginghose "asserviert", das Gutachten
konzentrierte sich auf die Suche nach roten, pinkfarbenen und blauen Fasern, von der Kleidung des ermordeten Wolfgang Grams wurde eine blaue Hose in das Gutachten einbezogen.

Neben vielen anderen Faserspuren fanden sich auf dem Beifahrersitz des in Weiterstadt verwendeten Fahrzeugs und auf der Strickleiter auch weinrote Wollfaserspuren. Zwar hatten alle
Zeugen übereinstimmend ausgesagt, die an der Aktion beteiligte Frau hätte eine parkaähnliche Jacke in grau, beige oder ocker getragen, auch war von einer pinkfarbenen Hose nie die
Rede gewesen, aber dieses neueste Gutachten soll wohl erbringen, was der Anklage bis jetzt fehlte, nämlich den "Beweis" für Birgits direkte Tatbeteiligung in Weiterstadt. Bislang hatten
sie dazu nur einen Brief, den Birgit aus dem Knast geschrieben hat und der "als Beweismittel" angehalten und beschlagnahmt wurde, wegen einer Äußerung zu Weiterstadt.

Jetzt haben sie ein Gutachten, das besagt, daß auf dem Beifahrersitz des Kleinbusses zu einem unbestimmten Teitpunkt (jedenfalls nicht als letzte/r) mal jemand mit einem roten wollenen
Kleidungsstück gesessen hat. Diesem Gericht reicht sowas wahrscheinlich....

Beschlüsse in Stammheimer Tradition

OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN

BESCHLUSS

In der Strafsache

gegen Frau Birgit Elisabeth Hogefeld

geboren am 23. 7.1956 in Wiesbaden

z.z. in der Justizvollzugsanstalt

Frankfurt am Main III,

wegen Verbrechens nach [[section]] 129 a StGB u.a.

wird der Antrag des Herrn Hubertus Janssen, ihm eine Erlaubnis für einen nicht überwachten "Sonderbesuch" ohne Trennscheibe zu erteilen, abgelehnt. Stattdessen wird dem Antragsteller
eine Besuchserlaubnis der üblichen Art erteilt werden.

Gründe

Da der Antragsteller, der sich als "Pfarrer" bezeichnet, nicht als solcher in der Haftanstalt tätig ist, gehört er zum Kreis der anstaltsfremden Personen. Deren Besuche unterliegen gem.Nr.27
Abs.1UVollzO der Überwachung. .Außerdem finden nach Nr.6 des Haftstatuts vom 21.7.1993 mit Ausnahme von Angehörigenbesuchen sämtliche sonstigen Besuche bei der
Angeklagten mit Trennscheibe statt.

Hinsichtlich beider Sicherungsmaßnahmen ist es nach den genannten Regelungen ohne Bedeutung, ob der Antragsteller, wie von ihm behauptet, mit der Angeklagten "ein seelsorgerisches
Gespräch führen" will. Außerdem kann er diese Absicht ohnehin auch dann verwirklichen, wenn der Besuch überwacht wird und eine Trennscheibe vorhanden ist.

Schon im Hinblick auf die aus der Antragsbegründung ersichtlichen Kontakte des Antragstellers zu verurteilten RAF-Mitgliedern sowie im Hinblick auf den Inhalt seines an den
Senatsvorsitzenden gerichteten Schreibens vom 13.3.1995 beseht kein Anlaß, gem.Nr.48 Abs.3 Halbsatz 2 UVollzO von der Besuchsüberwachung abzusehen. In dem genannten
Schreiben hat der Antragsteller dem Senat u.a. vorgeworfen, dem "Element eines fairen, rechtsstaatlich angemessenen Verfahrens" "gröblich zuwiderzuhandeln" und beim Versuch einer
Gegenüberstellung der Angeklagten mit einem Zeugen gegen das "Kernprinzip der Menschenrechte und Menschenwürde" verstoßen zu haben. Es ist daher als naheliegend anzunehmen,
daß der Antragsteller einen nicht überwachten Besuch bei der Angeklagten dazu mißbrauchen würde, sie gegen den Senat aufzubringen und ggf.auch einen Nachrichtenaustausch
zwischen ihr und anderen RAF-Mitgliedern zu betreiben.

Bei dem "Sonderbesuch", dessen Erlaubnis beantragt worden ist, soll es sich offenbar um einen zusätzlichen, d.h.um einen von der seitens der Haftanstalt vorgesehenen Besuchszahl nicht
erfaßten Besuch handeln. Ob ein solcher zusätzlicher Besuch stattfinden kann, unterliegt nicht der Entscheidungsbefugnis des Senatsvositzenden. Dieser ist nur zuständig für die
Besuchsgenehmigung.Die Besuchsabwicklung einschließlich der Festlegung des Besuchstermins gehört dagegen zur Organisationszuständigkeit der Haftanstalt und des Hessischen
Landeskriminalamts, wobei für die Haftanstalt u.a.Nr.25 UVollzO maßgebend ist.

Frankfurt am Main, den 18.Juli 1995

Oberlandesgericht - 5. Strafsenat

Der Vorsitzende

i.V.

Dr.Klein

Richter am Oberlandesgericht

 
Aus:Presserklärung der Anwälte vom September 1995

Strafsenat behandelt Pfarrer als RAF-Symapthisanten

Herr Hubertus Janssen, Pfarrer, Bistum Limburg, und zugleich Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie, nimmt regelmäßig als Prozeßbeobachter und damit Teil
der Öffentlichkeit an der Hauptverhandlung teil. Im Frühjahr 1995 hatte er dem Vorsitzenden des 5. Strafsenats ein Schreiben übersandt, in dem er seiner Besorgnis über Verletzungen des
Rechtsstaatsprinzips und der Menschenwürde Ausdruck verlieh.

In der Folgezeit beantragte er auf Wunsch von Frau Hogefeld, ihm bei Frau Hogefeld einen unüberwachten Seelsorgerbesuch ohne Trennscheibe zu genehmigen. Darauf erließ das Gericht
den ... (obenstehenden) Beschluß, der nach Ansicht der Verteidligung für sich selbst spricht. Pfarrer Janssen wird darin unter anderem als "Antragsteller, der sich als Pfarrer bezeichnet",
tituliert.

Sein Schreiben an den Vorsitzenden nimmt das Gericht zum Anlaß, ihn als Staatsfeind und RAF-Sympathisanten zu behandeln, der nach Auffassung des Gerichts den Besuch zur
unerlaubten Nachrichtenübermittlung mißbrauchen könnte.

Der Beschluß verdeutlicht die Voreingenommenheit des Gerichts gegenüber jeglicher Kritik, insbesondere aber auch gegenüber der Angeklagten. Diese Voreingenommenheit bestimmt im
übrigen schon seit Prozeßbeginn im November 1994 das Verhandlungsklima in diesem Verfahren.

Als Verteidiger halten wir es aufgrund dieses Verhaltens des Gerichts für eminent wichtig, das Verfahren kontinuierlich und aufmerksam kritisch zu begleiten.

Ursula Seifert

Berthold Fresenius

Offener Brief des Sprechers des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Prof. Woff-Dieter Narr, an Richter Klein vom 9.9.1995

W.-D. Narr weist zunächst darauf hin, daß Hubertus Janssen, selbst Vorstandsmitglied im Komitee, im Auftrag der Organisation den Frankfurter Prozeß gegen Birgit Hogefeld beobachtet.

Er schreibt dann u.a.:

"Was würden Sie, sehr geehrter Herr Richter Dr. Klein, sagen, wenn ich in einem für Sie wichtigen, ja sogar rechtlich sanktionierten Zusammenhang formulierte: "Da der Antragsteller, der
sich als "Richter" bezeichnet,...". Mit dieser Äußerung haben Sie sich selbst ausmanövriert. Sie kommen als zuständiger Richter in diesem Verfahren schon deshalb nicht mehr infrage".

...Sie "leiten ... in einer aus Vorurteilen gespeisten Deduktion (= Schlußfolgerung, Herleitung) unerhörterweise ab, daß es "daher"(!) "naheliegend" sei, "anzunehmen, daß der Antragsteller
einen nicht überwachten Besuch bei der Angeklagten dazu mißbrauchen würde, dieselbe gegen den Senat aufzubringen, gegebenenfalls auch einen Nachrichtenaustausch zwischen ihr und
anderen RAF-Mitgliedern zu betreiben".

Das ist starker Tobak. Das ist erneut eine Unverschämtheit, die Ihnen als Richter in keiner Weise ansteht, die Sie vielmehr als Richter jedenfalls in dieser Sache als gänzlich ungeeignet
decouvriert (= erkennbar macht, entlarvt ). Sie haben nicht nur offenkundig - nun äußere ich meinerseits Vermutungen - Frau Hogefeld schon vorverurteilt, sie vorverurteilen auch
diejenigen sozusagen qua (=auf dem Weg der) Kontaktschuld, die sich zum einen um in U-Haft genommene Menschen kümmern, die mit darauf achten wollen, daß politisch getönte
Strafverfahren demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien und Verfahrensweisen strikt entsprechen ..."

Vollständig bei: Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. Bismarckstr. 40, 50672 Köln (2 DM in Briefmarken beifügen)

Neue Nachverurteilung in Stammheim

Prozeß gegen Sieglinde Hofmann schon vor dem Ende

...

(Junge Welt, 15.09.1995)

...

(Aus: Angehörigen-Info Nr. 172 vom 09.09.1995 - dort auch: Prozeß- erklärung von Sieglinde Hofmann, Erklärung ihrer Verteidiger u.a.)

Christian Klar im Hungerstreik gegen Haftbedingungen


 

Christian Klar, Gefangener aus der RAF und seit 13 Jahren inhaftiert, befindet sich seit dem 1. September 1995 im unbefristeten Hungerstreik, um auf die zunehmende Verschärfung seiner
Haftbedingungen aufmerksam zu machen. Besuche ehemaliger Gefangener, darunter Irmgard Möller, Günter Sonnenberg, Lutz Taufer, wurden verboten.

Bei Christian Klar wird die Zensur, das Anhalten von Briefen, Broschüren, Zeitungen besonders rigide gehandhabt. Auch seine Hungerstreikerklärung, mit der seinen Anwalt über seinen
Streik informieren wollte, wurde zurückgehalten. In der Erklärung heißt es: "Hungerstreik ist eine Kampfform, die die Brücke nach draußen sucht. Es ist der kämpferische Vorschlag, für
eine Zeit und für ein konkretes Ziel, die Kräfte zusammenzutun."

Dieser Satz wurde im Anhaltebeschluß als Aufforderung an andere Mitgefangene zum Hungerstreik interpretiert und somit kriminalisiert.

Christian Klar fordert die Aufhebung aller Besuchsverbote, die Zulassung von bis zu drei Personen bei Besuchen, die Aufhebung des Telefonverbots und die Achtung seines Rechts auf
Briefkontakte.

Im März 1995 hatte Christian Klar geschrieben:

...

(Vollständig in: Angehörigen Info vom 27.03.1995, Nr. 166)

Spitzel Steinmetz und kein Ende

Auto und Motorrad sowie Motorradkoffer des Spitzels Klaus Steinmetz, an denen Spuren des Weiterstadt-Sprengstoffes gefunden worden sein sollen, waren Konstruktionsbrücken für
BAW, BKA und LKA, um Ermittlungsverfahren gegen die letzte Nutzerin des Motorrads einzuleiten und Hausdurchsuchungen durchzuführen. Die Frau, eine Bekannte von Steinmetz,
hatte das Motorrad aus der Hinterlassenschaft des Spitzels erworben.

In Beschlagnahmebeschlüssen ist immer wieder die Rede davon, Spuren und Beweismittel für Mithilfe bei der Weiterstadter Logistik durch bislang Unbekannte aufdecken zu wollen.
Steinmetz wird nicht erwähnt. Die RAF hatte im März 1994 in einem längeren Text erklärt: "Weder Steinmetz noch GenossInnen aus dem Widerstand waren in irgendeiner Art an unserer
Aktion gegen den Knast in Weiterstadt (oder sonstigen Aktionen) beteiligt."

Stoßrichtungen und Zielsetzung der Ermittlungen bleiben recht undurchschaubar.

Die von den Durchsuchungen betroffene Wohngemeinschaft hat jetzt eine 13-seitige Dokumentation verfaßt: "Motorradkoffer und ein Dienstfahrzeug". Bestellung gegen 4 DM in
Briefmarken bei: Wohngemeinschaft, Fritzlarer Str. 18, 60487 Frankfurt.

Dokumentation

Erklärung der RAF zur Aktion in Weiterstadt am 27.03.1993

es hat sich nichts daran geändert, daß wir den einschnitt in unsere geschichte, den wir gemacht haben, brauchen und wollen. denn wir sind auf einen prozeß aus, in dem soziale gegenmacht
von unten und daraus eine neue vorstellung für den revolutionären umwälzungsprozeß entwickelt werden kann. das erfordert eine neue diskussion, in der sich die unterschiedlichsten
menschen finden und neue grundlagen und gemeinsame kriterien für diesen prozeß schaffen. es geht um den aufbau einer sozialen gegenmacht, die sich als relevante kraft in einem neuen
internationalen kampf für die umwälzung der zerstörerischen kapitalistischen verhältnisse einbringen kann.

es wird darum gehen, die sowohl international als auch innergesellschaftlich veränderte wirklichkeit umfassend zu begreifen und in diesem prozeß auch "den ganzen alten begriffsschrott
(der linken) abzuklopfen...", denn nur in einer tiefgreifenden auseinandersetzung wird es möglich werden, eine vorstellung zu gewinnen,

wie die verhältnisse revolutionär aufzuheben sind und nur aus diesem prozeß können die fragen nach den mitteln des kampfes und den konkreten formen der organisierung neu beantwortet
werden.

dieser prozeß hat für uns nach wie vor die größte priorität. die notwendigkeit dazu ist jeden moment spürbar,

wenn wir uns die rasante destruktive entwicklung des kapitalistischen systems vor augen halten. dieses system hat schon lange die ausgrenzung, das materielle und soziale elend und den
tod von millionen menschen im trikont hervorgebracht. heute ist die entwicklung der fortschreitenden grundsätzlichen krise dieses systems an einem punkt angelangt, an dem die zerstörung
der lebensgrundlagen selbst in den metropolen nicht mehr zu verdrängen ist und soziales und materielles elend auch hier zur realität von immer mehr menschen geworden ist und viele
spüren, daß die perspektive in diesem system für sie selbst nur hoffnungslosigkeit bedeutet. in dieser situation hat das fehlen einer sozial sinnvollen alternative als gesellschaftliche kraft
katastrophale auswirkungen.

während der staat die ausbreitung und eskalation faschistischer und rassistischer mobilisierung in der gesellschaft schürt und fördert und es z.b. mit seiner gezielten hetze gegen flüchtlinge
geschafft hat, einen großteil der aufbrechenden widersprüche in eine reaktionäre richtung zu kanalisieren, ist die situation auf unserer seite nach wie vor von vereinzelung und
desorganisation geprägt.

im august letzten jahres haben wir einen text geschrieben, in dem es uns um die reflektion unserer geschichte geht und wir gleichzeitig kriterien und überlegungen für die zukunft angerissen
haben; gedanken, die sich aus unserer auseinandersetzung in den letzten jahren entwickelt haben. diese gedanken sind für uns ausgangspunkt in der diskussion, die wir führen wollen.
natürlich sind neue fragen und überlegungen dazugekommen. auch wenn wir nicht viel resonanz auf unser papier bekommen haben, ist es unser bedürfnis, die diskussion weiter und
genauer zu entwickeln.

aus teilen der frauenbewegung gab es die kritik an uns, daß wir nur wenig auf ihre diskussionen eingegangen sind, die für teile von ihnen in den letzten jahren sehr wichtig gewesen sind,
wie die diskussion um rassismus. und auch durch die sich überschlagenden ereignisse wie z.b.in rostock ist es für uns dringend geworden, diese auseinandersetzung genauer zu führen.

wenn wir auch nach wie vor die verschärfung der lebensbedingungen hier und die umsichgreifende perspektivlosigkeit vieler menschen sowie das fehlen der linken als kraft als einen grund
für den zulauf bei den faschisten sehen, ist es auf der anderen seite aber auch klar, daß die wurzeln dafür, warum sich hier in der metropole, im neuen großdeutschland, die unzufriedenheit
in einem solchen ausmaß gegen fremde entlädt, tiefer liegen. damit müssen sich alle sehr bewußt auseinandersetzten. wie ein mosambikaner sinngemäß gesagt hat: bei uns sind die
menschen auch arm und trotzdem schlagen sie deshalb nicht auf die nächsten unter ihnen ein.

die auseinandersetzung über rassismus wird also sicher ein wichtiger teil beim aufbau einer gegenmacht von unten sein - die nicht im ghetto bleiben oder als abgrenzung zu anderen geführt
werden kann, sondern als frage ans eigene bewußtsein, wie jede/r sein will und welche gesellschaftliche entwicklung man/frau will.
daß da in der vergangenheit fehler gelaufen sind, kritisiert die autonome l.u.p.u.s.-gruppe in ihrem buch "geschichte rassismus und das boot": "so selbstverständlich und geübt es scheint,
heute über rassismen, über das `spezifisch deutsche`oder über deutsche einzigartigkeiten zu streiten, so selbstverständlich sah die revolutionäre linke in den letzten zwanzig jahren darüber
hinweg....was in der linken auseinandersetzung um patriachaliches verhalten unmöglich geworden ist, schien in der frage des deutsch-seins auffällig leicht zu fallen: wir haben damit nichts
zu tun."

die chancen, heute vieles anders zu machen und neues herauszufinden, sind groß: die frage nach dem aufbau einer gegenmacht von unten ist nicht ausschließlich eine frage an weiße,
deutsche linke, sondern eine frage danach, wie menschen, die hier leben, sich gemeinsam organisieren können. und die bevölkerung setzt sich hier aus menschen der unterschiedlichsten
nationalitäten und hautfarben zusammen.

"...der dialog mit schwarzen frauen muß nicht in fernen ländern stattfinden, sondern ist/wäre viel einfacher und intensiver mit den frauen möglich, die in der brd leben. die geschichte von
migrannt/innen und ihr wissen aus den herkunftsländern ist dabei für das begreifen internationaler zusammenhänge so wichtig wie ihre politischen meinungen und erfahrungen mit
rassismus und dem anderen sexismus, der sie hier trifft, für das verständnis der brd-gesellschaft..." (aus:"basta" - frauen gegen kolonialismus).

"...es war die 68er-bewegung, die das, was der faschismus nach dem judentum innerstaatlich am grausamsten verfolgt und ausgemerzt hatte, die linke, ihre werte, kultur und kontinuität,
wieder lebendig und berechtigt hat werden lassen in deutschland west. und wenn heute eine re-faschisierung läuft, dann breitet sie sich aus in jenem politisch-kulturellen vakuum, das diese
linke in ihrem rückzug aus einer gesamtgesellschaftlichen verantwortung und neusetzung von werten und einstellungen hinterlassen hat" (lutz taufer, gefangener aus der raf).

es ist eine aufgabe der linken, in ihrer praxis neue werte zu setzen und zu leben, ansonsten wird in der gesellschaft immer nur das hervorbrechen, was 500jahre kolonialismus im bewußtsein
der metropolenbevölkerung angerichtet haben: rassistische ideologie.das weiße herrenmenschenbewußtsein ist seit 500 jahren voraussetzung für kolonialistische und imperialistichen
ausbeutung der völker im trikont. es ist im bewußtsein der weißen metropolenbevölkerungen aus dieser geschichte vorhanden und wird in krisenzeiten von staat und kapital offen
mobilisiert.

rassismus heißt, menschen in "andersartige" und "mehr -" und "minderwertige " zu kategorisieren. so werden immer die kategorisiert, die im kapitalistischen produktionsprozeß entweder
nicht mehr gebraucht werden oder härter ausgebeutet werden sollen.

die zerstörung des sozialen unter den menschen ist die voraussetzung für rassismus. diese zerstörung bedeutet, daß auf der basis des kapitalistischen systems, dem 24-stunden-alltag von
leistung und konkurrenz, den menschen eigene kriterien geraubt und durch für den kapitalismus funktionale werte ersetzt wurden - am effektivsten in den metropolen. das zeigt sich z.b. am
verhältnis von arbeit und leistung als wertdefinition des menschen: ohne arbeit bist du nichts...es ist das verhältnis zur zeit, wo es für die meisten menschen zur normalität geworden ist, in
einem vollkommen vorbestimmten rhythmus und stress das ganze leben zu verbringen, in dem es keinen platz für kreativität und lebenslust gibt.

es zeigt sich daran, daß in diesem system alles zur ware wird, auch das verhältnis zur körperlichkeit, wobei natürlich die frauen am meisten dazu gezwungen werden, ihren körper als ware
zur schau zu tragen, die von männern konsumiert oder eben abgelehnt wird ...

es war und ist immer die voraussetzung für die herrschaft des kapitalistischen systems über den menschen gewesen, mit solchen kriterien auch tausend trennungen zwischen sie zu setzen:
die trennungen in mehr-und minderwertige; in leistungsfähige und "arbeitsscheue"; in schwarze und weiße; in männer und frauen; alte und junge ;kranke, schwache, behinderte und starke,
gesunde; in gescheite und "dumme".

dieser prozeß der zerstörung hat heute eine dimension erreicht, in der die gesellschaft in ein inneres um-sich-schlagen übergeht.

rassistisches bewußtsein wie überhaupt der destruktive prozeß in der gesellschaft kann nur in kämpfen, in denen soziale beziehungen und werte hervorgebracht und umgesetzt werden,
aufgeheoben bzw.umgekehrt werden. eine perspektive revolutionärer entwicklungen wird nur in solchen prozessen wieder vorstellbar werden.

entweder schafft die linke - und damit meinen wir alle, die auf der suche nach wegen sind, wie menschenwürdiges leben hier und weltweit durchgesetzt werden kann - einen neuen
aufbruch, der seine wirkung in die gesellschaft hat oder der "aufbruch" bleibt auf der rechten, faschistischen seite.

entweder wird von unserer seite aus eine basisbewegung von unten entwickelt, die von solidarität und gerechtigkeit, vom kampf gegen soziale kälte, perspektivlosigkeit und armut bestimmt
ist, oder die explodierenden widersprüche werden weiterhin destruktiv bleiben und die gewalt jede/r gegen jede/n eskalieren.

es gibt linke, die sich mit diesen fragen nach der gesellschaftlichen entwicklung, wie wir und auch andere sie gestellt haben, nicht auseinandersetzen wollen, weil dies reformistisch sei.
solche scheindiskussionen um revolutionär/reformistisch sind ohne jeden gebrauchswert für die neubestimmung revolutionärer politik; und auch im festhalten und beharren auf zeitlos alten
klarheiten wird niemand antworten auf die sich heute stellenden fragen finden. die gegenseitigen bestätigungen, daß die revolution international sein muß, sind banal - sie nutzen
niemandem, auch nicht den völkern im süden oder osten.

die wirklichen fragen fangen danach erst an, nämlich wie hier eine soziale gegenmacht aufgebaut werden kann, die aus den gemachten erfahrungen und eigenen fortschritten sich
tatsächlich als relevante kraft in die internationalen diskussionen und kämpfe einbringen kann. in diesem sinne ist der vorwurf an uns, wir würden eine neubestimmung nicht mehr im
internationalen zusammenhang suchen, inhaltlich genauso oberflächlich wie er absurd ist.

das draufstürzen auf das bemühen anderer, um zu sehen, wie man es zerreißen kann (oder ob es besser ist,sich dran zu hängen), ist eine alte rangehensweise der deutschen linken das
positive daran, daß in den diskussionen seit dem 10.4. letzten jahres innerhalb der radikalen linken zentnerweise alter mist-wie konkurrenz und abgrenzungsdenken oder verkrampftes
festhalten an alten rangehensweisen - hochkonjunktur erlebt hat, ist, daß er, so offen wie er nun dasteht,auch endlich überwunden werden kann.

die voraussetzung für die neubestimmung revolutionärer politik ist, daß jetzt die leute zusammenkommen, sich organisieren und handeln, die voneinander wirklich was wissen wollen und
neue gedanken zulassen und entwickeln wollen.

seitdem wir vor einem jahr die eskalation von unserer seite aus zurückgenommen haben, hat der staat die verfolgung fortschrittlicher menschen, die politische gegner/innen dieses systems
sind, teilweise noch verschärft: versuche, aus der vereinzelung heraus räume für eine andere entwicklung zu erkämpfen, werden nach wie vor nieder gemacht. herausragendes beispiel war
der versuch, den gegenkongress gegen den weltwirtschaftsgipfel in münchen von vorneherein zu verhindern, eine internationale diskussion unmöglich zu machen sowie die einkesselung
der demonstranten.

die antifaschistische organisierung wird kriminalisiert und antifaschistische demonstrationen wie in mannheim im sommer letztes jahr niedergeprügelt.

natürlich besteht ein zusammenhang zwischen dem niedermachen von selbstbestimmten ansätzen, der verfolgung und einknastung von antifas und der stärker werdenden faschistischen
mobilisierung.

die herrschenden wissen, daß alle maßnahmen, zu denen sie aus der krise gezwungen sind, die widersprüche im inneren verschärfen werden - sozialabbau, steigende wohnungsnot,
steigende arbeitslosigkeit, stahlkrise, krise in der autoindustrie...--reuter, chef von daimler benz, geht laut spiegel von 30 bis 50 jahren krise aus - das alles soll auf die bevölkerung abgewälzt
werden. gleichzeitig muß der staat eine irgendwie geartete mobilisierung für großdeutschland hinkriegen. wenn z.b. militärische einsätze der bundeswehr zwar unter der hand immer wieder
gelaufen sind - wie im krieg gegen den irak und gegen das kurdische volk - so geht es dem großdeutschen staat perspektivisch doch um eine andere dimension und um eine größere
akzeptanz auch hier im inneren für deutschland als militärmacht - da bleibt nicht viel anderes, als eine rassistische, weiße mobilisierung der - deutschen staatsbürger - in dem einen boot, was
diese gesellschaft im herrschenden kapitalistischen interesse noch zusammenhalten könnte.

während sie auf der einen seite also rassistische ausländer- und asylgesetze verabschieden und flüchtlinge hier zu "dem problem der deutschen" ganz gezielt in die köpfe der leute gepusht
haben, und damit die faschistiche mobilisierung überhaupt in diesem ausmaß auf den plan gerufen haben, übernehmen sie auf der anderen seite gleichzeitig die schirmherrschaft von
demonstrationen gegen fremdenhass wie in berlin ende letzten jahres. so soll auch noch die empörung vieler menschen gegen die faschistischen schläger und mörder für diesen staat
kanalisiert und funktionalisier werden. um zu verhindern, daß sich aus dieser empörung eine bewegung von internationaler solidarität der unterdrückten gegen die herrschenden und ihre
faschistischen schläger entwickelt, wurde wochenlang durch die medien gepeitscht: es ginge um gewalt, gewalt von links wie gewalt von rechts. während hier täglich ausländische,
behinderte und obdachlose menschen angegriffen werden und es allein`92 dabei 17 tote gegeben hat, stellte kohl sich hin und redete von extremismus von links und von rechts, der
bekämpft werden muß.

der jubel der herrschenden über den zusammenbruch des sozialistischen staatensystems und über den "großen sieg" des kapitalistischen systems ist schon seit einiger zeit verstumm t- diese
entwicklung hat das kapitalistische system in seine größte krise gestürzt. die herrschenden haben keine antworten auf diese krise - was nicht heißt, daß sie nicht trotzdem mit
menschenverachtenden planungen und maßnahmen versuchen, die situation da, wo sie noch können, zu regulieren.

es scheint, daß die einzige linie, die sie klarhaben, die bekämpfung der linken ist. da sollen alle niedergemacht werden,die auf eine antifaschistische und antirassistische mobilisierung von
unten und gegen die herrschenden interessen aus sind.verhindern wollen sie ansätze , wo menschen sich für ein von unten bestimmtes solidarisches lösen der probleme organisieren.

darüberhinaus führt der staat einen rachefeldzug gegen die alten kommunisten und antifaschisten, was sich exemplarisch an dem prozeß und der einknastung von gerhard bögelein gezeigt
hat, bis sie ihn kurz vor seinem tod rauslassen mußten.

alles, was an widerstandserfahrungen in diesem jahrhundert entwickelt worden ist, soll ausgemerzt werden. und genau diese haltung zeigt sich auch in dem umgehen des staates mit unseren
gefangenen genossInnen.

wir sind oft kritisiert worden, daß wir in der erklärung vom april letzten jahres unsere entscheidung zur zäsur mit der situation der gefangenen bzw. überhaupt mit dem staatlichen
vernichtungswillen verknüpft hätten.

wir haben jedoch den einschnitt in unsere geschichte immer mit der notwendigkeit begründet, neue grundlagen zu entwickeln, und gesagt, daß diese notwendigkeit unabhängig vom
staatlichen handeln existiert. aber uns war auch von anfang an dabei bewußt, daß unklar ist, wie der staat reagiert, wenn wir den druck von unserer seite aus wegnehmen, und deshalb
haben wir uns mit der drohung die möglichkeit offengehalten, da zu intervenieren, wo es notwendig ist, dem staatlichen ausmerzverhältnis grenzen zu setzen. im august`92 haben wir
geschrieben:

"wir werden die bewaffnete intervention dann als ein moment des zurückdrängens bestimmen und nicht als weitere strategie. wir werden also nicht einfach zum alten zurückkehren. diese
eskalation ist nicht unser interesse. aber der staat muß wissen, wenn er keine andere möglichkeit zuläßt, daß es auf unserer seite die mittel, die erfahrung und die entschlossenheit gibt, sie
dafür zur verantwortung zu ziehen".

es ist quatsch zu sagen, wir hätten damit uns bzw. die frage der weiterentwicklung revolutionärer politik von der situation der gefangenen abhängig gemacht, aber tatsache ist auch, daß
unser schritt z.b. auswirkung darauf hat, wie der staat mit der frage nach der freiheit der politischen gefangenen umgeht. das ganze ist eine widersprüchliche situation; damit müssen wir
umgehen und uns darin bewegen können. wir leben schließlich nicht im luftleeren raum.

nachdem wir den druck von unserer seite aus weggenommen hatten, hat sich der staat in bezug auf die gefangenen ein weiteres mal für die eskalation entschieden - das urteil gegen
christian klar und die neue prozeßwelle überhaupt sollen bei vielen das lebenslänglich zementieren; die entscheidung, bernd rössner nicht endgültig freizulassen; mit den letzten
ablehnungsbegründungen auf die anträge von gefangenen auf freilassung ist die staatsschutzjustiz da angekommen, sie zur psychiatrischen untersuchung zwingen zu wollen, womit sie
eingestehen sollen, ihr kampf, ihr aufbruch sowie ihre gegnerschaft zum system sei irrsinn.

die gefangenen sollen nicht zusammengelegt werden, denn sonst könnten sie in diskussionsprozesse und gesellschaftliche prozesse eingreifen - und noch viel weniger sollen sie draußen
sein. sie sollen nach wie vor vernichtet werden und ihre erfahrungen aus kämpfen von anderen ferngehalten werden.

es ist vollkommen klar, daß es eine politische entscheidung des staates erfordert, um vom ausmerzverhältnis gegen die gefangenen zu einem politischen umgang mit der gefangenenfrage zu
kommen - die politische ebene hat diese frage aber an die staatsschutzjustiz abgegeben, die natürlich erst recht nicht die entscheidung trifft, zu der die politik nicht willens ist.

sicher liegen nach wie vor tausend fragen auf dem tisch und eine solidarische diskussion, in der aus den gemachten erfahrungen der kämpfe in den letzten 25 jahren gemeinsam gelernt,
schlüsse für die zukunft und gemeinsame kriterien für eine neue vorstellung für den umwälzungsprozeß entwickelt werden können, hat noch kaum angefangen. aber es gibt grundsätze und
selbstverständlichkeiten, die nicht in frage gestellt werden müssen, von denen wir einfach ausgehen: z.b.das verhältnis zu unseren gefangenen genoss/Innen und der tatsache, daß der staat
seit 22 jahren politische gafangene in isolationshaft folter t- wir kämpfen für die freiheit dieser gefangenen.

wir werden nicht sagen: wir sind jetzt auf der suche nach einer neuen strategie und was mit ihnen derweil passiert, passt jetzt nicht in unser konzept.wir können einen neuen anfang, die
entwicklung neuer vorstellungen gar nicht losgelöst von der frage sehen, wie die freiheit unserer genoss/innen, die aus diesen 22 jahren kampf gefangen genommen wurden, erkämpft
werden kann. sie sind seit 22,18...jahren in isolation/kleingruppenisolation, es ist keine frage:

ALLE MÜSSEN JETZT RAUS !

die frage, ob die freiheit aller politischen gefangenen in einen gemeinsamen anstrengung aller linken und fortschrittlichen menschen durchgekämpft werden kann, hat aus unserer sicht auch
bedeutung dafür, ob wir es schaffen, in dieser phase der neubestimmung tatsächlich eine starke und selbstbewußte kraft, die gegenmacht gegen die herrschenden verhältnisse ist,
aufzubauen. wer heute schulterzuckend oder ohnmächtig akzeptiert, daß die gefangenen weiter dieser tortur unterworfen werden, weil er/sie denkt, daß unsere seite dagegen zu schwach ist,
wie soll er/sie darauf hoffen können daß wir in der lage sind, eine kraft aufzubauen, die die gesamten verhältnisse umwälzen kann ?

wir haben mit dem kommando katharina hammerschmidt den knast in weiterstadt gesprengt und damit auf jahre verhindert, daß dort menschen eingesperrt werden. wir wollen mit dieser
aktion zu dem politischen druck beitragen, der die harte haltung gegen unsere gefangenen genoss/Innen aufbrechen und den staat an dieser frage zurückdrängen kann. doch dafür, daß ihre
freiheit durchgesetzt werden kann, braucht es die unterschiedlichsten und vielfältigsten initiativen von vielen. im letzten jahr hatten wir versucht, trotz der zäsur politischen druck von
unserer seite aus an dieser frage über die drohung zu halten. das,was es dafür an wirkung und grenze hätte sein können, ist leider gerade von genoss/Innen aus dem linksradikalen spektrum
systematisch demontiert worden.

mit unserer aktion haben wir diesen druck jetzt neu gesetzt und die drohung aktualisiert. wir denken, daß das genutzt werden kann.

"wir fordern die schließung des knastes weiterstadt! weiterstadt ist als abschiebeknast konzipiert und auf verseuchtem gelände gebaut..."(aus einem diskussionspapier von gefangenen aus
stuttgart/stammheim,sept.`91).

der weiterstädter knast steht exemplarisch dafür, wie der staat mit den aufbrechenden und sich zuspitzenden widersprüchen umgeht :gegen immer mehr menschen knast, knast, knast - und
er steht als abschiebeknast für die rassistische staatliche flüchtlingspolitik.

in seiner technologischen perfektion von isolation und differenzierung von gefangenen menschen ist er modell für europa.

weiterstadt war neben berlin-plötzensee der zweite völlig neu konzipierte hochsicherheitsknast in der brd. mit begriffen wie "wohngruppenvollzug" wird er, mit seinem hochsicherheitstrakt
für frauen, als das "humanste gefängnis" in der brd dargestellt. hinter diesem begriff verbirgt sich jedoch ein wissenschaftlich weiterentwickeltes konzept zu isolierung, differenzierung und
totaler kontrolle der gefangenen. es ist das prinzip von belohnung und bestrafung in high-tech -form, das die gefangenen zur disziplinierung und unterwerfung zwingen und letztlich ihre
"mitarbeit", sich selber zu brechen, erreichen soll.

das elektronische überwachungssystem war wohl das teuerste und perfekteste in ganz europa, mit dem jede äußerung und bewegung der gefangenen kontrolliert werden und zur
auswertung für die psychologischen programme benutzt werden sollte, um jede regung von solidarität, freundschaft und selbstbestimmte organisierung zerstören zu können.

"bevor die gefangenen auf die einzelnen wohngruppen verteilt werden, urchlaufen sie die einweisungsabteilung. dort wird ein psychiaterstab die einzelnen gefangenen auf
anpassungsbereitschaft bzw. widerstandswillen durchleuchten. anhand der ergebnisse wird die aufteilung der gefangenen auf die einzelnen wohngruppen bestimmt. die wohngruppen sind
hierarchisch gestaffelt. angefangen von unbeugsamen und unkooperativen bis hin zu anpassungswilligen. das ziel: eine "karriere" des gefangenen durch aufsteigen von der untersten
(=unangepasstesten) in die höchste (=konformste) wohngruppe." (aus :info Blatt der `bunten hilfe`darmstadt).

dazu schrieb eine der frauen aus der plötze, die mit einem hungerstreik für die abschaffung des wohngruppenvollzugs gekämpft haben: "die situation ist gekennzeichnet durch ein ausmaß
an kontrolle und repression, wie es in seiner totalität kaum vorstellbar ist. die plötze ist sowohl architektonisch als auch personell so konzipiert, daß ein kontakt zwischen den frauen gar
nicht zustande kommt oder aber bis ins letzte detail registriert wird. die frauen werden in von einander abgeschirmte zwangsgemeinschaften gepfercht, in denen sie danach ausgesucht
werden, wie gut sie sich anpassen und wie sie sich am besten gegenseitig fertigmachen. die schallisolierten zellen haben eine gegensprechanlage, durch die die frauen jederzeit akustisch
überwacht werden können. die stationsgänge sind mit kameras bestückt und der gruppenraum, wo sich die gefangenen in der freizeit treffen, ist verglast- kurz die perfekte überwachung
jeder lebensäußerung..."

mit der lüge vom "humansten knast" wollte die justiz gefangene in anderen knästen auf deren verlegung nach weiterstadt einstimmen. jahrelang sind sie auf viele forderungen der
gefangenen in frankfurt-preungesheim nicht eingegangen, mit dem verweis, es gäb `93 den weiterstädter knast. was aber hat beispielsweise die forderung nach abbau der brutalen
betonsichtblenden in preungesheim mit weiterstadt zu tun? nichts. nicht mal die behauptung, durch weiterstadt (wo die überbelegung von vorn herein eingeplant war) würde sich die
situation der überbelegung für die gefangenen in preungesheim verändern, entspricht der realität. sie hat den propagandistischen zweck, zu vertuschen, daß sie immer mehr knäste bauen
(preungesheim soll nicht etwa geschlossen, sondern neu aufgebaut werden), mehr haftplätze schaffen und immer mehr menschen einsperren, was ihre antwort auf die gesellschaftliche
entwicklung ist.

der bau von knästen ist keine lösung für die (preungesheimer)gefangenen. ihre forderungen müssen erfüllt werden - knäste müssen abgerissen werden.

FREIHEIT FÜR ALLE POLITISCHEN GEFANGENEN !


FREILASSUNG ALLER HIV-INFIZIERTEN !

FREILASSUNG ALLER FLÜCHTLINGE, DIE IN ABSCHIEBEHAFT SIND !

SCHLIESSUNG ALLER ISOLATIONSTRAKTE !

WIR GRÜSSEN ALLE, DIE IN DEN KNÄSTEN FÜR IHRE MENSCHENWÜRDE KÄMPFEN -

IN PREUNGESHEIM, SANTA FU; PLÖTZENSEE, RHEINBACH, STAMMHEIM, STRAUBING

SOLIDARITÄT MIT DEN INTERNATIONALEN GEFANGENENKÄMPFEN !

DER WEG ZUR BEFREIUNG FÜHRT ÜBER DEN SOZIALEN ANEIGNUNGSPROZESS, DER TEIL WIRD IN EINEM NEUEN INTERNATIONALEN KAMPF FÜR DIE
UMWÄLZUNG !

RASSISMUS VON STAAT UND NAZIS BEKÄMPFEN !

RASSISTISCHES BEWUSSTSEIN IN DER GESELLSCHAFT IM KAMPF FÜR DAS SOZIALE UNTER DEN MENSCHEN AUFHEBEN - AUCH DAFÜR BRAUCHEN WIR
EINE BASISBEWEGUNG VON UNTEN, DIE VON SOLIDARITÄT UND GERECHTIGKEIT, VOM KAMPF GEGEN SOZIALE KÄLTE, PERSPEKTIVLOSIGKEIT UND
ARMUT BESTIMMT IST !

FÜR EINE GESELLSCHAFT OHNE KNÄSTE !

KOMMANDO KATHARINA HAMMERSCHMIDT 30.3.93

ROTE ARMEE FRAKTION

ps.:

die behauptung,wir hätten das leben der wachleute und untersten justiztypen allein aus "derzeitigen taktischen" gründen geschützt oder sie hätten ihr leben ausgerechnet kinkel zu
verdanken, ist natürlich eine lüge. die raf hat kein interesse daran, solche leute zu verletzen oder zu töten diese lüge liegt auf der gleichen linie wie die tatsache, daß die baw die
warnplakate, mit denen wir das gelände um den knast weiträumig abgesperrt hatten, unter den tisch fallen läßt - wo sie doch sonst am liebsten jede haarnadel zur fahndung ausstellen.

Informationen zum Weiterstädter Knastneubau / -wiederaufbau

Das Gelände, auf dem die Justizvollzugsanstalt (JVA) Weiterstadt gebaut/wiedererrichtet wird:

Im Zeitraum von 1904 bis 1967 ließ die Stadt Darmstadt auf einem 230 ha großen Gelände der Gemeinde Weiterstadt (ein Vorort von Darmstadt) Abwässer im Boden versickern.

Seit den 30-iger Jahren lagerte die Chemiefirma Merck im Hessischen Ried HCH (Hexachlorcyclohexan). Dieses Produkt aus der Pflanzenschutzmittelproduktion wurde bergeweise
aufgeschüttet, und nach Aussagen der AnwohnerInnen wehte die Substanz wie feiner Kalk durch die Luft. (HCH: ein Kontakt-, Freß- und Atmungsgift. Enthalten in dem Mittel Jacutin).

Bei Niederschlägen wurde das HCH in den Boden gespült.

Als die Anwohner/Innen über gesundheitliche Beschwerden klagten, begann Merck damit, das HCH kurzerhand im Boden zu vergraben. Bis heute sind die Stellen,an denen es vergraben
wurde, nicht alle bekannt. .Außerdem ist der Boden schwer mit Blei und Kadmium verseucht (durch Merck).

Die Fläche, die so stark verseucht war, daß eine Entsorgung des Bodens zu teuer gewesen wäre, wurde an das Land Hessen für den Gefängnisneubau verkauft.

Der Bau des Weiterstädter Knastes wurde mit den Stimmen der Grünen zu Zeiten der rot-grünen Koalition beschlossen.

Widerstand gegen der Bau der JVA:

Getragen und ausgerichtet wurde der Protest gegen den Bau des Hochsicherheitsknastes primär von der "Initiative für eine bessere Kriminalpolitik" (IbK), (1981/1982).

Die Initiative arbeitete vorrangig auf der öffentlich-publizistischen Ebene.

Von der IbK wurden bis 1984/85 zwei Demos und eine Veranstaltung mit der damaligen Abgeordneten im Europaparlament, Brigitte Heinrich, durchgeführt.

Als die Grünen in der hessischen Landesregierung saßen (1983), hoffte die Initiative mehr gegen den Bau der JVA bewegen zu können. Aber die Hoffnung darauf wurde zerstört, als die
Grünen zusammen mit der SPD im Parlament den Baubeginn beschlossen.

Bezüglich des Baus der JVA wurden viele Leserbriefe an die lokalen Darmstädter Tageszeitungen geschickt.

Es wurden Artikel in der Zeitung "Das andere Transparent" (Informationen zum hessischen Strafvollzug) und in der "Grünen Hessenzeitung" von Jutta Ditfurth veröffentlicht.

Auf einer bundesweiten Veranstaltung zum Weiterstädter Knastneubau kam das Thema Weiterstadt und "Wohngruppenvollzug" bundesweit in die Diskussion. (Die Bunte Hilfe Darmstadt
gab ihre erste Broschüre zu Weiterstadt heraus).

Der radikale Teil der Linken hatte sich bis dato nur am Rand mit Weiterstadt befaßt.

Nach und nach entwickelte sich eine stärkere Öffentlichkeit.


Die Öffentlichkeit und der Widerstand brachten Unruhe in die Planungen. So sollte Weiterstadt nach der Fertigstellung der ersten Trakte schon 1988/89 belegt werden Die anderen Trakte
sollten während der Nutzung der ersten Trakte bis 1992 fertiggestellt werden.

Baustelle/Gefangene - diese Kombination wurde aber dann als Sicherheitsrisiko eingestuft.

Die Erstbelegung wurde daher ersteinmal auf 1992 verschoben. Nach einer weiteren Verzögerung sollte die Erstbelegung am 1.April 1993 erfolgen.

Dem kam die RAF mit der Knastsprengung durch das Kommando "Katharina Hammerschmidt" am 27.3.1993 zuvor.

Der Knast:

Größe des Anstaltsgeländes:12 ha (12.000 qm).

Baubeginn:1986

Platz für 500 Gefangene:

420 Haftplätze für Männer

75 Haftplätze für Frauen

Der Knast ist insgesamt auf 700 Haftplätze erweiterbar.

30 Haftplätze für die integrierte Psychiatrie.

120 Haftplätze (Betten) im angeschlossenen zentralen Haftkrankenhaus.

Kirche, Sporthalle mit Schwimmbecken und Kraftsportraum, ein Gebäude als Zentrum für die Behandlung psychisch auffälliger Häftlinge.

Kosten 250 Mill.DM.

Fertigstellung und Erstbelegung: 1992.

Gefangene u.a. aus Preungesheim sollen nach Weiterstadt kommen. Preungesheim soll teilweise abgerissen und nach neuestem Stand der Repressionstechnik aufgebaut werden.

Vorbilder dieser Art von Knast wie Weiterstadt sind die Frauenhaftanstalt Berlin/Plötzensee und der Knast Zweibrücken. In den Knastneubau von Würzburg sollten erste praktische
Erfahrungen aus Weiterstadt einfließen.

Lage des Knastes:

Eine 1,6 km lange und 6,5 m hohe Außenmauer aus Betonfertigteilen umgibt die Gebäude. Integriert in diese Mauer sind 4 Wachtürme.

Vor der Mauer aufgeschüttet ist ein Erdwall, der mit Sträuchern/Bäumen bepflanzt ist. D.h. auch aus dem höchsten Stockwerk (3.Stock) gibt es keine Sicht nach außen. Umgekehrt keine
Sicht nach innen. Gebaut ist der Knast auf freiem Feld (Übersichtlichkeit!).

Es wurde eine eigene Zufahrtsstraße gebaut.

Verkehrsstrategische Anbindung:

BAB Darmstadt/Köln

BAB Frankfurt/Basel

Frankfurter Kreuz

15 Autobahnminuten bis zum Flughafen Frankfurt/Main.

Weiterstadt ist also auch wohl als Abschiebeknast konzipiert.

Die Flughafen AG (FAG) hat sich finanziell am Bau der JVA beteiligt.

Es gibt keine Busverbindung zum Knast, d.h. Anwälte und Besucher sind auf eigene KfZ angewiesen.

Innenstruktur:

2 Frauentrakte

5 - 7 Männertrakte

Krankenstation

interner Sportplatz

Heizkraftwerk

Werkstätten für Männer und Frauen

Mehrzweckgebäude (auch für Gerichtsverhandlungen wie in Stammheim geeignet).

Zu- und Abgangstrakt für 14 Männer und 13 Frauen.

Notstromaggregat zur autarken Stromversorgung.

Die Versorgungsschächte liegen sabotagesicher in der Mitte der Gebäude.

Die eigene Trinkwasserversorgung durch einen Brunnenbau gesichert werden, damit man von der Außenwelt unabhängig ist. Jedoch ist HCH im Grundwasser vorhanden.
Integriert wird ein zentrales Knastkrankenhaus für Südhessen.

Für die gesamte JVA gilt Sicherheitsstufe 1 (höchste Sicherheitsstufe).

Die Zellen/Gruppenräume:

Die Zellen sind schallisoliert und aus fugenlosen Betonfertigteilen gebaut. Jede Zelle wird durch eine Gegensprechanlage akustisch überwacht (Die Grünen berichteten euphorisch, daß es
keine Türspione mehr gäbe !).

Laut eines Berichtes des Teilnehmers einer offiziellen Führung durch den Rohbau gingen die Planungen soweit, den Türanstrich nach Geschlechtern zu variieren: rosa Türen für weibliche
Gefangene und hellblaue für männliche Gefangene.

Die Gruppenräume sind verglast und abhörbar, die Gänge kameraüberwacht sowie Werkstätten und Besuchsräume.

Konzeption der Architektur:

Ursprung: NATO-Arbeitsgruppen entwickelten Knäste dieser Sorte im Rahmen der Widerstandsbekämpfung. Es gibt die Knäste in den USA (z.B.in Butner) und in Europa
(Spanien,Frankreich, GB, BRD).

Die einzelnen Trakte in der JVA Weiterstadt sind nach dem "Telefonstangenplan" angeordnet.

Dieser Bauplan löst den Schachtel- und Strahlenplan ab.(Zeichnung).

Die Zellen in den Trakten können flexibel genutzt werden. Von Isolation in der Einzelzelle bis hin zum "Wohngruppenvollzug". (Diese Möglichkeit des "Wohngruppen-vollzugs" wurde
von den Grünen als Knastreform gepriesen).

Die Trakte unterscheiden sich nicht von Hochsicherheitstrakten. Die Trakte sind in "Wohnbereiche" unterteilt. Je 10 -20 Personen können dort aufgenommen werden.

Zu jeder Wohngruppe gehört eine Teeküche, ein Gemeinschaftsraum, ein Hofabschnitt. Im "Wohnbereich" haben die Gefangenen während der Freizeit Schlüssel zu ihren Zellentüren.

Intern kann jede "Wohngruppe" von allen anderen Gefangenen isoliert werden.

Die verschiedenen Gebäude sind stockwerksweise mit Plexiglasgängen verbunden. Die Gänge sind kameraüberwacht. "Wohn-gruppen" z.B. können von einem Gebäude ins andere
gebracht werden, ohne das Stockwerk zu wechseln. Diese Konstruktion hat bei der Knastsprengung durch die RAF mit zu dem hohen Sachschaden beigetragen, weil sie die Erschütterung
der Explosion vom Verwaltungsbau in andere Gebäude weiterleitete, wodurch deren Statik geschädigt wurde.

Es gibt zwar keine Sichtblenden vor den Zellenfenstern, jedoch liegen die Fenster gegenüber von Verwaltungsgebäuden, d.h. eine unkontrollierte Kommunikation zwischen den
Gefangenen (z.B. durch Pendeln) ist schwierig. Zwischen den "Wohngruppen" besteht keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme, jede Gruppe ist von der anderen vollständig getrennt. Der
Infoaustausch zwischen Gängen, Blöcken, Etagen ist unmöglich.

In Weiterstadt gibt es 2 Frauentrakte, die im Blickbereich von einem der 4 in die Außenmauer integrierten Wachtürme liegen. Diese Trakte sind mit einem zusätzlichen Stahlgitternetz
umgeben.

Hier sollen Frauen eingeknastet werden, die nach [[section]] 129 a verurteilt worden sind.Z.B. Frauen aus der RAF, die in Preungesheim sind.

Vermutlich sollen bestimmte andere Trakte zur Internierung von AIDS-Infizierten genutzt werden.

Zauberformel "Wohngruppenvollzug":

Im "Wohngruppenvollzug" fließen die Ergebnisse aus der Deprivationsforschung, Gehirnwäscheforschung und Gruppendynamik zusammen.

Der Anfang hier in der BRD bezüglich des "Wohngruppenvollzugs" wurde 1980/81 mit dem "Modellknast" (Hochsicherheitstrakt) in Berlin/Plötzensee (Frauen-JVA) gemacht. Der
Hochsicherheitstrakt ist das Modell des zukünftigen Strafvollzugs, d.h. die sogenannten "Wohneinheiten" unterscheiden sich kaum vom Hochsicherheitsvollzug.

Die "Wohngruppe" ist ein ausgeklügeltes Vollzugsinstrument, d.h. bevor die Gefangenen auf die einzelnen "Wohngruppen" verteilt werden, kommen sie in die Einweisungsabteilung. Dort
werden sie von Psychiatern/Psychologen umfassend durchgecheckt. Nachdem ein Gutachten erstellt worden ist, wird festgelegt, wie die einzelnen Gefangenen auf welche"Wohngruppen"
verteilt werden. Dabei sind die "Wohngruppen" hierarchisch gestaffelt: Von "Wohngruppen" mit Unbeugsamen bis hin zu denen mit anpassungswilligen Gefangenen. Die sog. "Mitarbeit"
des Gefangenen an seiner "Karriere" wird belohnt (z.B. Aufstieg in eine nächsthöhere Gruppe). Wer sich der Verhaltenskonditionierung nicht unterwirft, wird bestraft mit Einzelisolation,
Einkaufsverbot, Streichung schon erworbener Privilegien, Postentzug etc.

Ein Merkmal der neuen Knäste ist, daß die Zahl der SozialarbeiterInnen und PsychologInnen fast genauso hoch ist wie die der SchließerInnen.

Jeder Kontakt zu anderen Gefangenen, jede Lebensäußerung wird überwacht. In den Zwangsgemeinschaften können kooperative Gefangene gegenüber unkooperativen aufgewiegelt
werden, so daß sich die Gefangenen in den Gruppen gegenseitig fertig machen. Therapie- und Gesprächswilligkeit wird belohnt, Verweigerung bestraft. Die Verweigerung einzelner kann
mit Repressalien gegen die ganze Gruppe beantwortet werden.

Bislang gab es Hochsicherheitstrakte nur für politische Gefangene. Jetzt wird die totale Zugriffs- und Isolationsmöglichkeit auf alle Gefangene ausgedehnt. Der Übergang zwischen
Einzelhaft und "Wohngruppe" ist fließend.
 

Arbeitszwang:

Zum "Therapieprogramm" gehört der Arbeitszwang. In den modernen Knästen steht für jede/n Gefangene/n eine Arbeitsmöglichkeit zur Verfügung. In der Plötze/Berlin arbeiten
gefangene Frauen für 80 Pf/Std. nach Akkordvorgaben. Wird der Akkord nicht erfüllt, gibt es 10 % Lohnabzug. Es herrscht in der Plötze in der Schneiderei absolutes Sprechverbot.

Bei Nichteinhaltung gibt es Haftverschärfung.

Wer die Arbeit verweigert, sitzt rund um die Uhr in Isolationshaft.

In Weiterstadt hat sich bereits Mercedes Benz angemeldet. Der Automobil- und Rüstungskonzern möchte neben der JVA eine Art Lager und Werkstatt aufbauen.

Literatur:

* Weiterstadt: Der high-tech - Knast, Isolationshaft und Gehirnwäsche als Normalvollzug - Information zum Frauenknast Plötzensee. Bunte Hilfe Darmstadt, 3.Auflage, April 1993, S.2 5
(darin enthalten: "Menschen im Hotel", aus: Konkret Nr. 11/88, Hamburg 1988).

* Mescalero:Zeitung über politische Gefangene Nr.1, S. 13 -18.

* Interim, Nr.234, 1.April 1993, S.13 -15.

* Bunte Hilfe Darmstadt: Info Nr.2

* Frankfurter Rundschau, Montag, 29. März 1993, S.18.

* Bezüglich der Geschichte der Knastarchitektur sei empfohlen:

* Winfried Reebs: Die Suche nach dem richtigen Vernichtungsbau - Geschichte der Knastarchitektur -, 2.Auflage, Trotzdem-Verlag, Grafenau-Döffingen 1987.

Redebeitrag der InfoAG zur Trierer Veranstaltung (7.Juli )

Zum Frankfurter Prozeß von November bis heute

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld läuft seit November 1994 vor dem Staatsschutzsenat des OLG Frankfurt. Von den fünf Richtern, die diesem Senat angehören, sind drei schon seit mehr
als zehn Jahren in diesem Geschäft. Dieses Trio Schieferstein, Klein und Kern hat in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen, daß sie keinen Millimeter von dem politisch
motivierten Verurteilungswillen der Bundesanwaltschaft und der Verfolgungsbehörden abweichen und an politischer und juristischer Aufklärung von Sachverhalten nicht das mindeste
Interesse haben. Hier sei das Startbahn-Verfahren erwähnt, wo bis heute unklar geblieben ist, was in der Nacht des 2.11.1987 an der Startbahn wirklich geschehen ist. Auch übrigens, ob
und inwieweit der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Steinmetz in dieses Geschehen involviert war. Auf juristische Korrektheit haben sie dabei nie besonders achten müssen, zumal der für
eventuelle Revision zuständige 3. Senat beim Bundesgerichtshof eine lange Tradition in der politischen Justiz hat; er war schon in den 50er Jahren für die KPD-Prozessse zuständig.

Fordert die Verteidigung juristische Selbstverständlichkeiten ein, reagiert der Senat völlig unsouverän mit plumpen Machtdemonstrationen.

Die Anklage gegen Birgit, in der ein mehrfaches lebenslänglich angelegt ist, basiert im wesentlichen auf Schriftgutachten. Zu begutachten waren hier jeweils Unterschriften auf
Kaufverträgen bzw. Mietverträgen für Autos. Damit soll ihre Beteiligung an dem Anschlag auf Tietmeyer und auf die US Air-Baise bewiesen werden. Zu dem Anklagepunkt "Weiterstadt"
hat die Anklage gar nichts zu bieten, zu Bad Kleinen, wo Birgit wegen Mord an dem GSG-9-Mann Newrzella und "6-fachem Mordversuch" angeklagt ist, ist unbestreitbar, daß Birgit in
Bad Kleinen war und bereits verhaftet und gefesselt war, als die Schießerei losging. In der Anklage gegen sie wird als wahr vorausgesetzt, daß Newrzella von Wolfgang Grams tödlich
getroffen wurde; hier machte Birgits Verteidigung bereits in ihrem Einstellungsantrag deutlich, daß dies aufgrund der Beweismittelvernichtung und -manipulation nicht als wahr
vorausgesetzt werden kann. Die Geschosse, die Newrzellas Körper entnommen wurden, waren mehrere Tage "verschwunden", bevor sie bei einem Gutachter wieder "auftauchten", der
dann erst feststellte, daß sie aus Wolfgangs Waffe stammen sollen. Andere Hinweise, wie zum Beispiel der Einschußwinkel sprechen eher für die These, daß Newrzella von seinen
Kollegen getroffen wurde. Bekanntlich ist bis heute nicht geklärt, wieviele und welche GSG-9-Waffen in Bad Kleinen eingesetzt wurden.

Auf die vielen Beweismittelmanipulationen und staatlichen Lügen im Zusammenhang mit Bad Kleinen näher einzugehen, würde jetzt den Rahmen sprengen. Die Verteidigung hat für die
Begründung ihres Einstellungsantrags zwei Tage gebraucht, so umfangreich ist dieses Thema. Die Bundesanwaltschaft hat in ihrer Presseerklärung am Tag der Ermordung von Wolfgang
Grams und der Verhaftung Birgit Hogefelds wider besseres Wissen veröffentlicht, der Schußwechsel sei von Birgit eröffnet worden.

Diese absichtliche Lüge und die Isolationshaft bis kurz vor Prozeßbeginn verdeutlichen exemplarisch, wie vder Prozeß laufen soll, nämlich so wie alle RAF-Prozesse. Der Haftbefehl
gegen Birgit lautete nur auf Mitgliedschaft in der RAF. Von Beweisen für die Beteiligung an konkreten Aktionen war darin noch keine Rede. Alle angeblichen Beweismittel, die jetzt im
Prozeß präsentiert werden, sind auf Aktivitäten der Ermittlungsbehörden nach Birgits Verhaftung zurückzuführen. D.h. ZeugInnen wurden erneut befragt, Schriftgutachten neu erstellt und
ältere revidiert, bis sich sowas wie eine Beweismittelkette ergibt.

So erfolgt auch die Auswahl, welche ZeugInnen zu den jeweiligen Komplexen geladen werden. Es werden längst nicht alle ZeugInnen geladen, die es zu den jeweiligen Komplexen gibt,
sondern nur solche, die das, was die Anklageschrift vorgibt, in einem - und sei es auch nur so winzigen - Detail wie Augenfarbe bestätigen.

Die Richterbank hat ihren Fragenkatalog; was ein Zeuge zu sagen hat, interessiert nur insoweit, wie sie ein Häkchen an die Anklagekonstruktion machen können. Das geht soweit, daß sie
Zeugen, die sich ganz offensichtlich nicht mehr erinnern das auch deutlich machen, solange Detailfragen - z.B. nach Augenfarbe - stellen, bis der Zeuge sagt, die Augen könnten so und so
gewesen sein oder er könne nicht ausschließen, daß sie so und so waren. - Das ist dann ein Häkchen. Ein Beweismittel.

Dazu kommt, daß in den Akten der Verteidigung große Teile fehlen, so daß oft nicht nachvollziehbar ist, wie ein Zeuge zu seiner heutigen Aussage gekommen ist, die manchmal im
Widerspruch zu früheren Aussagen steht wo - wie bei der "O-Bein-Zeugin" - ganz neue "Aspekte" ins Spiel gebracht werden: Diese Zeugin, die bei früheren Lichtbildvorlagen nicht
Birgit, sondern eine andere erkannt haben wollte, will sie nach deren Verhaftung an den angeblichen O-Beinen erkannt haben. Von O-Beinen war in keiner vorangegangenen Vernehmung
je die Rede. Diese Zeugin ist neben dem Schriftgutachten der einzige sog. "Beweis" für den Anklagepunkt Tietmeyer.

Auch im Komplex Airbase Frankfurt gibt es nur Schriftgutachten, die auf 5-7 Buchstaben, nämlich Unterschriften auf Kauf- bzw. Mietverträgen von Autos basieren. Die
Bundesanwaltschaft hofft hier, daß es im Prozeßsaal zu einer Identifizierung von Birgit kommt. Denn auch hier gibt es nur einen Zeugen, der sich im übrigen bei früheren Vernehmungen
auf seine Kurzsichtigkeit berief und der erst nach Bad Kleinen plötzlich behauptet, Birgit als die Frau wiederzuerkennen, die mit dem GI Pimental im "Western-Saloon" war.

In der Anklageschrift steht, die Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung werde zeigen, ob eine konkrete Beteiligung der Angeklagten nachweisbar sei.
Nun ist eine Gegenüberstellung einer Angeklagten im Prozeßsaal aufgrund der Suggestivwirkung zwar nicht unzulässig, aber unüblich. Birgit entzieht dieser Zeugenmanipulation den
Boden, indem sie sich mit dem Gesicht zur Wand setzt.

Wie absurd diese Wiedererkennung nach 10 Jahren ist, zeigen allein die uns bekannten Zeugenbeschreibungen zu der Frau aus dem "Western-Saloon" - diese variieren von groß und
schlank, blaue Augen bis klein und dunkle Augen. Daß es bislang nur zweimal soweit kam, daß Birgit einem Zeugen gewaltsam gegenübergestellt wurde und sie es ansonsten bei der
Androhung von Zwangsmitteln belassen, ist jedoch nicht auf Einsicht der Richterbank zurückzuführen, sondern vermutlich auf die Öffentlichkeitsarbeit der kirchlichen
ProzeßbeobachterInnen.

Wiedererkennung nach zehn Jahren: das ja jede und jeder bei sich selbst beobachten, wie vage das ist: z.B. bei einem Klassentreffen oder besser: bei einem Schultreffen.

Letztens haben wir anläßlich des Prozeßberichts über Augenfarben unterhalten, weil ein Zeuge von blauen oder grünen Augen gesprochen hatte, und da sagte einer aus unserer Gruppe zu
mir, grüne Augen gibt es doch gar nicht. Nun habe ich aber zufällig grüne Augen ....

Anfang Juli war eine Zeugin, die Mutter der O-Bein-Zeugin, im Prozeß. Sie ist auch erst durch ihre Vernehmung 1993 wenige Tage nach Bad Kleinen zu der "Erkenntnis" gekommen,
daß es sich bei der Automieterin von 1988 um "Frau Hogefeld" gehandelt habe. Genau so hat sie es auch gesagt. Zu der Farbe der Augen hatte sie 1988 gesagt, daß sie blau waren. Dabei
blieb sie auch gestern, ergänzte jedoch angesichts der Angeklagten, die eben keine blauen Augen hat, daß sie ja blaue Haftschalen getragen haben könnte ...

Diese Zeugin machte deutlich, was bei vielen Zeuginnen und Zeugen schon erkennbar, daß ihre Wiedererkennungsleistung längst nicht mehr an ihren eigenen Wahrnehmungen orientiert
ist, sondern daran, ob sie "das richtige" Foto ausdeutet, nämlich Birgit Hogefeld. Sie fragte sich eben nicht, ob sie nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt hat, sondern
fragte 1993 die Vernehmungsbeamten, ob sie es "gut" gemacht habe. Diese Mischung aus Autoritätsgläubigkeit und Leistungsdenken macht die Manipulierbarkeit fast aller Zeuginnen und
Zeugen aus. Bei manchen kommt dann noch eigener Verfolgungswillen und das Gefühl, Teil in einem großartigen Krimi zu sein, hinzu.

Mal ganz abgesehen davon, daß vielleicht der eine oder die andere noch darauf spekuliert, von dem hohen Kopfgeld etwas abzubekommen, von dem auf jedem Fahndungsplakat die Rede
ist.

Erwähnenswert ist auch noch der Aspekt der Einschüchterung - die meisten sich rechtschaffen dünkenden Bürger und Bürgerinnen kriegen ja schon einen Schreck, wenn ein Polizeiwagen
vor ihrem Haus hält. Z.B. die alte Dame, die es "gut" machen wollte, wurde zur Vernehmung 1993 mit einem "Peterwagen" abgeholt, also mit einem Gefangenentransporter. Weiß der
Uhu, woran diese alte Frau da gedacht haben hat, jedenfalls war ihre erste Frage nicht, worum es denn eigentlich gehe, sondern, ob sie sich noch schnell eine Tasche packen könne.

Einschüchterung ist auch ein wesentliches Moment, Prozeßöffentlichkeit zu verhindern. Vor dem Gerichtsgebäude schon ein Aufgebot an Maschinengewehren und schußsicheren Westen.
Dann die Durchsuchungen, die ja schon öfter geschildert wurden. Inzwischen kam es schon mehrmals zu Festnahmen von Leuten, die den Prozeß regelmäßig besuchen; einmal wurden 4
Leute im Prozeßgebäude abgegriffen und 4 Stunden festgehalten; einmal zwei Frauen unmittelbar nach Prozeßende. Was ein Spaltungsversuch sein sollte, aber eher das Gegenteil bewirkt
hat.

Schieferstein und Konsorten sind auch verantwortlich für die Haftbedingungen von Birgit. Birgit hat wie alle politischen Gefangenen Sonderhaftbedingungen. Zwar ist sie nicht mehr in
Isolationshaft, besuche bei ihr finden aber mit Trennscheibe statt und müssen von Schieferstein bzw. Klein genehmigt sein. Im Monat: 2 Besuche von einer Stunde. An sie gerichtete Briefe
und Briefe von ihr unterliegen der politischen Zensur und werden willkürlich verzögert. Ihr letzter an eine Briefschreiberin aus Wiesbaden war fünf Wochen unterwegs. Oder z.B. drei
Karten, die sie an Georges Cipriani, einen Gefangenen aus Action directe, geschickt hat - die wurden erst nach 2 Monaten überhaupt weitergeleitet. Oder Briefe von ihr oder an sie werden
als "Beweismittel" beschlagnahmt.

Dazu gehört auch, daß bislang kein einziges Interview mit ihr stattfinden konnte, auch die bürgerlichen Medien bekommen dafür keine Genehmigung.

Birgit hat vor längerer Zeit eine Prozeßerklärung angekündigt; daß sie sie bis heute nicht gehalten hat, ist in erster Linie wohl auf diese Kommunikationseinschränkungen zurückzuführen.
Birgit ist ja in der besonderen Situation, etwas zu den Diskussionen bei der RAF in den letzten Jahren, vor allem zu den Erklärungen von 1992 sagen zu können und gleichzeitig jetzt als
einzelne, aus der politischen Isolation heraus, agieren zu müssen.

1992, zu dem Einschnitt, hatte die RAF gesagt, "wir haben mehr Fragen als Antworten". Das, was sie versucht haben, nämlich eine breitere Diskussion zu initiieren um die
Neubestimmung linker Politik und ihrer eigenen Rolle darin, ist nicht gelaufen. Stattdessen unzählige Spaltungen, darunter die Spaltung unter den Gefangenen als krasser Ausdruck des
Zerfalls insgesamt.

Staatlicherseits läuft alles, um diese Spaltungen und den Zerfall weiter zu forcieren, wie kürzlich durch die 80 Hausdurchsuchungen, die laut Kanther in erster Linie zur Einschüchterung
der Linken dienten - oder die neuen Kronzeugenprozesse gegen Gefangene aus der RAF, die schon zwischen 13 und 17 Jahren im Knast sind. Wenn es nach ihnen geht, soll von dem
Aufbruch linker Politik vor fast 30 Jahren im Nachfolgestaat des Nazi-Regimes nicht mehr übrig bleiben als einige lebenslänglich eingemauerte Gefangene.

Das Instrumentarium der Sondergerichtsbarkeit, der politischen Justiz wurde in den 70er Jahren verfeinert, angelegt wurde es schon unter Bismarck. Die ersten Experimente mit
Isolationshaft haben die Nazis gemacht. Das Nazi-Regime hat auch das System der Sondergerichte etabliert. Das ist vom Prinzip auch heute so, daß große politische Verfahren nur vor den
Staatsschutzsenaten der Oberlandesgerichte verhandelt werden, insbesondere die in Stuttgart-Stammheim, Düsseldorf und Frankfurt. (Die Bundesanwaltschaft hat einen gewissen
Entscheidungsspielraum, vor welchem Oberlandesgericht sie Anklage erhebt.) Von diesen werden auch nach wie vor die Haftbedingungen gegen politische Gefangene bestimmt. Gegen
diese Sonderhaftbedingungen gibt es eine lange Geschichte von Kämpfen, ich erinnere nur an die vielen Hungerstreiks. Jede Kleinigkeit, wie z.B., daß Mütter ihre Kinder ohne
Trennscheibe sehen können, mußte erkämpft werden. Daran, wie der Staat die politischen Gefangenen behandelt, wurde immer viel deutlich über die Realität hier und vom Grundsatz her
hat sich da kaum was verändert.

Ich möchte ein Zitat von Birgit vorlesen:

"Jetzt kurz zu meiner eigenen Biographie: Zu dem, was mich vor sehr vielen Jahren erschüttert und betroffen gemacht hat und meinen Lebensweg mit beeinflußt hat, gehören auf jeden Fall
der Bericht eines vietnamesischen Gefangenen über die Folter in dem Gefangenenlager Poulo Condor und die letzten Notizen des sterbenden Siegfried Hausner. (Siegfried war
schwerstverletzt nach Stammheim gebracht worden, er wollte mit einem Rechtsanwalt sprechen, und sie müssen ihn immer wieder gezwungen haben, Namen und Adressen von Anwälten
aufzuschreiben. Er hat es mehrmals gemacht, seine Schrift wird immer zittriger - verschwimmt - Siegfried muß kurz darauf gestorben sein.

Es war für mich beruhigend zu erfahren, daß Wolfgang nach dem Kopfschuß nicht noch mal bei Bewußtsein gewesen ist, so konnten sie ihn nicht mehr quälen.

Irmgard Möller ist jetzt im 22. Jahr in Haft, Ali Jansen wird trotz schweren Asthmas nicht freigelassen, die neue Prozeß-Welle soll gegen viele GenossInnen lebenslange Gefangenschaft
zementieren, ich selber bin in Totalisolation.

In der Unmenschlichkeit und Brutalität dieses Staates gegen die politischen Gefangenen habe ich immer eine besondere Schärfe der allgemeinen Entwürdigung und Verachtung gesehen,
die sich hier gegen die Menschen richtet, und ich konnte daran den Charakter dieses Systems, seinen unbedingten Vernichtungswillens gegen alle, die ihm feindlich gegenüberstehen, früh
erfassen und begreifen.

Der Tod von Holger Meins - ich war damals 17 Jahre alt - war ein tiefgreifender Einschnitt in meinem Leben und hat seine Richtung mitbestimmt - genauso wie heute der Tod von
Wolfgang und die Umstände seiner Tötung im weiteren Leben einiger junger Menschen eine Rolle spielen wird.

"Wir führen in vielen Sprachen den gleichen harten erbarmungslosen und opferreichen Kampf, und dieser Kampf ist noch nicht zuende. Die Vernichtung des Nazismus und seiner Wurzeln
ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit unser Ziel."

Das ist der Anfang des Schwurs der KZ-Häftlinge von Buchenwald - in dieser Tradition habe ich mich, meine Lebensentscheidung und unseren Kampf immer gesehen" (Juli 1993). l

 
 

Herausgeber: InfoAG zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Neue Telefonzeiten (0611/44 06 64): nur: mittwochs 19-20 Uhr und freitags: 20-21 Uhr

Spenden für Druckkosten des Info dringend auf Kto: "Linke Projekte" Wiesb. Volksbank (BLZ: 510900 00) Kto-Nr. 9314407 - Stichwort: InfoAG

Vertrieb über regionale Vertriebsstellen

Die Nr. 7 wird verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 644, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, Fax: 030 / 6949354

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen

* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

n Weitere regionale VerteilerInnen werden gesucht, um hier in der Liste als Verteilstelle aufgeführt zu werden.

Info 8 fehlt
 

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld


Nr. 9
Wiesbaden, Januar 1996

Prozeßbericht Dezember 1995


Anfang Dezember wurde wider Erwarten doch noch mit der "Beweisaufnahme" zum Komplex Bad Kleinen begonnen.

Geladen war der Lokführer Tannert zu seinen Beobachtungen im Bahnhof von Bad Kleinen.

Zuvor wurde ein älterer Antrag der Verteidigung aus dem Komplex Tietmeyer zurückgewiesen. Hierbei ging es um die Zeugin Chorfi (Autovermietung), die erst nach offenkundigen
Manipulationen behauptete, Birgit Hogefeld sei die Automieterin gewesen, auf Bildern jedoch bis heute immer wieder eine andere Frau (Sigrid Sternebeck) ausgedeutet hatte.

Dann ordnete das Gericht an, Birgits Körpergröße feststellen zu lassen, weil die Ladung des Beamten aus Wismar, der diese Maßnahme am 27.6.93 vorgenommen hat, zu aufwendig sei.
Stattdessen wird der Erkennungsdienst des Polizeipräsidiums in Frankfurt mit der Durchführung dieser Zwangsmaßnahme beauftragt. Begründet wird diese angeordnete Gewaltanwendung
angesichts der wegen "Bad Kleinen" zahlreich erschienenen Presse damit, daß dies kostengünstiger sei, schließlich handele es sich ja um Steuergelder.

Der Termins- und Ladungsplan, dem Angeklagte und Verteidigung entnehmen können, daß "Bad Kleinen" vom Gericht auf die Tagesordnung gesetzt ist, war ihnen wie schon häufig sehr
kurzfristig, nämlich mit nur einer Woche Vorlauf, zugegangen. D. h., die Verteidigung hat oft nur knapp eine Woche Zeit, sich auf einen Verhandlungstag vorzubereiten. Das sind genau 4
"Werktage", um sich mit Birgit abzusprechen, evtl. nachgelieferte Akten zu lesen, nicht zur Verfügung stehende Akten bei Gericht einzusehen, sich weitere Informationen zum Thema zu
beschaffen, Anträge zu formulieren...usw. Das ist, wie Birgit ausführte, bei dem so komplexen Punkt Bad Kleinen viel zu kurzfristig, weswegen sie und ihre Verteidigung Zurückstellung
der Beweisaufnahme beantragte.

Der Anklagepunkt "Mord und mehrfacher Mordversuch" in Bad Kleinen ist in zweifacher Hinsicht politisch brisant. Nicht nur die Dreistigkeit, Birgit trotz der unbezweifelten Tatsache,
daß sie zu dem Zeitpunkt, als geschossen wurde, bereits Gefangene war und gefesselt und geknebelt in der Unterführung lag, anzuklagen wegen des bei der Schiesserei umgekommenen
GSG-9-Beamten Newrzella und wegen der Möglichkeit, daß weitere GSG-9-Beamte hätten getötet werden können (Mordversuch).

Die politische Brisanz liegt auch darin, daß die Anklage davon ausgeht, daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten erschossen habe, was aus der Faktenlage keineswegs eindeutig
hervorgeht. Hier soll die allein durch Staatsräson durchgesetzte, keineswegs bewiesene offizielle Version der Ereignisse in Bad Kleinen festgeklopft werden, nämlich daß Wolfgang Grams
den GSG-9-Beamten und anschließend sich selbst erschossen habe.

Birgits Anwalt Kieseritzky, der auch mit der Vertretung von Wolfgangs Eltern befasst ist, brachte einen weiteren Grund ein, der der Verhandlung des Komplexes Bad Kleinen zum jetzigen
Zeitpunkt entgegensteht. Er war, zusammen mit Rechtsanwalt Groß, während der Ausarbeitung des Antrages zur Klageerzwingung wegen Mordes an Wolfgang Grams aus einer der
Anwaltspraxis gegenüberliegenden Wohnung akustisch und optisch überwacht worden. Diese Ausspähung mittels Videokamera, Richtmikrofon, Fotoapparat und Telefonanzapfung ist,
jedenfalls nach derzeit noch geltendem Recht, illegal und damit ein Verfahrenshindernis, weil dadurch das Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist.

Der vorsitzende Richter Schieferstein versuchte angesichts der anwesenden Presse, RA Kieseritzky an der Verlesung seines Antrages zu hindern, er wollte dessen nicht-öffentliche
Einführung im "Selbstleseverfahren" durchsetzen. Das heißt wohl, daß mit solchen Versuchen, die öffentliche Verlesung von Anträgen der Verteidigung, die politisch brisante Punkte
behandeln - derer es ja gerade im Komplex Bad Kleinen viele gibt - noch öfter zu rechnen ist. Richter Klein unterbrach, als Kieseritzky anstelle des gängigen "man" geschlechtsneutral
mensch benutzte. Das sei unseriös. Denen ist aber auch nichts peinlich.

Ein weiterer Antrag zur Zurückstellung des Anklagepunktes Bad Kleinen betraf die schon oft festgestellte Unvollständigkeit der Akten. So existieren beispielsweise von dem Zeugen
Tannert weitere Vernehmungsprotokolle, die nicht in den Prozeßakten sind. Aus der Akte der Staatsanwaltschaft Schwerin zu Bad Kleinen geht hervor, daß nicht, wie behauptet, nur eine
Sorte Munition durch die GSG-9 eingesetzt war, sondern noch vier weitere Munitionstypen. Die Beiziehung der schweriner Bad Kleinen- Akte war bereits im Dezember 1994 beantragt
worden, bis heute liegt keine Entscheidung des Gerichts dazu vor, was bezeichnend für dessen Ignoranz gegenüber der Angeklagten und ihrer Verteidigung sei, stellte Rechtsanwältin
Seifert fest.

Bundesanwalt Hemberger beantragte die Zurückweisung aller Anträge, die BAW habe keine weiteren Akten und zu der Ausspähung der Anwälte Kieseritzky und Groß könne er nur
sagen, daß keine deutsche Staatsanwaltschaft oder Bundesanwaltschaft illegale Maßnahmen tätige, was er nochmals wiederholte, weil er befürchtete, es könnte wegen des Lachens im
ZuschauerInnenraum untergegangen sein

Alle Anträge wurden durch das Gericht zurückgewiesen, es gehe hier nur um den Anklagepunkt der "Mittötung" Newrzellas und diesbezüglich sei das alles irrelevant.

Die in dem ganzen Komplex Bad Kleinen von Anfang an angelegte Vertuschung und Verwirrung nimmt also vor diesem Gericht ihren weiteren Verlauf.

Der Zeuge Tannert schilderte, daß er sich zu Beginn der Schießerei, die er erst für "Remmidemmi" hielt, mit einer Kollegin auf dem Bahnsteig 3 / 4 vom Lokfenster aus unterhielt. Als die
Kollegin von einem Streifschuß am Arm verletzt wurde, gingen sie hinter der Lok in Deckung. Schüsse und Rufe hatte er gehört, bevor er Personen aus der Unterführung die Treppe
hochkommen sah. Nur bei einer Person hat er einen "Ja, soll ich nun sagen, Pistole oder pistolenähnlichen Gegenstand" gesehen. Daß diese Person einen Rucksack trug, wurde von ihm
nach Vorhalt bestätigt. Dieser Rucksack nahm als Identifizierungsmerkmal von Wolfgang Grams in der Befragung durch die Richterbank einen breiten Raum ein.

Bei den Verfolgern hat er keine Waffen gesehen, was sich die BAW durch nochmaliges Nachfragen bestätigen liess. Völlig unklar, was sie mit der absurden Vorstellung, ihre Elite-Truppe
der "Terrorismusbekämpfung" GSG-9 ginge ohne Waffen zum Einsatz, anfangen können - in die Berichterstattung der Presse floß dieses Bild allerdings ein.

Nachdem die Schießerei beendet war, hatte der Lokführer nochmals aus dem Fenster geschaut. Er schilderte, daß viele Leute herumstanden, zwei Personen lagen auf dem Bahnsteig bzw
im Gleis. Zuerst hatte er nur von einer liegenden Person (Newrzella) gesprochen, die BAW fragte aber nach der im Gleis liegenden Person, also Wolfgang Grams, ob bei ihr jemand etwas
aufgehoben habe. Hier unterbrach Richter Klein, weil diese zweite Person nicht Newrzella sei und nur um den ginge es hier. Die BAW begründete, daß es um die Waffe von Wolfgang
Grams ginge, die Frage wurde zugelassen und von dem Zeugen prompt mit "Ja, Pistole, silbergrau" beantwortet. Ob denn da noch mehr Leute waren bei der Person im Gleis und was die
getan hätten, fragte die BAW weiter. Das wußte der Zeuge nicht mehr und die BAW hielt ihm aus seiner damaligen Aussage vor, nach der eine Person mit beiden Händen eine Waffe auf
den Oberkörper des Liegenden gerichtet hielt. Hier unterbrach das Gericht erneut, diesmal Kern. Es ginge immer noch um die Waffe, sagte BAW Hemberger. In dem folgenden Hin und
Her zeichnete sich ab, daß diese Frage, da sie zu nah an der Frage ist, wer Wolfgang Grams erschossen hat, vom Gericht nicht zugelassen wird. Der Vorsitzende Richter machte nochmals
klar, daß es hier nicht um die Aufklärung des Todes von Wilfgang Grams ginge, sondern um die der Angeklagten angelasteten Anklagepunkte. Dann wurde die Mittagspause eingelegt -
nachmittags war die Presse nur noch in der üblich dünnen Besetzung vertreten.

Nachdem die letzte Frage der BAW endgültig abgelehnt war, war die Verteidigung mit der Zeugenbefragung dran. Hier kam die vom Gericht eingeleitete Marschrichtung voll zum Tragen,
kaum eine Frage der Verteidigung wurde zugelassen. Nicht nur weitere Fragen, z. Bsp. nach dem Rucksack, wurden abgeblockt, sondern auch solche, deren Beantwortung
möglicherweise die fragwürdige Version, Wolfgang Grams habe Newrzella erschossen, noch durchsichtiger machen könnten. Auch wurde damit die zeitliche Einordnung der jeweiligen
Beobachtungen des Zeugen verhindert. Chronologisch weiter: Der Zeuge wurde befragt, ob er sich erinnern könne, ob er folgendes bei seiner ersten, zweiten oder dritten Vernehmung
gesagt habe: "Ich sah einen Mann im Gleiskörper liegen, in etwa 1 m Abstand war ein anderer Mann, dieser zielte mit einer Waffe auf den Oberkörper des im Gleis liegenden." Das Gericht
lehnte auch diese Frage ab, obwohl der Anwalt deutlich machte, daß es um die Erinnerungsfähigkeit des Zeugen geht und daß es absurd ist, die beobachteten Vorgänge in Sekunden zu
zerstückeln.

Fragen wie die, ob der Zeuge bei den Vernehmungen belehrt wurde, ob der Zeuge Erfahrungen mit Schußwaffen (Wehrdienst, Schützenverein) habe, gingen unbeanstandet durch.

Dann fragte die Verteidigung, ob denn die erste Person schon eine Waffe in der Hand hielt, als sie die Treppe hochkam. Nein, erst später, sagte der Zeuge, nämlich als er schon oben war.
Gleichzeitig wurden bereits Schüsse aus Richtung Treppenaufgang abgegeben. In der weiteren befragung tauchten auch noch weitere von dem Zeugen wahrgenommene Waffen auf, auch
"längere Waffen" bei vermummten GSG-Beamten, die "von allen Seiten" kamen, auch in (seinem) Zug waren. Hubschrauber hat er auch wahrgenommen, und zwar grüne, aus Richtung
Schwerin kommend - das Gericht unterbrach die Befragung, das täte nichts zur Sache. Der Anwalt begründete, daß die Schußverletzung bei Newrzella schräg von oben nach unten verlief
und assoziert Pressebilder von GSG-9-Männern, die auf Hubschrauberkufen stehend Schießübungen abhalten. Weitere Fragen zu den Hubschraubern werden nicht zugelassen.

Dann ging wieder eine Frage durch, es wurde nochmals deutlich, daß der Zeuge Schußgeräusche wahrgenommen hat, bevor Leute aus dem Tunnel auf den Bahnsteig 3 / 4 kamen. Der
Anwalt kam nochmal auf den Rucksack, dem ja auch das Gericht schon ein großes Gewicht beigemessen hatte, wer diesen unter den Kopf des im Gleis liegenden gelegt habe. Ob es zivil
gekleidete oder Sanitäter waren, wußte der Zeuge nicht mehr. Zu welchem Zeitpunkt, ob da noch der Mann mit der auf den Liegenden gerichteten Waffe stand - das Gericht beanstandete
die Frage, sie wurde nicht zugelassen. Die Verletzungen des im Gleis Liegenden hat der Zeuge nicht gesehen, die Liegeposition - - das Gericht unterbricht, frsage abgelehnt. Ob er sich
erinnern könne, wie die Person lag - auch diese Frage wird abgelehnt. Ob die liegende Person etwas in den Händen hatte zum Zeitpunkt, als der Rucksack unter dessen Kopf lag - Nein. In
welcher Stellung lag die Person zu diesem Zeitpunkt - Frage vom Gericht abgelehnt. Von wo aus wurde der Rucksack unter den Kopf geschoben - Frage abgelehnt....

Es ist, wie die Anwälte mehrmals deutlich machten, schon juristisch absurd, ein Geschehen von einigen Minuten in Sekunden zu zerstückeln, die Beobachtungen eines Augenzeugen von
diesem nur in bruchstückhaften, zeitlich nicht zu ordnenden Schlaglichtern schildern zu lassen und zu würdigen und sowas auch noch als Beweisaufnahme zu verstehen. Erstrecht wo, wie
in diesem Fall, so viele Unklarheiten über die tatsächlichen Abläufe bestehen.

Nach diesem ersten Verhandlungstag wird deutlich, daß es nicht nur nicht um die Aufklärung der Todesumstände von Wolfgang Grams geht, wie der Vorsitzende Richter mehrmals
betonte, sondern auch, daß es im Grunde garnicht um die Aufklärung der tatsächlichen Abläufe am 27.6.93 im Bahnhof von Bad Kleinen geht. Es soll auch keine Beweisaufnahme zu den
Todesumständen des GSG-9-Beamten zugelassen werden. Auch dies war, wie die Vertuschung und Beweismittelvernichtung bezüglich des Mordes an Wolfgang Grams, die Praxis der
gegen sich selbst ermitelnden Behörden von Anfang an, in die sich dieses Gericht, was nicht anders zu erwarten war, nahtlos einfügt. Der Leichnam des GSG-9-Beamten wurde erstaunlich
schnell beerdigt, die ihm entnommenen Projektile waren nach der Obduktion "verschwunden", um einige Tage später wieder aufzutauchen, die Schußverletzungen werden, obwohl sie aus
verschiedenen Winkeln und Höhen auftrafen, alle Wolfgang Grams zugeordnet, Begründungsnotstände notdürftig mit unbewiesenen und teils absurden Hypothesen überbrückt, die
dadurch, daß sie von einem Sachverständigen mit Doktortitel vorgetragen werden, nicht weniger absurd werden.

Am 12.12. war Dr. med. Wegner, Leiter eines rechtsmedizinischen Instituts in Schwerin, als Zeuge und Sachverständiger da. Er hatte die Obduktion von Newrzella durchgeführt und trug
sein Ergebnis vor.

In aller Kürze: 4 Schußverletzungen, davon eine im Oberkörper, von oben nach unten abfallend, die anderen im Beinbereich, horizontal verlaufend. Er hat dem Körper zwei Projektile
entnommen, das aus dem Oberkörper war zweifelsfrei die Todesursache. Die Projektile hat er einer BKA-Beamtin übergeben, den Namen weiß er nicht mehr. Zum Ablauf: Er hatte in den
Nachrichten von "den Vorfällen" in Bad Kleinen gehört und damit gerechnet, wie üblich sofort hinzugezogen zu werden. Üblich wäre auch, daß er bzw. der diensttuende Rechtmediziner
zusammen mit der Mordkommission eine Leichenschau am Ort des Geschehens durchführe, in diesem Fall wurde er jedoch erst am nächsten Tag einbezogen. Vor der Obduktion fand eine
Besprechung mit dem BKA statt, "wie es jetzt weitergeht", was er als "sehr angenehm" empfand, da er "die Verantwortung nicht alleine tragen" wollte.Die BKA'ler machten die
Befunddokumentation, sie hatten dazu ihre eigenen Köfferchen mitgebracht. Erkennungsdienstliche und kriminaltechnische Untersuchungen liefen z. T. während, z. T. nach der
Obduktion. Die Projektile waren nicht fotografiert worden und wie schon gesagt, waren sie anschließend "verschwunden".

Rechtsanwältin Seifert fragte, wie genau er sich die Projektile angeschaut habe und ob er sie noch beschreiben könne. Er beschrieb sie als stark verformt, inhomogen, aufgepelzt usw. .Zu
Metallsplittern, die er dem Körper Newrzellas entnommen hatte, sagte er, er könne nicht sagen, ob diese aus dem Kern oder der Ummantelung des Geschoßes stammen; ob sie asserviert
wurden, daran konnte er sich nicht erinnern.

Die Bekleidung des Newrzella lag ihm nicht vor. Diese hätte, wie er auf Befragung angab, die Bestimmung der Schußrichtung erleichtert und die Bestimmung der Schußentfernung
ermöglicht.

Der Gutachter war darauf vorbereitet, zu ihm bekannten Widersprüchen und Lücken Hypothesen vorzutragen. So führte er die Hypothese von dem weit vorgebeugt rennenden Newrzella
von sich aus ein, als eine mögliche Erklärung für den von oben nach unten verlaufenden Schußkanal. Zur Überbrückung der Dokumentationslücke bezüglich der Projektile hatte er ein
Fachbuch mitgebracht.

Am 21.12. ging es nochmal um Weiterstadt. Mehrere Zeugen hatten ausgesagt, daß bei dem Kommando Katharina Hammerschmidt eine Frau dabei war, die gesprochen bzw. "Befehle
erteilt" habe. Das BKA hat sich eine Stimmprobe von Birgit "beschafft" und daraus eine Kasette mit mehreren Vergleichsstimmen aus der Region Karlsruhe produziert, da einer der
Zeugen aus der ehemaligen DDR von süddeutschem Dialekt gesprochen hatte. Der Zeuge hat zwar auf der Kasette nicht Birgits Stimme identifiziert, sondern eine der Vergleichspersonen
als ähnlich bezeichnet, dennoch ist der manipulativen Charakter dieser Kasette zu erwähnen. Birgits Stimme ist die einzigste, die den Text flüssig spricht, außerdem sticht sie dadurch
hervor, daß sie keinen karlsruher Dialekt redet. Da von Hamburg aus das Rhein-Main-Gebiet jenseits des "Weißwurstäquators" liegt, ist süddeutscher Dialekt ein sehr vager Anhaltspunkt,
zumal dies nur von einem der Zeugen gesagt wurde - die anderen sprachen von Hochdeutsch/kein Dialekt bzw. hessisch. Sollte die Kasette weiteren Zeugen vorgespielt werden, wäre ihr
manipulativer Charakter - wie in so vielen Fällen in diesem Verfahren - offensichtlich.

Im Januar wird es weiter um Bad Kleinen gehen.

 
 

Besen, Besen, seid's gewesen...


- Zu Birgits Brief an das Info - (Info 8, Seite 4)

Die InfoAG ist keine homogene Gruppe und wollte das auch nicht werden. Es stimmt allerdings, daß sich dies im Info nicht ausdrückt. Wir haben mehr oder weniger versucht, unsere
Unterschieden und Differenzen so zu berücksichtigen, daß alle mit dem Info halbwegs einverstanden sind.

Dieser Umgang hieß aber auch, unsere Differenzen untereinander zum Teil nicht auszutragen. Da spielt der Zeitfaktor eine Rolle, aber auch, daß es dafür keine gemeinsame Entscheidung
gibt. So erscheinen wir im Info als homogene Gruppe, Widersprüche hinterlassen ihre Spur zwischen den Zeilen oder als schiefe Kompromisse, die wenig fruchtbar sind. Oder anders, was
wir fordern, praktizieren wir auch untereinander nicht. So spiegelt es sich im Info wieder. Die Auseinandersetzuhngen, die wir, auch untereinander, in unterschiedlicher Intensität führen,
werden aus dem Produktionsprozeß des Infos ausgelagert. Die Frage, ob das anders geht und ob wir das ändern wollen, bzw ob eine solche Auseinandersetzung überhaupt notwendig oder
sinnvoll ist, würde von jeder/m von uns verschieden beantwortet.

In dem Text in Info 5 sind Gedanken aus unseren Diskussionen zusammengerührt, wir haben Wahrnehmungen, Erfahrungen, Beobachtungen und unseren Ärger darüber zusammengballt
und nach außen projeziert. Richtig zufrieden war mit dem veröffentlichten Text niemand von uns, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. So wurde aus unseren - im einzelnen
sinnvollen - Fragestellungen ein Rundumschlag, eine Gewitterwolke. Jetzt gehts uns wie dem Zauberlehrling mit den Geistern, die er rief.

Eine aus unserem Kreis hat im letzten Info geschrieben, wir hätten einen großen Diskussionsbedarf mit anderen - dazu sind die Vorstellungen unter uns aber unterschiedlich. Sie hat
geschrieben, daß wir die Gemeinsamkeit haben, daß wir die Ausgrenzung von anderen Menschen und deren Meinungen nicht praktizieren wollen, ich gehe davon aus, daß das so für jede/
n von uns stimmt. Wir müssen uns aber auch selbstkritisch damit auseinandersetzen, wo und warum das dennoch "passiert". Und wenn Birgit oder andere aufgrund dessen, was sich im
Info ausdrückt, zu dem Eindruck kommen, wir wollten nicht mit anderen reden, reicht es nicht, dies mit ehrlicher Empörung zurückzuweisen. Wie ein solcher Eindruck zustande kommt,
warum sich in unserer Produktion offensichtlich nicht wiederspiegelt, was eine aus unserem Kreis über uns und unser Wollen geschrieben hat - diese Fragen sind so nicht zu beantworten.

Unser Umgehen mit Birgits Brief in Info 8 wurde von LeserInnen als Eiertanz charakterisiert. Wir haben sowohl zum Inhalt des Briefes als auch zum Umgang mit der Auseinandersetzung
darum unterschiedliche Auffassungen, die Methode Eiertanz finde ich aber auf Dauer zu anstrengend.

Ich halte es für sinnvoll, die Auseinandersetzung um die von Birgit an uns aufgeworfenen Fragen auch im Info zu führen. Es sind darin Fragestellungen aufgeworfen, die nicht auf
Umgangsformen, Diskussionsstile, sozialpsychologische Kategorien zu reduzieren sind.

Die Fragen nach dem Verhältnis zu Anderen sind - bezogen auf Herrschaftsverhältnisse, insbesondere Rassismus - herrschaftskritisch.

Die Analyse des Patriarchats hat ergeben, daß jeder Mann ein potenieller Vergewaltiger ist und daß weiße Männer und Frauen potentielle rassistische Täter sind. Dies unbesehen auf die
Individuen herunterzubrechen, bringt bloß Hilflosigkeit und resignierte Wut hervor. Ebenso falsch war es, berechtigte Kritik an Kirche als Herrschaftsinstitution und berechtigtes Mißtrauen
gegenüber deren Herrschaftsinteressen auf die ProzeßbeobachterInnen aus kirchlichen Zusammenhängen herunterzubrechen und sie persönlich zu diffamieren.

Die Auseinandersetzung um Herrschaftsverhältnisse, und die damit zusammenhängende Frage nach linker Geschichts- und Verantwortungslosigkeit, ist in unserem Papier in eine völlige
Schieflage geraten. Diese Fragen genau auch auf sich selbst zu beziehen, ist kein Hinweis auf einen engen Denkrahmen, aber in unserem Papier wurde dieser Bezug unscharf, "Schärfe"
oder eher Schroffheit drückt sich dafür in der Beurteilung der "Kirchenleute" aus. Damit reproduziert das Papier - in dem einzelne sinnvolle Gedankenstränge enthalten sind - als Ganzes
genau die Verhaltensweisen der Abgrenzung und Auseinandersetzungsvermeidung, die darin kritisiert werden. Die gerade auch in dieser Frage unter uns vorhandenen Differenzen sind
verschleiert, dafür die "Differenz" zu den "Kirchenleuten" umso schroffer ausgedrückt.

Der Zauberlehrling wird zu guter Letzt vom Zaubermeister von seinen Geistern erlöst. Uns wird eine solche Rettung vor unseren Produkten weder im Kleinen noch im Großen zuteil
werden.

Noch eine aus der InfoAG

(zu Christian Geissler)

(das werkverzeichnis fehlt noch)

In Christian Geisslers Werk werden Prozesse transparent, die zwar nie die von wirklich vielen hier waren, aber auch nicht nur seine allein.

Seine Frage, wie die Verhältnisse zu ändern sind, durchzieht seine gesamte Arbeit. Jede seiner Veröffentlichungen greift schreibend ein - von der Auseinanderrsetzung mit der Nazi-Zeit
("Anfrage") bis "Dissonanzen einer Klärung" produziert er keine endgültigen Antworten, wird nicht schnell und schon garnicht leicht fertig mit der Frage.

Die Solidarität mit den politischen Gefangenen über zwanzig Jahre und die Auseinandersetzung mit den Anforderungen linker Politik und dem von der RAF vorgeschlagenen Weg spiegelt
sich wieder, ohne in Apologetentum zu münden. Vielleicht könnte es so gesagt werden: er hat, was er darin gesehen hat, nicht bloß als Erzähler wiedergegeben, sondern es als seine Praxis,
in seinen Schreibarbeiten, umgesetzt und mitgeformt.

Über sein derzeit einziges im Buchhandel erhältliches Buch "Prozeß im Bruch" schreibt er im Vorwort:

" von was ist die rede ?

es ist die rede von schreibarbeiten, die ich, zwischen februar `89 und februar `92, veröffentlicht habe aus öffentlichem anlaß. öffentlich war, vom hungerstreikende im mai `89 bis zum
niederholen ach niedermachen der roten fahne in moskau an weihnachten `91 (...)

veröffentlicht habe ich eilig nach hier und da über bücher und blätter und blättchen zum thema rückwende deutsch und peter weiss und knast und esterwegen und raf und
kommunistenarbeit. trauer und neugier und haß, spott und grauen und freude. (...) genossinnen und genossen haben gesagt, das ist von text zu text ein prozeß, den wollen wir übersichtlich,
den möchten wir greifbar haben. hier ist er. mein prozeß im bruch. und ob der auf zusammenbruch läuft und abschied oder auf ankunft und aufbruch, das kann nun, wer lesen kann,
klären."

(Inhaltsverzeichnis)

vorwort

wie einst die braut

fern will ich eine hütte

gegen zweifel

geschrei

schlachthausenmüd

blumen der wüste


unruhige wut

grüße an helmut pohl

wie auf dem wintertisch

im sturz

klassendeutsch

sie stellen stein in mein gesicht

brief an brigitte mohnhaupt

der schwere schritt

dissonanzen einer klärung

esterwegen

die frage nach uns selbst

peter weiss wäre nicht erstaunt

wir sind überall

brief im krieg

winterdeutsch

von kirsche zu kirsche

der schwarze hut

wir erklären die feindschaft

"blumen der wüste" ist ein Versuch, das Schweigen und die Unsicherheit nach dem ergebnislos abgebrochenen Hungerstreik 1989 zu durchbrechen. Daran knüpft "grüße an helmut pohl"
an.

Der längere Text "dissonanzen einer klärung" ist ein offener Brief an die RAF, geschrieben im Januar 1990.

"die frage nach uns selbst" ist ein vorschlag zur Diskussion, der in "winterdeutsch" vertieft wird.

"brief im krieg" setzt sich mit einem Flugblatt zum Golfkrieg auseinander

In dem Text "peter weiss wäre nicht erstaunt" zieht Christian Geissler Verbindungslinien zwischen Peter Weiss' "Asthethik des Widerstands" und heute

"max hodann hat es gewußt

peter weiss wäre nicht erstaunt

(unsere arbeit geht weiter)

ohne zu lügen

es bleibt der schmerz"

Christian Geissler, Prozeß im Bruch, Edition Nautilus, Hamburg 1992

Diskussionsbeiträge aus der Veranstaltung zu Birgits Prozeß in Berlin am 14.11.95


 

Wir setzen uns im folgenden Text mit Passagen aus Birgits Prozeßerklärung vom 21.7. auseinander.

Birgit erklärt und reflektiert selbstkritisch eine ganze Phase der RAF und des antiimperialistischen Kampfes und entwickelt Gedanken der RAF zur Neubestimmung ihrer Politik und der
damit verbundenen Aussetzung tödlicher Aktionen fort. Wir halten die Auseinandersetzung mit diesen Gedanken, die aus einem Prozeß einer Gruppe kommen, die sehr konsequent kämpft
und die einen nicht unerheblichen Einfluß auf das politische Geschehen in der BRD hatte, für wichtig. Natürlich auch, weil wir aus Birgits Texten Anstöße für unsere Auseinandersetzung
bekamen.

Die einzelnen Beiträge von unterschiedlichen Leuten aus unserer Gruppe haben wir trotz mancher Doppelungen so stehengelassen.

In unserer Diskussion gingen auch wir unter anderem der Frage nach, wie sich die RAF so weit von der gesellschaftlichen Realität entfernen konnte.

Gründe hierfür sehen wir vor allem in der Abkopplung zum System und zur Linken in der BRD, zum einen als Notwendigkeit, zum anderen als Isolierung. Genauer dazu: Für viele war es
eine Notwendigkeit, um dem herrschenden System eine Gegenmacht entgegenzusetzen und die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Die Organisierung von bewaffneten
Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der BRD und Westberlin wurde als richtig, möglich und gerechtfertigt gesehen. Karl-Heinz Roth bezeichnete diese Situation in Bezug auf die
RAF als "Endzeitbewußtsein" - hier und jetzt kämpfen, nicht fragen "Warum", sondern "Wie" - gegen den Imperialismus, den Staat und das Kapital, gegen den Vietnamkrieg, der von der
BRD aus strategisch-militärisch vorbereitet wurde, gegen die NATO, ihre Repräsentanten und Einrichtungen und in solidarischer Nähe zu den Befreiungsbewegungen in Lateinamerika,
Afrika, Asien.

Doch ein Großteil der Linken in der BRD hatte sich nach 68 für einen anderen Weg entschieden. 1971 hieß es dazu in einem Text der RAF: "Der Schreck ist den Herrschenden in die
Knochen gefahren, die schon geglaubt haben, diesen Staat und alle seine Einwohner und Klassen und Widersprüchen bis in den letzten Winkel im Griff zu haben; die Intellektuellen wieder
auf ihre Zeitschriften reduziert, die Linken wieder in ihre Zirkel eingeschlossen, den Marxismus-Leninismus entwaffnet, den Internationalismus demoralisiert zu haben" (Konzept
Stadtguerilla).

Die Linke in der BRD war gespalten - einige hatten sich auf den Marsch durch die Institutionen gemacht, andere gründeten kommunistische Gruppen oder organisierten sich in der
Friedensbewegung, der Anti-AKW-Bewegung, der Frauenbewegung oder in anderen Formen und Richtungen.

Der Schritt in die Illegalität, verbunden mit bewaffneten Aktionen, wurde als eine bewußte Abkopplung zu diesen Formen linken Widerstandes und dem nicht angemessenen Verhalten
vieler Linker gesehen. Dieser linke Widerstand wurde als nicht ausreichend und zu schwach betrachtet, um eine politische Kraft zu entwickeln.

Die Abkopplung war gewollt und bezog sich nicht nur auf die Linke, sondern auch auf die BRD-Gesellschaft mit ihren Alt-Nazis, dem Konsumrausch, dem Spießertum. Die Trennung
oder Abkopplung hätte Sinn gehabt, wenn es darüberhinaus aber immer noch einen Zusammenhang zwischen dieser und anderen Gruppen gegeben hätte, wie gemeinsame Diskussionen,
Auseinandersetzungen und die Möglichkeit für die Suche nach gemeinsamen Wegen und Zielen.

Der Abkopplung fehlte die Rückkopplung, und diese Rückkopplung war es ja, die im Konzept Stadtguerilla als Verbindung von Stadtguerilla und Basisarbeit im Stadtteil, im Betrieb und
in den politischen Gruppen beschrieben wurde: Daß sich beide Sachen nicht in einer Person verwirklichen lassen, sich die llegale Arbeit nicht mit der illegalen verbinden läßt, stellte die
Gruppe schon 71 fest. Doch mit Rückkopplung meinen wir vor allem den Bezug zu und mit anderen Gruppen. So entwickelte sich die RAF in den Folgejahren mehr und mehr zu einer
isoliert arbeitenden Gruppe, obwohl laut Umfrageergebnissen aus dem Jahre 1972 jeder fünfte Bundesbürger den Schutz der Gruppe vor Verfolgung und Verhaftung tolerierte, und jeder
siebte für sich nicht ausschloß, RAF-Mitglieder über Nacht bei sich zu verstecken. 6% bezeichneten sich als potentielle Helfer. Nun mag man Statistiken glauben oder nicht, sichtbar ist,
welchen Rückhalt, Sympathie und politische Nähe zu anderen die Gruppe hatte.

4 Jahre später, im Dezember 1976, formuliert eine Revolutionäre Zelle ihre Fragen in einem Offenen Brief an die RAF, verbunden mit der Notwendigkeit, sich über Vorstellungen,
Aktionen, Veränderungen auseinanderzusetzen: "Genossen, wir haben ein ganz praktisches Problem mit Euch: Lange Zeit dachten wir, daß ihr unsere Genossen seid. Aber viele Genossen
draußen haben nicht das Gefühl, daß sie auch Eure Genossen sind. Wir und die anderen wurden/werden benutzt/untergeordnet, für Eure Prozeßstrategie zum Beispiel. Auch für andere
Mobilisierungskampagnen. Denn es gibt keine Möglichkeit, mit Euch gemeinsam eine Strategie zu entwickeln und zu diskutieren. Sicher, es ist ungeheuer schwer, so was über den Knast
zu machen. Aber unserer Ansicht nach ist das nicht der einzige Grund. Vielmehr wart Ihr viel zu schnell in eurem Urteil über uns. Ihr habt zu oft gezeigt, daß Ihr nicht in unsere Kraft und
die der anderen vertraut. In uns, die draußen sind. Die auch kämpfen wollen und müssen. Die aber den Anspruch haben, sich zu Entscheidungen hinzuentwickeln."

Doch trotzdem hatte die Existenz und Geschichte der RAF auch immer positive Auswirkungen auf viele. Gerade das ist ein Punkt, den wir an Birgits Erklärung bemängelten. Die RAF
zeigte klar, daß Widerstand auch in militanter und illegaler Form in einem immer größer werdenden Sichheits- und Polizeistaat möglich war und ist, verbunden mit einer über 24-jährigen,
kontinuierlichen Geschichte von bewaffnetem Kampf. Seit dieser Zeit gab es immer wieder Menschen, die sich zu diesem Weg entschieden haben, was also auch heißt, daß es zu jedem
Zeitpunkt Gründe gegeben hat, in dieser Form zu kämpfen, und es nicht Hirngespinste oder Abenteurertum waren:

- die Existenz des Imperialismus und seine politische Analyse,

- die Erkenntnis, hier in der Metropole, im Herzen der Bestie, gegen die Verhältnisse zu kämpfen,

- die faschistische Struktur, die sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges in der BRD reorganisierte,

- die Repression, Verfolgung, Fahndung, Tötung von GenossInnen, angefangen von Benno Ohnesorg 1968 bis zu Wolfgang Grams 1993,

- die politischen Gefangenen in den Knästen, an denen der Vernichtungswille des Staates praktiziert wurde, der Tod von Holger Meins, die Toten von Stammheim, die wissenschaftlich-
erforschte Isolationshaft, um nur einige Stichpunkte zu nennen.

Es lag in der Logik der aufgezählten Gründe, die gleichzeitig die Situation in den 70er Jahren in der BRD beschreiben, auch bewaffnet zu reagieren, um eine reelle Chance auf
fundamentale Veränderungen zu haben. Ein Beispiel: 1970, nach der bewaffneten Befreiung von Andreas Baader in Berlin, schrieb ein an der Aktion Beteiligter an den Schriftsteller
Heinrich Böll: "Der jetzt beginnende, bewaffnete Widerstand ist das praktizierte Dementi jener Lebenslüge aller sozialdemokratischen Intellektuellen, man könne nicht mehr tun, als immer
wieder die Niedertracht zu analysieren, kritisieren und entlarven, solange bis sich jemand anders findet, der ihrer geschichtlichen Existenz den Garaus macht."

Gerade die Konsequenz und die Verweigerungshaltung, das entschlossene "Nein" gegenüber dem Staat, auch als Gefangene im Knast, sind Ursache dafür, daß sich auch noch heute
Menschen, die noch gar nicht in dieser Zeit gelebt haben oder in einem anderen Land, mit dieser Geschichte beschäftigen und auseinandersetzen. Doch tun sollten es alle, auch diejenigen,
die in dieser Geschichte ihren Platz hatten.

Die RAF war hier die erste Gruppe, die eine scharfe und genaue Analyse der BRD als Nachfolgestaat des Faschismus und Teil des imp. Systems erarbeitet hat. Sie machte die
Gewaltverhältnisse, die du auf der Straße spürtest, offen.

Dieses, und daß die Gruppe offensichtlich nicht nur redete, sondern ihre Analysen auch konsequent in scharfe Aktionen umsetzte, und daß sie bereit war, die Machtfrage zu stellen, zog
immer wieder Menschen an, die diesem System ablehnend gegenüberstanden. Das gab Anstöße zu eigenem politischen Denken und Handeln.

Aber die Machtfrage wurde nur militärisch gestellt, während wir heute denken, daß eine scharfe Systemanalyse nicht automatisch die Schärfe der eingesetzten Mittel hochtreiben muß. Es
müßte vielmehr darum gehen, eine scharfe gesellschaftliche Situation zu erreichen und dies eher durch die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit, ein soziales Gefüge und eine Vielfalt von
Aktionen, die an konkreten Veränderungen orientiert sind.

In den 80ern hatte die RAF ihre Linie umrissen als "Strategie gegen ihre Strategie". Es ging ihr darum die weltweite Konfrontation dahin zurückzubringen, von wo sie ausgeht: in die
Zentren, und genau dort auf dem Niveau dieser Konfrontation einzugreifen, die Herrschenden und Kriegstreiber zwingen, ihr wahres Gesicht zu zeigen.

Aber dem System die Maske herunterzureißen und darüber Bewußtsein und Mobilisierung zu schaffen, ist zuwenig, und auch der stille Beifall von vielen, da es sich fast immer um hohe
Repräsentanten des Systems handelte, brachte da nicht weiter. Eine einzelne Gruppe kann, auch mit den schärfsten Aktionen, niemals grundlegende Veränderungen, Befreiung für alle,
erkämpfen, darin liegt ein Widerspruch in sich.

Birgit entwickelt dazu das Beispiel eines Szenarios, sie sagt: " Wenn es aufgrund des Zusammenwirkens der weltweiten Kräfte gegen imperialistische Herrschaft und für Befreiung
tatsächlich zu systemsprengenden Kräfteverschiebungen gekommen wäre, dann wäre eine solche Entwicklung und Veränderung der Gesellschaftsrealität für die Mehrzahl der Menschen
hier wieder von außen, also von einem anderen "von oben" gekommen... Es gibt heute die Erfahrung, daß alle Versuche aus einer eigenen Machtposition die Gesellschaft in eine positive,
am Freiheitsgedanken orientierte Richtung umzugestalten, sich ins Gegenteil verkehrt haben."

Birgit kritisiert die Distanz zwischen der RAF und der Linken. In ihrer Anfangsphase begleiteten viele die RAF mit solidarischer Unterstützung. Aber spätestens ab Anfang 75 war die
Kommunikation mit dem Teil der Linken, der noch solidarisch war, gestört. (Ein Beispiel: Ende 74 war ein langandauernder Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF, Holger Meins
wurde in diesem Hungerstreik ermordet. Die Gefangenen brachen ihren Hungerstreik ab, setzten ihn aber kurz darauf wieder fort. Politische Gruppen, die den Hungerstreik aktiv unterstützt
hatten - z.B. die Rote Hilfe -, sahen keinen Sinn darin. Sie forderten die Gefangenen auf, den Hungerstreik zu beenden. Die Gefangenen reagierten nicht. Dann forderte die RAF die
Gefangenen dazu auf, und die Gefangenen hörten auf. Diese Ignoranz brachte damals viele auf.) Die Auseinandersetzung spitzte sich zu, und 77 während der Schleyer-Entführung kam es
dann zu einer breiten und teilweise erschreckenden Entsolidarisierung. Die Linke war überhaupt nicht in der Lage, der hammerharten staatlichen Repression und breit angelegten
Verfolgung etwas entgegenzusetzen.

Anderseits waren die Einflüsse oder Nichteinflüsse der Linken im besonderen von Zusammenhängen, die der RAF politisch nahestanden, auch mitverantwortlich für manche Verbohrtheit
auf seiten der RAF und der RAF-Gefangenen. So wurden in antiimp. Zusammenhängen z.B. eher die Fremdwörterlexika zum Verständnis von Erklärungen gewälzt, als mal den
GenossInnen zuzurufen: "Mensch schreibt doch auch mal für die Leute, die hier leben und die hier auch in vielen anderen Bereichen für fortschrittliche Veränderungen kämpfen." Die
innere Struktur verhinderte einfach ein offenes Miteinanderumgehen.

Aus der Summe der Erfahrungen der letzten 20 Jahre sehen wir, daß der antiimp. Kampf in der BRD viele Fehler beinhaltete. Die Ausschließlichkeit, mit der an der Analyse der Apparate
und Machtstrukturen des Systems gearbeitet wurde, war falsch, und der Blick auf die BRD-Gesellschaft und die Linke hier war reduziert und eng. Z.B. waren GenossInnen nur dann
interessant, wenn sie auch bereit waren, die vorrangige Bedeutung der antiimp. Analyse und Herangehensweise zu akzeptieren. So entstanden Hierarchien und Dogmatismus und auf
Seiten des Antiimp-Zusammenhangs das sichere Gefühl, Avantgarde zu sein, dazuzugehören zur revolutionären Seite der weltweiten Auseinandersetzung. Wie reduziert und eng wurde
z.B. die Frage beantwortet, wer denn hier auf der richtigen und wer auf der falschen Seite der Barrikade steht. Es wurden keine Vorstellungen, Ideen und Fragen entwickelt, die mit Basis-
Bewegungen und anderen fortschrittlichen Gruppen hätten ausgetauscht und diskutiert werden können. Über den antiimp. Zusammenhang hinaus gab es nur den Bezug auf die
Befreiungsbewegungen und die Völker im Trikont. Natürlich geht es mit dieser Kritik nicht darum, internationale Solidarität als ein Grundpfeiler linker Politik in Frage zu stellen. Und es
geht auch nicht um irgendeinen Einheitsbrei. Aber Austausch, Kritik und Auseinandersetzung hier und zwischen den verschiedenen Ansätzen und Initiativen sind wesentlich für die
Struktur der Linken überhaupt.

Wir denken heute, linke Politik müßte so sein, daß sie die Analyse, das Bedürfnis etwas zu tun, die Emotionen und die Praxis und auch die spontanen Gefühlsausbrüche miteinander
vereint.

Oft wird unter Politik nur Handeln zum Erreichen von Zielen verstanden, aber jedes Ziel verändert sich durch die Wege, durch die man zu ihm gelangt. Deshalb finden wir eine
gemeinsame Auseinandersetzung über Ziele und Mittel richtig. Wege zu Protest und Widerstand sind nicht harmonisch. Es wird immer Gruppen und Zusammenhänge geben, die wieder
einen Schritt weitergehen, als die Linke im allgemeinen gerade so denkt, handelt oder auch schläft. Jedoch es geht um Rückkoppelung, Kritik und Austausch, zumindest in der Linken,
grundsätzlich aber auch darüber hinaus. Was meint "darüber hinaus"? Wie weit wollen wir uns hier auf die Gesellschaft einlassen? Auf eine Gesellschaft, die in großen Teilen einer rechten
Gesinnung anhängt? Aber mit dieser Sicht auf Gesellschaft kommen wir leicht dazu, alle Menschen abzuschreiben, was heißen würde, die Hoffnung auf Veränderung aufzugeben und zu
verlieren. Das ist eine immer wiederkehrende Streitfrage.

Birgit sagt dazu: "Es muß um die Fragen und Probleme gehen, die sich für die Menschen hier aus ihrer Lebensrealität stellen..., (um) Bestimmungen, die die soziale Realität hier zum
Ausgangspunkt und den Aufbau emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe für systemsprengende Veränderungen zum Ziel haben müssen."

Birgit führt in ihrer Erklärung immer wieder Begriffe ein, die in der Linken noch nicht diskutiert sind. Das ist ein Problem. Wir haben überlegt, was heißt für uns Emanzipation in einer
Bewegung. Wir erachten es heute als sehr notwendig, auf die innere Seite, die inneren Strukturen unserer Zusammenhänge, und darüber hinaus auch die der Linken insgesamt, besonders
zu achten. Wir brauchen für uns Strukturen, die subjektive Befreiung und soziale Umsetzung gleichermaßen ermöglichen, und daß die entsprechenden Kriterien dazu entwickelt und
verankert werden.

Wir haben darüber diskutiert, daß Strukturen entwickelt werden sollten, die:

1. einen sozialen Sinn / Wert haben,

2. eine politische Kraft aufbauen, und in denen

3. Kriterien für gleichberechtigte Beziehungen und menschliches und solidarisches Miteinanderumgehen gelten, also Kriterien, die auch bei einer Verschiebung der Machtverhältnisse, in
der Linken wie auch gesamtgesellschaftlich, nicht neue Macht zur Macht über andere, anders Denkende, anders Lebende, werden lassen.

Wir haben in der Diskusssion zur Vorbereitung dieser Veranstaltung versucht herauszufinden, was Kriterien für linke Politik sein können. Als Reaktion auf Birgits Prozeßerklärung vom
21.7. gab es unter anderem den Vorwurf, sie sei moralisch. Wir haben deshalb versucht, gerade den Begriff der Moral zu untersuchen.

Dieser Begriff vereinigt zwei Aspekte in sich: Erstens ist er eine Ideologie zur Herrschaftssicherung, im Sinne von Verhaltensanweisungen - tu dies, laß jenes sein, das ist gut, jenes ist böse.
Gleichzeitig enthält jede Moral eine Vorstellung von Gerechtigkeit, und zwar im Anspruch, daß es allen Menschen gut gehen soll, wenn sie sich "gut" verhalten. (Beispiel für eine solche
Zweiteilung ist das Moralsystem im Neuen Testament, in dem einerseits eine Obrigkeitshörigkeit genau vorgegeben ist, und das gleichzeitig Ungerechtigkeiten thematisiert. Einerseits:
"Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist" - seid brav, zahlt Steuern, muckt nicht auf. Andererseits: "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt" - es
wird eine -allerdings sehr späte- ausgleichende Gerechtigkeit geben. Wie gesagt, das ist ein Beispiel.)

Ein grundsätzliches Problem ergibt sich daraus, daß wir in eine egalitäre Gesellschaft nur über eine ungleiche Behandlung der einzelnen kommen werden, wirkliche Gerechtigkeit läßt sich
nur über solche ungleiche Behandlung der einzelnen Menschen herstellen. Das ergibt sich aus der ungleichen Verteilung von Wohlstand, Macht, Chancen etc., durch die bestehenden
Ausbeutungsverhältnisse. (Um es ganz banal zu sagen: Wer zuviel hat, wird nach einer egalitären Umverteilung weniger haben als gegenwärtig, wer zuwenig hat, wird mehr haben. - Den
einen wird etwas weggenommen, was den anderen - eigentlich, aber nicht juristisch - gehört.)

Eine solche Umverteilung anzustreben, beinhaltet aber keinen Freifahrtschein nach dem Motto: Wir wollen Gerechtigkeit, also ist egal, wie wir sie erreichen. Die Bestimmung dessen, was
legitim ist, richtet sich immer nach der gesellschaftlichen Situation. (Was allerdings nicht in erster Linie heißt: nach der Akzeptanz in einer abstrakten "Bevölkerung".) - In Birgits Beispiel:
Kampfpraktiken aus der Zeit des Widerstandes in den von der Nazi-Wehrmacht besetzten Gebieten lassen sich heute nicht mit der gleichen Berechtigung gegen Bundeswehrkasernen
anwenden. - Kann es also für solche Bestimmungen keine objektiven Kriterien geben, sind sie immer nur und ganz situativ? Anders als Birgit meinen wir, es gibt sie doch. Sie existieren
jedoch nicht als Handlungsanweisung, sondern als Frage, als Problem, als Suche und in der Veranlassung, die jeweiligen Entscheidungen auch zu vertreten. Allerdings läßt sich zum einen
festhalten, es geht darum, die Verhältnisse immer von unten zu betrachten (in dem Sinne ist der Trikont-Bezug der RAF richtig, wenn auch verschwommen, in dem Sinne ist auch Birgits
Kritik an der Pimenthal-Erschießung richtig, weil ein einzelner Soldat eben nicht für das "System" genommen werden kann). Zum zweiten muß immer das Verhältnis von konkretem Ziel
und eingesetztem Mittel analysiert werden (egal, ob GI oder General, man erschießt Leute nicht wegen einer ID-Card, und im selben Sinn wäre eine Kritik auch an anderen Aktionen der
RAF angebracht).

Grundlage für viele Fehler ist eine Hierarchie der Mittel, in der diejenigen Mittel welche die Situation am stärksten eskalieren, als revolutionärste gelten und sich darüber natürlich
automatisch eine hierarchische Kommunikationsstruktur aufbaut. Wir meinen, stattdessen muß es eine gleichberechtigte Kommunikation unterschiedlicher Ansätze und Eskalationsstufen
geben.

Natürlich bleibt die Frage, welche Ansätze und Positionen sich in ein solches Projekt einreihen lassen. Ein radikaler Pazifismus, der uns aus seinen Zielvorstellungen nahestehen kann, aber
ganz bestimmte Mittel vorgibt und andere ausschließt, wäre beispielsweise eine Tendenz, mit der eine Vermittlung schwierig wäre. Vielleicht jedoch nicht unmöglich. - Auf jeden Fall aber
sind moralische Bestimmungen des Kampfes (moralisch im hier vorgeschlagenen Sinn: es geht um Gerechtigkeit, nicht abstrakt um "gut" und "böse") ein sehr wichtiges Feld in der
Diskussion über die Erneuerung der Linken.

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 10

Mitte Februar 1996

Prozeßbericht Januar / Mitte Februar 1996

Am 23.1.96 ergriff zuerst Birgit das Wort.

Es gab keine "Schußabrede


Birgit ging zuerst auf die Behauptung der Bundesanwaltschaft ein, daß es in der RAF angeblich eine Absprache dazu gegeben hätte, sich "den Fluchtweg erforderlichenfalls durch Tötung
von Polizeibeamten freizuschießen". Auf dieser Behauptung basiert die Mordanklage wegen Bad Kleinen gegen sie, da sie bekanntlich zum Zeitpunkt des Beginns der Schießerei in Bad
Kleinen schon überwältigt und gefesselt am Boden lag. Eine solche Absprache hat es nicht gegeben.

Darüberhinaus erklärte die RAF 1992, warum sie den bewaffneten Kampf in der bisherigen Form nicht weiterführen. In dieser Deeskalationserklärrung hieß es: "Wir haben uns
entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. D.h., wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozeß
einstellen."

Diese eindeutige Aussage, daß dieser Kampf nicht weitere Menschenleben fordern soll, war unbedingter Konsens in der gesamten Gruppe. Diese Haltung kam in der Weiterstadt-Aktion,
bei der mehrere RAF-Mitglieder stundenlang ausschließlich damit beschäftigt waren, 10 oder 11 Wachleute und Justizangestellte in Sicherheit zu bringen, praktisch zum Ausdruck. Wenn
von einer Absprache überhaupt die Rede sein kann, dann von der, daß oberstes Ziel war, das eigene und anderer Leben nicht zu gefährden.

Auch die Behauptung, Wolfgang Grams habe den Schußwechsel in Bad Kleinen eröffnet und er habe den GSG9-Mann erschossen, ist bis heute nicht bewiesen.

Kronzeugen-Angebot

Im weiteren schilderte Birgit, daß in der Nacht nach ihrer Festnahme ein Bundesanwalt zu ihr kam und ihr mitteilte, daß Wolfgang gestorben sei und dann sinngemäß äußerte, daß es für sie
keine Lebensperspektive in Freiheit mehr gäbe, wenn sie nicht mit ihnen zusammenarbeite.

Birgit lehnte jegliche Zusammenarbeit ab.

Im November 1993 beantragte die BAW die Erweiterung des Haftbefehls wegen Mord und Mordversuch in Bad Kleinen und wegen Weiterstadt. Kurze Zeit darauf trat der
Verfassungsschutz über einen Mittelsmann an Birgits Verteidigung heran. Ihr wurde das Angebot unterbreitet, daß, wenn sie Aussagen mache, die zur Verhaftung von RAF-Mitgliedern
führen

1. der Mordvorwurf wegen Bad Kleinen fallengelassen würde und

2. sie die Zusicherung erhielte, daß in diesem Fall bei Verhaftungen niemand mehr erschossen werden würde.

Nachdem Birgit weiterhin jegliche Zusammenarbeit ablehnte, tauchte in der Anklageschrift plötzlich auch die Beteiligung an der Aktion gegen die US-Airbase in Frankfurt 1985 und die
Erschießung des US-Soldaten Pimental auf.

Erst nachdem Birgit verhaftet war, begann die BAW, wegen Airbase auf ihre Person hin zu ermitteln.

"Sie ermitteln immer nach der Person, die sie gerne als Täter haben wollen", sagte Birgit. Um das Problem zu lösen, daß sie jahrelang nach einem völlig anderen Frauentyp gefahndet
haben und daß sowohl die Autoverkäufer als auch die Soldaten, die mit Pimental in der Diskothek waren, nie bei der Vorlage von Fotos Ähnlichkeiten mit Birgit zu der gesuchten Frau
festgestellt hatten, wurde ein Videofilm produziert, in dem alle aufgenommen Frauen außer Birgit sich erheblich von der von den Zeugen 1985 als dunkel- und kurzhaarig und schlank
beschriebenen Frau unterschieden. Von den 4 Vergleichspersonen haben drei hellblonde lange Haare, lediglich eine trägt einen rötlich-braunen Kurzhaarschnitt. Alle vier sind ziemlich
kräftig.

Dementsprechend stellten mehrere Zeugen Ähnlichkeiten zu der anderen dunkelhaarigen Frau und zu Birgit fest. Ausgerechnet der Zeuge aber, der 1985 in seiner Vernehmung gesagt
hatte, er könne die Frau nicht genauer beschreiben, da er in der Diskothek seine Brille nicht dabei hatte und kurzsichtig sei, glaubte auf dem Videofilm Birgit wiederzuerkennen.

Das Problem, daß Birgit in dem BKA-Schriftgutachten von 1985 bezüglich der Autokäufe ganz unten in der Wahrscheinlichkeitsskala eingeordnet war, wurde durch die Anfertigung
neuer , auf sie bezogener, Schriftgutachten gelöst.

Zeugen: Kurzsichtigkeit erwünscht

Die ZeugInnen-Befragungen, wie sie seit Prozeßbeginn im Nov. 94 abliefen, beschrieb Birgit weiter, machen diese Arbeitsweise ebenfalls deutlich.

Das Gericht fragt ausschließlich die Punkte aus früheren Vernehmungen ab, die Birgit belasten könnten. Hat also einer einmal was "passendes" zur Größe oder zur Augenfarbe gesagt,
wird dieser Punkt abgehakt - Ungereimtheiten bleiben unerheblich. Wenn z. B. ein Zeuge die "richtige" Körpergröße nennt, aber etwa zur Augenfarbe "unpassende" Angaben gemacht
hatte, wird eben die Augenfarbe vom Gericht nicht thematisiert oder, falls es die Verteidigung tut, fragt das Gericht den Zeugen solange, bis er sich gar nicht mehr festlegen will.

Birgit beschrieb dies anhand des Umgangs mit der Kurzsichtigkeit des Hauptbelastungszeugen durch das Gericht: Nachdem die Verteidigung auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hatte,
wurden in den nachfolgenden Vernehmungen den Soldaten durch das Gericht auch Fragen in die Richtung gestellt, ob sie nach fast 10 Jahren nicht auch vermuten würden, daß dieser
Zeuge doch nicht ganz so kurzsichtig gewesen sein könnte.

An der Autoanmietung 1988, Anklagepunkt Tietmeyer, ist dies auch sehr anschaulich: Die Autovermieterin hatte mit absoluter Sicherheit eine andere Frau auf dem Fahndungsplakat
ausgedeutet - übrigens eine helläugige, blonde Frau.

Nach Bad Kleinen hatte diese Zeugin in ihrer Lokalzeitung ein Foto von Birgit gesehen, unter dem stand, daß Birgit Hogefeld die Autoanmieterin war. Bei einer verdeckten
Gegenüberstellung, wo sich Birgit die Hand vors Gesicht hielt, brachte die Zeugin ein neues Merkmal ins Spiel, an dem sie Birgit trotzdem wiedererkannt haben will, nämlich O-Beine.

Stammheimer Tradition

Nach diesen Beispielen aus über einem Jahr Hauptverhandlung, die sich fortsetzen ließen, ging Birgit auf ihre eigene Einstellung zu diesem Prozeß ein.

Aus der Inszenierung von 70er Jahre/Stammheim - Ritualen wollten Birgit und ihre Verteidigung sich ausklinken. Sie taten alles, um zu dokumentieren, daß sie diesen Part nicht
übernehmen, z. B. nur ganz wenige Befangenheitsanträge, und dies keineswegs, weil weitere unbegründet gewesen wären.

Auch im Prozeß nicht nach eingefahrenen Mustern zu reagieren, begründete Birgit aus den vielen Diskussionen der letzten Jahre und aus ihren eigenen Reflexion über die RAF-
Geschichte. Sie wollte wissen, ob, wenn sie zum alten und eingespielten Muster nichts beiträgt, dieses trotzdem so abläuft wie schon immer seit den 70 er Jahren.

Das Gericht dokumentierte durchgängig

- sie sind nur am Zusammenschustern von Belastungsmaterial interessiert

- Akten waren oft unvollständig, das Gericht entwickelte keinerlei Interesse für die fehlenden Teile

- Gutachten - auch die widersprüchlichen Schriftgutachten - wurden ohne der Verteidigung die Möglichkeit zum Nachfragen zu geben, verlesen, Anträge zur Ladung der Gutachter/Innen
zurückgewiesen

- bei Antragsbegründungen der Verteidigung verfielen regelmäßig eines oder mehrere Senatsmitglieder in demonstrative Schlafstellung

- alle Interviewanträge von Journalisten wurden abgelehnt mit der "Begründung", Birgit hätte in ihren Prozeßerklärungen den bewaffneten Kampf propagiert und würde ein Interview
nutzen, um dazu aufzurufen...

"Wer meine Texte und Erklärungen kennt", sagte Birgit, "und darin einen derartigen Aufruf sieht, ist entweder unerträglich dumm oder unerträglich ignorant". Im Fall dieses OLG-Senats
vermutete sie das zweite.

Zum Schluß ging sie noch auf die Repressionsmaßnahmen gegen das Wohnprojekt in der Fritzlarer Str., Frankfurt, und andere, ein. Hier zeigt sich, daß der Staat an weiterer Eskalation
interessiert ist. Aus dem Wohnprojekt sitzen zur Zeit mehrere Leute in Beugehaft. Der Hintergrund ist, daß in der Wohnung verschlossene Motorradkoffer aus der Steinmetzschen
Hinterlassenschaft sich befanden, in denen (angeblich) Sprengstoffspuren gefunden wurden. Daraus konstruieren die Ermittlungsbehörden, daß Steinmetz an der Knastsprengung in
Weiterstadt beteiligt gewesen sei und den Verdacht gegen eine Frau aus dem Wohnprojekt, die sich dem Zugriff der Ermittlungsbehörden entzogen hat. In der TAZ vom 22.01.96 stellte
Birgit klar, daß Steinmetz in keiner Weise in die Weiterstadt-Aktion einbezogen war. Sollte er tatsächlich irgendwelchen Sprengstoff gehabt haben, dann war der jedenfalls nicht für die
RAF bestimmt.

Hemberger von der Bundesanwaltschaft (BAW) reagierte auf die begründeten Vorwürfe von Birgit Hogefeld mit plumper Polemik. Ihm fiel dazu nur ein, Birgit habe vor den zahlreich
erschienenen PressevertreterInnen ein verfrühtes Plädoyer halten wollen.

Er, der Oberpriester der Anklage in roter Robe und mir fünf schwer bewaffneten Leibwächtern und einer Leibwächterin im Rücken, braucht natürlich auf die entlarvende Kritik von Birgit
an der Logik der Prozeßführung überhaupt nicht einzugehen und braucht sie auch nicht zu fürchten, da er der "angemessenen" Verurteilung durch Schieferstein, den vorsitzenden Richter,
auch ohne Beweise sicher sein kann. Zugeben mußte Hemberger den Erpressungsversuch bei Birgit seitens der BAW. Scheinheilig bot er auch jetzt Birgit in aller Öffentlichkeit die
Kronzeugenregelung an. Er wollte diese allerdings nicht öffentlich konkretisieren.

Zu dem noch deutlicheren Erpressungsversuch des Verfassungsschutzes gegen Birgit wollte er angeblich nichts gewußt haben. Daß aber beide Behörden auch etwas von Pressearbeit
verstehen, erhellt die zur Zeit laufende Operettennummer mit ihrem Mordsgehilfen Steinmetz.

Dann hatte der GSG-Typ Nr. 4 , ausgestopft und sein Killergesicht hinter Bart und Schminke versteckend, seinen Auftritt. Das was er von sich gab, korrespondierte mit seiner Verkleidung.
Er sei um 15.15 Uhr auf dem Bahnsteig _ gewesen und habe von dort beobachtet, wie die Zielpersonen (gemeint waren Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld) in Begleitung des Spitzels
Steinmetz das Billardlokal verließen und zum Bahnsteigtunnel gingen. Er habe diese Beobachtung per Funk weitergegeben, dann sei der Funkspruch "Zugriff freigegeben"
zurückgekommen. Er sei dann die Treppe zum Tunnel runtergegangen. Am Treppenabsatz seien ihm Wolfgang Grams und Steinmetz entgegengekommen. Er habe sie aber nicht
festgenommen, sondern sei an ihnen vorbei auf Birgit Hogefeld zu, die an einer Fahrplanübersicht stand. Er habe ihr die Pistole an den Kopf gehalten und "Polizei, Hände hoch" gerufen
und sie dann zu Boden gedrückt und sie nach einigen Minuten zusammen mit dem GSG-Typ Nr. 7 gefesselt, er sei dann als Bewacher von Birgit Hogefeld ununterbrochen dort geblieben
und habe sie um 15.45 Uhr an BKA-Polizisten übergeben.

Die Aussage von Nr. 4 steht im Widerspruch zu Zeugenaussagen, die ihn an Kleidung, Tasche und auf seinem Beobachtungsposten ins Mikrophon sprechend erkannten und bezeugten,
daß er auch in der Zeit von 15.15 Uhr bis 15.45 Uhr oben auf dem Bahnsteig _ war. Es war die Zeit, wo die tödlichen Schüsse fielen. Und auch GSG Nr. 6, der selber in der fraglichen
Zeit auf dem Bahnsteig _ war, hatte bei seiner Vernehmung bei der Staatsanwaltschaft in Schwerin auf die Frage, ob neben ihm noch weitere Leute von seiner Gruppe in dieser Zeit auf
dem Bahnsteig _ gewesen seien, geantwortet, sämtliche Personen von Nr. 1 bis Nr. 5 seien die ganze Zeit über oben gewesen. Es entspricht auch nicht der Logik einer mit hunderten von
Polizisten bis ins Kleinste vorbereiteten Festnahme, daß derjenige, der einen wichtigen Beobachtungsposten hat, diesen verläßt, um die Festnahme vorzunehmen.

Es spricht also alles dafür, daß die Nr.4 die ganze Zeit auf dem Bahnsteig war, und dies hätte Birgit auch gegebenenfalls sofort feststellen können, wenn der Typ sich nicht hinter der Maske
versteckt hätte.

Die Frage, warum die Einsatzleitung in Bad Kleinen die Nr.4 als festnehmenden Beamten von Birgit präparierte und präsentierte und damit vom Bahnsteig _ während der Schießerei
wegzauberte, wurde nicht gestellt. Sie liegt aber auf der Hand, weil durch ihre Beantwortung möglicherweise geklärt werden kann, wer die tödlichen Schüsse abgegeben hat.

In ihrer Erklärung vor der Vernehmung von Nr.4 hatte Birgit noch darauf hingewiesen, daß an der Stelle, von wo Wolfgang Grams angeblich auf den Polizisten Newrzella geschossen
haben soll, keine Patronenhülsen aus Wolfgangs Waffe gefunden wurden, sondern ausschließlich im Gleisbett.

Daß die Verteidigung sich vorsichtig an die Klärung dieses Widerspruchs herantastete, versteht sich von selbst.

Der Zeuge, sich dauernd beratend mit seinem Rechtsbeistand, die Bundesanwaltschaft und die gesamte Richterbank so wach, lauernd, wie noch nie, taten alles, daß die Beantwortung der
entscheidenden Fragen verhindert wurde. Immer, wenn der Zeuge sich verhedderte und sich zu widersprechen schien, griffen sie ein mit ihren stereotypen Floskeln: "ist nicht geeignet",
"gehört nicht zur Sache", "ist nicht von der Aussagegenehmigung gedeckt", "widerspricht dem Richterbeschluß von heute morgen". Dieser Gerichtsbeschluß besagt, daß Fragen, die die
Glaubwürdigkeit des Zeugen in Zweifel ziehen, nicht zugelassen werden.

Da der Verteidigung klar war, daß dieser Zeuge fast in keinem einzigen Punkt die Wahrheit sagte, verlangten sie seine Vereidigung. Die ZuschauerInnen blieben wie üblich bei der
Vereidigung sitzen. Schieferstein forderte überraschend den regelmäßigen Prozeßbeobachter Pfarrer Janssen auf, sich zu erheben, weil er wissen müsse, was dieser Vorgang bedeute. Als
dieser das ablehnte, zeterte Schieferstein ungewöhnlich schrill, er werde davon dem Bischof in Limburg berichten.

Beweisanträge

Anfang Februar stellte die Verteidigung Beweisanträge.

Die manipulative "Beweisführung"

der Anklage, insbesondere die Methoden, die Zeugen zu einer "Weiterentwicklung" ihrer Aussagen bis zur Behauptung des Gegenteils zu beeinflussen, sollen untersucht werden.

Es soll nachgewiesen werden

- daß der BKA-Videofilm, der nach 1993 eine große Rolle bei den Zeugenbefragungen spielte, eine durch die Untersuchungsreihe eines Psychologischen Instituts bestätigte Suggestiv-
Wirkung hat. Bei dem Film handelt es sich um Aufnahmen von Birgit, die in der JVA Bielefeld gemacht verdeckt wurden sowie vier Vergleichspersonen, die sich erkennbar unecht
bewegen, da sie versuchen, Birgit zu imitieren.

- daß insbesondere die ZeugInnen Walter-Chorfi, Walter und Chorfi nach Bad Kleinen nicht mehr von ihren eigenen Erinnerungen bezüglich der Autoanmieterin von 1988 ausgingen,
sondern von der Annahme, sie sollten Birgit Hogefeld ausdeuten, da dies laut eines Zeitungsberichtes mit Bild die vom BKA ermittelte Autoanmieterin sei. Widersprüche zu ihren früheren
Aussagen, z. B., daß die Automieterin blaue Augen gehabt habe, erklärten sie dem Gericht damit, sie könne ja gefärbte Kontaktlinsen getragen haben.

Sie brachten aber neben den angeblichen O-Beinen nach Bad Kleinen noch weitere Merkmale ins Spiel, z. B. "eine gekrümmte Nase" und "fleischige Wülste" unter den Augen. Betrachtet
mensch das Foto von Birgit, das nach Bad Kleinen durch die Medien ging, wird völlig klar, wodurch diese "Weiterentwicklung" erzeugt wurde. Das Gesicht, das auf der Aufnahme zu
sehen ist, wirkt durch den Lichteinfluß so, als habe es diese Merkmale.

- Zur Beurteilung der Schriftgutachten soll ein Obergutachten erstellt werden.

- Das Fasergutachten, ein 1995er Produkt aus der BKA-Werkstatt und das einzige "Beweismittel" für Birgits Beteiligung an Weiterstadt, ist dadurch demontiert, daß es sich bei den
gefundenen Fasern um die üblicherweise in der industriellen Massenproduktion verwendeten Faserzusammensetzungen handelt.

Der zweite wichtige Komplex in den Beweisanträgen behandelt Fragen wie die von der Anklage behaupteten "Schußabrede" unter den RAF-Mitgliedern und die ebenfalls nicht
nachgewiesene Behauptung, Wolfgang Grams habe den GSG-9-Mann erschossen.

"Schußabrede" - sowohl diese Wortschöpfung als auch deren Inhalt ist ein geistiges Erzeugnis der BAW.

Demgegenüber soll nachgewiesen werden,


- daß das seit den 70er Jahren öffentlich erzeugte Bild von den "blindwütig um sich schießenden Terrroristen" zu keinem Zeitpunkt zutreffend war

- daß darüberhinaus die Erklärungen der RAF ab 1992 eine eindeutige Aussage zur Deeskalation enthalten.

Um dem offensichtlich fehlenden Sachverstand der BAW und des erkennenden Senats nachzuhelfen, soll der Politologe Prof. Narr als Sachverständiger geladen werden. Ferner sollen die
Polizeibeamten, die seit Anfang der 80er Jahre an Festnahmen von RAF-Leuten beteiligt waren, bekunden, daß es nur bei einer Festnahme zum Schußwaffengebrauch kam.

Es ist nicht bewiesen, daß die Projektile, die Newrzella entnommen wurden, aus Wolfgang Grams' Waffe stammen.

Die Projektile existieren nicht mehr, da sie vom Wissenschaftlichen Dienst in Zürich zwecks Untersuchung (?) unidentifizierbar gemacht wurden. Auch lassen grobe Fehler bei der
Dokumentation Fragen dahingehend zu, ob es zu Manipulationen oder Austausch der Projektile kam. Ferner herrscht bis heute keine Klarheit darüber, welche und wieviele Waffen durch
die GSG 9 oder andere Polizeikräfte in Bad Kleinen eingesetzt waren.

Desweiteren deckt sich der Fundort der Geschoßhülsen aus Wolfgang Grams' Waffe und Zeugenaussagen zu seinem Standort während des Schußwechsels nicht mit dem von der BAW
behaupteten Standort bei der angeblichen Erschießung Newrzellas. Auch die tatsächlichen Standorte von GSG-9-Beamten, v.a. Nr.4, sind ungeklärt. Für die Behauptung der
"Schußabrede" spielt auch eine Rolle, ob Wolfgang Birgits Festnahme mitbekommen, oder, wie die BAW behauptet, nicht mitbekommen hat. Zu diesen Standortfragen sollen neben einem
Fachmann der Ballistik Augenzeugen aussagen. Die Verteidigung beantragte, GSG-9-Nr.6, Nr.3, die Zeugin Denninghoff und Steinmetz als Augenzeugen zu hören. Der Zeugin
Denninghoff soll außerdem der unvermummte Nr.4 gegenübergestellt werden.

Ob und welche Beweisanträge der Verteidigung das Gericht zuläßt, entscheidet sich in der 2. Februar-Hälfte. Davon hängt auch ab, wie lange der Prozeß noch gehen wird.

Herausgeber: InfoAG zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Neue Telefonzeiten (0611/44 06 64): nur: mittwochs 19-20 Uhr und freitags: 20-21 Uhr

Spenden für Druckkosten des Info dringend auf Kto: "Linke Projekte" Wiesbadener Volksbank (BLZ: 510900 00) Kto-Nr. 9314407 - Stichwort: InfoAG

Vertrieb über regionale Vertriebsstellen

Die Nr. 10 wird verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 6444, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, Fax: 030 / 6949354

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen

* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

Bestellungen bis 10 Exemplare bitte jeweils an regionale Vertriebsstelle, die am nächsten liegt

Bestellungen über 10 Exemplare an das Prozeßbüro in Berlin

Beiträge - sofern auf PC-Diskette bitte in Word for Windows 2.0 oder 6.0; oder:unbedingt: "Format" angeben !

sonst: Bitte sehr gute Kopien / Druckvorlagen zusenden !

Postadresse Birgit: Birgit Hogefeld über Oberlandesgericht 5. Strafsenat, Postfach, 60256 Frankfurt

Spendenkonto Verfahrenskosten: V. Luley, Postbank Frankfurt, BLZ 50010060, Kto-Nr.:16072-603 Stichwort: Bad Kleinen

Spendenkonto für Birgits persönlichen Bedarf: R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228

Nächstes Info im April 1996: Bei Prozeßdauer über den April hinaus als Nr. 11, bei Prozeßende im April als Schluß-Info. - Beiträge erwünscht

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 11

Ende März 1996

Prozeßbericht Ende Februar / März 1996

Dem Termin am 4.3. waren Pressemeldungen vorangegangen, daß ein suspendierter BKA-Beamter Strafanzeige wegen Urkundenunterdrückung gestellt habe. Von ihm und nicht
suspendierten, aber versetzten Beamten angefertigte Analysen aus der Zeit vor und nach Bad Kleinen, die Steinmetz` Rolle im RAF-Gefüge herausstrichen und damit dessen Weiterstadt-
Beteiligung nahelegten, und die Birgit - in bislang nicht berichteter Weise -entlasteten, seien aus den BKA-Akten entfernt worden, sie selbst seien unter Druck gesetzt worden, die
entsprechenden Analysen und Ergebnisse zurückzunehmen.

Die Verhandlung begann mit einer Erklärung, die sich mit diesen Prozeßberichten auseinandersetzte. Einmal stellte sie deutlich heraus, wie sehr der Vorgang erneut belege, daß
Aktenmaterial nach Gutdünken der BAW den Prozeßakten beigefügt oder vorenthalten werde.

Zweitens bekräftigte sie ihre Erklärungen und Äußerungen zu Steinmetz. Dieser sei wie andere Nicht-Mitglieder in RAF-Aktionen nicht eingebunden gewesen.

Sie erinnerte an verschiedene von Sicherheitsdiensten produzierten falschen Beweismitteln, die in RAF-Verfahren eine Rolle spielten. Im Keller des V-Manns Nonne, der vom hessischen
VS geführt worden war und bei dem sich das Herrhausen-Kommando einquartiert haben sollte,. seien Sprengstoffkomponenten gefunden worden. (Die V-Mann-Operation endete für die
Sicherheitsdienste mit einem Fiasko: Nonne, in psychiatrischer Behandlung, bekundete, wie er und seine Aussage vom VS präpariert worden waren.)

Birgit verwies als zweites Beispiel auf ein angebliches Kassiber, das ihr Bundesanwalt Flieger im Knast vorgehalten habe und auf dem im Klartext der Termin eines Treffens aus ihrer
illegalen Zeit aufgeführt war.. Klartexttermine, auf Kassibern seien für eine illegale Gruppe wie die RAF lebensgefährlich. Das Beweismittel war eine Fälschung.

Entsprechend müsse eine Fälscherwerkstatt im BKA die sog. Belastungsindizien zu Steinmetz produziert haben, die die kaltgestellten BKA-Leute - ein Analyse-Trupp - zu ihrer
Bewertung von Steinmetz geführt habe.

Schließlich deutete sie den erneuten Steinmetz-Rummel und die Steinmett-Weiterstadt-Story mit ihrer "Focus"sierung in der Repression gegen das Frankfurter Wohnprojekt Fritzlarer
Straße als Versuch, erstens im Frankfurter Prozeß mit der Weiterstadt-Story von der Vertuschung der Hinrichtung von Wolfgang Grams in Bad Kleinen abzulenken, zweitens
Kriminalisierung gegen linke Restbestände zu organisieren und drittens aktuell den Landtagswahlkampf in Rheinland-Pfalz -wo Steinmetz geführt wurde - zu beeinflussen. (Wie schon dem
damaligen Ministerpräsidenten Scharping als Kanzlerkandidat der Steinmetz-Weiterstadt-Schatten angehängt werden sollte.)

Die Anwälte griffen die BAW wegen der erneut sichtbar gewordenen Aktenmanipulation scharf an und beantragten u.a. die Beiziehung der angesprochenen Berichte und die Ladung des
Anzeigenerstatters aus dem BKA-Trupp.

Bundesanwalt Hemberger kam nicht umhin, zu den Anträgen und zu den Presseberichten Stellung zu nehmen. Das BKA habe auf seine Nachfrage hin die Äußerungen des Suspendierten
für substanzlos erklärt, wolle jedoch weitere Nachprüfungen vornehmen, "in sich gehen", wie Hemberger sagte. Hemberger sprach sich gegen den Ladungsantrag aus.

Während er zunächst äußerte, die angesprochenen Berichte seien ihm nicht bekannt, zog er sich später darauf zurück, er habe "Entlastendes" nicht vorenthalten. Als Anwältin Seifert die
BAW der Lüge bezichtigte, kündigte Vorsitzender Schieferstein an, die Rechtsanwaltskammer über die Entgleisung zu unterrichten.

Birgits Versuch, zu den Maßnahmen gegen ihre Mitgefangene Monika Haas, für die derselbe Senat verantwortlich ist, eine Erklärung abzugeben, wurde durch gewaltsame Entfernung aus
dem Gerichtssaal unterbrochen. (Die unstreitig verhandlungsunfähige Monika Haas, die an einem schweren Bandscheibenvorfall leidet, wird derzeit von Birgit gepflegt und steht unter der
Drohung, gewaltsam ins Haftkrankenhaus Kassel überführt zu werden. In diesem Fall werden Birgit und Monika Haas in den Hungerstreik treten.)

Zwischenrufende Zuschauer ("Das könnt Ihr Schweine" - "Nazis" ...) waren sofort von Bullen umringt. Nach einer Unterbrechung wurde ein Zuschauer, dessen Personalien die Bullen
festgestellt hatten, vom Gericht aus dem Saal verwiesen. Die Verhängung einer Ordnungsstrafe behielt sich der Senat vor.

Danach wurde die Zeugin Beyer vernommen. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann 1985 ihren PKW an eine weibliche Person verkauft, die sie so beschreibt:

dunkles Haar, kräftig, untersetzt, Brillenträgerin, lückenhafte Zähne. Auf letzteres hätte sie besonders geachtet, weil sie selbst Zahntechnikerin sei. Nach ihren Angaben wurde sie damals
viermal verhört und mit Lichtbildmappen und Fahndungsplakaten von gesuchten RAF-Leuten (diese hingen im Aufzug eines Polizeigebäudes und sie und ihr Mann deuteten sie in
Anwesenheit eines begleitenden Polizisten) konfrontiert. Auf einem Fahnungsplakat will sie eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau festgestellt haben, die das Auto kaufte. Es war nicht
Birgit Hogefeld. Nach den Ereignissen in Bad Kleinen begegnete ihr immer wieder, schon durch den normalen Umgang mit Presse und Fernsehen, das Bild von Birgit Hogefeld. In neuen
Verhören begegnete ihr deren Bild erneut u.a. bei der Vorführung des schon mehrfach erwähnten Video-Films mit den 6 Frauen, unter denen Birgit Hogefeld war und nur eine von den 5
weiteren Frauen eine gewisse Ähnlichkeit mit Birgit Hogefeld hatte. Prompt nannte sie die beiden mit den etwas dunkleren Haaren als die Personen, die eine Ähnlichkeit mit der
Autokäuferin hatten.

Längst hatte sie wohl mitgekriegt, was Polizisten, Bundesanwaltschaft und Gericht gern hören würden. Und während das Bild von der Frau, die tatsächlich das Auto vor 11 Jahren gekauft
hatte, immer mehr entschwand, wurde ihr das Bild von Birgit Hogefeld immer mehr eingetrichtert, so daß sie schließlich auch bei der auf der Anklagebank sitzenden Birgit Hogefeld - im
Gerichtssaal befragt - Ähnlichkeiten feststellte. Gericht und BAW konnten mit ihrer meisterhaften Zeugenmanipulation zufrieden sein. Die Schilderung, die die Zeugin vor 11 Jahren von
der Autokäuferin gegeben hatte, traf in fast keinem Punkt auf Birgit Hogefeld zu und vor allem auch nicht in dem konkretesten Merkmal der lückenhaften Zähne. Die Strategie der
Aufweichung dieser zentralen, harte Fakten benennenden Aussage wurde im Prozeß von Richter Klein mit der Suggestionsfrage eingeleitet, ob die Zahnlücken durch Auftragen schwarzer
Farbe vorgetäuscht sein könnten.

(Zur Vernehmung des Ehemanns Beyer im Frankfurter Prozeß siehe Info 2, Seite 2.)

Am 12.3. bezeugte Birgits Zahnarzt, daß sie im sichtbaren Bereich weder Lücken noch Kronen oder Brücken hat. Die sachkundige Frage des Gerichts, ob sie Implantate habe, verneinte er.
Auf so eine Frage kann nur kommen, wer meint, man könne und dürfe sich alles kaufen, und wer dabei auch das entsprechende Gehalt bezieht.

Für den 19.03. war der suspendierte BKA-ler Lange (s.o.) geladen. Seine Befragung wurde jedoch auf den 14. Mai vertagt, nachdem das Gericht den Text seiner Strafanzeige gelesen hatte
- was genau sie zu dieser Entscheidung veranlaßt hat, blieb der Öffentlichkeit verborgen. Jedenfalls haben sie im Anschluß neue Prozeßtermine bis Anfang Juni festgelegt.

Festnahme-Bericht

Am 12.03. 1996 fuhren meine Freundin und ich zum Prozeß nach Frankfurt zum Prozeß gegen Birgit. Ich parkte meinen Wagen in einem Wohngebiet in der Nähe des Gerichtskomplexes,
dann liefen wir gemeinsam zum Gerichtsgebäude in der Seilerstraße. Nachdem wir im Gerichtskomplex kurz auf der Toilette waren, gingen wir wieder hinaus zum Durchgang zur
Seilerstraße.

Es war frostig kalt, aber sonnig, und da es erst 9.10 Uhr war, der Prozeß aber erst um 9.30 Uhr begann, beschlossen wir, auf die andere Straßenseite zu gehen, um uns ein wenig in der
Sonne aufzuhalten. Ungefähr fünf bis acht Minuten befanden wir uns am Eingang des Parks, der sich gegenüber des Gerichtsgebäudes befindet, als zwei Uniformierte über die Straße
eilten. Ich ahnte Schlimmes, weil die Menschen, die den Prozeß kontinuierlich besuchen, des öfteren von der Polizei schikaniert werden. Ich rannte weg, meine Freundin blieb stehen. Nach
kurzem Sprint dachte ich, das bringt nichts, und ging normal weiter. Eine Uniformierte hielt mich am Ärmel fest und ein Uniformierter kam noch hinzu. Sie verlangten meinen Ausweis
ohne Angabe des Grundes, ich sagte, daß sich mein Paß in meinem Rucksack befände. Plötzlich kam noch ein Zivi dazu, er wirkte sehr aggressiv. Ich fragte nochmals nach dem Grund der
Kontrolle: ohne Erfolg und forderte, losgelassen zu werden. Der Zivile hielt mir seinen Ausweis entgegen und sagte, ich sei festgenommen, ohne mir wiederum den Grund dafür zu
nennen. Dann wurde mir der Rucksack von der Schulter gezerrt. Ich rief: "Sie glauben wohl, daß Sie sich alles erlauben können !" Als Reaktion darauf sagte der Zivi, ich bekäme eine
Anzeige wegen Widerstand und Beleidigung. Der Zivi legte mir Handschellen ganz eng an, warf mich fast zu Boden und zog mir dann die nach hinten gefesselten Arme schmerzhaft nach
oben. Der Zivi und der Uniformierte zerrten mich zurück bis zu dem Punkt, wo meine Freundin festgehalten wurde, die Uniformierte trug meinen Rucksack. Der Polizist, der meine
Freundin - ihr wurden keine Handschellen angelegt - in Schach hielt, hatte zu ihr gesagt, er wisse, wer sie sei (ohne ihren Ausweis vorher gesehen zu haben).

Dann wurden wir hintereinanderlaufend zum Knast Klapperfeld gebracht. Obwohl die Handschellen schon ganz fest angelegt waren, zerrte der Zivi an meinen Handgelenken, daß ich es
vor Schmerzen kaum noch aushielt. Unser Transport wurde von den Typen beobachtet, die Birgit immer zum Prozeß karren. (Birgit war in der Zwischenzeit mit dem üblichen
Sirenengeheul gebracht worden, als uns die Polizei schon in der Mangel hatte.) Ich rief, "Sie halten es wohl nicht aus, wenn man Ihnen bei Ihrem schmutzigen Handwerk zuschaut und
sieht, wie Sie Birgit immer transportieren." Da schrie der Zivi zweimal: "Ihre Birgit Hogefeld ist mir ja so egal !" Kurz bevor wir am Klapperfeld eintrafen, sah unseren Transport noch der
Ersa zrichter des 5. Strafsenats. Am Knasteingang angekommen, konnten wir nicht sofort hinein, weil sich im Eingangsbereich ein Filmteam aufhielt. Dann wurden wir aber an diesen
Leuten vorbeigeführt, ich rief noch etwas von Prozeßöffentlichkeit und Verhinderung derer, ich konnte kaum noch reden vor Schmerzen, die der Zivi mir mit den Handschellen beifügte.
Ich wurde in eine Zellen verfrachtet mit den Handschellen. Erst nach 15 Minuten wurden sie mir abgenommen. Meine Freundin wurde vor der Zelle festgehalten. Ich trat mit Wucht die
ganze Zeit an die Zellentür, bis den Polizisten der Krach zuviel wurde und sie mich in eine Zelle im zweiten Stock brachten. Ungefähr um 11 Uhr kamen zwei Uniformierte und forderten
meinen Autoschlüssel heraus, um meinen Wagen zu durchsuchen. Die Angabe des Grundes der Durchsuchung wurde mir verweigert, meine Anwesenheit bei der Durchsuchung wurde
mir versagt. Die beiden meinten, wenn sie nichts finden würden, könnten wir gehen. Zu meiner Freundin sagten sie, wenn sie im Auto etwas fänden, hätten sie ja einen großen Fang
gemacht. Ihr wurde verweigert, zu mir in die Zelle zu kommen, mit der Begründung, wenn sie im Kfz etwas fänden, könnten wir uns ja absprechen.

Um 12 Uhr holten sie mich aus der Zelle und meine Freundin und ich wurden entlassen. (Der Prozeß war übrigens zu dieser Zeit zu Ende.)

Meine (zuvor im Rucksack befindliche) Kameraausrüstung und meine Autoschlüssel konnte ich jedoch erst um 16 Uhr beim 1. Polizeirevier abholen. Vermutlich reine Repression. Der
Film in der Kamera und ein original-verpackter wurden beschlagnahmt. Ich habe eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bekommen, der Grund unserer Festnahme
wurde mir nicht mitgeteilt.

 
 

Zum Stand des Verfahrens

Das Gericht hat bereits einige wichtige Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt. Mit der Ablehnung der Ladung der BKA-Schriftgutachterinnen wurde deutlich, daß die Demontage
dieser wackeligen und widersprüchlichen Gutachten, denen zentrale Bedeutung in der Anklagekonstruktion zukommt, um jeden Preis verhindert werden soll. Handschriftenbegutachtung
ist, wie in diesem und schon in anderen Verfahren erkannt wurde, keine allein auf objektiv nachvollziehbare, empirische Kriterien beruhende Wissenschaft, weswegen üblicherweise auf
die Ladung der GutachterInnen nicht verzichtet wird. Auf die hinzukommenden Besonderheiten der Gutachten in diesem Verfahren - Widersprüche zu früheren BKA-Schriftgutachten,
Begutachtung von Fotokopien, keine Berücksichtigung der äußeren und inneren Umstände der Schriftverursachung, Begutachtung von jeweils nur einer Unterschrift - wurde in der
Hauptverhandlung und im Info bereits mehrmals ausführlich eingegangen.

Alle diese Schriftgutachten wurden nach der Verhaftung Birgits bzw. zum Teil noch im Verlauf der Hauptverhandlung erstellt, umgeschrieben, ergänzt und so auf die Person Birgits
zugeschnitten.

Das gleiche gilt für die "Wiedererkennungs-zeugen", denen nach Bad Kleinen erneut Bilder vorgelegt wurden, bis sie ihre vormaligen Aussagen soweit modifizierten, daß sie auf Birgit
passten, wie bereits bezüglich der Autovermieter-Familie Walter/Chorfi anschaulich beschrieben. Auch bei den Zeugen zum Komplex Airbase/Pimental läßt sich dies gutachterlich belegen.
Prof. Dr. M. Stadler, Leiter des Instituts für Psychologie und Kognitionsforschung an der Uni Bremen hat zu den WiedererkennungszeugInnen anhand des ihm vorgelegten Materials und
der Akten in einem Gutachten nachgewiesen, daß der "Wiedererkennungsvorgang" so angelegt war, daß er mit hoher Wahrscheinlichkeit zur "Wiedererkennung" von Birgit Hogefeld
führen mußte. Eine besondere Rolle spielte dabei der vom BKA gefertigte Videofilm, der heimlich gedrehte Aufnahmen von Birgit beim Hofgang zeigt, die dann jeweils von 4
Vergleichspersonen nachgeahmt wurden. Diese Vergleichspersonen sind, wie schon mehrfach erwähnt, ziemlich kräftig und drei haben hellblonde, lange Haare. Ihre schauspielerischen
Talente sind eher mässig, so daß sie Nachahmungsversuche auch für völlig unbeteiligte BetrachterInnen als solche zu erkennen sind. Dazu hat Stadler einen Versuch mit StudentInnen und
Verwaltungsangestellten gemacht, denen er diesen Videofilm vorführte. Die Fragestellung war: Welche der dargestellten Frauen bewegt sich original und unbeobachtet? Fast die Hälfte der
BetrachterInnen deutete unter dieser Fragestellung Birgit aus. Außerdem sind die Lichtverhältnisse und die zeitliche Dauer der Aufnahmesequenzen bei Birgit anders als bei den vier
Vergleichspersonen.

Hinzu kommt, daß die drei blonden Vergleichspersonen aufgrund der von den jeweiligen ZeugInnen gegebenen TäterInnenbeschreibungen völlig ausscheiden. Birgit ist die einzige Frau in
dem Film, die kurze dunkle Haare hat und außerdem schlank ist. Nur eine der Vergleichspersonen hat kurze rötlich-braune Haare, aber einen eher kräftigen Körperbau.

Keiner der Zeugen im Komplex Airbase/Pimental (1985) hat bei früheren Lichtbildvorlagen Birgits Foto ausgedeutet. Relativ übereinstimmend waren aber deren Beschreibungen
allgemeiner Merkmale wie kurze dunkle Haare, schlank bzw. dürr, schmales Gesicht. In dem Videofilm weist nur Birgit diese Merkmale auf, welche aber keine eindeutigen
personentypischen Merkmale sind, sondern beispielsweise auf 20% der in den BKA-Bildmappen vorhandenen Fotos zutreffen, wie Stadler aufzeigte.

Weitere Fehlerquellen, die den Beweiswert der "Wiedererkennung" stark einschränken, liegen lt. Stadler in den bewußten oder unbewußten Hinweisen, die vor oder während der
Vernehmung durch Polizeibeamte gegeben wurden sowie in dem Druck, unbedingt jemanden identifizieren zu müssen, dem sich die ZeugInnen mehr oder weniger stark ausgesetzt fühlten.

Eine erhebliche Einschränkung liegt in der Wiederholung der Identifizierungsversuche, die bei allen ZeugInnen mehrfach gelaufen sind, da keine/r bei den ersten Vernehmungen Birgit
Hogefeld identifiziert hatte. Eine Identifizierung eines Tatverdächtigen durch einen Zeugen ist grundsätzlich nicht wiederholbar, hat auch der BGH 1961 entschieden.

Jede weitere Lichtbildvorlage, Gegenüberstellung, Videovorführung beeinflußt und überlagert die ursprüngliche Erinnerung der ZeugInnen und führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu
Falschidentifikationen, nämlich zum "Wiedererkennen" der in vorherigen Vernehmungen gesehenen Personen.

Der Antrag, Professor Stadler als Sachverständigen zu hören, wurde abgelehnt, da der erkennende Senat, der diese Art von Beweismittelproduktion zugelassen hat, laut Selbsteinschätzung
über genügend eigenen Sachverstand verfüge.

Gerade im Komplex Airbase/Pimental, also einem Vorgang, der sich 8 Jahre vor der Festnahme von Birgit ereignete, wurde erst nach 1993 auf die Person Birgit hin ermittelt und die
Zeugen erneut befragt. Eine Anklageschrift zuzulassen, in der steht, bei einer Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung könne über den allein durch die o.g. Schriftgutachten "belegten"
Autokauf hinaus möglicherweise Birgit als die Frau, die im "Western Saloon" den GI Pimental ansprach, identifiziert werden, das sagt bereits alles über jenen Sachverstand aus, den
ProzeßbeobachterInnen bereits zu genüge goutieren konnten. Gegenüberstellungen im Prozeßsaal sind aufgrund ihrer Suggestivwirkung beinahe ohne jeden Beweiswert. Daß
darüberhinaus der GI, der Birgit nach mehrmaliger Vorführung des Videobandes "sicher" identifizierte, 1985 bei seiner Vernehmung gesagt hatte, er könne die fragliche Frau nicht genau
beschreiben, da er kurzsichtig sei und an jenem Abend seine Brille nicht dabeihatte, macht jeden Kommentar zu dem in diesem Gerichtssaal versammelten Sachverstand überflüssig.

Hier sei daran erinnert, daß die Beteiligung Birgits (durch den Autokauf) an der Airbase-Aktion erst kurz vor Eröffnung der Hauptverhandlung in die Anklageschrift kam - ihr direkte
Beteiligung an der Erschießung Pimentals mit den o.g. Methoden in der Hauptverhandlung "nachzuweisen" soll das "lebenslänglich" und die "Schwere der Schuld" absichern, da keiner
der anderen Anklagepunkte das hergibt. Hinzu kommt, daß die Pimental-Erschießung im Zusammenhang mit der Airbase-Aktion die umstrittenste Aktion der RAF war und von Birgit in
mehreren Erklärungen als der größte Fehler der RAF bezeichnet wurde. Birgit, die in der Öffentlichkeit für die selbstkritische Auseinandersetzung mit RAF-Geschichte und für die
Deeskalationserklärung der RAF 1992 steht, soll wegen dem "Schlimmsten, was die RAF je gemacht hat", verurteilt werden, nachdem alle Kronzeugen- und Kooperations"angebote" von
ihr abgelehnt wurden.

Im Zusammenhang mit dem Anklagepunkt Bad Kleinen und des mit Stereothypen ("gerichtsbekannten Tatsachen") aus der 70er-Jahre-Mottenkiste agierenden Senats wurde beantragt, den
Politikprofessor W. D. Narr als Sachverständigen dazu zu hören, wie die RAF-Erklärungen seit 1992 und Birgits Erklärungen zu verstehen sind und in der Öffentlichkeit auch verstanden
werden.

Im April 1992 hatte die RAF erklärt: "Wir haben uns entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus
Wirtschaft und Staat (...) einstellen". Im Juni und August 92 haben sie ihre Entscheidung nochmals genauer erklärt. (Diese Erklärungen, die aufgrund ihres Umfangs hier nicht dokumentiert
werden können, sind abgedruckt in dem 1995 beim ID-Verlag erschienen Buch "Wir haben mehr Fragen als Antworten - RAF-Diskussionen 1992-1994").

Der erkennende Senat, die BAW sowie andere Teile des Verfolgungsapparates sehen in Birgits Erklärungen eine Propagierung des bewaffneten Kampfes, die ganz besonders raffiniert und
heimtückisch sein muß, da dies sonst niemand zu erkennen vermag. Auch hinter den RAF-Erklärungen verbirgt sich raffiniert und heimtückisch die "neue Strategie der Gegenmacht von
unten", die von der Öffentlichkeit nicht erkannt wird, so daß der Senat mit seinem Sachverstand aus jahrzehntelanger Staatssachutzjustiz ganz allein steht. So haben sie die Anhörung des
Sachverständigen Prof. W.D. Narr abgelehnt, denn entscheidend sei nicht, wie JournalistInnen/Öffentlichkeit die Erklärungen verstehen, sondern allein, wie das Gericht sie versteht. Denn
nur sie als Staatsschutzsenat wissen, was tatsächlich gemeint ist. Das haben sie auch schon in dem 1993 nachgeschobenen Urteil gegen Eva Haule dokumentiert, die allein aufgrund eines
ihr zugeordneten Diskussionsbeitrages zur Airbase-Aktion wegen Beteiligung an derselben zu lebenslänglich verurteilt wurde.

Die meisten Anträge im Zusammenhang mit der von der BAW erdachten "Verabredung, im Fall einer Festnahme zu schießen", worauf sich die Mordanklage wegen Bad Kleinen gründet,
wurden abgelehnt. Seitens der Ankläger wurden sie damit kommentiert, daß in Bad Kleinen ohne Zweifel geschossen wurde, "oder wie kam sonst Newrzella zu Tode" ? "Fragen Sie das
doch mal GSG 9 Nr 4", rief jemand aus dem Zuschauerraum.

...und Steinmetz?

Abgelehnt ist der Antrag, Steinmetz zu laden, (noch) nicht. Auf Steinmetz stützt sich die Anklageschrift an mehreren wichtigen Stellen. Steinmetz und dem, was mit ihm verknüpft ist, in
trauter Einigkeit mit Gericht und Bundesanwaltschaft mit Desinteresse zu begegnen, wäre absurd. Der Einsatz des Verfassungsschutzspitzels Steinmetz hat die Ermordung von Wolfgang
Grams und die Verhaftung von Birgit 1993 ermöglicht. Glaubwürdigkeit wird dem VS-Bullen und Mörder von Wolfgang durch die Ladung nicht verliehen, Er war er in Bad Kleinen und
die aktuelle Operetteninszenierung in den Medien um ihn und den BKA-Mann hat unmittelbar mit dem laufenden Prozeß zu tun, allein schon wegen dem Hinweis, der in allen Zeitungen
stand, es gäbe beim BKA irgendwelche Berichte, die "Birgit Hogefeld entlasten". Die Beiziehung dieser Berichte, deren inhaltliche Ergiebigkeit oder Glaubwürdigkeit wie bei allem, was
aus dieser Firma kommt, klar einzuschätzen ist, wurde ebenfalls durch die Verteidigung beantragt.

Diese Berichte zu "Weiterstadt", "Bad Kleinen", "Birgit Hogefeld" und "Steinmetz" werden derzeit von der BAW dahingehend "geprüft", ob sie etwas mit dem Verfahren zu tun haben.
Die letzte Verlautbarung der BAW war, sie beträfen nur andere Ermittlungen und seien vom BKA als geheim eingestuft. Vom Gericht hingegen hieß es gleichzeitig, daß, wie den
Presseberichten zu entnehmen war, die fraglichen Berichte doch vernichtet worden seien und deswegen nicht beigezogen werden.

Die Verteidigung hat sich in diesem Verfahren durchgängig mit einem Gericht auseinanderzusetzen, das mit der Arroganz der Mächtigen höchst sdachverständige Gründe erfindet, warum
Schriftstücke, Lichtbilder, Vernehmungsprotokolle etc., vor allem zu Bad Kleinen, aber auch zu den anderen Anklagepunkten, nicht Bestandteil der Prozeßakten sind. Beständig muß die
Verteidigung auf Beiziehung fehlender Aktenteile drängen. mußte, und die RichterInnen sich keinerlei Mühe gaben, ihr offenkundiges Desinteresse zu verbergen.

Herausgeber: InfoAG zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden, Tel: (0611/44 06 64): nur: mittwochs 19-20 und freitags: 20-21 Uhr

n Bestellungen bis 10 Exemplare bitte jeweils an regionale Vertriebsstelle, die am nächsten liegt. Bestellungen über 10 Exemplare an: Prozeßbüro B. Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967
Berlin

Prozeß gegen Ursel Quark ab Montag, 25.März, 9.30 OLG Koblenz - Demo: 16.30 Josef-Görres-Platz, Koblenz * Prozeß-Info: Alte Feuerwache Am Landwehrplatz 2, 66111
Saarbrücken * Dokumentation: Bad Kleinen, Steinmetz, Weiterstadt, Ermittlungsverfahren Fritzlarer Straße Frankfurt 56 Seiten 5,--DM plus Porto: Infoladen., Leipziger Str. 91, 60487
Frankfurt * clockwork nr. 39/40 jetzt erschienen

Aufruf zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld KOPIEREN & UNTERSCHRIFTEN SAMMELN!

Einsenden an: InfoAG Prozeß, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Birgit Hogefeld wurde am 27. Juni 1993 bei einer groß angelegten Polizeiaktion in Bad Kleinen festgenommen. Ihr Lebensgefährte Wolfgang Grams kam dabei ums Leben. Der
Bundesminister des Innern mußte zurücktreten. Der Generalbundesanwalt wurde entlassen. Zu viele Fragen insbesondere danach, wie Wolfgang Grams zu Tode kam, blieben
unbeantwortet.

Seit dem 15. November 1994 wird gegen Birgit Hogefeld vor dem 5. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt verhandelt.

Bei ihrer Festnahme war ihr vorgeworfen worden, Mitglied der RAF gewesen zu sein und sich an einem Anschlag auf den früheren Staatssekretär Tietmeyer beteiligt zu haben.

Im Januar 1994 änderte sich das: Der Haftbefehl gegen Birgit Hogefeld wurde wegen der Sprengung der JVA Weiterstadt und Mord und sechsfachem Mordversuch an Polizeibeamten in
Bad Kleinen erweitert, obwohl Birgit Hogefeld die einzige war, die in Bad Kleinen nachweislich nicht geschossen hat. Ziel dieser in der Öffentlichkeit vielfach kritisierten juristischen
Konstruktion ist es, die staatliche Version der Ereignisse in Bad Kleinen, daß nämlich Wolfgang Grams Selbstmord begangen hat und die eingesetzten Beamten vom Mordvorwurf
freizusprechen sind, festzuschreiben und mit der Legitimation gerichtlich festgestellter Tatsachen zu versehen. Zu Bad Kleinen soll es trotz der Zeugenaussagen, die dieser Version
widersprechen, keine Fragen mehr geben. Allein Birgit Hogefeld soll für die Toten in Bad Kleinen verantwortlich sein.

Nachdem sie mit dem Vorwurf des Mordes und Mordversuchs in Bad Kleinen überzogen worden war, wurde ihren Verteidigern zum selben Zeitpunkt signalisiert, dieser Anklagepunkt -
und damit das lebenslängliche Urteil - könne wieder zurückgenommen werden, wenn sie zu einer Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden bereit sei. Als der Bundesanwaltschaft klar
war, daß Birgit Hogefeld auf dieses Kronzeugenangebot nicht eingehen wird, tauchte dann in der Anklageschrift im März 1994 ein weiterer Mordvorwurf auf, der das Urteil mit
lebenslänglicher Haft unumgänglich machen soll: Der Generalbundesanwalt warf ihr nun - fast neun Jahre nach Abschluß der Ermittlungen - erstmals vor, an einem Anschlag auf die US-
Air-Base 1985 in Frankfurt und der damit im Zusammenhang stehenden Erschießung des US-Soldaten Pimental beteiligt gewesen zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt war in diesem
Verfahren nicht Birgit Hogefeld, sondern waren andere von der Bundesanwaltschaft als Beschuldigte geführt worden. Dementsprechend wurden und werden die bisherigen
Ermittlungsergebnisse nun auf Birgit Hogefeld zugespitzt: alte Gutachten werden durch neue abgelöst, die im Gegensatz zu den vorherigen jetzt zu dem Ergebnis kommen, daß Birgit
Hogefeld "wahrscheinlich" Käuferin eines PKW sei; tendenziöse Videofilme werden erstellt und Zeugen zur Wiedererkennung vorgeführt; die Verteidigung wird seit Beginn des
Verfahrens durch offensichtlich unvollständige Akten behindert.

Birgit Hogefeld, die sich in einer Prozeßerklärung sehr kritisch mit dem Anschlag auf die US-Air-Base und der Ermordung des US-Soldaten auseinandergesetzt hat, soll gerade mit diesem
Anklagepunkt die politisch-moralische Integrität abgesprochen werden.

Es hat lange Tradition, daß Angeklagte, die der RAF zugerechnet werden oder sich ihr zurechnen, von Seiten der Justiz nur eine Antwort bekommen: lebenslänglich. Nicht erst seit der
sogenannten Deeskalationserklärung der RAF vom April 1992 ist es aber an der Zeit, daß der Automatismus "lebenslänglich für RAF-Gefangene" durchbrochen wird.

Birgit Hogefeld darf nicht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden.

Name, Vorname Funktion Adresse Unterschrift

ErstunterzeichnerInnen:

Komitee für Grundrechte und Demokratie; Bunte Hilfe, Frankfurt; Choregraphisches Tanztheater, Freiburg; Wort-Musik-Theater Köln (Tine Seebohm & Andreas Debatin); Notruf für
vergewaltigte Frauen e.V., Frankfurt; Redaktion ak - analyse und kritik, Hamburg;

Dr.in soc. Gerontologie Ruth van Aalderen, Amsterdam; Prof. Dr. J. van Aalderen, Amsterdam; Dieter Adler, Rechtsanwalt, Hannover; Christian Arndt, Pastor, Hamburg; Andreas
Bachmann, MdBü Bündnis 90/Die Grünen / GAL, Hamburg; Lothar Baier, Schriftsteller, Frankfurt; Gabi Bauer, Journalistin, Hamburg; Jutta Bilitewski, Pastorin, Hamburg; Dr. Ulrich
Billerbeck, Soziologe, Frankfurt; Klaus Blancke, Rechtsanwalt, Berlin; Anwaltsbüro Bode, Magsam, Meins, Mohr, Nitschke, Hamburg; Vanessa Böttcher, Religionspädagogin, Hamburg;
Rainer Bolle, Religionspädagoge, Hamburg; Ivo Bozic, Journalist, Berlin; Sabine Brandt, Patorin, Essen; Ulrike Breil, Rechtsanwältin, Dortmund; Claudia Burgsmüller, Rechtsanwältin,
Wiesbaden; Eva Cerna, Tänzerin, Freiburg; Inge Czerwinske, Physiotherapeutin, Fürstenwalde; Gunter Demnig, Kunstpädagoge, Köln; Helga Dieter, Supervisorin, Frankfurt; Thomas
Ebermann, Hamburg; Dr. jur. Michael Empell, Diplom-Bibliothekar und Völkerrechtler, Heidelberg

E ff - Z (nächstes Info)

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 12
Juni 1996

Prozeßbericht April / Mai 1996

Im März 1996 tauchten in den Medien Berichte auf, daß im BKA Ermittlungsergebnisse, die belastend für den VS-Agenten Steinmetz und entlastend für Birgit Hogefeld seien, unterdrückt
und vernichtet wurden. Deswegen hat der suspendierte BKA'ler Lang , Abteilung "TE 11", Strafanzeige gestellt.

Die Verteidigung von Birgit hat beantragt, diesen BKA'ler als Zeugen zu hören. Diesem Antrag wurde stattgegeben, der BKA'ler wurde geladen. Da er länger in Urlaub war, konnte seine
Vernehmung erst am 14. Mai stattfinden. Bis dahin bestanden die Termine fast nur aus Ablehnungsbeschlüssen bezüglich der meisten Beweisanträge der Verteidigung.

Die besondere Sachkunde des "Wissenschaftlichen Dienstes" in Zürich

Einem weiteren Antrag der Verteidigung war zum Teil stattgegeben worden. Pfister, Leiter des "Wissenschaftlichen Dienstes" (WD) Zürich wurde am 7.5. als Sachverständiger und Zeuge
zur Untersuchung von zwei Projektilen vernommen. Diese Projektile, bei denen es sich um jene handeln soll, die dem Körper des in Bad Kleinen erschossenen GSG-9-Mannes Newrzella
entnommen worden waren, stammen laut WD aus Wolfgang Grams Waffe. Dieses Untersuchungsergebnis des WD ist in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Erstens bleibt etwas
undurchsichtig, ob Projektile ausgetauscht worden sind. Zweitens ist nicht mehr nachvollziehbar, ob und welche Veränderungen durch Voruntersuchungen beim BKA, LKA NRW und
dem Gutachter Brinckmann an Waffen und Projektilen vorgenommen wurden. Und drittens ist die Untersuchungsmethode des WD wissenschaftlich umstritten. Desweiteren sind wichtige
Teiluntersuchungen (Drallwinkel) vom WD unterlassen worden.

In der Befragung Pfisters stellte sich heraus, daß die Merkmale Rechtsdrall und 6 "Feldzugabdrücke" bei den meisten Waffen auftreten. Es war ein zähes Unterfangen für die Verteidigung,
dem Leiter des WD Kriterien für die Zuordnung eines Projektils zu einer bestimmten Waffe zu entlocken. Zitat Pfister: "Die Übereinstimmung der Merkmale muß so sein, daß der
Gutachter sie als solche empfindet". Auf die Frage, wo denn die Grenze zwischen Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung verlaufe: "Die Grenze kann so nicht gezogen werden.
Man sieht es...". Die Frage, ob er das nicht für Dritte nachvollziehbar darlegen könne, wieviel Übereinstimmung und an welchen Punkten es geben müsse, um zwei Projektile der gleichen
Waffe zuzuordnen: "Diese Frage kann so nicht beantwortet werden. Wenige Merkmale bis zu mehreren Merkmalen".

Zu der Frage, ob an den Waffen durch Voruntersuchungen vorgenommene Veränderungen nachvollziehbar waren: "Was sind schon Veränderungen" - außerdem sei das in diesem Fall
unproblematisch gewesen, da es eine Waffe war, die am Tatort gefunden wurde.

Fragen dazu, wie oft die Waffe beschossen wurde, wieviele Vergleichsprojektile vom BKA und vom WD produziert wurden, welche Untersuchungen Brinckmann zuvor gemacht hat, was
mit den Anhaftungen geschehen ist, die das LKA von den Projektilen entfernt hat, die Frage, ob es sich bei den im Gutachten abgebildeten Vergleichsprojektilen um jeweils ein anderes
oder das gleiche handelt, usw., beantwortete er mit: "Weiß ich nicht".

Wieviele und welche Personen an der Untersuchung und der Erstellung des Gutachtens beteiligt waren, beantwortete er mit: "Es waren mehrere". Welche Unterlagen und
Vorinformationen zur Verfügung gestellt wurden - "Das steht im Gutachten". Auf die Frage, welche Untersuchungen er selbst durchgeführt habe, sagte er, er habe beide Projektile selbst
angesehen. "Angesehen oder Untersuchungen durchgeführt?" wurde er gefragt. "Das ist kein Unterschied" war seine Antwort. Auch die Waffe habe er "selbst angeschaut."

Nach Faktoren, die in den Untersuchungen hinderlich waren, befragt, kam immerhin: Die letzten Asservate kamen 2 Monate nach dem "Zwischenfall" in Bad Kleinen. Zuerst sei die
"Kopfschwarte und das Gehirn von Wolfgang Grams" gekommen, ab da "wurde ein Ergebnis erwartet". Die Waffe von Wolfgang Grams mußte beim WD auf Fingerspuren untersucht
werden, obwohl sie bereits beim BKA war (bekanntlich waren dann keine Fingerspuren mehr zu finden). Asservate waren teilweise nicht korrekt verpackt. Auch die Waffen der GSG-9
waren aufgrund von Voruntersuchungen nicht mehr im Originalzustand.

Nach einer Patronenhülse befragt, die nicht einer der Waffen zugeordnet wurde, gab er an, daß sie in die "Munitionsbilanz hineinpaßt".

Er wurde auch gefragt, ob noch weitere Waffen zur Untersuchung vorlagen. Dies sei ihm "nicht bekannt".

Zu den Untersuchungen des WD ein Obergutachten durch Prof. Bonte anfertigen zu lassen, wurde vom Gericht abgelehnt. In der Ablehnung verstieg sich der erkennende Senat
argumentativ ausgerechnet dahingehend, die Sachkenntnis des Prof. Bonte, der eine international anerkannte Kapazität auf dem fraglichen Gebiet ist, in Frage zu stellen. Die von Pfister
ausgebreitete Sachkenntnis scheint dem Gericht vollkommen ausreichend. Der WD in Zürich wurde von der BAW mit den Untersuchungen zu Bad Kleinen wohl eher aufgrund der "guten
Erfahrungen" betraut, die deutsche Behörden in der Vergangenheit schon hatten. So hat der WD beispielsweise 1977 die "Untersuchungen" zu den Todesursachen der RAF-Gefangenen
in Stuttgart-Stammheim und Stadelheim gemacht und kam zu dem wunschgemäßen Ergebnis "Selbstmord". So auch zu den Todesumständen von Wolfgang Grams. Aber dies war nicht
Thema in der Verhandlung gegen Birgit Hogefeld.

Zachert (BKA): "Einverstanden, man muß jetzt mogeln".

Am 14.5. sagte der suspendierte BKA-Beamte Lang im Prozeß aus. Er bzw. eine Arbeitsgruppe aus 4 Beamten der BKA-Abteilung TE 11 war mit der Auswertung des in Bad Kleinen
gefundenen Schriftmaterials befaßt. Zuvor war er mit der Analyse der RAF-Erklärung von August 1992 beschäftigt.

Nach der Sprengung des Knastneubaus in Weiterstadt erstellte er einen Bericht (30.4.93) zu möglichen "Personenverbindungen und Tatbezügen", konzentriert auf die Bunte Hilfe
Darmstadt.

Von Juli 1993 bis zu seiner Versetzung bzw. Suspendierung 1994 erstellte er Auswertungsberichte zu den in Bad Kleinen gefundenen Schriftstücken sowie gesonderte Berichte: 1. Zu
"möglichen Bezügen von Frau Hogefeld zum Anschlag in Weiterstadt" - hier fand er keine.

2. Zur Frage der Mordanklage gegen Birgit wegen Bad Kleinen stellte er fest:

- es liegen dem BKA keine Anhaltspunkte vor, daß eine Absprache zum Schußwaffengebrauch innerhalb der RAF existierte

- die Vernehmung Steinmetz hat ergeben, daß es eine solche Absprache innerhalb der RAF nicht gibt

- Birgit hat in Bad Kleinen keinen Versuch gemacht, ihre Waffe zu ziehen

Folglich kann die Mordanklage nicht aufrechterhalten werden (Bericht vom 17.02.1994).

3. Der Bericht vom 10.02.1994 enthält eine "stark belastende Bewertung der Einbindung von Steinmetz" in die RAF und in die Weiterstadt-Aktion.

Des weiteren fertigte er einen 63-seitigen Bericht zu den in Bad Kleinen gefundenen Briefen, ferner zu "Quack" (Ursel Quack, Saarbrücken, die 129a-Anklage gegen sie wird demnächst
in Koblenz verhandelt, der Lang-Bericht kommt zu dem Ergebnis, daß der 129a gegen Ursula Quack jeder Grundlage entbehre), "Haule" (Eva Haule, Gefangene aus der RAF, diese
Analyse von TE 11 bezog sich auf ein Schreiben, das Eva Haule zugeordnet wurde und als "Beweis" für ihre Beteiligung an der Airbase-Aktion gewertet wurde. TE 11 war hier zu einer
anderen Bewertung gekommen als die BAW und 5. Strafsenat).

In der Analyse zur August-Erklärung "ermittelte" er zwei "normal lebende" Personen als "RAF-Mitglieder" sowie eine weitere als "UnterstützerIn". Diese Personen flossen auch in seinen
Bericht zu Weiterstadt als mögliche Tatbeteiligte ein.

Bezüglich der genannten Berichte, insbesondere zu denen zu Steinmetz, Birgit Hogefeld und Ursel Quack bestanden seitens der BAW Änderungswünsche. Nach dem Prozeß gegen Eva
Haule, wo ein entlastendes Gutachten der Abteilung TE 11 vorlag, sollte "so etwas zukünftig die Behörde nicht mehr verlassen", wurde er angewiesen. Da er die Berichte nicht geändert
hat, wurde ihre Vernichtung angeordnet. Andere sind verschwunden, z.B. der vom 30.04.93 sowie Teile einer "Ermittlungsakte Schwarzmann". Auch ein maschinengeschriebenes
"Kassiber" vom Januar 1993, das vom Verfassungsschutz an das BKA übergeben wurde und das angeblich von Birgit an Steinmetz war. Sowie weitere "Berichte" und "Vermerke".

"Einverstanden, man muß jetzt mogeln" ist eine handschriftliche Bemerkung Zacherts im Zusammenhang mit der Anordnung zur Vernichtung der Berichte.

Die Vernehmung des BKA-Beamten Lang wurde am 21.5. weiter fortgesetzt.

Birgit ließ den Zeugen bestätigen, daß in der Phase direkt nach Bad Kleinen schon vertuscht wurde, Gegenstände "verschwanden" oder vernichtet wurden. So sind zwei Briefe, die
Steinmetz bei sich hatte, verschwunden. Birgit fragte weiter, ob Lang den Zwischenbericht der Bundesregierung zu der Polizeiaktion in Bad Kleinen kenne, sie zitierte daraus, daß
"Hogefeld und die V-Person" ..." die Unterkunft aufgaben" und es zu einem "Treffen mit Freunden" kommen sollte. Daraus ergibt sich, daß in den Tagen vor Bad Kleinen eine
Abhörmaßnahme gelaufen sein muß. Diese ist über den Personenschutzsender gelaufen, den Steinmetz dabeihatte. Birgit fragte den BKA-Beamten, ob er die Protokolle dieses
Abhörsenders kenne. Er sagte, er habe keine Kenntnis über diese Gesprächsaufzeichnungen.

Birgit sagte, daß der Sender, d.h. Steinmetz, sich in Bad Kleinen in unmittelbarer Nähe zu Newrzella befand, so daß aus den Aufzeichnungen etwas darüber zu erfahren wäre, wie die
Schußabfolge in Bad Kleinen war und wie der GSG-9-Beamte Newrzella zu Tode kam.

Die Vernehmung des BKA-Beamten Lang wird am 11.6. fortgesetzt.

Zum bisherigen Prozeßverlauf

Prozeßerklärung von Birgit Hogefeld, 23.1.96

In der jetzigen Prozeßphase geht es um den Anklagevorwurf des Mordes und sechsfachen Mordversuchs in Bad Kleinen, und das, obwohl ich bereits überwältigt am Boden lag, bevor dort
der erste Schuß gefallen ist.

Unmittelbar nach den Ereignissen vom 27.06.93 verbreitete die Bundesanwaltschaft, daß ich die Schießerei eröffnet hätte. So war dann tagelang in den Medien von der `wild um sich
schießenden Terroristin' zu lesen und zu hören. Der damalige Generalbundesanwalt v. Stahl äußerte sich wider besseren Wissens noch am 30.06. gegenüber Pressevertretern, ich hätte
`ohne Rücksicht auf Menschenleben von der Schußwaffe Gebrauch gemacht'. Erst nachdem er von meinen Verteidigern zur Unterzeichnung einer Widerrufs- und Unterlassungserklärung
aufgefordert worden war, verbreitete er diese Lüge nicht weiter.

Das zuvor gegen mich eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde trotzdem nicht eingestellt.

Anfang Juli 93 verdichten sich Gerüchte von einer Hinrichtung Wolfgang Grams'; bis dahin unter Verschluß gehaltene Zeugenaussagen dringen an die Öffentlichkeit, Medienvertreter
beginnen mit eigenen Recherchen - am 4. Juli tritt Innenminister Seiters zurück und am 6. Juli muß Generalbundesanwalt v. Stahl seinen Stuhl räumen.

Gleichzeitig wird staatlicherseits alles unternommen, um die Selbstmordversion öffentlich durchzusetzen. Noch bevor irgendwelche Untersuchungen stattgefunden haben, spricht
Bundeskanzler Kohl `seinen Jungs' von der GSG 9 sein Vertrauen aus - oder sollte dieser Auftritt einfach bloß Zustimmung signalisieren ?

Zu diesem Versuch einer offiziellen Geschichtsschreibung gehört als zweites Moment die Behauptung, Wolfgang Grams hätte den Schußwechsel eröffnet und er hätte den GSG-9-Mann
Michael Newrzella erschossen.

Wenn schon die Gerüchte einer Hinrichtung nicht aus der Welt zu schaffen sind, dann soll doch wenigstens festgeschrieben werden, daß der gesamte Ablauf in Bad Kleinen deshalb so
war, wie er war, weil Raf-Mitglieder `blindwütige Killer' sind.

Daß es zu dieser Mordanklage wegen des Todes des Polizisten gegen mich gekommen ist, hängt aber auch damit zusammen, daß zum Zeitpunkt meiner Festnahme ein Haftbefehl gegen
mich vorlag, der nicht automatisch zu einem sicheren Lebenslänglich-Urteil geführt hätte. Mir wurde damals die Mitgliedschaft in der Raf vorgeworfen und eine Beteiligung am versuchten
Anschlag auf den früheren Finanzstaatssekretär Tietmeyer. Mit der Mordanklage wegen Bad Kleinen sollte also das Lebenslänglich sichergestellt werden.

Die juristische Konstruktion dafür geht so (Anklageschrift):

"Wolfgang Grams erschoß in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit der Angeschuldigten vorsätzlich den Kriminalkommissar Michael Newrzella und versuchte, weitere sechs
GSG-9-Beamte zu töten. Für dieses Tatgeschehen ist die Angeschuldigte Hogefeld als Mittäterin verantwortlich."

Um diese Konstruktion zu stützen, behauptet die Bundesanwaltschaft, in der Raf hätte es eine Absprache gegeben, in einer Festnahmesituation (Anklageschrift) "den Fluchtweg
erforderlichenfalls durch die Tötung von Polizeibeamten freizuschießen".

Diese Behauptung ist falsch, eine solche Absprache hat es nicht gegeben.

Daß es bei Festnahmen für Raf-Mitglieder nicht selbstverständlich war - wie die Anklage behauptet - blindlings Polizisten zu erschießen, wird schon daran deutlich, daß es von seiten der
Raf in den gesamten 80-er und 90-er Jahren (also seit nunmehr 16 Jahren) außer in Bad Kleinen nur ein einziges Mal in einer Festnahmesituation zum Einsatz einer Waffe gekommen ist.

Darüber hinaus gab es 1992 eine Deeskalationserklärung der Raf, in der wir erklärt haben, daß und warum wir den bewaffneten Kampf in der bisherigen Form nicht fortführen. In diesem
Text heißt es u.a.:

"Wir haben uns entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt
notwendigen Prozeß einstellen".

Das ist eine eindeutige Aussage dahingehend, daß dieser Kampf nicht weitere Menschenleben fordern soll und daß er sich von unserer Seite aus allenfalls gegen Sachen richtet.

Das war unbedingter Konsens in der gesamten Gruppe, und es ist die Haltung, die sich ein Jahr später in der Weiterstadt-Aktion widergespiegelt hat. Selbst die 10 oder 11 Wachleute und
Justizangestellten, die dort vor der Sprengung evakuiert worden waren und die hier vergangenen Herbst als Zeugen auftraten, haben das bestätigt. Viele von ihnen berichteten, daß durch
die Art, wie sie in dieser Nacht behandelt worden waren, sie zu der Einschätzung kamen, es müßte sich um eine Übung handeln und sie hätten es nicht mit Leuten zu tun, die den Knast
sprengen wollen, sondern mit Kollegen. Einer glaubte bis zum Explosionsknall an eine Übung.

In Weiterstadt waren mehrere Raf-Mitglieder stundenlang ausschließlich damit beschäftigt, all diese Leute in Sicherheit zu bringen.

Aber nochmal zurück zu Festnahmesituationen. Ich war als Raf-Mitglied zur Fahndung ausgeschrieben und mein Foto hing in jeder Post - selbstverständlich habe ich darüber nachgedacht,
wie ich mich in einer entsprechenden Situation verhalten kann, um nicht verhaftet zu werden. Und natürlich habe ich mit anderen darüber geredet, gerade auch in der Zeit um 1992, als wir
diese Erklärung geschrieben haben und uns lange und intensiv mit uns und der gesamten Raf-Geschichte beschäftigen - da kommt man automatisch auch auf die Frage nach Sinn und
Zweck von Bewaffnung.

Irgendjemand hatte einmal von einer erfolgreichen Flucht gehört und das funktionierte so:

Leute, die mit Haftbefehl gesucht wurden, wurden bei der Rückgabe eines gemieteten Autos von einer Spezialeinheit der Polizei erwartet. Sie haben das im letzten Moment bemerkt und
konnten einen der Polizisten in den Wagen ziehen. Dadurch war der Rest der Polizeitruppe in Schach gehalten und sie konnten mit diesem Polizisten wegfahren, ohne verfolgt zu werden.
Sie haben den Mann dann im übernächsten Waldstück laufenlassen und sind weggekommen.

Dieses Muster hatte ich als grobe Vorgabe einer erfolgreichen Flucht im Kopf, es erschien mir realistisch.

Die Beschreibung erklärt auch die Munitionsmenge. In der Anklage wird ja behauptet, die 66 Schuß, die ich insgesamt dabei hatte, würden unsere mörderischen Ambitionen widerspiegeln.

Das ist kompletter Unsinn. Gerade wenn das eigene Handeln defensiven Charakter haben soll, kann eine Fluchtsituation sehr viel Munition erfordern, um in die Luft zu schießen. Um in
der oben genannten Beschreibung zu bleiben: wenn man in einer solchen Situation einen Polizisten kurzfristig mitnimmt, kann es sein, daß man die Waffe zur Drohgebärde benutzen muß.

Wenn von einer Absprache überhaupt die Rede sein kann, dann von der, daß unser oberstes Ziel war, unser Leben und das Leben von anderen nicht zu gefährden.

Nach meiner Verhaftung in Bad Kleinen wurde ich ins Polizeirevier nach Wismar gebracht, dort habe ich den ganzen Spätnachmittag und Abend über immer wieder gefragt, wie es
Wolfgang Grams geht und ob er noch am Leben ist. Ein BKA-Beamter antwortete mir darauf stereotyp, daß er mir das nicht sagen dürfe, daß aber ein Bundesanwalt auf dem Weg nach
Wismar sei und der würde mich dann informieren. Gegen Mitternacht wurde ich aus der Zelle geholt und ein Mann, der sich mir als Bundesanwalt vorstellte, teilte mir mit, daß Wolfgang
Grams gegen 18 h gestorben ist. Der zweite oder dritte Satz dieses Mannes mir gegenüber war dann sinngemäß: `Frau Hogefeld, für Sie wird es keine Lebensperspektive in Freiheit mehr
geben, es sei denn, Sie arbeiten mit uns zusammen'.

Ich habe das Gespräch dann beendet.

Ende 1993 beantragte die BAW die Erweiterung des Haftbefehls gegen mich wegen Mord und sechsfachem Mordversuch in Bad Kleinen und wegen der Weiterstadt-Aktion.

Kurze Zeit darauf trat der Verfassungsschutz über einen Mittelsmann an meine Verteidiger heran. Mit wurde das Angebot unterbreitet, daß, wenn ich Aussagen mache, die zur Verhaftung
von Raf-Mitgliedern führen,

1. der Mordvorwurf wegen Bad Kleinen fallengelassen werde und

2. ich die Zusicherung erhielte, daß in diesem Fall bei einer Verhaftung niemand erschossen werden würde.

Ein Reporter sprach neulich angesichts des zweiten Punktes dieses Angebots von einer Ungeheuerlichkeit, die er nicht glauben wolle. Ich dagegen finde diese Zusicherung, niemanden bei
einer Verhaftung zu erschießen, im Rahmen eines Angebots an mich nur logisch.

Die zuständigen Behörden haben damals die Chance für meine Kollaboration sicherlich nicht hoch eingeschätzt. Der Versuch, mir, also einer Frau, die gerade ihren Lebensgefährten bei
einer Polizeiaktion verloren hatte und von der bekannt ist, daß sie dabei nicht von Selbstmord ausgeht, mir damals Angebote auf Zusammenarbeit zu machen, mußte mit Zusicherungen
verbunden sein, durch die ich mir meine Freundinnen und Freunde nicht mit Einschußlöchern in den Köpfen und Körpern hätte vorstellen müssen. Anders hätte ein solches Angebot
überhaupt keinen Sinn ergeben.

Ich habe dieses Angebot abgelehnt - und die Antwort folgte auf den Fuß:

Im März 94 bekam ich die Anklageschrift und darin wurde mir plötzlich auch die Beteiligung an der Aktion gegen die US-Air-Base in Frankfurt 1985 und der Erschießung des US-
Soldaten Pimental vorgeworfen.

1994, also 9 Jahre nach der Aktion und nach Abschluß der Ermittlungen wird auf einmal behauptet, ich sei die Käuferin von zwei Autos gewesen, die für diese Aktion benutzt worden
seien, und ich sei die Frau, die mit Edward Pimental diese Diskothek in Wiesbaden verlassen hätte.

Nachdem 1985 die Ermittlungen wegen der Autokäufe mit einem Haftbefehl gegen Sigrid Sternebeck abgeschlossen worden waren, der dann kurz nach ihrer Festnahme in der DDR
aufgehoben wurde, fängt die Bundesanwaltschaft nach meiner Verhaftung an, diese Aktionen auf meine Person hin zu ermitteln.

Das entspricht dem Grundprinzip ihrer Arbeitsweise, sie ermitteln immer auf die Person hin die sie als `Täter' ausmachen wollen. Nach meiner Verhaftung war das natürlich ich, und so
wurde ich plötzlich zur `Air-Base-' und `Pimental-Mörderin' erklärt.

Dafür war es für die Ermittlungsbehörden ganz unerheblich,

- daß Frau Sternebeck, nach der in diesem Zusammenhang ja lange Jahre gefahndet worden war, ein völlig anderer Frauentyp ist als ich,

oder

- daß es aus dem Jahr 85 ein BKA-Schriftgutachten über die Unterschrift auf den Kaufverträgen gibt, das mich ganz unten in der Wahrscheinlichkeitsskala einordnet - nämlich: es sei nicht
auszuschließen, daß es sich um meine Schrift handelt.

Das erste `Problem', das die Bundesanwaltschaft zur Behauptung meiner Beteiligung aus der Welt schaffen mußte, war, daß sowohl die Autoverkäufer als auch die Soldaten, die mit
Pimental in der Diskothek gewesen waren, nie bei der Vorlage meiner Fotos Ähnlichkeiten zu der oder den gesuchten Frauen festgestellt haben.

Dieses Problem sollte mit einem Videofilm gelöst werden.

Beim Hofgang in Bielefeld wurde ich verdeckt gefilmt und 4 andere Frauen, die auf dem Videofilm zu sehen sind, versuchten mich zu imitieren.

Alle Zeugen hatten 85 die gesuchte Frau als dunkelhaarig mit Kurzhaarschnitt und als schlank bezeichnet. Von den anderen Frauen auf dem Videofilm waren 3 hellblond und hatten
mittellange bis lange Haare, nur eine außer mir hatte kurze, rötlich-braue Haare. Alle vier Frauen waren von der Statur her kräftig.

So war also ich auf diesem Videofilm die einzige Frau, die dunkle kurze Haare hatte und schlank war.

Folgerichtig stellten dann auch mehrere der Zeugen Ähnlichkeiten bloß zu der anderen dunkelhaarigen Frau und mir fest. Nur ein einziger Zeuge glaubt, mich als die Frau
wiederzuerkennen, die er 85 in der Diskothek gesehen hatte. Er gilt als Hauptbelastungszeuge der Anklage. Ausgerechnet dieser Mann hatte 1985 bei einer polizeilichen Vernehmung, als
er aufgefordert wurde, die von ihm gesehene Frau genauer zu beschreiben, gesagt, das könne er nicht, er sei nämlich kurzsichtig und habe an diesem Abend seine Brille nicht dabei gehabt.

 
Auch das `Problem' mit der unteren Kategorie des Schriftgutachtens von 1985 wurde zwischenzeitlich gelöst. Die Bundesanwaltschaft hat nach meiner Verhaftung ganz einfach ein neues,
diesmal Hogefeld-bezogenes Gutachten in Auftrag gegeben. Gegen 140 Schriftproben von mir standen eine Handvoll Proben von anderen Frauen und das Ergebnis dieses neuen
Gutachtens war dann, daß ich `wahrscheinlich' die Urheberin der Unterschriften unter den Kaufverträgen für die Autos sei.

Im November 94 begann hier vor diesem Senat der Prozeß gegen mich und seitdem werden alle Anklagepunkte vom Gericht `abgearbeitet'. Das Ritual, das sich seitdem hier ein- bis
zweimal wöchentlich abspielt, funktioniert wie folgt:

Wenn Zeugen (es werden ausschließlich solche geladen, deren Aussagen mich belasten, diejenigen, deren Aussagen mich entlasten würden, hört dieses Gericht hier nicht), wenn also
Zeugen geladen werden, dann fragt das Gericht in Gestalt des Richters Klein all die Punkte aus früheren Vernehmungen ab, die mich belasten sollen. Nie ist es diesem Gericht eingefallen,
Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten in Zeugenaussagen nachzugehen, wenn das eine Entlastung von mir zur Folge haben könnte.

Nie wäre diesem Gericht beispielsweise der Gedanke gekommem, den sogenannten Hauptbelastungszeugen wegen der Pimental-Erschießung bezüglich seiner Kurzsichtigkeit und seiner
Aussage, daß er an dem betreffenden Abend seine Brille nicht dabei gehabt hatte, zu befragen. Im Gegenteil, nachdem meine Verteidiger diesen Punkt hier angesprochen hatten, wurden
die danach hier als Zeugen vernommenen US-Soldaten in der Richtung befragt, daß sie vermuten sollten, der Hauptbelastungszeuge hätte damals auch ohne Brille ganz gut sehen können.
Da wird nicht etwa ein fachärztliches Gutachten in Auftrag gegeben, sondern da werden Soldaten befragt, ob sie nach fast 10 Jahren nicht auch der Meinung sind, es könnte sein, daß der
Hauptbelastungszeuge damals ohne Brille mit ihnen Fernsehen geschaut hätte.

Oder im Fall Tietmeyer, wieder geht es um ein Auto. Die Autovermieterin, die anfangs mit absoluter Sicherheit eine andere Frau vom Fahndungsplakat wiedererkannt haben will (übrigens
eine blauäugige, blonde Frau), will später mich wiedererkannt haben - und zwar, nachdem ich in ihrer Lokalzeitung als Täterin abgebildet worden war. Bei einer Gegenüberstellung nach
meiner Verhaftung, bei der ich meine Hand vors Gesicht hielt, sagte sie aus, sie hätte mich trotzdem wiedererkannt, und zwar an meinen O-Beinen.

Eine solche Angabe könnte für ein Gericht ja eigentlich Grund dafür sein, klären zu wollen, ob eine Angeklagte überhaupt O-Beine hat oder nicht. Letzte Woche habe ich mich von einem
Orthopäden untersuchen lassen und dabei auch die Frage meiner angeblichen O-Beine angesprochen. Der Mann hat mich vermessen und kam zu dem Ergebnis, ich hätte völlig gerade
Beine.

Trotzdem habe ich allen Grund, zu vermuten, daß ich hier auch in diesem Fall und auch aufgrund der Wiedererkennung anhand meiner angeblichen O-Beine verurteilt werden soll.

Das waren jetzt nur einige Beispiele aus über einem Jahr Hauptverhandlung hier vor diesem Senat - die Liste ähnlich gelagerter Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen.

Ich will heute hier aber auch meine eigene Einstellung zu diesem Prozeß ansprechen.

Nachdem vor über einem Jahr die Hauptverhandlung begonnen hatte, war in den Medien zu hören und zu lesen, daß fast alle Beobachter sich in die 70-er Jahre zurückversetzt fühlten.
Davon, daß sowohl Gericht, Bundesanwaltschaft als auch Verteidigung einen Prozeß nach längst überholten Ritualien inszenieren würden. Und mir selbst ist das ja auch so vorgekommen,
ich war in den 70-er Jahren als Zuschauerin im Stammheimer Prozeß und im Stockholm-Prozeß und vieles, was dann Ende 94 hier anfing, hat auch mir Parallelen zu dieser Zeit
aufgedrängt.

Meine Verteidiger und ich hatten damals, kurz nach Prozeßbeginn, ausführliche Diskussionen an dieser Frage und sind zu dem Schluß gekommen, daß wir von unserer Seite alles tun
wollen, um zu dokumentieren, daß wir diesen Part hier nicht übernehmen wollen. Wir haben nur noch ganz wenige Befangenheitsanträge gestellt (und das nicht, weil weitere unbegründet
gewesen wären), wir haben bewußt auf dieses Verteidigungsmittel verzichtet, wir haben auf Vereidigungen verzichtet, wir haben also alles, was nach Ritual aussehen könnte, unterlassen.

In vielen Diskussionen aus den den letzten Jahren und aus eigenen Reflexionen über die Raf-Geschichte ist mir klar geworden, daß beide Seiten - also Raf und Staat - immer wieder nach
bekannten und eingefahrenen Mustern agiert und reagiert haben.

Das galt natürlich auch für die Prozesse und genau deshalb war es mir wichtig, hier aus diesem Muster auszubrechen und daß meine Verteidiger eine ausschließlich sachbezogene und
sachliche juristische Verteidigung machen.

Ich wollte ganz einfach wissen, ob, wenn ich versuche, den Gegenpart im alten und eingespielten Muster nicht zu liefern, ob dann trotzdem alles so weiter abläuft wie schon immer seit den
70-er Jahren.

Soviel zur Seite meiner Verteidigung -

die Reaktionen des Gerichts darauf waren durchgängig folgende:

- wie schon oben erwähnt, der Senat hat in diesem Jahr hunderte Male dokumentiert, daß er ausschließlich an der Zusammentragung von Belastungsmaterial gegen mich interessiert ist.

- Akten waren oft unvollständig, und der Senat hat oft monatelang nichts unternommen, um sie zu vervollständigen, selbst wenn bei Zeugen, die hier gehört wurden, frühere
Vernehmungsprotokolle offensichtlich fehlten, stieß das auf seiten des Gerichts weder auf Verwunderung noch überhaupt auf Interesse.

- wenn Gutachten verlesen wurden, wurde jeder, also tatsächlich jeder Antrag meiner Verteidiger auf Ladung der Gutachter, um sie hier direkt über die Gutachten befragen zu können,
zurückgewiesen. Auch bei dem vorhin erwähnten äußerst widersprüchlichen Schriftgutachten war das so.

- wenn meine Verteidiger ihre Anträge auf Ladung solcher Sachverständigen oft ausführlich begründet haben, sind regelmäßig ein oder mehrere Senatsmitglieder demonstrativ in
Schlafstellung auf ihren Sesseln zusammengesunken - ob sie tatsächlich schliefen, kann ich nicht sagen.

- unzählige Interviewanträge von Journalisten wurden abgelehnt und zwar mit der Begründung, ich hätte in meinen Prozeßerklärungen den bewaffneten Kampf propagiert und würde ein
Interview nutzen, um dazu aufzurufen.

Wer meine Texte und Erklärungen seit meiner Verhaftung kennt und darin einen derartigen Aufruf sieht, der ist entweder dumm oder unerträglich ignorant. Im Fall dieses OLG-Senats
vermute ich das zweite.

An die Adresse dieses Senats will ich hier folgendes sagen:

Sie haben in diesen 15 Monaten der Hauptverhandlung all meine Bilder und Vorbehalte, die ich jemals in meinem Leben gegenüber deutschen Staatsschutzsenaten hatte, voll und ganz
bestätigt - wirklich alle !

Und vermutlich sind Sie engstirnig und verblendet genug, darin noch eine Auszeichnung zu sehen, auf die Sie stolz sind.

Zum Schluß dieser Erklärung will ich auf den heutigen Verhandlungstag zu sprechen kommen.

Geladen ist der Zeuge GSG-9 Nr. 4 - außer einem Lokomotivführer ist er der einzige in Bad Kleinen Anwesende, der hier als Zeuge gehört werden soll.

Zu dem gesamten Komplex Bad Kleinen werden hier vor Gericht also zwei der dort anwesenden Personen gehört, außerdem war noch ein Gerichtsmediziner hier, ansonsten wurden zwei
Gutachten vorgelesen - die Anträge meiner Verteidiger auf Ladung der Gutachter wurden wie üblich zurückgewiesen. Bad Kleinen, die Mord- und Mordversuchs-Anklage, sollen von
diesem Gericht an vier oder fünf Verhandlungstagen mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von etwa drei Stunden abgehandelt werden - das ist vermutlich Rekordzeit.

Für dieses Gericht scheint damit alles klar zu sein, zumindest wird so getan. In Wirklichkeit geht es wohl darum, zu verhindern, daß hier doch noch über die Todesumstände von Wolfgang
Grams geredet werden muß - denn eine zeitliche Trennung zum Tod von Michael Newrzella ist real unmöglich.

Das zweite ist, daß auch die tatsächlichen Todesumstände Michael Newrzella hier nicht ans Licht der Öffentlichkeit dringen sollen. Ich habe hier vor einigen Wochen schon einmal gesagt,
daß der GSG-9 Mann Newrzella nicht der erste Polizist wäre, der bei einem solchen Einsatz versehentlich von seinen eigenen Leuten erschossen wurde.

Ich behaupte nicht, daß es so gewesen ist, das weiß ich nicht. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, daß der in Anklageschrift dargestellte Ablauf, so wie er da behauptet wird, nicht
gewesen sein kann.

Es gibt in den gesamten Ermittlungsakten unzählige Umstimmigkeiten und Widersprüche - ich kann sie hier nicht alle aufführen, aber ich will einen Punkt nehmen, an dem sich anschaulich
nachzeichnen läßt, daß die von der Bundesanwaltschaft dargestellte Version vom Ablauf auf dem Bahnhof von Bad Kleinen falsch sein muß.

In der Anklageschrift heißt es:

"Wolfgang Grams (zog) die von ihm mitgeführte Pistole, drehte sich unmittelbar nach Erreichen der Bahnsteige 3 / 4 um und feuerte in Tötungsabsicht auf die ihn verfolgenden Beamten."
Weiter heißt es dann:

"Wolfgang Grams traf zunächst den ersten Verfolger, Polizeikommissar Newrzella, der selbst seine Waffe noch nicht gezogen hatte, mit drei Schüssen. Polizeikommissar Newrzella
erreichte noch den Bahnsteig, ehe er zusammenbrach."

Noch mal zusammengefaßt: Wolfgang Grams soll also die Treppe hochgelaufen sein, sich oben angekommen umgedreht haben und aus dieser Position zumindest drei Schüsse auf die die
Treppe hochstürmenden GSG-9 Männer abgegeben haben.

Wenn diese Darstellung stimmt, dann müssen in einem bestimmten und eng eingrenzbaren Bereich des Bahnsteigs 3 / 4 leere Hülsen aus der Waffe von Wolfgang Grams gefunden
werden.

Bei der Waffe handelt es sich um eine CZ, diese Waffe wirft die leeren Patronenhülsen nach rechts hinten aus, und zwar in einem Winkel von 125deg. und 2,15 bis 2,35 m weit. In diesem
Bereich und in der näheren Umgebung wird aber überhaupt keine einzige Hülse aus der CZ gefunden. Alle in den Akten markierten Fundorte von CZ-Patronenhülsen befinden sich im
Gleisbett 4 und zwar in einem Bereich, der sehr viele Meter von der Stelle entfernt ist, wo sie hätten liegen müssen, wenn Wolfgang Grams tatsächlich vom Treppenabsatz aus geschossen
hätte.

Die angegebenen Fundorte der CZ Patronenhülsen decken sich im übrigen mit den Ausagen einiger Zeugen, die nämlich gesagt haben, Wolfgang Grams hätte erst auf dem Bahnsteig seine
Waffe gezogen. Wie also kam dann der GSG-9 Mann, der ja auf der Treppe bereits schwerverletzt worden sein soll, ums Leben ?

Dies ist nur einer, wenn auch einer der ins Auge springenden Widersprüche in der Bad Kleinen Mordanklage gegen mich. Eigentlich sollte man denken, daß ein solcher Widerspruch für
ein Gericht ausreichen sollte, um Zeugen zu hören, Gutachter zu laden, eben zu versuchen, den tatsächlichen Geschehensablauf zu erhellen - nicht so für diesen Staatsschutzsenat.

Anstatt wirklich in die Beweisaufnahme einzusteigen, setzen sie darauf, möglichst schnell die Beweisaufnahme für abgeschlossen zu erklären.

Ab heute werden meine Verteidiger anfangen, ihre Beweisanträge zu stellen: zu Bad Kleinen, aber auch zu den anderen Anklagepunkten.

Wenn in den vergangenen 15 Monaten immer wieder Anträge meiner Verteidigung auf Ladung z.B. von Gutachtern abgewiesen worden sind, dann meistens mit dem Zusatz des
Senatsvorsitzenden Schieferstein: `Aber Sie können ja zu diesem Punkt noch einen Beweisantrag stellen.' - worauf meine Verteidiger regelmäßig mit: `ja, das werden wir auch' antworteten.

Dem Gericht ist also hinlänglich bekannt, daß von seiten der Verteidigung zu allen Anklagepunkten verschiedenste Beweisanträge gestellt werden.

Wer nun daran interessiert ist zu erfahren, wie dieser Senat mit den Beweisanträgen meiner Verteidiger umzugehen gedenkt, kann bei der Gerichtspressestelle anrufen und nach dem
geplanten weiteren Ablauf des Verfahrens gegen mich fragen.

Dort wird seit etwa 2 Wochen interessierten Journalisten mitgeteilt, daß für den 5. Februar, also für übernächste Woche, das Plädoyer der Bundesanwaltschaft vorgesehen ist.

Das dazu, wie hier mit den Beweisanträgen meiner Verteidigung verfahren werden soll.

Verschwundene Berichte und ein suspendierter BKA-Beamter

Prozeßerklärung von Birgit Hogefeld, 4.3.96

Vorletzte Woche trat der Rechtsanwalt eines suspendierten BKA-Beamten mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der es heißt, daß ein 60-seitiger Bericht seines Mandanten vom
August 1993 zur Interpretation und Bewertung von in Bad Kleinen sichergestellten Briefen vernichtet worden sei.

Dieser Bericht sowie andere Auswertungen seien zurückgenommen bzw. ihre Vernichtung angeordnet worden, weil sie - so der Rechtsanwalt - in ihren Ergebnissen der
Bundesanwaltschaft in die Quere gekommen seien, denn die Berichte kämen zu belastenden Aussagen gegen Klaus Steinmetz und zu entlastenden Ergebnissen für mich.

Wer dieses Verfahren verfolgt, weiß, daß es der Arbeitsweise der Bundesanwaltschaft und dieses Gerichts entspricht, ausschließlich belastendes Material gegen mich zusammenzutragen;
dabei wird mit vielfältigen Manipulationen und auch mit dem Zurückhalten von Akten gearbeitet.

Es geht diesem Staatsschutzsenat nicht um die "Wahrheitsfindung", es geht hier vom ersten Tag an darum, eine Indizienkette für ein Lebenslänglich-Urteil gegen mich zusammenzubasteln.

Im Zusammenhang mit den durch diesen BKA-Beamten bewerteten Briefen ist auffällig, daß es in den mir vorliegenden Ermittlungsakten diesbezügliche Ermittlungsaufträge gibt, dann
aber die Ergebnisse fehlen. Das kann auch dem Senat nicht entgangen sein. Wahrscheinlich ist, daß Herr Hemberger bzw. seine Behörde den Auftrag für die Vernichtung der ihnen
unliebsamen Berichte aus dem BKA erteilt hat.

Soweit zu den unterschlagenen entlastenden Ergebnissen auf mich bezogen - aber was hat es mit dem Belastungsmaterial gegen Steinmetz auf sich?

Seit jetzt fast 3 Jahren werden immer wieder Spekulationen über eine Mitgliedschaft von Steinmetz in der Raf und seine Beteiligung an der Weiterstadt-Aktion in die Öffentlichkeit lanciert.

Die Gründe dafür sind vielfältig, da geht es um

- parteipolitische Machtkämpfe und Intrigen, wie ursprünglich wohl gegen den damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und späteren SPD-Kanzlerkandidaten Scharping.
Scharping sollte mit der Behauptung von Steinmetz` Beteiligung an der Weiterstadt-Sprengung unterstellt werden, er hätte entweder sein Innenministerium nicht unter Kontrolle gehabt
oder eine politisch nicht vertretbare Entscheidung getroffen,

- Rivalitäten zwischen verschiedenen Behörden, v. a. zwischen der Bundesanwaltschaft und dem Bundesamt für Verfassungsschutz - und der Durchsetzung ihrer jeweiligen im Fall
Steinmetz zuwiderlaufenden Interessen. Verfassungsschutzkreise wollten natürlich nicht, daß der Spitzel in Bad Kleinen `verbrannt` wird, und selbst nach Bad Kleinen haben sie versucht,
ihn wieder bei seinen damals immer noch vertrauenseligen Freunden in Wiesbaden zu integrieren,

- um die Kriminalisierung von Leuten aus dem linksradikalen Spektrum, Beugehaftbefehle und Ausschreibung zur Fahndung

- und nicht zuletzt kommt die Story von den von Geheimdiensten kontrollierten und gesteuerten Guerilla-Gruppen selbst in der linken Öffentlichkeit seit vielen Jahren immer wieder gut an.
Ob mit der Behauptung, die zur Multi-Agentin aufgebaute Monika Haas sei in die Entführung der Lufthansa-Maschine 1977 verwickelt gewesen und hätte von der Schleyer-Entführung
gewußt, oder die Raf hätte von der Wohnung eines VS-Mitarbeiters namens Nonne aus den Herrhausen-Anschlag organisiert, oder eben jetzt, der VS-Spitzel Steinmetz hätte in den
Koffern seines Motorrads den Sprengstoff für die Weiterstadt-Aktion transportiert.

Daß zur Untermauerung solcher Behauptungen und Konstruktionen einerseits zuwiderlaufende Berichte gefälscht werden müssen oder auf der anderen Seite da, wo Beweislücken klaffen,
Fälschungen vorgenommen werden, liegt auf der Hand. Alle konnten das wissen, nur nachzuweisen war es in den seltensten Fällen - denn nur wenige haben soviel Zivilcourage wie dieser
suspendierte BKA-Beamte und machen das öffentlich.

Zu den Fälschungen im Zusammenhang mit der Behauptung der Beteiligung von Steinmetz an der Weiterstadt-Aktion gehören beispielsweise die angeblichen Sprengstoffspuren in den
Koffern von Steinmetz' Motorrad. Bei einer - wie jetzt auch öffentlich gewordenen - Fälschungsabteilung im BKA ist das ein leichtes, sie können dort entweder die Gutachten manipulieren
oder sie legen sich die Spuren selbst - das Steinmetz-Motorrad war vor den Untersuchungen schon länger in den Händen der Polizei gewesen. Darauf, die eigenen Konstruktionen und
falschen Behauptungen mittels gefälschter Sprengstoffspuren zu untermauern, scheinen sich hierzulande bestimmte Behörden spezialisiert zu haben. Auch bei dem oben im Zusammenhang
mit dem Herrhausen-Anschlag erwähnten VS-Mitarbeiter Nonne sollte der Beweis dafür, daß er die Raf unterstützt hätte, darüber erbracht werden, daß in seinem Keller angeblich
Sprengstoffspuren nachgewiesen werden konnten.

Welche Art Manipulationen den Gutachten für die Sprengstoffspuren in diesen Koffern zugrunde liegen, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall gab es an den Gegenständen von Steinmetz
keine Sprengstoffspuren, die mit der Raf oder der Weiterstadt-Aktion in Verbindung stehen.

Aus der von dem Rechtsanwalt des BKA-Beamten genannten BKA-internen Fälscherwerkstatt stammt möglicherweise eine Fälschung, die sich nicht in den Akten befindet.

Am 29. April `94 habe ich im Rahmen einer Zeugenvorladung durch die Bundesanwaltschaft einige Minuten mit Bundesanwalt Pflieger geredet, denn ich wollte wissen, gegen wen und in
welche Richtung die Ermittlungen laufen. Pfliegers erste Frage war, ob ich mich in Bernkastel-Kues mit Steinmetz getroffen hätte, er hätte nämlich dazu ein Kassiber vorliegen. Er hielt mir
einen Zettel vor die Nase, den ich mir abgeschrieben habe, und darauf stand:

`termin 15.4., 12 uhr, bernkastel-kues, nächste kneipe oder cafe von bahnhof kues, pass die nächste zeit auf dich auf'.

Es ist völlig absurd zu denken, daß eine illegale Gruppe wie die Raf unverschlüsselt Zeitpunkt und Ortsangabe zukünftiger Treffen verschickt. So etwas verbietet sich in einer solchen
Lebenssituation von selbst, denn im Fall, daß ein solcher Zettel in falsche Hände fällt, würde das Festnahme oder Tod für diejenigen bedeuten, die zu diesem Treffen gehen.

Ich nenne dieses Beispiel des gefälschten Kassibers hier deshalb, weil ich vermute, daß diesem suspendierten Beamten auch gefälschte Briefe und Schriftstücke zur Begutachtung vorgelegt
worden sind - anders kann ich mir zumindest nicht erklären, wie er in seinem Bericht zu einer `tragenden Rolle' Steinmetz' in der Raf gekommen sein könnte.

In den gesamten Steinmetz-Aussagen und Ermittlungen zu ihm gibt es eine Vielzahl gefälschter Indizien und Lügen - es kann nicht meine Aufgabe sein, hier zur Aufklärung beizutragen,
schon deshalb nicht, weil alles, was ich nicht als Fälschung entlarven würde, im Umkehrschluß als Wahrheit verkauft werden würde. Ich habe das in diesem Fall nur deshalb gemacht, weil
die Steinmetz-Weiterstadt-Konstruktion eine Kriminalisierungswelle gegen Menschen aus dem linksradikalen Spektrum in Gang gesetzt hat und weiter in Gang setzt.

Darüber hinaus ist es aber auch interessant, sich Gedanken zu machen, warum diese Behauptung von Steinmetz` Beteiligung an der Weiterstadt-Sprengung gerade in den letzten Monaten
wieder in die Öffentlichkeit gepuscht worden ist.

Ein Grund dafür ist, das vermute ich, dieser Prozeß, ein weiterer die bevorstehenden Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz.

Seit Dezember wird hier der Anklagepunkt `Bad Kleinen`verhandelt. Der Senat hat in Überrumpelungsmanier versucht, den Komplex Bad Kleinen in wenigen Tagen abzuhandeln und
den gesamten Prozeß schnell zuende zu bringen.

Von Seiten der Politik wie auch der Justiz wird seit 1993 alles unternommen, um eine Aufklärung der Todesumstände von Wolfgang Grams und der gesamten Ereignisse von und um Bad
Kleinen zu verhindern. Die Entscheidung, mich für den Tod des GSG-9 Manns Newrzella verurteilen zu wollen, hat diesen Prozeß zu dem einzigen Ort gemacht, an dem `Bad
Kleinen`öffentlich verhandelt werden muß.

Gericht und Bundesanwaltschaft ließen nichts unversucht, um diesen Anklagekomplex hier zu einem zeitlich auf Sekunden begrenzten Rahmen zu reduzieren, um die Todesumstände
Newrzella und den Tod von Wolfgang Grams auseinanderzudividieren. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, daß das Thema Bad Kleinen und eben auch die Fragen um den Tod von
Wolfgang Grams wieder in den Blick der Öffentlichkeit gerückt wurden.

Zudem ging der Plan des Gerichts, den Prozeß gegen mich jetzt in aller Eile, praktisch ohne wirkliche Beweisaufnahme zu Bad Kleinen und ohne jegliche Würdigung der Beweisanträge
meiner Verteidigung abzuschließen, nicht auf.

Das ist, denke ich, der Hauptgrund dafür, warum zum jetzigen Zeitpunkt die Steinmetz-Weiterstadt-Geschichte wieder massiv in die Schlagzeilen gerückt wird.

In der Öffentlichkeit soll die Assoziation Bad Kleinen-Steinmetz-Weiterstadt transportiert und wachgehalten werden, um so von der eigentlich brisanten Frage zu Bad Kleinen abzulenken,
nämlich der Hinrichtung von Wolfgang Grams durch ein Mitglied der GSG-9.

Zuschrift ("Die Wühlmäuse", Hamburg)

Der Zug ist noch nicht abgefahren !

Wir möchten mit dieser Stellungnahme nochmal darauf hinweisen, daß der Prozeß gegen Birgit Hogefeld die bisher einzige Gelegenheit bietet, sich mit dem Umgang der staatlichen
Verfolgungsbehörden mit den Geschehnissen am Bahnsteig 3 und 4 in Bad Kleinen öffentlich zu konfrontieren.

Die Politik hat - mit diesem Anklagepunkt gegen Birgit - der Justiz das Feld überlassen, dessen, was damals in den Medien folgerichtig als "Panne" bezeichnet worden ist, wieder Herr
werden zu können.

Damit hat sich die Justiz auf ein äußerst wackeliges Feld begeben - schließlich boten sämtliche Ungereimtheiten sowie offensichtliche Vertuschungsinteressen die Grundlage für den
Rücktritt des damaligen Innenministers Seiters (O-Ton: "ich übernehme damit die politische Verantwortung").

Mit der Lüge, Birgit hätte in Bad Kleinen das Feuer eröffnet, geriet auch der GBA von Stahl ins öffentliche Kreuzfeuer. Auf die Frage eines Fernsehreporters, wie lange er nun noch
glaube, sich auf in seinem Sessel halten zu können, antwortete er, er gedenke bis zu seiner Pensionierung zu bleiben. Ein paar Tage später folgte auch sein Abgang.

Der deutsche "Rechtsstaat" nimmt seine Legitimität aus dem sogenannten Demokratieverständnis, welches u.a. die Exekution von Staatsfeinden ausschließt. Diejenigen, welche sich immer
auf derlei humanitäre Grundrechte zur Unantastbarkeit der Menschenrechte hierzulande berufen haben, können das spätestens seit Bad Kleinen nicht mehr.

Der Verdacht, daß deutsche Verfolgungsbehörden ihre politischen GegnerInnen ganz undemokratisch eliminiert, nagt am Ansehen der Bundesrepublik, die sich andernorts (z.B. in China)
immer wieder als Gralshüterin der Menschenrechte aufspielt. In ihrer Führungsrolle innerhalb der europäischen Mächte droht zudem der Vergleich mit der faschistischen Vergangenheit.

Und weil die Herrschenden wissen, daß es nie einen wirklichen Bruch mit dieser Geschichte gegeben hat, wirken - in ihrer Logik - Rücktritte und Machtverschiebungen schon äußerst
"couragiert".

Das war die veräußerte Erscheinungsebene - der Mord an Wolfgang Grams sowie die ungeklärten Todesumstände des GSG-9 Beamten Newrzella waren in der öffentlichen Diskussion
weit umstritten. So fühlte sich der FDP-Politiker Burkhard Hirsch durch die Ereignisse in Bad Kleinen an die Zeit des deutschen Faschismus erinnert. Selbst der neu installierte
Innenminister Kanther - in Parteikreisen bekannt und umstritten als "Hardliner" - fühlte sich genötigt, im Bundestag von einer "...bedingungslosen Aufklärung ohne Wenn und Aber..." zu
reden.

Die Auflösung der GSG-9 wurde in Erwägung gezogen und die komplette Umstrukturierung des BKAs eingeleitet.

Auch BKA-Präsident Zachert war in der Schußlinie, die schlechte "Informationspolitik" seiner Behörde ... - wie lange er sein Amt würde halten können, eine Frage der Zeit.

Der Zweifel aber bleibt.

Der Fahndungserfolg Birgit Hogefeld war der erste seit fast 8 Jahren und dementsprechend stark die Intention der Gegenseite, daraus soviel wie möglich zu ziehen.

Wohl vergleichbar mit den "ausgehungerten" GSG-9 Bullen, die seit Mogadischu 1977 zwar hoch im Ansehen standen, aber schlichtweg nichts zu tun hatten und sich schon selbst in Sinn
und Zweck ihrer Existenz in Frage stellen mußten, war die Situation des überaufgerüsteten Fahndungsapparates.

Das Problem war nur - sie hatten kaum etwas gegen Birgit in der Hand. Außer Mitgliedschaft in der RAF und ein äußerst dünnbodiges Schriftgutachten zum versuchten Anschlag auf
Tietmeyer 1988 gab es bis zu ihrer Verhaftung keine konkreten Tatvorwürfe gegen sie.

Nachdem Birgit alle Angebote zum Deal mit ihren Verfolgern abgelehnt hatte, kamen - wie aus dem Nichts - neue Anklagepunkte hinzu:

- Der Anschlag auf die Air-Base und der Mord an dem US-Soldaten Pimental, weil er auch in der damaligen Linken auf heftige Kritik und Distanzierung gestoßen war. Die Hoffnung,
ausgehend von der Zäsur der RAF und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, war sicher auch die, Birgit an dem Punkt zu knacken und die Entsolidarisierung
mit ihr nach der Spaltung weiter zu treiben.

- Der Anschlag auf Weiterstadt, weil er der einzige war, innerhalb dessen es möglich ist, aus dem verbrannten VS-Bullen Steinmetz noch Repressionskapital zu schlagen, wie sich an den
Verfahren gegen die Frankfurter Fritzlarer Straße und den Vorladungen gegenüber 20 Leuten aus Wiesbaden zeigt.

Und Bad Kleinen. Hier wählte der Staat zwischen zwei Möglichkeiten: Das Ganze im Stillen versickern zu lassen, in der Hoffnung, die Aufregung würde sich noch legen, oder die Flucht
nach vorn - die politische Wirkung von Bad Kleinen für sich umzudrehen.

Der öffentliche Aufschrei verhallte, linke und radikale Kräfte in der Defensive überließen den Medien das Feld und griffen die Debatte nicht auf. Das bot den Raum, in dem nun die Justiz
agiert.

Bad Kleinen soll historisch als "terroristische Aktion" festgeklopft werden; der Spitzel Klaus Steinmetz in den Vordergrund gerückt als "agent provocateur".

Die Teile der Linken, die sich in den 80-er Jahren noch auf die Politik der RAF bezogen hatten, hatten "...mehr Fragen als Antworten..." und standen im Sommer `93 kurz vor der
Spaltung. Diese hatte die Zusammenhänge stärker bestimmt als die Möglichkeit des Eingreifens in die Diskussion um Bad Kleinen und den Mord an Wolfgang Grams.

Und weil sich das Ganze nicht im luftleeren Raum abgespielt hat, ist noch hinzuzufügen, daß diese politische Krise und Zersplitterung die Situation der meisten Oppositionellen ist - Bad
Kleinen ist dafür nur ein Beispiel.

Dieses Dilemma besteht bis heute fort - und verschaffte der Gegenseite mehr Spielraum.

Was bedeutet Bad Kleinen für uns ?

Bad Kleinen hat vielen gezeigt, wie es um die innenpolitische Lage in diesem Land bestellt ist. Und wirkt heute symbolhaft dafür, wie die herrschende Klasse gedenkt, mit den immer
weiter eskalierenden Widersprüchen hier umzugehen. Nach dem Motto "Ob nun ein Terrorist erschossen wird oder nicht" laufen die Mühlen der Verfolgungsbehörden weiter, auch wenn
sie in sich widersprüchlich erscheinen.

Das hinzunehmen, kommt einer Akzeptanz der gegebenen Zustände gleich. Oder wie ein Genosse zum Kaindl-Prozeß gegen die AntifaschistInnen in Berlin vor zwei Jahren schrieb:
"Gleichgültigkeit ist die Autobahn zum Faschismus".

Wo die politische "Mitte" nach rechts abgerückt ist, wird das Vakuum, welches fortschrittliche und revolutionäre Bewegungen hinterlassen haben, alltäglich mit neuen Lügen und
Repressalien gefüllt.

Wo auch der Mut zur außerparlamentarischen Politik fehlt, liegen "Bündnisse für Arbeit" näher als Rebellion und Sabotage.

Trotz großer Sympathie für den Massenstreik in Frankreich Ende letzten Jahres springt der Funke nicht über. Seine Brisanz und Aktualität für die Situation in diesem Land
(Arbeitslosenquote bei 4 Millionen, Tendenz steigend) wird nicht zum gesellschaftlichen Brennpunkt eskaliert.

Es ist auch unsere Aufgabe, die Vereinzelung und Fremdbestimmung aufzuheben. Dazu muß ein Rahmen hergestellt werden, der Solidarität als Antwort auf diese Bedingungen wieder
erfahrbar werden läßt.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar" steht in großen Lettern auf der Fassade des Oberlandesgerichts Frankfurt. Dort finden z. Zt. drei Staatsschutzprozesse statt: gegen Birgit
Hogefeld, Gefangene aus der RAF, gegen die Linke Frau Monika Haas und gegen mehrere KurdInnen.

"Die Würde des Menschen ist antastbar", sagte Ulrike Meinhof.

Das Grundrecht auf Asyl wurde soweit ausgehöhlt, daß es einer faktischen Abschaffung gleichkommt. Die Kriminalisierung des kurdischen Befreiungskampfes hat bereits zu Knast für
über 300 KurdInnen geführt und sie zu Gejagten gemacht: Im Sommer 1994 wurde der junge Kurde Halim Dener von deutschen Polizisten erschossen, weil er Plakate klebte. Anläßlich
der Newroz-Feiern Ende März diesen Jahres wurden sämtliche Demonstrationen verboten und schon die kleinste Ansammlung bot Anlaß genug für Bullen, sie zum Freiwild zu erklären.
Blutig geprügelt, wurden sie abgeschleppt. Ihre Abschiebung in Krieg, Folter und Tod soll durch einen neuen Gesetzentwurf beschleunigt werden.

Das sind nur Ausschnitte aus der gesamtgesellschaftlichen Realität, die zur Illegalisierung von 1000en von Menschen führt. Sie beginnt bereits bei der Organisierung von Schwarzarbeit,
weil das alltägliche Überleben im Kapitalismus kaum noch einen anderen Weg zuläßt - und das nicht nur für Flüchtlinge und ImmigrantInnen.

"Protest ist, wenn ich sage, das und das gefällt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht gefällt, nicht mehr passiert." Ulrike Meinhof.

Wir befinden uns in einer Situation, wo Abwehrkämpfe zur Notwendigkeit geworden sind. Nicht mehr getragen von einer umfassenden Analyse oder gar einer politischen Strategie für die
Zukunft geht es heute darum, die sich weiter verschärfende Entwicklung, die die kapitalistischen Metropolen heute trifft, zumindest zu bremsen bzw. aufzuhalten.

In dem Kampf um diese Freiräume steckt ein ungeheures Potential, denn wir können heute auf eine reichhaltige Geschichte zurückblicken. Die Erfahrungen, die allein in den letzten 25
Jahren in den unterschiedlichen Kämpfen und Kampfformen gesammelt wurden, sollten nutzbar gemacht werden.

Die Geschichte vom Widerstand kann nicht abgetrennt von den politischen und gesellschaftlichen Zuständen hier betrachtet werden. Die Organisierung derjenigen, die gegen die
unterschiedlichen Widersprüche, die der Kapitalismus produziert, aufgestanden sind, war und ist immer auch eine Antwort auf diese Zustände.

Wer Geschichtsschreibung definiert und wer Geschichte macht, liegt zuallererst in der Hand derer, die sich das Recht nehmen, sie selbst zu schreiben.

Für die Gegenwart bedeutet das, neben der Auseinandersetzung mit den speziellen Auswirkungen des repressiven Alltags die Vernetzung der verschiedenen Initiativen aufzubauen. Ohne
den Aufbau einer BEWEGUNG, die die Facettenhaftigkeit der ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Widersprüche begreifen lernt, werden die einzelnen Punkte Abwehrkämpfe
bleiben.

Solange der Prozeß gegen Birgit Hogefeld läuft und nach den letzten Terminierungen des Gerichts läuft er noch mindestens bis Mitte Juni - besteht die konkrete Chance, sich für die
Aufklärung der Geheimdienstaktion in Bad Kleinen einzusetzen.

Jeder Versuch in diese Richtung wirkt in den Prozeß hinein und wird es dem Gericht erschweren, an dieser gewagten Konstruktion ihrer angeblichen Mitschuld am Tod des Newrzella
festhalten zu können.

Auch das Klageerzwingungsverfahren der Eltern von Wolfgang Grams wird hierbei direkt unterstützt und das ist - bei dem Apparat, der sich gegen diese Versuche aufgebaut hat - mehr als
nötig.

Ein recht mutiger BKA-Beamter hat im Januar öffentlich gegen die Vernichtung von Beweisakten Stellung bezogen und seine eigene Abteilung dafür angezeigt. Er wurde dafür vom
Dienst suspendiert - hält seine Meinung trotzdem weiter aufrecht und wird im Mai im Prozeß dazu als Zeuge auftreten. Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, daß noch weitere GSG-9
Beamte geladen werden.

Inwieweit die existierenden Widersprüche zu den Vorgängen in Bad Kleinen zur Notwendigkeit der "bedingungslosen Aufklärung ohne Wenn und Aber ..." führen, wird vom politischen
Druck abhängen, der diesen Prozeß begleitet!

Die Auseinandersetzung mit Bad Kleinen enthält die Frage, wie ein Zusammenschluß entstehen kann, der ein Spiegelbild der gesellschaftspolitischen Situation hier abgibt!

WIR FORDERN:

- HERAUSGABE ALLER AKTEN SOWIE DES VIDEOS, DAS BEI DER GEHEIMDIENSTAKTION IN BAD KLEINEN GEDREHT WURDE!

- ÖFFENTLICHES UND UNEINGESCHRäNKTES VERHöR DER EINHEITEN - INSBESONDERE DER GSG-9!

- EINSTELLUNG DES VERFAHRENS WEGEN "MITTäTERSCHAFT" GEGEN BIRGIT HOGEFELD!

- FOCUS LüGT WIE GEDRUCKT - SOFORTIGE EINSTELLUNG ALLER VERFAHREN IM ZUSAMMENHANG MIT DEM VS-AGENTEN STEINMETZ!

- FüR DIE ABSCHAFFUNG DES GESINNUNGSPARAGRAPHEN 129A UND DER KRONZEUGENREGELUNG!

- MONIKA HAAS MUß SOFORT ENTLASSEN WERDEN!

 
Bad Kleinen ist kein Einzelfall.

Machen wir gemeinsam Druck für die Aufklärung des Mordes an Wolfgang Grams und drehen damit den Spieß um!

Für die Organisierung einer starken sozialrevolutionären Bewegung!

DIE WüHLMäUSE,

HAMBURG, März 1996

Presseerklärung der Anwälte der Eltern von Wolfgang Grams

zur Entscheidung des OLG Rostock über den Klageerzwingungsantrag (9.4.96)

OLG - Rostock lehnt Antrag der Eltern von Wolfgang Grams ab, gegen Beamte der GSG-9 Anklage wegen der Ermordung von Wolfgang Grams zu erheben

Das OLG Rostock hat am 29. März 1996 den Antrag von Ruth und Werner Grams, durch gerichtliche Entscheidung die Erhebung der öffentlichen Klage gegen GSG 9 Beamte wegen
Mordes an ihrem Sohn Wolfgang Grams anzuordnen, als unbegründet verworfen.

Auf knapp 38 Seiten setzt sich das OLG mit der circa 1200 Seiten umfassenden Antragsschrift auseinander und begründet seine Entscheidung damit, "daß die Beschuldigten der ihnen
vorgeworfenen Straftat nicht hinreichend verdächtig sind und infolge dessen ihre Verurteilung in der Hauptverhandlung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist."

Die unanfechtbare Entscheidung des OLG Rostock wird der erdrückenden Fülle der die GSG-9-Beamten belastenden Indizien und Beweise in keiner Weise gerecht.

Es stellt eine völlig neue Theorie zum Tatgeschehen auf, wonach "der Verletzte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit während des Sturzes auf die Gleise in suizidaler
Absicht den Todesschuß beigebracht hat, also unmittelbar bevor er in bewegungsloser Haltung auf das Gleisbett fiel."

Das OLG Rostock benötigt diese, von keinem der Sachverständigen für wahrscheinlich erachtete, Variante des Tatgeschehens als Erklärung dafür, daß die Wolfgang Grams verfolgenden
GSG 9 Beamten sowie ein Teil der Zeugen keine Angaben dazu machen konnten, wie das Loch in den Kopf von Wolfgang Grams gelangt ist.

Die beeidete richterliche Aussage des BKA Beamten Nr. 12, der auf dem Stellwerk des Bahnhofes als Beobachter eingesetzt worden war, findet hierbei keinerlei Beachtung. Er hatte den
Schußwechsel bis zum Sturz von Wolfgang Grams auf die Gleise und das unmittelbare Hinzuspringen der GSG 9 Beamten beobachtet.

Nach der Aussage des BKA Beamten Nr. 12, der nach Angeben der Staatsanwaltschaft Schwerin "beste Sichtverhältnisse auf den Tatort" hatte, befanden sich die GSG 9 Beamten
unmittelbar hinter Wolfgang Grams, so daß ihnen ein solches Geschehen, wie es jetzt vom OLG angenommen wird, nicht verborgen geblieben sein kann.

Diesen nicht unerheblichen Widerspruch erklärt das OLG damit, daß: "...die Vielzahl der in diesem Augenblick sich darstellenden Eindrücke (Niederstürzen der getroffenen Beamten der
GSG 9, Sturz des Verletzten und die sich dabei ergebenden raschen körperlichen Bewegungen) eine genaue Beobachtung infolge der Reizüberflutung unmöglich machten."

Das hier an einem Beispiel dargestellte offensichtliche Bemühen des OLG Rostock, belastendes Aktenmaterial zu ignorieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Begründung des
ablehnenden Beschlusses und kann mit einer Vielzahl weiterer Beispiele belegt werden.

Mit hanebüchenen Erklärungen führt das OLG vor, wie sich aus "Beobachtungslücken" einiger ziviler Zeugen und der als Täter in Betracht kommenden GSG 9 Beamten schlüssig und für
den Senat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ergibt, daß das von keinem Zeugen Beobachtete das wahre Tatgeschehen darstellt.

Die Aussagen der den objektiven Befund des aufgesetzten Kopfschusses bezeugenden Personen werden dagegen insgesamt als `nicht verwertbar' qualifiziert.

Die Eltern von Wolfgang Grams fühlen sich durch die Oberflächlichkeit und Ignoranz, mit der die minutiös belegten belastenden Beweise und Indizien durch das OLG Rostock
abgehandelt werden, beleidigt und brüskiert. Sie beabsichtigen nicht, die Dinge nach Abschluß des sog. ordentlichen Rechtsweges auf sich beruhen zu lassen und haben ihre
unterzeichnenden Bevollmächtigten damit beauftragt, die Voraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde und einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof zu prüfen.

(Rechtsanwälte Groß und Kieseritzky)

Monitor (ARD) vom 18.04.1996

Prof. Pounder und Prof. Knight zur Rostocker Bad-Kleinen-Version

Monitor:

...
Prof.Derrick Pounder ist Direktor der forensischen Abteilung der Königlichen Klinik in Dundee, Schottland und Gutachter in zahlreichen international bekannten Fällen

Prof. Bernard Knight ist einer der international bekanntesten Gerichtsmediziner und Direktor des Pathologischen Instituts der Universität Wales.

...

Monitor:

Was sagen Sie zu der Theorie der Richter, daß Wolfgang Grams schon nach Erhalt der Bauch- und Beinschüsse eine sofortige atonische Lähmung bekam und zusammensackte. Die
Experten sind sich einig:

Pounder:

"Eine sofortige atonische Lähmung tritt ein, wenn das Gehirn aufhört zu funktionieren und zwar total und sofort. Dies tritt auf, wenn jemand sein Gehirn verletzt, nicht bei einer
Bauchverletzung. Wenn Wolfgang Grams nun in den Bauch geschossen wurde, kann er davon keine atonische Lähmung bekommen haben."

Monitor:

Auch die weitere Schilderung der Richter, daß der atonisch gelähmte Grams seine Hand zum Kopf führte und abdrückte, ist nach Ansicht beider Experten völlig abwegig:

Knight:

"Das ist nicht möglich. Denn die Lähmung macht es ihm unmöglich, auch nur irgendeine bewußte Bewegung zu machen. Er kann nicht seine Hand heben und den Abzug drücken, weil
sein Gehirn tot sein muß. Sofort. Es geht einfach nicht. Es ist unmöglich."

Monitor:

Doch auch unabhängig von der Frage, ob er nun eine atonische Lähmung hatte, ist es nach Ansicht beider Experten praktisch ausgeschlossen, daß sich Grams mit einem aufgesetzten
Kopfschuß im Rückwärtsfallen selbst erschießt.

Pounder:

"Denken Sie an die Realitäten! Er hat einen Bauchschuß und Beinschüsse und er muß große Schmerzen haben. Er fällt rückwärts in einem unkontrollierten Sturz und wir wissen, daß
geschossen wurde, als sein Kopf sehr nahe oder schon auf dem Gleis war. Genau in diesem Augenblick hätte er Selbstmord begehen sollen. Um das hinzubekommen, bräuchte man einen
Übermenschen."

Knight:

"Ich habe in vierzig Jahren alle Arten von Selbstmord gesehen, aber noch nie, daß sich einer in der Luft selbst erschießen

konnte, während er fällt. Das ist höchst unwahrscheinlich."

Knight:

"Das Szenario (der Rostocker Richter) ist unmöglich, es kann nicht passieren. Es ist einfach völlig unmöglich."

Anmerkung:

Auch in der zerstückelten Wiedergabe durch Monitor läßt sich die Argumentation der britischen Gutachter erkennen:

Sie prüfen zunächst die Behauptung einer atonischen Lähmung und kommen zu dem Schluß: Sie ist ausgeschlossen, wenn kein Kopfschuß oder eine vergleichbare Verletzung vorausging.

Sie prüfen die Behauptung, Wolfgang Grams habe sich im Fallen mit einem aufgesetzten Kopfschuß selbst erschossen. Sie halten das für unvorstellbar und beziehen sich dabei
ausdrücklich auf ihr Expertenwissen.

Die Verkettung beider Elemente ist für sie noch eine Steigerung des Unhaltbaren: Eine atonische Lähmung läßt keine Handbewegung mehr zu. InfoAG

Presseerklärung

der Anwälte der Eltern von Wolfgang Grams

aus Anlaß der Einreichung der Verfassungsbeschwerde (3.5.96)

Eltern von Wolfgang Grams erheben Verfassungsbeschwerde

Als Anwälte der Eltern des am 27.06.1993 in Bad Kleinen getöteten Wolfgang Grams reichen wir heute beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Verfassungsbeschwerde ein.

Nach dem das Oberlandesgericht in Rostock nach der Staatsanwaltschaft Schwerin und der Generalstaatsanwaltschaft von Mecklenburg-Vorpommern letztinstanzlich die Erhebung der
Anklage gegen die für den Tod von Wolfgang Grams verantwortlichen GSG-9-Beamten abgelehnt hat, wird nun vor dem Bundesverfassungsgericht die Verletzung der Grundrechte auf
Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz) und die Verletzung des Willkürverbotes i.S.d. Artikel 3 Absätze 1 und 3 durch die Justiz gerügt.

Das OLG Rostock hatte an der Selbstmordversion der Staatsanwaltschaft festgehalten, aber eine völlig neue Version zum Tatverlauf aufgestellt:

Wolfgang Grams soll sich demnach während des rückwärtigen Falls ins Gleis den tödlichen Schuß gesetzt haben. Diese Theorie war auf großes Erstaunen bei international renommierten
Rechtsmedizinern gestoßen, die den Erklärungsversuch als vollkommen abwegig bezeichneten.

Da die Justiz um jeden Preis die Aufklärung der tatsächlichen Geschehnisse über die Vorfälle in Bad Kleinen zu verhindern sucht, sehen sich die Eltern von Wolfgang Grams genötigt, das
Bundesverfassungsgericht anzurufen.

(Rechtsanwälte Andreas Groß und Thomas Kieseritzky)


 

*Zu Aspekten der Kritik an und Notwendigkeit zu Selbstkritik durch Strukturen, in denen Steinmetz sich bewegte, siehe etwa: Kein Friede: Die Niederlage der RAF ist eine Niederlage der
Linken. Bad Kleinen, Steinmetz und der Bruch in der RAF. 3.Welt-Haus, Westerbachstr. 40, 60489 Frankfurt

Adresse: InfoAG zum Prozeß gegen B. Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Telefon nur: mittwochs 19- 20 Uhr und freitags 20-21 Uhr: 0611 / 44 06 64

Da manchmal Prozeßtermine ausfallen und die nach dem 18.06. liegenden noch nicht bekannt sind, ist es vor allem für Leute mit weiter Anreise sinnvoll, kurz vorher bei der InfoAG
anzurufen.

Vertrieb:

Die Nr. 12 und 13 werden verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 6444, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen

* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

Birgits Postadresse:

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach. 60256 Frankfurt

Druckkosten des Info: Dringender Appell zu Spenden an:

Linke Projekte e.V., Wiesbaden, Wiesbadener Volksbank: Kto-Nr: 9 314 407, Bankleitzahl: 510 900 00

Stichwort: "InfoAG

Spendenkonto:

zu Verfahren Birgit Hogefeld und Todesermittlungsverfahren z.N. Wolfgang Grams:

Sonderkonto V. Luley, "Bad Kleinen", Postbank Frankfurt, BLZ: 50010060, Kto-Nr.: 16072-603

für Birgits persönlichen Bedarf: Sonderkonto Birgit Hogefeld:

R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228

Unterschriftensammlung:

Allein 206 Unterschriften kamen aus Kierspe / Meinerzhagen (Atlas holen!) und Umgebung. Die Jugend-Antifa hatte sie dort in 8 Tagen gesammelt. Aus Berlin kam bisher nur ein
einzelnes Blatt mit Unterschriften, das jemand während der Ulrike-Meinhof-Veranstaltung am 03.05. 1996 in Berlin vom Boden aufgelesen hatte.

Insgesamt sind ca. 600 Unterschriften zusammen. Die Unterschriftensammlung läuft weiter bis zum 18. Juni 1996.

Danach werden die Unterschriften bei einer/m AnwältIn oder NotarIn hinterlegt. Über das Ergebnis der Unterschriftensammlung wird die Presse unterrichtet. Großformatige Kopien finden
ggf. bei einer öffentlichen Präsentation Verwendung, wobei die Adressen der UnterzeichnerInnen unkenntlich gemacht werden.

ErstunterzeichnerInnen:

(Fortsetzung aus Info 11)

E -N

Christiiane Ensslin, Berlin; Stephan Flade, Pfarrer, Potsdam; Maria Garweg, Arzthelferin, Hamburg; Prof. Dr. med. Gerhard Garweg, Hamburg; Christian Geissler, Schriftsteller; Adrienne
Göhler, Dipl.-Psych., Hamburg; Alexandra Goy, Rechtsanwältin, Berlin; Holger Griesemann, Theologe, Hamburg; Ulrike Hein, Künstlerin, Beiershroun; Uwe Heinrich, Pasotr, Hamburg;
Thomas Heise, Regisseur (Berliner Emsemble), Berlin; Ewald Herzog, Rechtsanwalt, Frankfurt; Peter Hetzer, Journalist, Bensheim; Prof. Dr. Joachim Hirsch, Frankfurt; Hans Holzträger,
Pfarer i.R., Taunusstein; Anwaltsbüro Hummel, Kaleck, Ratzmann, Berlin; Norbert Jaedtka, Rechtanwalt, Frankfurt; Hubertus Janssen, Pfarrer, Limburg; Heiko Janssen, Arzt, Berlin;
Juttta Jekel, Pfarrerin, Wiesbaden; Ulla Jelpke, MdB, Bonn; Klaus Jünschke, Köln; Hans Kampe, Sozialpädagoge, Fürstenwalde; Karin Knauth, Großburgwedel; Dr. Thorsten Knauth,
Religionspädagoge, Hamburg; Rainer Koch, Rechtsanwalt, Frankfurt; Katja Leyrer, Journalistin, Hamburg; Hans Löhr, Pfarrer der ev. Studentengemeinde Universität München; Uwe
Maeffeert, Rechtsanwalt, Hamburg; Holger Matthews, MdBü Bündnis 90 /Die Grünen / GAL, Hamburg; Barbara Metzlaff, Kamerafrau, Hamburg; Pavel Mikulastik, Regisseur, Freiburg;
Prof. Dr. Wof-Dieter Narr, Berlin; (Forts. Info 13)

Prof. Dr. Christoph Nitz, Intendant, Nordhausen; Prof. Dr. Norman Paesch, Hamburg; Sabine Peters, Schriftstellerin; Sabine Platt, Rechtanwältin, Wiesbaden; Bernd Priebe, Erzieher,
Berlin; Miriam Pulss, Krankenschwester, Quickborn; Martin Pulss, religionspädagoge, Quickborn; Jutta Rock, Rechtsanwältin, Frankfurt;

Fortsetzung Info 13

Das Heft (20 Seiten) ist kostenlos und kann gegen

Protokosten in Briefmarken bestellt werden (Büchersendung).

Inhalt:

Was hat der BKA-Bulle Lang mit diesem Prozeß zu tun ?

Weg mit dem 129a-Prozeß gegen Ursel

Steinmetz ff.

Solidarität ist unteilbar

Solidarität heißt Widerstand

Keine Freiheit den Feinden der Freiheit

Der Staatsschutz lebt auch von dem Dreck,

den er streut

Volksgemeinschaft oder Klassenkampf?

Es herrscht immer Krieg in den Städten...

... und international

Gegen die Strömung

Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 13

August 1996

Prozeßbericht Juni / Juli 1996

Das Gericht hat im Verlauf der Beweisaufnahme und zuletzt durch die Ablehnung nahezu aller Beweisanträge der Verteidigung deutlich gemacht, daß es den in der Anklageschrift durch
die Bundesanwaltschaft festgelegten Definitionen bis aufs i-Tüpfelchen folgt.

Vor allem die Mordanklage wegen Bad Kleinen, wo Birgit die einzige ist, die dort nachweislich nicht geschossen hat - hier ließ das Gericht nicht mal den Anschein einer Frage zu den
immer absurder werdenden "offiziellen Versionen" zu., die die Grundlage der Anklage bilden.

Die BAW behauptet in der Anklageschrift, Wolfgang Grams habe den GSG-9-Beamten Newrzella erschossen und da in der Raf eine Verabredung gäbe, sich in einer Festnahmesituation
den Weg freizuschiessen, sei Birgit dafür wegen Mordes und mehrfachen Mordversuchs zu verurteilen. Gegen diese beiden Behauptungen sprechen ebenso viele Hinweise wie gegen die
absurde Selbstmordversion, die zwar auch in der Anklageschrift behauptet wird, aber im Prozeß nicht zur Sprache kommen sollte. Offensichtlichen Ungereimtheiten und Widersprüchen
wurde in Frankfurt nicht nachgegangen. Die Frage, ob es eine "Verabredung zum Schießen" in der Raf gegeben habe, ist für das Gericht gar keine Frage. Jeder diesbezügliche
Beweisantrag wurde mit der Begründung abgeschmettert, daß der Staatsschutzsenat über genügend eigene Sachkunde verfüge, um diesbezüglich zu einem Urteil zu kommen.. Die
Tatsache, daß Birgit in Bad Kleinen keine Waffe gezogen hat, kommentierte die BAW damit, daß das in ihrer Situation Selbstmord gewesen wäre.

Birgit und ihre Verteidigung haben sich aus dieser Situation entschlossen, einen Beweisantrag zu stellen, der sich auf Gespräche bezieht, die Birgit mit einer Person aus dem liberal-
demokratischen Spektrum vor ihrer Verhaftung geführt hat. Die Wiedergabe dieser Gespräche (siehe Abdruck des Beweisantrages) bestätigt, was Birgit wiederholt deutlich gemacht hat,
nämlich daß es diese von der BAW behauptete Verabredung zum Schießen nicht gegeben hat und daß Birgits Äußerungen (auch dieser Person gegenüber) - übereinstimmend mit den 92er
Erklärungen der Raf - eindeutig dahingehend sind, daß weitere Menschenleben nicht gefährdet werden sollten. In der Begründung zu diesem Beweisantrag machte Birgit auch deutlich,
daß in der Festschreibung der von der Anklageschrift behaupteten Konstruktion der "Verabredung zum schießen" auch die Androhung weiterer Erschießungen bei Festnahmen steckt. Dies
war für sie ein wesentliches Motiv für diesen Antrag, da sie den eventuellen Einfluß auf das Urteil gegen sie nach allen Erfahrungen mit diesem Gericht in fast zwei Jahren
Hauptverhandlung als äußerst gering einschätzen muß. Der Zeuge Rechtsanwalt Ronte, der von der Person, mit der sich Birgit vor ihrer Verhaftung dreimal getroffen hatte, einen
mündlichen Bericht erhielt, wurde vom Gericht und der BAW lediglich hinsichtlich der Identität der Person befragt. In mehreren Anläufen versuchten sie, dem Rechtsanwalt
Identifiezierungsmerkmale zu entlocken, Namen, Wohnort, Geschlecht usw. zu ermitteln. Dies bestätigte die in dem Antrag ausgedrückte Einschätzung, nach der es für die Person nicht
ratsam gewesen wäre, selbst in der Hauptverhandlung zu erscheinen.
 

Ein weiterer Antrag der Verteidigung zielte darauf ab, daß das Gericht darlegt, worauf dessen Annahme, die Raf bestünde als "Vereinigung, deren Zweck und Tätigkeit darauf gerichtet ist,
Mord oder Totschlag, Straftaten gegen die persönliche Freiheit und gemeingefährliche Straftaten zu begehen... bis zum heutigen Tage" basiert. Diese Definition wurde aus
Staatsschutzurteilen der 70er Jahre als "gerichtsbekannte Tatsache" eingeführt und taucht in Beschlüssen des Strafsenats gegen Birgit (z.B. gegen Interviewerlaubnis) immer wieder auf.
Das Gericht lehnte es ab, dazu Stellung zu nehmen - statt dessen fragte Richter Klein, ob Birgit damit erklären wolle, daß es die Raf nicht mehr gebe. Birgits Antwort (vom 19.7.96) auf
diese absurde Frage ist im Anschluß dokumentiert.

Die Aussagen des suspendierten BKA-Beamten Lange ergaben konkretere Hinweise auf fehlende Beweismittel (Personenschutzsender Steinmetz, das "Kassiber" von Anfang 93 und
BKA-Auswertungen dazu), denen die Verteidigung durch weitere Anträge nachzugehen versuchte. Der Personenschutzsender von Steinmetz bzw. die Protokolle dazu könnten unter
anderem für die Rekonstruktion der Schußabfolgen in Bad Kleinen von Bedeutung sein. Ferner dafür, von welchen Einschätzungen die Ermittlungsbehörden in den Tagen unmittelbar vor
dem Zugriff in Bad Kleinen ausgingen. Bezüglich dieser Frage wurde auch beantragt, die Einsatzleiter der GSG-9 und des BKA in Bad Kleinen zu laden. Aufschlußreich wären hier auch
die im BKA gefertigten Berichte zu dem "Kassiber". Bei diesem Schriftstück handelt es sich um einen einseitigen Brief, den der Verfassungsschutz im Mai 93 dem BKA (TE 11)
übergeben hatte. Das BKA hatte dieses "Kassiber" inhaltlich ausgewertet und Birgit zugeordnet. Weder das "Kassiber" noch die entsprechenden BKA-Berichte befinden sich in den
Verfahrensakten. Der Zeuge Lange hatte aus seiner Erinnerung die BKA-Bewertung als entlastend charakterisiert. Er hatte aber diesen Bericht nicht selbst verfaßt, konnte dazu also nicht
viel sagen. Folgerichtig beantragte die Verteidigung die Ladung des Verfassers, eines weiteren Beamten aus der Arbeitsgruppe TE11. Dieser Antrag wurde wie alle anderen abgelehnt.
Stereotyp begründete das Gericht, es verfüge selbst über genügend Sachverstand, und sei in Einschätzungsfragen nicht auf das BKA angewiesen. Die Frage von Rechtsanwalt Fresenius,
ob sie das "Kassiber", um dessen Einschätzung es geht, denn haben, wurde von der Richterbank verneint. Aber sie verfügen wohl über genügend Sachkunde, sich auch ein Urteil über ein
Schriftstück zu bilden, das ihnen gar nicht vorliegt.

Damit ist die Beweisaufnahme abgeschlossen.

Beweisantrag zur Ladung von Seiters

In der Strafsache gegen mich

beantrage ich,

den früheren Bundesminister des Inneren, Rudolf Seiters, über das Bundesinnenministerium Bonn als Zeugen zu laden.

Laut Zwischenbericht der Bundesregierung vom 17. 8. 1993 war Seiters in seiner damaligen Funktion als Bundesinnenminister sowohl vor dem Polizeieinsatz in Bad Kleinen, nämlich am
18., 25., und 27. Juni 1993, unmittelbar nach dem Einsatz, als auch in den darauffolgenden Tagen über den jeweiligen Sachstand detailliert unterrichtet worden.

Der Zeuge Seiters wird bekunden, daß ihm in seiner Funktion als Bundesminister des Inneren in der Zeit vom 27. 6. bis 4. 7. 1993 folgende Informationen bekannt geworden sind:

- daß die Kioskbesitzerin Joanna Baron angegeben hat, beobachtet zu haben, wie zwei GSG-9 Beamte an den auf dem Gleis liegenden Wolfgang Grams herangetreten sind und einer der
beiden aus nächster Nähe auf dessen Kopf zielte und abdrückte;

- daß der BKA-Beamte mit der Legendierung Nr. 12 von seinem Standort auf dem Stellwerk aus beobachtet hat, daß kurz nachdem Wolfgang Grams verletzt ins Gleisbett gestürzt war,
zwei Personen hinterhersprangen und sich neben Wolfgang Grams postierten, und daß diese Angabe im Widerspruch steht zu den Aussagen der GSG-9 Beamten, die schießend hinter
Wolfgang Grams die Treppe hochgerannt sind. Diese hatten nämlich angegeben, sie hätten sich auf dem Bahnsteig in Deckung gebracht und seien dort minutenlang in einen kollektiven
black-out gefallen;

- daß gegenüber dem "Spiegel" ein am Einsatz beteiligter Beamter, der anonym bleiben will, angab: " Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution",

-daß in keiner der Aussagen der in Bad Kleinen eingesetzten GSG-9 und BKA-Beamten von einem Selbstmord durch Kopfschuß die Rede ist - den viele aber gesehen haben müßten, hätte
er stattgefunden;

- daß bei der GSG-9 und ihr nahestehenden Polizeikreisen kursiert, ein GSG-9 Mann habe Wolfgang Grams den aufgesetzten Kopfschuß beigebracht;

-daß unmittelbar nach der Polizeiaktion das BKA, bei dem zuvor die Gesamtverantwortlichkeit für den Einsatz in Bad Kleinen lag, die Spurensicherung übernommen hat und daß im
Rahmen der Ermittlungen des BKA gegen sich selbst, noch vor der Obduktion von Wolfgang Grams, wichtige Spuren vernichtet worden sind - zum Beispiel wurden seine Hände
gereinigt;

- daß die Wolfgang Grams und mir zugeordneten Waffen im BKA beschossen und untersucht worden sind, wobei Projektile und Hülsen mit den spezifischen Merkmalen dieser Waffen
produziert wurden - für Vergleichszwecke, wie es heißt, aber genausogut können welche davon als Austauschmaterial benutzt worden sein ;

- daß BKA-Beamte die bei der Obduktion von Michael Newrzella sichergestellten Projektile unsachgemäß dokumentiert haben, so daß eine lückenlose Überprüfung, ob es sich bei den
später untersuchten Projektilen tatsächlich um diesselben handelt, nicht mehr möglich ist;

- daß auch der weitere Weg dieser Projektile so dokumentiert wurde, daß eine sichere Rekonstruktion unmöglich ist - ob also der Wissenschaftliche Dienst Zürich tatsächlich die Projektile
untersucht hat, die aus dem Körper von Michael Newrzella entnommen worden sind, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden, es ist genausogut möglich, daß dort Austauschexemplare
untersucht worden sind;

- daß die Kleider, die die GSG-9 Beamten in Bad Kleinen trugen, erst nachträglich und teilweise in frisch gewaschenem Zustand abgegeben worden sind;

- daß auch die GSG-9-Waffen nicht unmittelbar nach dem Einsatz, sondern erst später sichergestellt wurden;

- daß die Fundorte der Hülsen aus der Waffe von Wolfgang Grams in krassem Widerspruch zur offiziellen Version stehen, Wolfgang Grams hätte vom Treppenabsatz aus auf Beamten
geschossen. die ihm nachstürmenden GSG-9

Der Zeuge Seiters wird bekunden, daß er aufgrund dieser und weiterer ihm vorliegenden Informationen spätestens ab dem 3. 7. 1993 wußte,

1) daß Wolfgang Grams durch ein Mitglied der GSG-9 mit einem gezielten Schuß in den Kopf getötet worden ist und

2) daß die Wahrscheinlichkeit, daß Michael Newrzella versehentlich von einem GSG-9 Beamten erschossen worden ist, mindestens genauso hoch, wenn nicht sogar höher ist, als die
Wahrscheinlichkeit, daß er von Wolfgang Grams erschossen wurde.

Der Zeuge Seiters wird außerdem bekunden, daß die Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt befürchtet hat, daß durch Recherchen von Journalisten und /oder undichten Stellen im
Sicherheitsapparat die Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Verdacht, daß Michael Newrzella durch ein Mitglied der GSG-9 erschossen wurde, an die Öffentlichkeit dringen.
Und daß außerdem bekannt wird, daß das BKA noch am 27. 6. 1993 daran ging, systematisch alle Spuren zu vernichten, die Aufschluß über den tatsächlichen Geschehensablauf in Bad
Kleinen geben könnten.

Seiters wird bestätigen, spätestens am 4. 7. 1993 davon ausgegangen zu sein, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams und die nachfolgende Spurenvernichtung nicht länger geheim zu
halten sind und daß er deshalb an diesem Tag in Absprache mit Bundeskanzler Kohl seinen Rücktritt eingereicht hat, um dafür die politische Verantwortung zu übernehmen.

Der Rücktritt eines Bundesministers mit der Begründung, Verantwortung für bestimmte Ereignisse zu übernehmen, ist in diesem Land ja nun wirklich kein alltäglicher Vorgang - selbst
Herr Schmidbauer ist noch im Amt, trotz Plutoniumdeals.

Ausschließlich vor dem Hintergrund, daß die Bundesregierung befürchten mußte, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Versuch ihrer Vertuschung öffentlich werden, ergibt
der Rücktritt von Seiters am 4. Juli 1993 einen Sinn.

Birgit Hogefeld

Beweisantrag vom 23. Juni 1996

In der Strafsache

gegen

Frau Birgit Hogefeld

5 - 2 StE 2/94 - 7/94

wird beantragt,

Herrn Rechtsanwalt und Notar Ernst Ronte,

Kölner Str.4, Frankfurt, als Zeugen zu laden.

Der Zeuge wird folgendes bekunden:

Ich wurde am Mittwoch den 28.02.1996 von Rechtsanwalt Fresenius in seiner Eigenschaft als Verteidiger von Fr. Hogefeld gefragt, ob ich bereit sei, als Notar oder Rechtsanwalt eine
Erklärung einer Person aufzunehmen, bzw. entgegenzunehmen, die ihre Personalien nicht angeben wird.

Eine notarielle Versicherung an Eides statt war unter diesen Umständen nicht zulässig.

Als Rechtsanwalt war ich bereit, mit dieser Person zu sprechen, mir anzuhören, was sie zu sagen hat und ihr Fragen zu stellen.

Rechtsanwalt Fresenius teilte mir mit, daß diese Person etwas zu dem Gebrauch der Schußwaffe durch Fr. Hogefeld im Falle einer Festnahme sagen könne. Die Problematik war mir
allgemein bekannt, auch der gegen Frau Hogefeld erhobene Vorwurf. Rechtsanwalt Fresenius erklärte mir, daß ich gegebenenfalls als Zeuge vom Hören Sagen das aussagen solle, was mir
die Person mitgeteilt habe. Ich erklärte mich bereit, diese Person zu treffen, mit ihr zu reden und ggf. als Zeuge vor dem Senat des OLG auszusagen.

Am 1.3.96 traf ich diese Person in Frankfurt/Main. Sie war in Begleitung von Rechtsanwalt Fresenius. Ich begann das Gespräch, welches etwa eine 3/4 Stunde dauerte. Rechtsanwalt
Fresenius hat an diesem Gespräch nicht teilgenommen, konnte aber hören, was besprochen wurde.

Ich traf eine Person, die nicht bereit war, die Personalien anzugeben. Die Person berichtete mir folgendes:

In der zweiten Hälfte 1992, gegen Ende des Jahres, sei die Person (im folgenden sie) von Fr. Hogefeld morgens auf dem Weg zur Arbeit angesprochen worden. Fr. Hogefeld hat sich zu
erkennen gegeben.

Fr. Hogefeld wollte sich mit der Person über die 1992 veröffentlichten Erklärungen der RAF unterhalten, um die Meinung der Person kennenzulernen. Dieses erste Gespräch war den
Umständen entsprechgend kurz. Die Person hat sich zu einem Gespräch bereit erklärt, weil sie eine Gelegenheit sah, ihre Auffassung von dem Unsinn von gewalttätigen Aktionen,
insbesondere Tötungsaktionen, mit Fr.Hogefeld zu diskutieren. Fr.Hogefeld habe auch ihr Vertrauen durch ihre offene Herangehensweise an dieses Thema gewonnen. Die Person
verabredete sich mit ihr. Im Jahre 1993 habe man sich zweimal zu längeren Gesprächen getroffen. Das letzte Gespräch habe etwa einen Monat vor der Festnahme von Fr.Hogefeld
stattgefunden.

Diese Gespräche befaßten sich mit den bereits erwähnten Erklärungen. Die Person habe ihren Standpunkt, daß diese Tötungsaktionen an Vertretern des Systems falsch und unsinnig seien,
klipp und klar zum Ausdruck gebracht. Der von Fr. Hogefeld vertretene Standpunkt sei zu ihrer Überraschung nicht sehr weit von dem ihrigen entfernt gewesen. Fr. Hogefeld habe das
ganze System des bewaffneten Kampfes in Frage gestellt. Das Gespräch insgesamt sei so offen gewesen, daß es möglich gewesen sei, daß sich zwischen ihnen Vertrauen entwickelt habe.
So habe man auch eher private Probleme erörtert. Die Person erklärte, sie habe zuerst bei Fr. Hogefeld keine Waffe bemerkt. Sie seien aber bei einem der beiden Gespräche im Jahre 1993
in ein Schwimmbad gegangen und dabei habe sie bemerkt, daß Fr. Hogefeld eine Schußwaffe mit sich führte. Die Person hat Fr. Hogefeld darauf angesprochen. Sie habe Fr. Hogefeld
direkt gefragt, wie sie sich im Falle einer Festnahme verhalten würde. An den genauen Wortlaut - ich bat sie, sich so genau wie möglich an diesen Teil des Gespräches zu erinnern - könne
sie sich nicht mehr erinnern. Auf ihre Vorhaltungen habe Fr.Hogefeld erklärt, sie wolle kein Blutbad anrichten. Die Person habe dann gefragt, warum sie überhaupt die Waffe trage. Fr.
Hogefeld habe erwidert, daß sie die Waffe zum Drohen bei sich habe. Als Beispiel habe sie hinzugefügt, bei einer Verkehrskontrolle, wenn der Polizist die Personalien überprüfe und es
jetzt darauf ankomme, weiterzufahren, werde sie die Waffe vorhalten und zu dem Beamten sagen, er solle jetzt kein Held sein, sie fahre jetzt weiter. Anders würde sie sich im Falle einer
Festnahme verhalten. Sie wolle keine Schießerei, bei der es Tote und Verletzte gäbe, da werde sie die Hände hochnehmen.

Dieses Gespräch hätten sie abends in ihrer/seiner Wohnung fortgesetzt. Die Person habe wegen der für sie spürbaren großen Vertraulichkeit, die sich zwischen ihnen entwickelt hatte,
diesen Äußerungen von Fr. Hogefeld Glauben geschenkt.

Meine Frage, ob sie nicht doch habe belogen werden können, verneinte die Person. Zur Bekräftigung berichtete sie, daß Fr. Hogefeld von ihr einen Hilfsdienst erbeten habe. Dies habe sie
jedoch abgelehnt. Sie sei auch nicht bereit gewesen, irgend etwas zu machen. Diese Ablehnung habe aber den Fortgang dieses Gesprächs und die Vertraulichkeit nicht gestört. Die Person
habe vielmehr den Eindruck gehabt, daß Fr. Hogefeld kurz davor sei, die Waffe ganz wegzulegen.

Ich habe mit der Person die Möglichkeit einer Aussage durch diese persönlich diskutiert, konnte sie jedoch nicht davon überzeugen, persönlich vor dem Senat zu erscheinen.
 

Ich persönlich hatte den Eindruck, daß die Person mir selber erlebtes und nicht auswendig gelerntes berichtete. Ihr Bericht war nicht gradlinig, sondern teilweise sprunghaft und erkennbar
von der zurückkehrenden Erinnerung beeinflußt. Sie berichtete mir immer mehr über sich selbst. Ich bin mir sicher, einen aufrichtigen Bericht bekommen zu haben.

Begründung:

Der Verteidigung ist die Problematik eines Zeugen vom Hören Sagen bewußt. Zum Hintergrund dieses Antrags sei folgendes ausgeführt: Die Person, also der Zeuge, hat den
Unterzeichner um die Jahreswende 1995/96 kontaktieren lassen. Sie gab an, durch Presseberichte über den Anklagepunkt Bad Kleinen und die nunmehr stattfindende Beweisaufnahme zu
diesem Vorgang erfahren zu haben. Dieser Vorwurf sei ihr nicht nachvollziehbar und sie sei davon ausgegangen, insoweit gebe es auch keine Verhandlung. Durch die Presseberichte über
den Prozeß habe sie sich nunmehr von dem Gegenteil überzeugen müssen. Sie habe einen Rechtsanwalt aufgesucht, diesem ihre Situation, d.h. ihr Wissen geschildert.

Der Rechtsanwalt habe sie darauf hingewiesen, daß die Bundesanwaltschaft und teilweise auch die Rechtsprechung den Bereich der Unterstützung einer Vereinigung nach [[section]]129 a
StGB äußerst extensiv handhabe. Von daher bestünde die Gefahr, daß sie Beschuldigte eines Ermittlungsverfahrens werden könnte. Nach gründlicher Überlegung habe sie sich
entschlossen, sich dieser Gefahr auf keinen Fall auszusetzten. Es wurde von daher der im gegenständlichen Antrag zum Ausdruck kommende Weg beschritten. Gleichwohl wurde der
Unterzeichner von der Person gebeten, einen entsprechenden Antrag nur dann zu stellen, wenn der Unterzeichner dies für unbedingt erforderlich erachte. Unter Berücksichtigung der
Senatsentscheidungen zu den Beweisanträgen im Komplex Bad Kleinen ist dieser Zeitpunkt für den Unterzeichner nunmehr gegeben.

Der gegenständliche Antrag beleuchtet die Problematik der Verteidigung in Verfahren nach [[section]] 129 a StGB. Sämtliche Zeugen, die mit der Beschuldigten, der Mandantin, in
Kontakt standen und somit als authentische Entlastungszeugen zur Verfügung stehen könnten, scheiden aufgrund der Konstruktion des [[section]]129a StGB in der Praxis für die
Verteidigung aus. Jeder dieser Zeugen würde von der Bundesanwaltschaft sofort mit einem Ermittlungsverfahren nach [[section]] 129/129 a StGB überzogen. Die nunmehr 25 jährige
Verfolgungspraxis der Ermittlungsbehörden im Komplex RAF ist sicherlich nicht von Zurückhaltung geprägt, eher sind - teilweise kuriose - Ausdehnungen des Unterstützungsbegriffes
Erkennungszeichen dieser Praxis der Bundesanwaltschaft.

Die konkrete Gestaltung dieses Beweisantrages ist von daher kein Ausdruck der freien Entscheidung der Verteidigung, sondern Ausfluß dieser Verfolgungspraxis der Bundesanwaltschaft.

So ungewöhnlich dieser Weg für die Verteidigung ist, so alltäglich ist er für die Ermittlungsbehörden. Informanten, V-Leute erscheinen nicht in der Beweisaufnahme, vielmehr trägt ein
Kriminalbeamter vor, was ihm von dieser anonymen Quelle aus dem Bereich der Kriminalität zugetragen wurde. Auch in diesem Verfahren werden Bestandteile der Aussagen eines
Zeugen - Steinmetz - nicht nur zur Akte genommen, gesperrt und der Verteidigung verweigert; maskierten Zeugen wird die Aussagegenehmigung teilweise verweigert.

Zur Erheblichkeit dieses Antrages sei auf das folgende hingewiesen:

Die Verteidigung hat mit ihrem Beweisantrag vom 5.2.1996 (Anlage 12 zum Protokoll vom 5.2.1996) unter Beweis gestellt, daß Frau Hogefeld einem Zeugen erklärt hat, sie werde die
Waffe nur als Drohmittel benutzten, einen Beamten werde sie nicht erschießen.

Frau Hogefeld hat in der Hauptverhandlung erklärt, sie habe eine Waffe dabeigehabt, um diese als Drohmittel einzusetzten. Sie hat darauf hingewiesen, daß gerade auch die Bewaffnung
diesem Zweck folgte.

Schließlich hat der Zeuge Lang ausgeführt, nach den Erkenntnissen des Fachreferats TE 11 liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß innerhalb der RAF für den Zeitraum 1993 vom
Vorliegen einer Absprache innerhalb der RAF zur Frage des Schußwaffengebrauchs ausgegangen werden kann.

Die gegenständlich beantragte Beweisaufnahme wird zu einem Ergebnis kommen, das in Übereinstimmung mit sämtlichen Zeugenaussagen steht, die zu diesem Komplex vorliegen.

Berthold Fresenius

Rechtsanwalt

Prozeßerklärung Birgit Hogefeld, 19. Juli 1996

Der Senat will also von mir wissen, ob es die Raf noch gibt. Völlig logisch, mir, die ich seit über 3 Jahren im Knast bin, diese Frage zu stellen. Schließlich bin ich angeklagt, der Raf auch
im Knast weiter anzugehören. Und den OLG-Beschlüssen zur Verweigerung von Interviews ist zu entnehmen, wie ich auch als Gefangene den Tatbestand der mitgliedschaftlichen
Tätigkeit in besagter Gruppe erfüllen könnte. Beispielsweise indem ich über die Haftbedingungen rede oder über die Zäsurentscheidung der Raf.

Daß ein Staatsschutzsenat wie dieser eine solche Entscheidung als bedrohlich empfindet, liegt auf der Hand: Existenzgefährdung. Aber selbst wenn ich wollte, ich könnte doch gar nicht am
möglichen Verbandsleben einer Gruppe wie der Raf teilnehmen, Sie hindern mich doch daran. Wieso also halten Sie mich für die Beantwortung Ihrer Frage für eine 'taugliche Quelle'?

Oder anders - um was geht es bei Ihrer Frage wirklich?

Macht Ihnen die 'Flaute' im linken Spektrum und das immer schwerer zu besetzende Feindbild zu schaffen oder ist die Frage als Provokation gedacht? Wollen Sie von mir eine politische
Erklärung, die Sie dann als Grundlage für Ihre abstrusen Szenarien benutzen? Wollen Sie damit die Haushaltsmittel der Sicherheitsapparate bis ins nächste Jahrtausend sichern?

Wie auch immer - vermutlich ist es von allem etwas und Sie brauchen mal wieder einen Schub für die Bedrohungsanalyse.

Wie so etwas gemacht wird, habe ich kürzlich in sehr anschaulicher Darstellung den Akten entnehmen können; und ich finde, das sollte der Öffentlichkeit nicht vorenthalten bleiben.

Das ganze fand im Herbst 1993 statt. Die Bundesanwaltschaft stand damals vor dem Problem, daß selbst in den verschiedenen Sicherheitsapparaten die Zahl derer, die von einer realen
Gefährdung und Bedrohung durch die Raf ausgingen, immer kleiner wurde. Nicht nur, daß es 92 unsere Zäsurentscheidung gab, im Herbst 93 wurde zudem auch noch öffentlich, daß es
zum Bruch zwischen der Raf und einem Teil der Gefangenen gekommen war.

Kein Wunder also, daß sich eine Behörde wie die Bundesanwaltschaft in Zugzwang sah und ein Gefährdungsszenario aus dem Hut zauberte.

Das ganze lief wie folgt ab:

Am 5.11.93 faxt die Bundesanwaltschaft einen sogenannten Sachstandsbericht zur 'illegalen Kommunikation' zwischen der Raf-Gefangenen X und deren Besucher Y ans BKA. Einen
Tag später kommt es zu einer Besprechung, bei der den nun ermittelnden BKA-Beamten besagter Sachstandsbericht erläutert wird.
Im BKA-Protokoll heißt es dazu:

"Die Korrespondenz der X umfaßt etwa täglich einen Brief mit bis zu 10 Seiten Umfang. Die ausgewertete Gesamtmenge beläuft sich auf etwa 1000 Schriftstücke mit ca. 8 Millionen
Buchstaben. Die Korrespondenzinhalte werden in einem Datensystem gespeichert und sind mehrdimensional recherchierbar."

An der Auswertung sind 6 Beamte beteiligt.

Zum Hintergrund:

Verschiedene Raf-Gefangene hatten gemeinsam eine Geschichte mit dem Titel: "Der lange Weg zum großen Fest" geschrieben, sie sollte das Geburtstagsgeschenk für die Mutter von X
sein. Angesichts dieses Titels blitzten natürlich bei jedem Staatsschützer die roten Lampen auf und so wurde sicherheitshalber auch ein Linguist für die Analyse zu Rate gezogen. Sein
Gutachten hatte solche Brisanz, daß es als VS-vertraulich eingestuft wurde.

Der Mann kam zu dem Ergebnis:

"Die Verknüpfung von Metaphern aus dieser Geschichte mit zunächst unabhängig davon zu sehenden Ereignissen setzt voraus, daß der genannte Personenkreis ein einheitliches
Belegungsbild metaphorischer Begriffe wie 'Wildschweine, Schweine, Räuber, gebratene Gänse' verwendet. Dies setzt jedoch wiederum mit hoher Wahrscheinlichkeit entsprechende
Absprachen voraus."

Desweiteren erscheint den Ermittlern suspekt, daß diese Begriffe nur in großen zeitlichen Abständen in den Briefen auftauchen. Hinzu kommt, daß auch noch Postkarten mit Motiven von
Marc Chagall und van Gogh verschickt werden, bei denen "zweifelsfrei der Gedanke des - gemeinsamen - Lebens in Freiheit" zugrunde liegt.

Zwar konstatieren sie, daß ihnen die Texte der Kunstpostkarten "nicht als konspirative Informationen über konkrete Befreiungsaktionen" erscheinen. Aber: nix genaues weiß man nicht und
vielleicht ist ja gerade das der Trick vom Trick.

Und so wendet sich der Bericht dann dem auffälligen Verhalten des Besuchers Y zu. Dazu heißt es:

"Verschiedene auffällige Einzelereignisse und unerklärliche Verhaltensweisen (Massieren der Füße der X beim Besuch, obgleich sie betonte, keine kalten Füße zu haben) seien bei einer
Bewertung der Schriften/Kommunikation zu berücksichtigen."

Dann kommt der Bericht zum brisantesten Teil, nämlich zu der ominösen Zahl 11.

Y hat an X einen Strauß mit 11 Rosen geschickt, zwei Raf-Gefangene wurden an einem 11.11. verhaftet, in den Briefen geht es an einer Stelle um eine Erzählung von Peter Weiss, in der
das Datum 11. November vorkommt, außerdem um die 'Elfertheorie' des Schriftstellers Ronald Schernikau.

So oft die 11 - das kann nur der Code sein!

Einer aus der Ermittlerrunde vom 6.11. meint zwar, es sei nicht auszuschließen, daß gewisse Zufälligkeiten zu Fehlinterpretationen führen können. Aber in der Gesamtschau kommen sie
dann doch zu dem Ergebnis, es müsse davon ausgegangen werden, daß eine konspirative Kommunikation bestehe.

Und so heißt es dann am Ende des Protokolls:

"Die Zusammenfassung indiziert, daß eine 'Lösung der Gefangenenfrage' unmittelbar bevorstehen könnte, wobei dem Datum 11.11. eine tragende Bedeutung beigemessen werden kann."

Nun ist natürlich Gefahr im Verzug.

Am 8.11. kommt es zu einer Besprechung, an der Vertreter des LKA, des Innenministeriums und des Landesamtes für Verfassungsschutz eines Bundeslandes teilnehmen, sowie 4 BKA-
Beamte aus verschiedenen TE-Abteilungen.

Sie kommen zu folgendem Resultat:

"Es kann nicht bestätigt oder ausgeräumt werden, daß ein subversives konspiratives Kommunikationssystem besteht, und somit kann eine wie auch immer geartete Befreiungsaktion ab
sofort, möglicherweise am 11.11.93, nicht ausgeschlossen werden.

Dann werden die Abwehrmaßnahmen eingeleitet:

- gemeinsame Absprache mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dem BKA, der Generalbundesanwaltschaft und dem Landeskriminalamt

- Erörterung des Sachverhalts in der KGT-Sitzung am selben Tag

- außerdem sollen die Bundesländer die JVA-Sicherheitschefs und die Personenschutzgruppen der K 106-Einheiten unterrichten und sie sollen Kräfte und Strukturen für den Fall einer
Befreiungsaktion bereitstellen.

Alle Maßnahmen sind so abzuwickeln, daß Ursprung und Hintergrund nicht öffentlich bekannt werden.

Soweit zur Entstehungsgeschichte einer Gefährdungslage.

Wie hieß es doch: "Die Maßnahmen müssen so gestaltet werden, daß ein Bekanntwerden des Ursprungs bzw. Hintergrunds den Inhaftierten und dem Umfeld nicht möglich ist."

Entsprechend verlief für mich die Nacht vom 11. auf den 12. November 93. Das Licht war die ganze Zeit eingeschaltet und alle 15 Minuten stürmte eine Schließerin die Zelle, kam zum
Bett und fragte: "Frau Hogefeld, leben Sie noch?"

Und die Schlagzeile in der TAZ vom 12. November war: "Selbstmord als letztes Fanal" oder die in der Frankfurter Rundschau, die etwas zurückhaltender formulierte: "Raf-Gefangene
unter verstärkter Kontrolle - Staatsschutz befürchtet 'Kollektive Selbstmordaktion'".

Was war der Ausgangspunkt - um was ging es da:

um 11 Rosen und die Elfertheorie, um massierte Füße, die nicht kalt waren, um Chagall und van Gogh, um Wildschweine, Räuber und gebratene Gänse.

Da habe ich natürlich sofort meine Sonnenblumen gezählt - 10 Stück sind es -, hab ich etwa auch in Briefen diese Zahl schon benutzt? Briefe mit Zahlen - da war doch was. Ich suche die
Stelle raus: "Haben Sie übrigens vorgestern auf der Männerseite der Bildzeitung den 'Frühjahrsgesundheits-Check-96' gelesen? Höchst empfehlenswert: 4 Oropax in 7 Eßlöffeln heißer
Milch auflösen und in einem Zug trinken - wenn Sie jetzt kotzen, sind Sie gesund."

Scheiße, was schreibe ich auch solchen Quatsch - hört sich doch an wie Code pur. 96 - 4 - 7, na wenigstens keine 10 wie bei den Sonnenblumen; im Gegensatz zum Rest des Briefes hatte
ich bei den Zahlen eine glückliche Hand.

Aber Oropax in Milch auflösen - was wird der Linguist wohl davon halten? Unterstellt er ein 'einheitliches Belegungsbild metaphorischer Begriffe' oder leitet er das ganze gleich im BKA
an TE 24 weiter zwecks Prüfung der Substanz auf Sprengstoffanteile? So oder so, mit dieser Sorte Briefeschreiberei kann ich eigentlich nur eskalierte Gefährdungslagen produzieren, oder?

Und dann dieser Brief von Hubertus Janssen, ein Mann, der sich als Pfarrer ausgibt und dem dieser Senat sowieso nur schlimmstes zutraut. Schreibt dieser Mann mir in einem Brief von
'Steinen' und ich greife das als Bild in meiner Antwort auch noch auf.

Wie hieß es: "Die Korrespondenzinhalte werden in einem Datensystem gespeichert und sind mehrdimensional recherchierbar."

Und dann 'Steine' und das bei mir - ich brauche bloß die Augen zu schließen und sehe, was der Staatsschutzcomputer dazu ausspuckt: EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN blinkt es rot auf
und: siehe Weiterstadt. Das Drogenprogramm weiß zu 'Steinen' natürlich auch so einiges und vermuteter Diamantenschmuggel wäre wohl noch die harmloseste Variante. Tja,
'mehrdimensional recherchiert' eben.

Jetzt kann ich eigentlich nur noch hoffen, daß es keine ins Auge springende mathematische Verbindung zwischen der Anzahl der Buchstaben in meinen Briefen und den Sonnenblumen
gibt.

Seit einigen Jahren ist bei den Sicherheitsbehörden eine Verlagerung der Bedrohungslage von der realen auf die virtuelle Ebene festzustellen. Voraussetzung dafür ist aber immer ein
irgendwie noch realer Bezugspunkt, an dem entlang das Phantasiebild aufgebaut wird. Gut, jetzt haben Sie hier noch mich, es gibt auch immer noch andere Gefangene aus der Raf, aber die
gesamte Entwicklung im linken Spektrum (und das ist ja der Bereich, an dem Sie sich abarbeiten) zeigt, daß darin für Sie keine Perspektive liegt. Sie werden's erleben, irgendwann stehen
Sie ohne "richtigen Feind" da, all ihre Feindphantasien müssen auf ganz wenige Menschen übertragen werden. Und dann heißt es in Beschlüssen etwa, daß die Aushändigung einer
Zeitschrift mit dem 'kleinen Leitfaden zur Behinderung von Bahntransporten aller Art' an mich eine Gefährdung der Ordnung der Anstalt befürchten läßt. Aber: im Preungesheimer Knast
gibt es weder Gleise noch Bahntransporte, die ich blockieren, sabotieren, sprengen oder was-weiß-ich-was könnte, und so nutzt es Ihnen nichts, sie per Beschluß dahin zu phantasieren.

Aber das ganze hat mich auf eine Idee gebracht, die möglicherweise eine Lösung sein könnte für die Teile der Sicherheits- und Justizapparate, die durch die Zäsur der Raf und die
Entwicklung der Linken in den letzten Jahren in eine Sinn- und Identitätskrise gestürzt sind.

Folgen Sie den Zeichen der Zeit. Wagen Sie den Sprung und verlagern Sie Ihre Initiativen in den Bereich der Simulation. Der Computer-Markt bietet heute für all Ihre Phantasien und
Wünsche Lösungen an. Sie können da Ihren Bahntransport in Preungesheim 10 - oder wenn Sie wollen 100 - mal am Tag entgleisen oder in die Luft sprengen lassen. Die
Bundesanwaltschaft kann die gefährlichsten Gefährdungsszenarien produzieren, Feinde bekämpfen und dabei gewinnen, so oft sie nur will. Treten Sie per Simulation ins Land der
unbegrenzten Schlachten ein. Nur eins - halten Sie mich bitte da raus.

Birgit Hogefeld

Kundgebung in Bad Kleinen am 29.06.1996

Am 29.6.96 fand in Bad Kleinen eine Kundgebung anläßlich des dritten Jahrestages (27.6.) der Ermordung von Wolfgang Grams statt. An der Kundgebung nahmen etwa 150 Leute teil.
Siehe auch S. 15 !

Redebeitrag der VeranstalterInnen von der Roten Hilfe

Wir sind heute hier, um Wolfgang Grams zu gedenken, mit dem wir im Kampf um eine menschenwürdige, emanzipatorische Alternative zum kapitalistischen System verbunden sind.

Für uns als Rote Hilfe ist dabei nebensächlich, ob wir im einzelnen den Weg, den Wolfgang Grams gegangen ist, richtig finden oder nicht.

Für unsere Solidarität und Verbundenheit hat diese Auseinandersetzung keine Bedeutung.

Die gesamtpolitische Situation seit Mitte der 80-er Jahre sowohl weltweit als auch hier in der BRD hat die Linke vor unzählige neue Fragen gestellt, auf die es nur wenige Antworten gibt.

Das hat dazu geführt, daß die Linke weit davon entfernt ist, eine relevante Bewegung zu sein.

Nichtsdestotrotz kämpfen weiterhin Zusammenhänge gegen die heutige menschenverachtende Entwicklung, wobei es nicht nur darum geht, die Diskussion über vergangene Fehler zu
führen, sondern auch nach vorne - um eine Perspektive.

Wolfgang Grams mußte diesen Kampf mit dem Leben bezahlen.

Dieser Staat hat unzählige Möglichkeiten, auf verschiedenen Ebenen linken Widerstand anzugreifen und ist auch weiterhin bereit, diese auch bis zum letzten anzuwenden.

Wir wollen all jene stärken, die sich trotz allem weiterhin - oder auch gerade jetzt - dem Kampf um die Freiheit der Menschen durch die Beseitigung der herrschenden Verhältnisse stellen.

Dazu gehört auch immer der Kampf gegen das Vergessen und für die eigene - wahre Geschichte.

...

"Wenn Du das eben mal gesehen hast und sagst, mensch ich hab da `n Auto gesehen, das war blau und dann kommen die anderen an und sagen, nee, das war rot das Auto. Vier, fünf
Mann kommen an und sagen, dat war rot. Und denn, zuletzt, ist es auch rot, nee."

Mit diesen Worten beschrieb ein Bewohner von Bad Kleinen die Situation nach der Schießerei im Sommer 1993.
 

Vor zwei Tagen jährte sich die Verhaftungsaktion an diesem Bahnhof, bei der Wolfgang Grams ums Leben kam, zum dritten Mal.

Was damals hier wirklich passiert ist, ist bis heute noch nicht klar. Wir waren nicht dabei und wissen nur das, was uns damals aus dem Fernsehen und der Presse berichtet wurde.

Wir erinnern uns:

Die sogenannte Anti-Terror-Einheit des Bundesgrenzschutzes, GSG 9, sollte an diesem Bahnhof zwei Mitglieder der RAF festnehmen. Der Verfassungsschutzagent Klaus Steinmetz, der
sich hier mit Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams verabredet hatte, hatte die beiden in eine Falle gelockt. Denn die GSG-9-Männer waren schon vor ihnen hier. Dort, in dem Aufgang
zwischen den Bahnhofsgleisen, befand sich vor drei Jahren noch das Billard-Cafe, in dem sich die drei zusammensetzten. Nachdem sie das Cafe durch die Unterführung Richtung
Bahnsteig _ verließen, erfolgte der "Zugriff", wie die GSG-9 so etwas nennt.

Was daraufhin geschah, führte zu einer innenpolitischen Staatskrise, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik nur selten gab.

Wir wollen an dieser Stelle nicht noch einmal die vielen Versionen, die uns in den Tagen und Wochen danach in die Wohnzimmer geliefert wurden, wiederholen. Aber fest steht: Birgit
Hogefeld wurde sofort überwältigt und festgenommen. Der VS-Mann Steinmetz wurde - zum Schein - ebenfalls festgenommen. Wolfgang Grams, der versuchte, sich seiner Verhaftung zu
entziehen, flüchtete auf den Bahnsteig. Er wurde von mehreren GSG-9-Männern verfolgt. Es kam zu einer Schießerei, in deren Folge ein GSG-9-Mann getötet wurde. Wolfgang Grams
stürzte, bereits schwerverletzt, auf das Gleis 4. Eine Frau, die damals auf diesem Bahnsteig als Kioskverkäuferin arbeitete, hat folgendes gesehen (und es gibt nicht den geringsten Grund,
an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln) - wir zitieren - : "Dann traten zwei Beamte an den reglos daliegenden Grams heran. Der eine Beamte bückte sich und schoß mehrmals auf den
Grams. Der Beamte zielte auf den Kopf und schoß, aus nächster Nähe, wenige Zentimeter vom Kopf des Grams entfernt. Dann schoß auch der zweite Beamte auf Grams, aber mehr auf
den Bauch oder die Beine. Auch dieser Beamte schoß mehrmals."

Ein Beamter, der an der Aktion beteiligt war, machte gegenüber dem Magazin "Der Spiegel" eine Aussage, die sich mit dieser Beobachtung deckt - wir zitieren - : "Er lag da auf der linken
Körperseite. Ein Kollege kniete auf ihm. Er hatte keine Bewegungsmöglichkeit mehr...Nach etwa ewig langen langen 20 Minuten ist dann der tödliche Schuß gefallen. Ein Kollege hat aus
einer Entfernung von maximal 5 Zentimetern gefeuert."

Was geschah daraufhin ?

Großer Medienaufruhr. Der Generalbundesanwalt von Stahl erklärt, Birgit Hogefeld hätte das Feuer eröffnet und leitete mit dieser ersten Lüge eine Kette von weiteren Lügen ein. Dies
kostete ihm seinen Stuhl. Innenminister Seiters tritt zurück und erklärt, er übernehme damit die politische Verantwortung. Die GSG-9 gerät unter öffentlichen Beschuß, ihre Auflösung wird
in den Medien diskutiert. Die gezielte Ermordung eines Staatsgegners erinnert so manchen Journalisten und Politiker an die faschistischen Methoden der Gestapo im Nationalsozialismus.
Das Bild des demokratischen Staates gerät ins Wanken.

In dieser Situation stattet Kanzler Kohl der angeschlagenen GSG-9 einen offiziellen Besuch ab und erklärt, daß die Existenz der GSG-9 für den Schutz der Republik "notwendiger sei denn
je" und erklärte außerdem, daß die Medien aufhören sollen, einen "Mörder als Martyrer" darzustellen. Alles, was daraufhin folgt, dient einzig und allein dem staatlichen Ziel, die
Widersprüche, die an der Verhaftungsaktion in Bad Kleinen in breiten Teilen der Gesellschaft aufgebrochen sind, zuzukleistern. Oder wie der CDU-Politiker Gerster daraufhin im
Bundestag dazu sagte: "Es ist keine Frage, daß durch die Vorgänge in Bad Kleinen, die danach folgende Sprachverwirrung (was für ein Wort !) und die bis heute nicht mögliche
vollständige Aufklärung vor Ort Polizei und Justiz - und ich sage bewußt: damit unser ganzes Gemeinwesen - an Ansehen verloren, ja ein Stück Schaden genommen haben. Ziel jeden
Handelns muß es sein, diesen Schaden so schnell wie möglich zu begrenzen und zu mindern. Denn, wenn wir diesen Schaden nicht begrenzen, dienen wir letzten Endes den Terroristen,
die den Staat, die Behörden als Unterdrückerstaat diffamieren, die den demokratisch gewählten Politikern Vertuschung vorwerfen..." Damit war die Linie klar - jeder und jede, die sich für
die Aufklärung dieser Geheimdienstaktion einsetzte, sollte auf der Hut sein, will er/sie nicht mit den Folgen der Repression konfrontiert werden.

Und so wurde nach und nach demontiert. Der Spiegel-Zeuge, der ebenfalls ausgesagt hatte, daß Wolfgang Grams hingerichtet wurde, zog seine Stellungnahme zurück. Die
Zeuginnenaussage der Kioskverkäuferin wurde für unglaubwürdig erklärt. Der neue Innenminister Kanther sorgte für die öffentliche Durchsetzung der Selbstmordversion. Als das immer
noch kein Mensch glauben wollte, wurden eilig noch ein paar Gutachten hinterhergeschoben.

In dem allgemeinen Rummel um Wolfgang Grams wurde der tote GSG-9-Mann Newrzella in größter Eile beerdigt und damit auch die Widersprüchlichkeiten bezüglich seines Todes.
Wolfgang Grams soll ihn erschossen haben - was im Nachhinein auch seinen eigenen Tod moralisch legitimieren sollte. Jedoch sprechen mehrere Indizien gegen diese Version. Newrzella,
der hinter Wolfgang Grams hochgestürmt war, war von einem Schuß seitlich in die Beine und einem vorne in die Brust getroffen worden - Zielregionen, auf die Scharfschützen trainiert
werden. Wolfgang Grams kann den tödlichen Schuß in die Brust nicht abgegeben haben, da er seitlich der Treppe an der Bahnsteigkante zu schießen begann. Ungereimtheiten bezüglich
der Anwesenheit von Beamten in den Wohnungen über dem Bahnhofsgebäude bestätigen den Verdacht, daß von dort aus ebenfalls geschossen wurde. Wie in so vielen anderen Punkten
spielten diese Indizien in den Ermittlungen keine Rolle. Die Verfahren gegen die beteiligten GSG-9-Männer wurden alle eingestellt - mangels Tatverdacht, wie das OLG Rostock sehr
"glaubwürdig" begründete.

Im Herbst 1994 wurde der Prozeß gegen Birgit Hogefeld eröffnet. Seit 7 Jahren hatte es keine Festnahmen von RAF-Aktivisten gegeben. Dies setzte Staat und Justiz unter starken Durck:
Zwar war Birgit Hogefeld schon seit fast 10 Jahren auf der Fahndungsliste, doch gab es keine konkreten Tatvorwürfe gegen sie. Nun wurde ihr in einer abstrusen Anklage unter anderem
Mord und sechsfacher Mordversuch an der GSG-9 vorgeworfen, obwohl sie die einzige war, die keinen einzigen Schuß abgegeben hat. Diese Anklage beruhte lediglich auf einer
angeblichen Absprache innerhalb der RAF, in Festnahmesituationen von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Die Anklage behauptet, Wolfgang Grams habe den GSG-9 Mann Nerzella
getötet und somit sei Birgit Hogefeld mitschuldig. Dazu wird die Prozeß-Informationsgruppe aus Wiesbaden sogleich noch ausführlicher berichten. Solidarität mit Birgit Hogefeld!

Klaus Steinmetz hatte seit Mitte der 80-er Jahre verschiedene linke Zusammenhänge im Rhein-Main-Gebiet ausspioniert. Er teilte sein Wissen und Informationen dem Verfassungsschutz
mit, dessen Interesse an den Gruppen, die der Politik der RAF nahestanden, besonders groß war. Seine Spitzelarbeit fand hier vor drei Jahren ihr schreckliches Ende. Doch die Aussagen,
die er seither über verschiedene Leute aus diesen Zusammenhängen gemacht hatte, führten zu mehreren Hausdurchsuchungen, Vorladungen, Festnahmen und bis zu einem halben Jahr
Beugehaft für 4 Leute. Wann diese Ernte erschöpft ist, ist zur Zeit nicht absehbar. So sind bis heute noch verschiedene Leute von Vorladungen im Zusammenhang mit Steinmetz betroffen,
denen bei Nichterscheinen ebenfalls Beugehaft droht. Wir fordern die sofortige Einstellung dieser Maßnahmen.

Wir wollen mit dieser Kundgebung aber nicht nur Wolfgang Grams gedenken und die damalige Vertuschungspolitik der BRD in Erinnerung rufen. Denn die direkten, jetzt aktuellen
Folgen aus Bad Kleinen wie der Prozeß gegen Birigt Hogefeld und die Anstrengung von Grams Eltern, die Wahrheit ans Licht zu bringen, bedürfen ebenfalls unserer Aufmerksamkeit und
solidarischen Unterstützung.

Birgit Hogefeld wird seit Herbst 1994 in Frankfurt der Prozeß gemacht. Sie sieht sich neben anderen Anklagepunkten dem abstrusen Vorwurf gegenüber, einen Mord und sechsfachen
Mordversuch zu verantworten zu haben, obwohl sie nachweislich nicht geschossen hat. Die Anklage beruht auf einer angeblichen Absprache innerhalb der RAF, in Festnahmesituationen
von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, und auf der Annahme, daß der GSG-9-Beamte Newrzella von Wolfgang Grams erschosen wurde, wodurch Birgit Hogefeld eine
Mitverantwortung an Newrzellas Tod angelastet wird. Ebenso wird ihr eine Beteiligung am Anschlag auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt vorgeworfen. Ein Beamter des BKA, Dirk
Lang, desen Aufgabe es seinerzeit war, Schriftstücke aus Birgit Hogefelds Rucksack auszuwerten, entlastete durch seine Aussagen im Prozeß am 14.05. Birgit Hogefeld in diesen beiden
Punkten. Zudem bestätigte er vor Gericht, daß in den Untersuchungsakten von ihm selbst und von Kollegen erstellte entlastende Papiere fehlten. Lang ist bereits vom Dienst suspendiert
worden. Gerade auch in dieser brisanten Phase des Prozesses dürfen wir Birgit Hogefeld nicht alleine stehen lassen.

Die Eltern von Wolfgang Grams bemühen sich seit Jahren, endlich Aufklärung über die tatsächlichen Ereignisse und damit über die wirkliche Todesursache ihres Sohnes zu erhalten. Sie
hatten sehr schnell ein zusätzliches Gutachten erstellen lasen das die staatliche Version zutiefst in Frage stellt. Sie geben nicht auf, obwohl sie vor deutschen Gerichten bisher vollständig
gescheitert sind und obwohl ihre Anwälte in ihrer Arbeit aufs äußerste behindert werden (Im November letzten Jahres war aufgeflogen, daß die Rechtsanwaltskanzlei überwacht worden
war, am 14. Mai dieses Jahres wurden die Wohnung einer Mitarbeiterin und ebenfalls die Kanzlei durchsucht. Gegen die Mitarbeiterin läuft ein Ermittlungsverfahren nach [[section]] 129a.
Ihr wird vorgeworfen, Nahtstellenperson zur RAF zu sein.) Die Eltern wollen nun vor den europäischen Gerichtshof ziehen. Daß sie nicht bereit sind, sich von der staatlichen Sturheit und
Abwiegelungstaktik zum Schweigen und zum Resignieren bringen zu lassen und weiterhin die Wahrheit einfordern, verdient unsere Anerkennung und tatkräftige Unterstützung.

Der Staat kann bereits sehr weit gehen, wenn er seine Wahrheitsversionen durchdrücken will. Er läßt Beweismaterial verschwinden, vernichtet Spuren und verdreht Aussagen von Zeugen
und Zeuginnen. Wir werden das nicht hinnehmen, sondern immer wieder den Finger auf Widersprüche und Ungereimtheiten legen und denjenigen, die im Fadenkreuz des Staates stehen,
durch unsere Solidarität den Rücken stärken.

Redebeitag einer Prozeßbeobachterin

Vor drei Jahren fand hier ein spektakulärer Polizeieinsatz statt, bei dem Wolfgang Grams erschossen und Birgit Hogefeld verhaftet wurde. Ein eingesetzter GSG-9-Beamter wurde tödlich
getroffen, der V-Mann Steinmetz verbrannte, wie das in diesem Jargon heißt.

In der Folge war regierungsamtlich von Desaster, Pannen usw. die Rede, Innenminister Seiters trat zurück, im BKA wurden führende Beamte versetzt, der Rechtsaußen Bundesanwalt von
Stahl wurde ausgetauscht.

Und das alles, weil - wie die Bundesregierung behauptet - ein schwerverletztes Raf-Mitglied Selbstmord begangen haben soll? - Und weil er bei dem Schußwechsel zuvor den GSG-9-
Polizisten Newrzella erschossen haben soll??

So steht es auch in der Anklageschrift gegen Birgit Hogefeld, die im Zusammenhang mit Bad Kleinen wegen Mord und mehrfachem Mordversuch verurteilt werden soll.

Zum Zeitpunkt der Festnahme von Birgit Hogefeld lautete der Haftbefehl gegen sie lediglich auf Mitgliedschaft in der Raf und Beteiligung an dem versuchten Anschlag auf den früheren
Finanzstaatssekretär Tietmeyer.

Ende 1993 beantragte die Bundesanwaltschaft die Erweiterung des Haftbefehls wegen Mord und sechsfachem Mordversuch in Bad Kleinen und wegen der Weiterstadt-Aktion.

Kurze Zeit darauf trat der Verfassungsschutz über einen Mittelsmann an Birgits Verteidigung heran. Ihr wurde unterbreitet, daß, wenn sie Aussagen mache, die zur Verhaftung von Raf-
Mitgliedern führen

1. Der Mordvorwurf wegen Bad Kleinen fallen gelassen werde und

2. Sie die Zusicherung erhielte, daß in diesem Falle bei einer Verhaftung niemand erschossen werden würde.

Das Kronzeugenangebot - das die Bundesanwaltschaft Birgit schon in der Nacht ihrer Festnahme unterbreitete - ist an sich schon skandalös, aber die Androhung weiterer Erschießungen à
la Bad Kleinen, was ja der Umkehrschluß dieser Zusicherung ist, ist eine Ungeheuerlichkeit.

Birgit hat derartige Gespräche abgelehnt und bekam dann im März 1994 in der Anklageschrift einen weiteren Anklagepunkt serviert: nämlich die Beteiligung an der Aktion gegen die US-
Airbase Frankfurt 1985 und an der damit zusammenhängenden Erschießung des US-Soldaten Pimental. Zu diesem Zeitpunkt - also neun Jahre nach der Aktion - taucht Birgit erstmals als
Beschuldigte auf; dementsprechend wurden alte Gutachten neu geschrieben, die Zeugen erneut vernommen, ein manipulativer Videofilm erstellt und den Zeugen zwecks Wiedererkennung
vorgeführt usw..

Der Prozeß gegen Birgit begann im November 1994. Zu den Anklagepunkten Tietmeyer und Airbase existierten zunächst nur BKA-Schriftgutachten, die sich auf jeweils eine Unterschrift
unter einen Miet- bzw. Kaufvertrag für Autos bezogen. Diese Gutachten sind nach Birgits Verhaftung auf sie zugespitzt neu geschrieben worden. Diese Gutachten wurden durch
Verlesung eingeführt, die Gutachterinnen wurden nicht geladen. Beweisanträge der Verteidigung zur Ladung der Gutachterinnen wurden abgelehnt.

So konnte die Prozeßöffentlichkeit der Verlesung von X Gutachten beiwohnen - zu jeder Unterschrift hatten die beiden BKA-Schriftgutachterinnen gleich mehrere produziert. Geladen
wurden sie jedoch zu keinem.

Von den Zeugen und Zeuginnen, die im Rahmen der Ermittlungen zu diesen beiden Anklagepunkten vernommen wurden - also Autoverkäufer, -vermieter, die Soldaten, die mit Pimental
in der Diskothek waren - hatte ursprünglich keine und keiner bei Lichtbildvorlagen Ähnlichkeiten mit Birgit festgestellt. Dem sollte mit einem Videofilm Abhilfe geschaffen werden. Birgit
wurde beim Hofgang in Bielefeld heimlich gefilmt. Die Aufnahme wurde in fünf Sequenzen zerschnitten, wo dann jeweils noch vier weitere Frauen zu sehen sind, die versuchen, Birgits
Bewegungen zu imitieren. Von diesen vier Frauen haben drei hellblonde lange Haare, alle vier haben einen kräftigen Körperbau. Allein anhand der Imitationsversuche ergibt sich mit einer
Sicherheit von fast 50 %, daß diese Filmvorführung zu einem Ausdeuten von Birgit führt, da sie sich als einzige original bewegt. Dies hat Prof. Stadler, Leiter eines Instituts an der Uni
Bremen, das sich mit Psychologie und Wahrnehmungsforschung befaßt, nachgewiesen. Hinzu kommt, daß alle Zeugen aus der Diskothek die fragliche Frau als schlank, kurz- und
dunkelhaarig beschrieben. Und diese Beschreibung paßt in dem Film eben nur auf Birgit, lediglich eine der Vergleichspersonen hat rotbraune kurze Haare. So stellten dann von den US-
Soldaten einige nach zehn Jahren folgerichtig fest, daß Birgit und die andere kurzhaarige Frau Ähnlichkeit mit der Frau von damals haben.

Aber einer ist sich auch sicher, in Birgit die Frau von damals wiederzuerkennen - ausgerechnet er hatte 1985 gesagt, er könne die Frau nicht so genau beschreiben, da er kurzsichtig sei und
an dem fraglichen Abend seine Brille nicht dabei hatte...

Diese GI's wurden in der Verhandlung vom Gericht nach Details wie Augenfarbe etc. befragt, sagten sie was zur Anklageschrift passendes, machte Richter Klein ein Häkchen, paßte es
nicht, wurde so lange nach Lichtverhältnissen und Abständen gefragt, bis irgendwie doch noch ein Häkchen rauskam.

Die Bundesanwaltschaft fragt meist wenig, wenn das Gericht seine Häkchen zusammen hat. Ist dann die Verteidigung mit der Befragung dran, läßt schon die Haltung einzelner Richter
demonstratives Desinteresse erkennen. Es sieht dann wirklich so aus, als würden sie schlafen.

Diese offen zur Schau gestellte Ignoranz zeigt sich auch darin, daß durchgängig die Verfahrensakten - jedenfalls die, die die Verteidigung bekommt - unvollständig sind. Da fehlen
Vernehmungsprotokolle, Lichtbilder sind angeblich verschwunden, oder ganze Vorgänge werden von der Bundesanwaltschaft mit Billigung des Gerichts als nicht zum Verfahren gehörig
definiert.

Allein zu Weiterstadt - was ja ein Anklagepunkt gegen Birgit ist - existieren fünf weitere Aktensammlungen. Das heißt, da wird immer noch ermittelt, Zeugen befragt, Untersuchungen
angestellt, jedem Fusel nachgerannt. Insofern der Fusel rot ist, findet durchaus eine Aktennachlieferung statt - die Logik ist einfach: Birgit hatte bei ihrer Festnahme eine rote Strickjacke
dabei, deswegen sind 1995 aufgefundene rote Fuseln eben dann doch verfahrensrelevant. Da werden dann Gutachten nachgereicht und sogar ein BKA-Beamter geladen, der berichtet, wie
er im Weiterstadt-Auto die rote Faserspur fand. Eine Spur, die identisch von jedem industriell gefertigten roten Wollprodukt erzeugt wird, so eben auch, wie das gewichtige BKA-
Gutachten besagt, von der Strickjacke, die Birgit dabei hatte. Diese Faserspur, nach der zwei Jahre gefahndet wurde, ist die einzige Grundlage für eine Verurteilung von Birgit wegen der
Weiterstadt-Aktion, die Zeugenvernehmungen haben trotz parallel laufender Suggestionsversuche mit einem Stimmvergleichsband, das ähnlich wie der Videofilm aufgebaut ist, nichts für
eine Verurteilung Verwertbares ergeben.

Nach anderthalb Jahren Beweisaufnahme gibt es also:

einen kurzsichtigen Augenzeugen für den Anklagepunkt Pimental, eine rote Faserspur zu Weiterstadt und zu Tietmeyer eine Augenzeugin, die Birgit an O-Beinen erkannt haben will.
Diese Zeugin hat, nachdem sie in ihren ersten Vernehmungen 1988 eine andere Frau als Automieterin beschrieben hatte, in der Zeitung gelesen, daß laut BKA Birgit Hogefeld die
Automieterin sei. Da wußte sie dann nach Bad Kleinen, wen sie erkennen soll. Ihre Mutter, deren Beschreibung der fraglichen Frau auch bei der Befragung im Prozeß überhaupt nicht auf
Birgit paßte, begann ihren Bericht mit dem Satz: "Also, da kam die Frau Hogefeld...".

Dazu, daß die Frau, die sie 1988 gesehen hat, blaue Augen und einen hellen Teint hatte, erklärte sie mit Blick auf die Angeklagte, daß sie ja blaue Haftschalen getragen haben könnte.

Wer nun meint, sowas wäre dem Gericht und der Bundesanwaltschaft als Beweisführung vielleicht doch zu peinlich - nein, denen ist nichts peinlich.

Die Beweisaufnahme zu Bad Kleinen wäre, wenn es nach Gericht und Bundesanwaltschaft gegangen wäre, bereits im Frühjahr abgeschlossen gewesen. Von den 142 Zeugen und
Zeuginnen, die zu den Vorgängen auf dem Bahnhof von Bad Kleinen etwas ausgesagt haben, wollte das Gericht nur zwei hören: Den GSG-9-Beamten Nr. 4 und den Lokomotivführer
Tannert. GSG-9-Nr.4 sollte nur dazu aussagen, wie er Birgit festgenommen hat. Alle weiteren Fragen sind vom Gericht abgeblockt worden. Dabei ist aus den widersprüchlichen Aussagen
der GSG-9-Beamten nicht einmal klar, ob GSG-9-Nr.4 überhaupt derjenige war, der Birgit festgenommen hat. Der Zeuge, der vor Gericht maskiert und verkleidet erschien, mußte nicht
erklären, wie er in drei Sekunden von Bahnsteig 3 / 4 die Treppe runter kam und wie das auch noch unauffällig geschehen sein soll. Und alles, was auf Bahnsteig 3 / 4 sich abspielte, war
von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt. Laut offizieller Version war auf Bahnsteig 3 / 4 nur er, er soll dann aufgrund einer völlig unglaubwürdigen Funkpanne den Bahnsteig
verlassen haben. Daß laut AugenzeugInnen mindestens zwei bewaffnete und mit Funkgeräten ausgestattete Männer herumliefen und was deren Auftrag war, ist in Frankfurt nicht Thema.

Hier ist Birgit wegen Mordes angeklagt, obwohl sie die einzige ist, die in Bad Kleinen nachweislich nicht geschossen hat; daß sie dort festgenommen wurde, soll ausreichen. Dafür, daß
Wolfgang Grams den Polizisten Newrzella erschossen hat, gibt es keinen Augenzeugen. GSG-9-Beamte gaben an, daß Wolfgang Grams auf dem Bahnsteig nicht in ihre Richtung, sondern
nach links unten geschossen hat, was sie als verwirrt und unkoordiniert deuteten. Der Lokomotivführer Tannert gab an, daß er Schüsse und Gebrüll hörte, bevor er Wolfgang Grams mit
einer Schußwaffe sah. Er, sowie weitere Augenzeugen, haben ausgesagt, daß die erste auf dem Bahnsteig auftauchende Person (Wolfgang Grams) erst auf dem Bahnsteig eine Waffe
gezogen hat. Das heißt, daß nicht Wolfgang Grams das Feuer eröffnete, sondern seine Verfolger und daß er auch nicht in den Treppenschacht auf seine Verfolger geschossen hat. Auch die
zu seiner Waffe gehörigen Hülsen, die sich ausnahmslos im Gleisbett fanden, sprechen dafür, daß er erst von dem Standort zwischen Gleis und Treppengeländer geschossen hat.

Es spricht vieles dafür, daß der tödliche Schuß auf Newrzella nicht von Wolfgang Grams kam, sondern daß Newrzella versehentlich von seinen eigenen Leuten erschossen wurde. Das
würde auch erklären, warum er so schnell beerdigt wurde und warum es bezüglich der ihm entnommenen Projektile "Dokumentationslücken" gibt. Die bis heute in den Gerichtssaal in
Frankfurt verlängerte Vertuschungspraxis betrifft an vielen Punkten auch die Frage, wie Newrzella ums Leben kam. So zum Beispiel, daß auf keinen Fall zur Sprache kommen soll,
wieviele und welche Waffen und Munitionstypen in Bad Kleinen eingesetzt wurden, wo außer in der Unterführung noch Polizisten postiert waren und was diese taten und sahen. Daß die
tödliche Schußverletzung des Newrzella von oben nach unten verläuft, läßt den Schluß zu, daß von oben geschossen wurde. Dies ist jedenfalls einleuchtender als die Version, der Beamte
habe mit weit nach vorne gebeugtem Oberkörper nach dem schießenden Wolfgang Grams greifen wollen, von dem er dazu noch einige Meter weg war. Die andere Version, Wolfgang
Grams habe treppabwärts auf Newrzella geschossen, ist nicht nur durch sämtliche Zeugenaussagen widerlegt, sondern schon dadurch, daß auf der Treppe keine Blutspuren waren und daß
die schwere Verletzung des Newrzella nicht mehr zugelassen hätte, daß er noch die Treppe hoch bis auf den Bahnsteig läuft, um dort zusammenzubrechen. Auch bleibt festzuhalten, daß
der Schuß in Newrzellas Brust starke innere Verletzungen verursachte, wie sie durch die von der GSG-9 eingesetzte "Action-Munition" entstehen. Solche Art Munition - sog. DumDum-
Geschosse - ist übrigens in Kriegshandlungen geächtet.

Ferner sind in Newrzellas Körper noch Geschoßsplitter aufgefunden worden, denen bei den Untersuchungen keine weitere Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Außerdem wird ja behauptet, alle Schußverletzungen, die Newrzella erlitt, seien von Wolfgang Grams verursacht. Es ist aber so, daß er dreimal aus verschiedenen Richtungen, Höhen und
Winkeln getroffen wurde. Also wenn, wie behauptet, Wolfgang Grams von vorne auf ihn geschossen hat, wie kann er ihn dann auch noch von der Seite in die Beine und am Gesäß
getroffen haben? Und gleichzeitig soll er auch GSG-9-Nr.5 dreimal getroffen und sich anschließend selbst in den Kopf geschossen haben - und das alles in 8-10 Sekunden, solange dauerte
der Schußwechsel nach offiziellen Angaben.

Daß das alles so nicht gewesen sein kann, ist in Frankfurt "nicht verfahrensrelevant". Für Gericht und Bundesanwaltschaft ist die offizielle Version die gültige, ganz so, wie es Kanther
angeordnet hat. In der Anklageschrift steht: "Wolfgang Grams erschoß in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit der Angeschuldigten vorsätzlich den Kriminalkommissar
Michael Newrzella und versuchte, weitere sechs GSG-9-Beamte zu töten. Für dieses Tatgeschehen ist die Angeschuldigte Hogefeld als Mittäterin verantwortlich". Weiter behauptet die
Bundesanwaltschaft, in der Raf hätte es eine Absprache gegeben, in einer Festnahmesituation "den Fluchtweg (...) durch die Tötung von Polizeibeamten freizuschießen", so die
Anklageschrift.

Birgit hat mehrmals gesagt, daß es eine solche Absprache nicht gegeben hat. Darüber hinaus erklärte die Raf 1992

"Wir haben uns entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führenden Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat... einstellen". Diese
eindeutige Aussage dazu, den bewaffneten Kampf in der bisherigen Form nicht mehr weiterzuführen, wurde durch die Ausführung der Weiterstadtaktion und in der Erklärung dazu
bestätigt. Aber für die Staatsschutzrichter in Frankfurt steht fest, die Raf ist eine "Vereinigung, deren Zweck und deren Tätigkeit darauf gerichtet ist, Mord oder Totschlag, Straftaten gegen
die persönliche Freiheit (...) und gemeingefährliche Straftaten (...) zu begehen". In dieser, von Staatsschutzurteilen seit den 70er Jahren so definierten Vereinigung würde sich Birgit bis
heute betätigen, in ihren Prozeßerklärungen würde sie den bewaffneten Kampf propagieren. Das ist die Begründung, warum kein Journalist eine Interviewerlaubnis bekommt und so wird
es wahrscheinlich auch in der Urteilsbegründung stehen.

Es hat lange Tradition, daß Angeklagte, die der Raf zugerechnet werden, von Seiten der Justiz stereotyp verurteilt werden: Lebenslänglich. Nicht erst seit der sogenannten
Deeskalationserklärung der Raf von April 1992 ist es aber an der Zeit, daß der Automatismus "lebenslänglich für Raf-Gefangene" durchbrochen wird.

Was Bad Kleinen betrifft, wird die Öffentlichkeit mit immer absurderen Definitionen dessen, was dort passiert sein soll, gefüttert, Es scheint dabei aber nicht mehr darum zu gehen, ob das
noch jemand glaubt.

In Frankfurt ließ die Bundesanwaltschaft dazu, daß Birgit in Bad Kleinen ihre Waffe nicht gezogen hat, verlauten, in ihrer Situation eine Waffe zu ziehen, das wäre Selbstmord gewesen.
Das ist ihre Definition von Selbstmord.

Dadurch, daß Birgit wegen Bad Kleinen angeklagt ist, ist der Prozeß gegen sie die wahrscheinlich letzte Möglichkeit, Bad Kleinen öffentlich zu thematisieren.

Es ist aber bislang kaum gelungen, das Definitionsmonopol der Bundesanwaltschaft und ihres Anhangs zu durchbrechen.

Das liegt sicherlich auch daran, daß "wir" zu wenig diskutieren. Durch die Erklärungen der Raf seit 1992 und auch in Birgits Prozeßerklärungen, aber doch auch durch Entwicklungen in
dieser Gesellschaft sind Fragen aufgeworfen, auf die es keine schnell aus der Hüfte geschossenen Antworten gibt. Ich werde hier jetzt meinen Beitrag nicht mit einer Parole beenden, die
sich mehr oder weniger mühelos in die Tagesordnung einsortieren läßt - Geht nicht zur Tagesordnung über. Laßt uns die Fragen formulieren, die uns am meisten bedrängen!

Brief von Birgit Hogefeld zur Reportage in HR III zum Preungesheimer Knast

10.06.1996

Sehr geehrte Frau Scherenberg,

sehr geehrter Herr Stier,

vor kurzem haben Monika Haas und ich Ihre Reportage in Hessen III über den hiesigen Knast gesehen.

Wir finden, sie hebt sich von vielen anderen Berichten zum selben Thema positiv ab, denn es geht Ihnen ganz offensichtlich darum, die Problematik dieser schwierigen Lebenssituation
einfühlsam nachzuzeichnen.

Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen einige unserer Überlegungen und Anmerkungen dazu schreiben, denn trotz Ihrer Bemühungen halte ich Ihre Reportage aus
verschiedensten Gründen in weiten Teilen nicht für repräsentativ für die Realität hier. Wer sich Ihren Bericht anschaut, bekommt leicht eine falsche Vorstellung, denn der Preungesheimer
Frauenknast wirkt darin wie ein Modell-Projekt, dessen Schwerpunkt daruaf liegt, gefangene Frauen auf ein eigenverantwortliches Leben außerhalb der Mauern vorzubereiten.
Dieses - wie ich meine - Trugbild kommt wohl in erster Linie dadurch zustande, daß der Eindruck vermittelt wird, dieses "Wohngruppen-Modell" (E-Haus) spiegele die hiesige Realität
wider.

In diesem "Vorzeigemodell" (ich will hier nicht in eine Diskussion über dessen Vor- und Nachteile einsteigen, auch weil ich darüber zu wenig weiß) sind maximal 16 der erwachsenen
Frauen integriert. Dagegen sind wir anderen, die in diesen beiden alten Flügeln, die Sie ja auch kennen, gefangen gehalten werden, ca 180 Frauen, und unsere - also die Regelbedingungen
- sind sehr rigide und auch aus architektonischen und Platzgründen stark begrenzt.

Schon der äußere Rahmen unserer Alltagswirklichkeit hat nichts zu tun mit den großen sonnendurchfluteten Räumen aus Ihrem Bericht; wenn wir aus dem Fenster schauen wollen, müssen
wir auf Schränke oder Stuhllehnen steigen, denn es gibt hier überall diese Zellenfenster knapp unter der Decke. Und unsere Küche ist eine alte Zelle, also 8 m2 klein und das für 25 Frauen
und nicht für 8 wie in diesem Modellprojekt, und so ist es angesichts der unsinnigen "Einschlußzeiten", die unseren Tagesablauf entscheidend prägen, nicht möglich, uns selbst zu
versorgen.

Unser Leben hier wird bestimmt vom Geist der "schwarzen Pädagogik" vergangener Zeiten, als man(n) noch wußte, wie mit "bösen Mädchen" umzugehen ist. Unser Alltag unterliegt in
weiten Teilen der Willkür und den Launen von Schließerinnen und Schließern, von denen eine nicht geringe Zahl die Macht gegenüber uns als Kompensation für die eigene Kleinheit im
zivilen Leben zu brauchen scheint.

Primat des hiesigen Strafvollzugs ist Entmündigung und Anpassung bzw. Unterwerfung und das Interesse der Anstaltsleitung ist in allererster Linie auf den reibungslosen Ablauf des
Wegsperrens gerichtet.

Ich finde es sehr schwierig, das was das Leben hier ausmacht, für Menschen, die das alles nicht aus eigener Erfahrung kennen, nachvollziehbar zu beschreiben. Hier gibt es in der Regel
nicht d i e große Schweinerei oder Brutalität, das was uns entgegenschlägt und das Leben hier zusätzlich erschwert, ist vor allem Ignoranz und Mißachtung in einer sowieso schon
komplizierten Situation.

Da ging es letztes Jahr beispielsweise monatelang Tag für Tag darum, gegenüber einem Teil der SchließerInnen durchzusetzen, daß sie anzuklopfen haben, bevor sie in die Zellen kommen.
Nicht einmal der Respekt vor den letzten 8 m2 Privatsphäre, die in unserem Leben übriggeblieben sind, ist hier selbstverständlich - in anderen Knästen sind solche Dinge längst Regel.

Aber mehr noch ist es die Summe der vielen "Kleinigkeiten", diese permanente Entmündigung, oft Dinge, die man im "normalen" Leben achselzuckend wegstecken würde, oder belächeln
oder was auch immer, die jedenfalls nie ein solches Gewicht bekommen würden, wie in diesem enteigneten Knastalltag.

- der Schließer, der um 20:10 "Einschluß" machen und uns die Nachrichten nicht zuende sehen lassen will: "weil ich bestimme, wieviel Uhr es ist und ich sage, es ist jetzt 20:15" - eine
Lachnummer, aber eben nicht nur, denn er hat die Macht, das durchzusetzen.

- oder: "heute sind keine zwei Stunden Hofgang, obwohl Wochenende ist ... nein, das Wetter ist schlecht und ich bestimme, ob es schlecht ist oder nicht" - es war ein warmer und trockener
Tag und die Sonne schien.

- oder: "stimmt, Sie haben ein Anrecht auf die Aushändigung Ihrer Tageszeitung, aber wo steht, daß ich sie Ihnen nicht drei oder fünf Tage später geben darf?"

- oder: "Frau X, wenn Sie weiterhin so frech sind, nehme ich Ihnen nachher im Hof den Volleyball ab" - das kann er machen, wenn er will und ihm danach ist.

Und solche Begebenheiten, nicht einmal, sondern x-mal, Tag für Tag - Jahr für Jahr: DAS IST KNAST-WIRKLICHKEIT.

Von dieser Seite des Knastalltags haben Sie vermutlich nichts oder nur wenig mitbekommen. Das ist nicht Ihre Schuld, denn natürlich überlegt sich die Anstaltsleitung, wie sie ihren Knast
für die Öffentlichkeit in ein positives Licht rücken kann.

So können Sie dann beispielsweise nur mit ausgesuchten Gefangenen reden bzw. eben mit bestimmten anderen nicht, nämlich mit denen, die sich trauen würden, offen über die Situation
hier zu reden. Die die offen reden sind sehr wenige und das hat durchaus nachvollziehbare Gründe darin, daß hier jede, aber auch jede Lockerung oder Erleichterung der puren Willkür des
Personals bzw. der Knastleitung unterliegt, denn es gibt keine festgelegten Regelungen. Wenn ich beispielsweise Ihre Reportage anschaue, dann weiß ich bei einigen Frauen ganz genau,
daß sie darin nicht sagen, was sie denken, weil in nächster Zeit die Entscheidung über Straflockerungen, Ausgang oder ähnliches ansteht und sie mit dem Beitrag in Ihrem Bericht dafür
Punkte sammeln wollen (und auch müssen).

Eine völlig verlogene und entwürdigende Angelegenheit, die sehr vielen bewußt ist, für die es aber durch die bereits erwähnten Grundstrukturen innerhalb dieser Ordnung keine Lösungen
gibt. Und so kommen dann in solchen Reportagen Sätze von "im Knast neu eröffneten Lebensperspektiven" zustande und wenn man hier mit denselben Frauen redet, hört sich das völlig
anders an.

Wenn Sie in den Tagen, als Ihr Bericht im Fernsehen lief, jemanden auf meiner Station nach unserem Leben hier gefragt hätten, hätte Ihnen wohl jede Frau die Geschichte von Mek und
Pia erzählt. Beide sind spanisch-sprechende Frauen und können kein Deutsch, eine kommt aus sehr armen Verhältnissen in Kolumbien, die andere aus Spanien. Vor etwa zwei Monaten, in
der Zeit, als beide kurz vor dem Gerichtstermin standen und die Nerven noch blanker lagen als sowieso schon, waren sie eines morgens in der Küche aneinandergeraten und haben sich
geschlagen. Daraufhin wurde jede bis zum übernächsten Tag allein in ihrer Zelle eingeschlossen, beide haben seitdem ihre Arbeit verloren und kriegen für 3 Monate keine neue, dh sie
haben kein Geld für Tabak oder Kaffee oder Obst oder was weiß ich was - nix eben. Vor allem Pia ging es immer schlechter, sie hat in letzter Zeit oft auch tagsüber geweint. Keine Arbeit
heißt ja hier auch nicht nur kein Geld, keine Arbeit heißt auch: viele Stunden täglich allein in der Zelle eingeschlossen zu sein, nämlich die Stunden, in denen sie sonst gearbeitet hat. Für
viele Frauen, auch für Pia, ist das unerträglich.

Etwa 10 Wochen nach dem Vorfall in der Küche heißt es eines freitags, daß beide als Disziplinarstrafe bis zum Montag "Einschluß" haben - das hatte also der Knast mal wieder (wir hier
sind U-Gefangene) beim Gericht beantragt.

Mek und Pia sind beide fassungslos, als ihnen diese Strafe "eröffnet" wird - an die Schlägerei in der Küche kann sich schon längst niemand mehr richtig erinnern, das ist Schnee von
vorgestern.

Mek tritt gegen eine Zellentür und brüllt rum, weil's einfach zu viel wird, weil schon das "Normalmaß" dieses stumpfsinnigen und entmündigenden Alltags an die Grenze des Erträglichen
stößt.

Beide werden in ihren Zellen eingeschlossen.

Plötzlich Gerenne und Geschrei. Pia hat die Scheibe des Zellenfensters kaputtgehauen und sich mit einer Scherbe das Handgelenk tief aufgeschnitten. Sie wird sofort in ein Krankenhaus
nach draußen gefahren, denn sie blutet sehr stark. Stunden später wird sie von Schließern zurückgebracht, sie kommen mit ihr die Treppe hoch. Pias Gesicht ist blaß, sie hat viel geweint,
der Arm ist verbunden - die Wunde war im Krankenhaus genäht worden.

Die Schließer bringen Pia zu ihrer Zelle (das zerschlagene Fenster hatten sie zwischenzeitlich mit Folie zugeklebt) und schließen sie dort ein.
EINSCHLUSS BIS MONTAG - der Gerichtsbeschluß, erwirkt von der JVA Preungesheim, wird vollzogen. WOZU ?

Pia hat sich in dieser Zeit nicht umgebracht, wegen Suizidgefahr wurde sie nachts stündlich kontrolliert, in einer dieser Nächte haben sie die Zellenbeleuchtung bei ihr überhaupt nicht
ausgeschaltet. Sie hat geweint, jede Nacht, ich habs gehört, denn sie ist in der Zelle neben mir.

Die Grundstruktur des Vollzugssystems ist die, daß es auf jede unserer Lebensäußerungen die aus unserer schwierigen Gesamtsituation herrühren, fast ausschließlich mit struktureller
Gewalt reagiert. Das ist die einzige - ohnmächtige - Antwort, die uns hier ständig entgegenschlägt.

Ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig von meiner oder unserer Sicht der Situation hier vermitteln können.

Mit freundlichen Grüßen

Birgit Hogefeld

Ein Buch zum Prozeß:

Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld

Der Titel verspricht mehr, als gehalten werden kann. Denn einen wirklichen Versuch, die RAF zu verstehen, unternimmt darin nur Birgit Hogefeld in ihrer hier nachgedruckten
Prozeßerklärung vom 21.7.1995 (abgedruckt auch in Info 6).

Der Rest: ein taz-Artikel von Gerd Rosenkranz, dessen Ziel auch hier weniger ist zu verstehen als abzuwickeln; eine Einleitung und eine Nachbetrachtung zu Birgits Prozeßerklärung von
Horst-Eberhard Richter; ein Prozeßbeobachtungsbericht von Hubertus Janssen; ein Redemanuskript von Carlchristian von Braunmühl.

Eingeleitet wird das Büchlein durch einen Nachdruck eines taz-Artikels von Gerd Rosenkranz. Der Titel "Konfrontation statt Entspannung" sagt mehr über den Autor als über den
Sachverhalt aus - er hätte gerne eine entspannte Atmosphäre, um das leidige Thema endlich begraben zu können, aber nein, die Beteiligten verhalten sich wie eh und je. Wer die
Bemühungen von Birgit und ihrer Verteidigung beobachten konnte, einer ritualisierten Konfrontation aus dem Weg zu gehen, muß sich fragen, wie Rosenkranz dazu kommt, quasi "rechts
gleich links" zu sehen. Das läßt auch die Frage nach seinen Quellen zu, denn außer ihm, vielleicht noch der BAW und dem Senat (verurteilt wird ja nicht nach justizieller, sondern nach
politischer Überzeugung, daher: "vielleicht"), kann aufgrund der sogenannten Beweisaufnahme keineR davon ausgehen, daß Birgit an der Knastsprengung in Weiterstadt beteiligt gewesen
war. Daß er die in Bad Kleinen beteiligten GSG 9-Beamten in ihren Legendierungsnummern nicht unterscheiden kann und behauptet, die Nummer 6 wäre vor Gericht erschienen, beweist
seine mangelnde Sachkenntnis. Es war Nummer 4, zumindest hat die verkleidete Person dies von sich behauptet.

Aber zum Glück gibt die Einleitung nicht den Tenor der restlichen Beiträge wieder. Hubertus Janssen macht in seinem Beitrag deutlich, daß und wie nicht nur die Wahrheitsfindung auf der
Strecke bleibt, sondern daß neben politischen Gründen auch das ganz banale Gekränktsein eines völlig unsouveränen Senats zu einer vergifteten Atmosphäre führt.

Horst-Eberhard Richter nähert sich Birgits Prozeßerklärung (schon von Berufs wegen) aus psychologischer Sicht. Dies vermittelt durchaus Erkenntnisse, die nicht nur in Bezug auf die
RAF diskutabel sein sollten, aber in einigen Scenes bestenfalls als ketzerisch, schlimmstenfalls - um die historisch passende Formulierung zu wählen - als "Counter" wahrgenommen
wurden und werden. Bei Richter wie bei von Braunmühl ist sicher das Problem da, daß ihr reales Interesse an einer Auseinandersetzung mit der RAF begrenzt war und ist. Aber von
"Bürgerlichen" etwas zu erwarten, was sie weder sein wollen noch zum Ausdruck bringen können, ist ja auch unsinnig. Sie gleich auf die andere Seite der Barrikade zu verfrachten, mag
das eigene Weltbild konsolidieren, führt aber in der konkreten Auseinandersetzung (sofern überhaupt gewollt) zu nichts. Es verstellt jedoch den Blick für Kritikpunkte, die auch dann
berechtigt sein können, wenn das Interesse der Kritiker nicht linksradikaler Wahrnehmung und Vorstellung entspricht. - Und gerade Hubertus Janssen ist ein Beispiel für einen
"Bürgerlichen", der Partei ergreift.

Braunmühls Frage an die RAF ist ja so falsch nicht: Wer gab euch das Recht, unseren Bruder zu erschießen? Ja, wer gibt einer Linken oder Teilen von ihr das Recht, darüber zu befinden,
wer Schwein ist und damit ins Weltall gehört? Einerseits gegen die Todesstrafe zu sein - konkret Mumia -, andererseits den Abgang von Herrhausen mit Sekt zu feiern; paßt das
zusammen? Offensichtlich, aber genau darüber wäre auch zu diskutieren. Wer in dieser Rezension ein Plädoyer für Gewaltlosigkeit vermutet, liegt dennoch daneben. Die Frage ist ja nicht,
ob gut oder böse, sondern ob berechtigt, moralisch vertretbar und dem mit Emanzipation verbundenen Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft vereinbar.

1972 hat die RAF den Computer in Heidelberg zerstört, mit dem die Luftwaffenbombardements in Vietnam koordiniert wurden. Dabei starben 3 GIs. Die Aktion war berechtigt, moralisch
vertretbar und unterstützte die Bemühungen der meisten VietnamesInnen, die US-Armee aus Vietnam zu vertreiben. 1985 tötete die RAF einen GI, nur um an seinen Ausweis zu gelangen.
Den Weg zu verstehen, warum das militärische Moment das politische überwog, überwiegen konnte, vielleicht aus historischer Sicht auch mußte, dazu können auch die mitunter
psychologisierend wirkenden Gedanken Richters beitragen. Es muß ihm ja keineR in seinen Schlüssen daraus folgen.

Das Buch empfehlen? Eine schwierige Frage, zumal es ganz offensichtlich nicht für eine linksradikale Szene - sozusagen zur Selbstvergewisserung - geschrieben ist. Aber vielleicht ist das
auch seine Stärke: es zwingt nicht dazu, vorbehaltslos zuzustimmen, es empört (ja, so etwas gibt es noch!) und frau/man kann sich darüber ärgern. Und es enthält Anregungen, die einer
offenen und nicht nur innerlinken Diskussion durchaus förderlich sein könnten.

Ein Prozeßbesucher

Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. .Das Beispiel Birgit Hogefeld. Beiträge von Carlchristian von Braunmühl, Birgit Hogefeld, Hubertus Janssen, Horst-Eberhard Richter und
Gerd Rosenkranz. Psychosozial Verlag, Gießen 1996. 120 Seiten, 19,80 DM

ISBN 3-930096-87-0

Adresse: InfoAG zum Prozeß gegen B. Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Telefon nur: mittwochs 19- 20 Uhr und freitags 20-21 Uhr: 0611 / 44 06 64

Da manchmal Prozeßtermine ausfallen, ist es vor allem für Leute mit weiter Anreise sinnvoll, kurz vorher bei der InfoAG anzurufen.

Vertrieb:

Die Nr. 13 und 14 werden verbreitet über:

* Schleswig-Holstein: Rote Hilfe, Postfach 6444, 24125 Kiel, Tel. / Fax: 0431 75141

* Hamburg"Über den Tag hinaus" c/o: Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg

* Berlin / Ex-DDR: Prozeßbüro Birgit Hogefeld, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin

* NRW I: Infoladen c/o CILA, Braunschweiger Str. 23, 44145 Dortmund

* NRW II (Rheinland / südliches Ruhrgebiet): Autonome Gruppe Rheinbach c/o:

Cafe Störtebecker, Victoriastr. 2, 53879 Euskirchen

* Stuttgart: Infobüro für politische Gefangene, Mörickestr. 69, 70199 Stuttgart

* Saarland: basis, Alte Feuerwache, Am Landwehrplatz 2, 66111 Saarbrücken, Tel.: 0681 / 399990 FAX: 0681 / 34145

* Bayern: Infobüro c/o: Bücherkiste, Schlehenstr. 6, 90402 Nürnberg

Birgits Postadresse:

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach. 60256 Frankfurt

Druckkosten des Info: Dringender Appell zu Spenden an:

Linke Projekte e.V., Wiesbaden, Wiesbadener Volksbank: Kto-Nr: 9 314 407, Bankleitzahl: 510 900 00

Stichwort: "InfoAG"

Spendenkonto:

zu Verfahren Birgit Hogefeld und Todesermittlungsverfahren z.N. Wolfgang Grams:

Sonderkonto V. Luley, "Bad Kleinen", Postbank Frankfurt, BLZ: 50010060, Kto-Nr.: 16072-603

für Birgits persönlichen Bedarf: Sonderkonto Birgit Hogefeld:

R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228

Hinweis zu Seiten 7 ff.: Weitere Beiträge in Bad Kleinen: von Ursel Quack zu ihrem Prozeß u.a. (abgedruckt in Angehörigen-Info Nr. 183, Juli 1996), von der
Unterstützergruppe im Radikal-Verfahren und aus Lübeck zu Erfahrungen der Gegenermittlungen in Sachen "Verhafteter Betroffener" des Brandanschlags.

Unterschriftensammlung:

Insgesamt sind ca. 600 Unterschriften zusammen. Noch ist der Prozeß nicht zuende: Deswegen bitte weitersammeln!

Im Veröffentlichungsfall - z.B. durch öffentliche Präsentation mit großformatigen Kopien - werden nur Namen, keine Adressen in Umlauf gebracht.

ErstunterzeichnerInnen:

(Fortsetzung aus Info 12)

Prof. Dr. Christoph Nitz, Intendant, Nordhausen; Prof. Dr. Norman Paesch, Hamburg; Sabine Peters, Schriftstellerin; Sabine Platt, Rechtanwältin, Wiesbaden; Bernd Priebe, Erzieher,
Berlin; Miriam Pulss, Krankenschwester, Quickborn; Martin Pulss, Religionspädagoge, Quickborn; Jutta Rock, Rechtsanwältin, Frankfurt; Ingrid Röseler, Vorstandsmitglied des Komitees
für Grundrechte und Demokratie, Reichenbach; Dr. Birgit Sauer, Politikwissenschaftlerin, Berlin; Prof. Sebastian Scheerer, Universität Hamburg; Prof. Dr. A. Scherr, Darmstadt; Thomas
Scherzberg, Rechtsanwalt, Frankfurt; Dr. Gudrun Schwarz, Sozialwissenschaflerin, Hamburg; Jürgen Schramm, Betriebsrat, Frankfurt; Reinhart Schwarz, Archivleiter, Hamburg;
Alexander Schubart, Frankfurt; Dr. Thomas Seiterich-Kreuzkamp, Oberursel; Magrit Sierts, Pastorin, Hamburg; Martin Singe, Dipl.-Theologe, Köln; Dr. Ute Stöcklein, Rechtsanwältin,
Nürnberg; Elke Steven, Soziologin, Köln; Christian Ströbele, Rechtsanwalt, Berlin; Sabine Tegeler, Heilpraktikerin, Berlin; Dieter Thomas und Hendrike von Sydow vom Frankfurter
Fronttheater; Oliver Tolmein, Journalist, Hamburg; Susanne Uhl, MdB Bündnis 90/Die Grünen und GAL Hamburg; Bernd Umbreit, Filmemacher, Oberstenfeld; Klaus Vack,
Bürgerrechtler, Sensbachtal; Karel Vanck, Choreograph, Freiburg; Monika Varain, Literaturwissenschaftlerin, Hamburg; Waltraud Verleih, Rechtsanwältin, Frankfurt; Dagmar Werner,
Rechtsanwältin, Frankfurt; Gisela Wiese, Pax Christi, Hamburg; Michael Wildenhain, Schriftsteller, Berlin; Michael Wilk, Arzt, Wiesbaden; Detlef zum Winkel, Journalist, Frankfurt; Dr.
Winfried Wolf, MdB; Uwe Zubel, Gewerkschaftssekretär, Hamburg.

Aufruf zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld KOPIEREN & UNTERSCHRIFTEN SAMMELN!

Einsenden an: InfoAG Prozeß, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Birgit Hogefeld wurde am 27. Juni 1993 bei einer groß angelegten Polizeiaktion in Bad Kleinen festgenommen. Ihr Lebensgefährte Wolfgang Grams kam dabei ums Leben. Der
Bundesminister des Innern mußte zurücktreten. Der Generalbundesanwalt wurde entlassen. Zu viele Fragen insbesondere danach, wie Wolfgang Grams zu Tode kam, blieben
unbeantwortet.
Seit dem 15. November 1994 wird gegen Birgit Hogefeld vor dem 5. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt verhandelt.

Bei ihrer Festnahme war ihr vorgeworfen worden, Mitglied der RAF gewesen zu sein und sich an einem Anschlag auf den früheren Staatssekretär Tietmeyer beteiligt zu haben.

Im Januar 1994 änderte sich das: Der Haftbefehl gegen Birgit Hogefeld wurde wegen der Sprengung der JVA Weiterstadt und Mord und sechsfachem Mordversuch an Polizeibeamten in
Bad Kleinen erweitert, obwohl Birgit Hogefeld die einzige war, die in Bad Kleinen nachweislich nicht geschossen hat. Ziel dieser in der Öffentlichkeit vielfach kritisierten juristischen
Konstruktion ist es, die staatliche Version der Ereignisse in Bad Kleinen, daß nämlich Wolfgang Grams Selbstmord begangen hat und die eingesetzten Beamten vom Mordvorwurf
freizusprechen sind, festzuschreiben und mit der Legitimation gerichtlich festgestellter Tatsachen zu versehen. Zu Bad Kleinen soll es trotz der Zeugenaussagen, die dieser Version
widersprechen, keine Fragen mehr geben. Allein Birgit Hogefeld soll für die Toten in Bad Kleinen verantwortlich sein.

Nachdem sie mit dem Vorwurf des Mordes und Mordversuchs in Bad Kleinen überzogen worden war, wurde ihren Verteidigern zum selben Zeitpunkt signalisiert, dieser Anklagepunkt -
und damit das lebenslängliche Urteil - könne wieder zurückgenommen werden, wenn sie zu einer Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden bereit sei. Als der Bundesanwaltschaft klar
war, daß Birgit Hogefeld auf dieses Kronzeugenangebot nicht eingehen wird, tauchte dann in der Anklageschrift im März 1994 ein weiterer Mordvorwurf auf, der das Urteil mit
lebenslänglicher Haft unumgänglich machen soll: Der Generalbundesanwalt warf ihr nun - fast neun Jahre nach Abschluß der Ermittlungen - erstmals vor, an einem Anschlag auf die US-
Air-Base 1985 in Frankfurt und der damit im Zusammenhang stehenden Erschießung des US-Soldaten Pimental beteiligt gewesen zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt war in diesem
Verfahren nicht Birgit Hogefeld, sondern waren andere von der Bundesanwaltschaft als Beschuldigte geführt worden. Dementsprechend wurden und werden die bisherigen
Ermittlungsergebnisse nun auf Birgit Hogefeld zugespitzt: alte Gutachten werden durch neue abgelöst, die im Gegensatz zu den vorherigen jetzt zu dem Ergebnis kommen, daß Birgit
Hogefeld "wahrscheinlich" Käuferin eines PKW sei; tendenziöse Videofilme werden erstellt und Zeugen zur Wiedererkennung vorgeführt; die Verteidigung wird seit Beginn des
Verfahrens durch offensichtlich unvollständige Akten behindert.

Birgit Hogefeld, die sich in einer Prozeßerklärung sehr kritisch mit dem Anschlag auf die US-Air-Base und der Ermordung des US-Soldaten auseinandergesetzt hat, soll gerade mit diesem
Anklagepunkt die politisch-moralische Integrität abgesprochen werden.

Es hat lange Tradition, daß Angeklagte, die der RAF zugerechnet werden oder sich ihr zurechnen, von Seiten der Justiz nur eine Antwort bekommen: lebenslänglich. Nicht erst seit der
sogenannten Deeskalationserklärung der RAF vom April 1992 ist es aber an der Zeit, daß der Automatismus "lebenslänglich für RAF-Gefangene" durchbrochen wird.

Birgit Hogefeld darf nicht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden.

Name, Vorname Funktion Adresse Unterschrift

 Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Nr. 14

November 1996

Prozeßbericht

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld

Schlußwort Birgit Hogefeld vom 29. Oktober 1996

Beiträge zum Buch: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen

...die allerletzte Seite...

Prozeßbericht

"Dieses Vefahren", begann die Anwältin von Birgit Hogefeld ihr Plädoyer, " hat deutlich eines gezeigt, daß nämlich ein rationales Umgehen mit der RAF (...) auf justizieller Ebene nicht
möglich ist. Eine solche rationale Umgehensweise muß vielmehr auf politischer Ebene und gegen die Interessen der Strafverfolgungsbehörden durchgesetzt werden".

Für die Bundesanwaltschaft stand das Lebenslänglich-Urteil gegen Birgit Hogefeld schon in der Nacht ihrer Verhaftung fest - es sei denn, sie wird Kronzeugin. Zu diesem Zeitpunkt
standen im Haftbefehl lediglich die Vorwürfe Mitgliedschaft in der RAF und Autoanmietung für den Angriff auf Tietmeyer.

Von Hinweisen auf eine Beteiligung Birgit Hogefelds an dem Komplex Airbase/Pimental 1985 war in den Jahren vorher nie die Rede.

Nach über anderthalb Jahren Beweisaufnahme gibt es wissenschaftlich fragwürdige Schriftgutachten zu den Autobeschaffungen, einen kurzsichtigen Augenzeugen für den Anklagepunkt
Pimental, eine rote Faserspur zu Weiterstadt und zu Tietmeyer eine Autovermieterin, die die Angeklagte nach deren Festnahme an O-Beinen erkannt haben will.

Die Bundesanwaltschaft (BAW) hat jedoch in ihrem 400seitigen Plädoyer in allen Anklagepunkten die Höchststrafe gefordert.

Die Verteidigung Birgit Hogefelds stellte fest, daß die Beweisaufnahme in der RAF keine strafrechtlich relevanten Tatsachen erbracht hat, die eine über die Untersuchungshaft
hinausgehende Haftstrafe rechtfertigen könnten und plädierte auf Freilassung ihrer Mandantin.

Auch für häufiger in der Verhandlung anwesende PressevertreterInnen und ProzeßbeobachterInnen war, wie die kritische Berichterstattung in der Schlußphase des Prozesses zeigte, die
Beweisaufnahme hinsichtlich einer Verurteilung zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe nicht überzeugend.

Demgegenüber bot das Plädoyer der BAW, die gesamte Prozeßführung und schon der staatliche Umgang mit Bad Kleinen eindeutige Hinweis auf ein politisches Interesse, die
Repressionslogik aufrechtzuerhalten.

"Gesetzt den Fall, von der RAF gingen noch so ernstzunehmende Gefahren aus, daß Staatssekretäre, Wirtschaftsführer und Generalstaatsanwälte täglich um ihr Leben fürchten müßten,
sähe es für Birgit Hogefeld ganz anders aus. Wie schon früher zwischen Bonn, Karlsruhe und Frankfurt würde man darüber nachdenken, ob dieser Prozeß mit einer um Selbstkritik und
differenzierte Betrachtung bemühten Angeklagten nicht geeignet wäre, um gegen die Spirale der Gewalt zwischen Staat und Terroristen ein Signal zu setzen" (FR 2.10.96).

Die BAW hatte in ihrem Plädoyer sowie im gesamten Verfahrensablauf juristische Normalität simuliert. Für nicht einmal zweifelsfrei nachgewiesene Autobeschaffungen jeweils die
Höchststrafe für Mord zu fordern, ist aber nur bei (vermeintlichen) RAF-Mitgliedern normal.

"Um zu wissen, was in dieser Gesellschaft als kriminell angesehen wird, muß man zunächst wissen, was in der Wertskala der Gesellschaft als nicht kriminell gilt.

Einen wertvollen Beitrag, die notwendigen Unterscheidungen zu treffen, hat der Vorsitzende eines Frankfurter Schwurgerichtes beigesteuert. In diesem Prozess erhielt der
Polizeihauptkommissar Johannes Kuhr eine Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren, weil er an Exekutionen in Pinsk beteiligt war, wo russische Juden mit Peitschen in die Gruben getrieben
und dort getötet wurden. Kranke erschoß man in den Betten. Gegen Frauen und Kinder, die sich versteckt hatten, wurden Handgranaten eingesetzt.

Von dem Angeklagten Kuhr sagte Richter Schäfer, der Schwurgerichtsvorsitzende:

"Keiner der Angeklagten ist kriminell und ohne das NS-Regime hätten sie niemals vor einem Schwurgericht gestanden. Sie handelten in Übereinstimmung mit ihrer Umwelt, nicht gegen
sie und nicht einmal aus Kreisen der Justiz regte sich Einspruch." (Bericht in der Frankfurter Rundschau, Ausgabe vom 7.2.73, S.11)

Das ist eine sehr wesentliche Erkenntnis, die ganz präzise beschreibt, was in der Gesellschaft als kriminell gilt. Die Mordtaten können noch so scheußlich sein, es können Kinder und
Frauen mit Handgranaten umgebracht werden: wenn die Mörder in Übereinstimmung mit der Gesellschaftsordnung handelt und nicht gegen sie und wenn sich in der Justiz kein Einspruch
regt, dann ist er kein Krimineller," zitierte Birgits Rechtsanwalt ein Plädoyer aus einem der ersten RAF-Prozesse Anfang der 70er Jahre.

Der Urteilsspruch, am 5.11.96 verkündet, lautet auf dreimal Lebenslänglich plus 12 Jahre. Außerdem wurde auf "besondere Schwere der Schuld" erkannt. Der von Anfang an völlig
unhaltbare Anklagepunkt Bad Kleinen wurde fallengelassen, jedoch wurde im Urteil die offizielle Version, die niemals in einem öffentlichen Gerichtsverfahren untersucht wurde, nämlich
daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten Newrzella und anschließend sich selbst erschossen habe, festgeschrieben.

Der Urteilsspruch erging, obgleich in den Tagen vorher aus einer Vielzahl von veröffentlichten Tatsachen zum "Fall" Christoph Seidler noch offensichtlicher wurde, daß die
Ermittlungsbehörden bezüglich Zusammensetzung und Struktur der RAF in den 80er Jahren von (interessegeleiteten) Hypothesen ausgehen, die nicht unbedingt den Tatsachen
entsprechen.

Schon Birgit hatte in ihrem Schlußwort deutlich gemacht, daß Abtauchen nicht zwangsläufig bedeutet, sich der RAF anzuschließen. Sie selbst hat sich erst zu einem späteren als dem in
Anklageschrift (und Urteilsbegründung) behaupteten Zeitpunkt der RAF angeschlossen. Zwei weitere von den vier oder fünf Frauen, die das BKA noch der RAF zuordnet, waren dort nie,
wie jetzt bekannt wurde. Bereits in den 80er Jahren waren mehrere Frauen und Männer irrtümlich in die RAF-Fahndung geraten. Damals waren außerdem eine Reihe Personen auf der
Fahndungsliste, die sich von der RAF getrennt und in der DDR gelebt haben.

Die Beweiskraft der Schriftgutachten im Verfahren gegen Birgit Hogefeld ergab sich für BAW und Gericht aus dem Vergleich mit den anderen Frauen, nach denen wegen RAF-
Mitgliedschaft gefahndet wird. Da diese als Schriftverursacherinnen gutachterlich ausgeschlossen wurden und Birgit Hogefeld auf unterer Wahrscheinlichkeitsskala in Frage kam, war sie
es. Diese ohnehin fragwürdige Logik wird völlig ad absurdum geführt, weil die BKA-Zuordnungen, wer bei der RAF war und deshalb als Schriftverursacherin in Frage käme, falsch sind.

Das Gericht jedoch wertete diese BKA-Schriftgutachten, die wissenschaftlich wackelig geblieben waren, da es sich jeweils nur um eine Unterschrift handelte, und die punktuell im
Widerspruch zu früheren auf die gleichen Unterschriften bezogenen BKA-Gutachten standen, als die wichtigsten Beweismittel in den Anklagepunkten Airbase und Tietmeyer.

Aus links November / Dezember 1996:

"Nicht Verfahrensrelevant"

Der Prozeß gegen Birgit Hogefeld -

Von Prozeßbeobachterin Andrea L.

"Wir haben uns entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat (...) einstellen." So
äußerte sich die RAF in ihrer Deeskalationserklärung von 1992 -- nicht zuletzt, um aus der jahrzehntelangen Repressionslogik zwischen bewaffnetem Kampf und Staat auszubrechen. Das
letzterer aus dieser jedoch keineswegs ausschert, zeigte das Verfahren gegen Birgit Hogefeld vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. "Dieses Verfahren", so Hogefelds Anwältin in ihrem
Plädoyer, " hat deutlich eines gezeigt, daß nämlich ein rationales Umgehen mit der RAF (...) auf justizieller Ebene nicht möglich ist. Eine solche rationale Umgehensweise muß vielmehr
auf politischer Ebene und gegen die Interessen der Strafverfolgungsbehörden durchgesetzt werden."

Der Öffentlichkeit präsentierte sich im Staatsschutzsaal des 5. Strafsenats des OLG Frankfurt seit November 1994 ein klassischer "Terroristenprozess": Massives Polizeiaufgebot mit MGs
und schußsicheren Westen patroulliert um das Gebäude, ProzessbesucherInnen werden zweimal durchsucht, die Angeklagte wird mit auf dem Rücken gefesselten Händen in einem
schwerbewaffneten Konvoi zum Gericht gebracht.

Birgit Hogefeld unterliegt dem Sonderhaftstatut für 129a-Gefangene, das zwar nicht mehr in so brutalisierter Form gehandhabt wird wie in den 70er und 80er Jahren, aber nach wie vor
massive Einschränkungen in den Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten der Gefangenen bedeutet. Ihr wurde nicht erlaubt, Interviews zu geben, Besuche bei ihr finden mit
Trennscheibe und LKA-Überwachung statt, Post wird zensiert und teilweise verschleppt.

"Gesetzt den Fall, von der RAF gingen noch so ernstzunehmende Gefahren aus, daß Staatssekretäre, Wirtschaftsführer und Generalstaatsanwälte täglich um ihr Leben fürchten müßten,
sähe es für Birgit Hogefeld ganz anders aus. Wie schon früher zwischen Bonn, Karlsruhe und Frankfurt würde man darüber nachdenken, ob dieser Prozess mit einer um Selbstkritik und
differenzierte Betrachtung bemühten Angeklagten nicht geeignet wäre, um gegen die Spirale der Gewalt zwischen Staat und Terroristen ein Signal zu setzen." So die FR am 2.10.96. Die
Bundesanwaltschaft hat jedoch in ihrem 400seitigen Plädoyer in allen Anklagepunkten die Höchststrafe gefordert. Dieses Plädoyer, die gesamte Prozeßführung und der staatliche Umgang
mit Bad Kleinen bieten keinerlei Hinweise auf ein politisches Interesse, die Repressionslogik zu beenden.

Am 27.Juni 1993 fand in Bad Kleinen ein lange vorbereiteter Polizeieinsatz statt, bei dem Wolfgang Grams erschossen und Birgit Hogefeld verhaftet wurde. Ein eingesetzter GSG-9-
Beamter wurde tödlich getroffen, der V-Mann Steinmetz, der die Fahnder nach Bad Kleinen führte, verbrannte, wie das im Staatsschutz-Jargon heißt. In der Folge war regierungsamtlich
von Desaster, Pannen usw. die Rede, Innenminister Seiters trat zurück, im BKA wurden führende Beamte versetzt und Rechtsaußen von Stahl wurde ausgetauscht.

Und das alles, weil -- wie die Bundesregierung behauptet -- ein schwerverletztes RAF-Mitglied Selbstmord begangen haben soll? Oder weil dieser bei dem Schußwechsel zuvor den
GSG-9-Polizisten Newrzella erschossen haben soll? So steht es in der Anklageschrift gegen Birgit Hogefeld, in der die BAW u. a. wegen Bad Kleinen eine Verurteilung wegen Mordes
und mehrfachen Mordversuchs fordert.

Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme lautete der Haftbefehl gegen sie lediglich auf Mitgliedschaft in der RAF und Beteiligung (Autoanmietung) an dem versuchten Anschlag auf Tietmeyer.
Aber schon in der Nacht ihrer Verhaftung kam ein Vertreter der Bundesanwaltschaft (BAW) in ihre Zelle und drohte, sie habe nur dann noch eine Lebensperspektive, wenn sie sich auf die
Kronzeugenregelung einlasse. Ende 1993 beantragte dann die BAW die Erweiterung des Haftbefehls wegen Mordes und sechsfachen Mordversuchs in Bad Kleinen und wegen der
Weiterstadt-Aktion. Kurze Zeit darauf trat der Verfassungsschutz über einen Mittelsmann an Birgit Hogefelds Verteidigung heran. Ihr wurde unterbreitet, daß, wenn sie Aussagen mache,
die zur Verhaftung von RAF-Mitgliedern führen, zum einen der Mordvorwurf wegen Bad Kleinen fallen gelassen würde und zum anderen sie die Zusicherung erhielte, daß in diesem Falle
bei einer Verhaftung niemand erschossen würde. Ist die Kronzeugenregelung an sich schon skandalös, so ist die Androhung weiterer Erschießungen wie in Bad Kleinen -- was der
Umkehrschluss dieser Zusicherung ist -- eine Ungeheuerlichkeit.

Im März 1994 kam dann die Anklageschrift, darin wurde ein weiterer Anklagepunkt serviert: die Beteiligung an der Aktion gegen die US-Airbase in Frankfurt 1985 und an der damit
zusammenhängenden Erschießung des US-Soldaten Pimental. Zu diesem Zeitpunkt -- also neun Jahre nach der Aktion -- taucht Birgit Hogefeld erstmals als Beschuldigte auf,
dementsprechend wurden alte Gutachten neu geschrieben, die Zeugen erneut vernommen, ein manipulativer Videofilm erstellt usw.

Zu den Anklagepunkten Tietmeyer und Airbase existierten zunächst nur fragwürdige BKA-Schriftgutachten, die sich auf jeweils eine Unterschrift unter Miet- bzw. Kaufverträge für Autos
bezogen. Diese Gutachten sind nach Birgit Hogefelds Verhaftung neu geschrieben worden und wurden, obwohl sie immerhin eine Verurteilung wegen Mordversuchs bzw. Mordes
erbringen sollen, lediglich verlesen. So konnte die Prozeßöffentlichkeit der Verlesung von X Gutachten beiwohnen; zu jeder Unterschrift hatten die beiden BKA-Gutachterinnen gleich
mehrere produziert. Geladen wurden sie jedoch zu keinem, auch nicht auf mehrfachen Antrag der Verteidigung.

Zum Anklagepunkt Pimental, einer umstrittenen Aktion, die von Birgit Hogefeld als der schwerste Fehler der RAF bezeichnet wurde, schrieb die BAW in der Anklageschrift, daß die
"Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung" erweisen werde, ob die Angeklagte die Frau wäre, die seinerzeit den GI Pimental aus der Diskothek gelockt habe. Von den Zeugen und
Zeuginnen, die im Rahmen der Ermittlungen zu den Anklagepunkten Airbase, Pimental und Tietmeyer vernommen wurden, also Autoverkäufer, -vermieter und Soldaten, die mit Pimental
in der Diskothek waren, hatte ursprünglich keine und keiner bei Lichtbildvorlagen Ähnlichkeiten mit Birgit Hogefeld festgestellt. Dieser Beweisnot -- besonders im Hinblick auf den zehn
Jahre zurückliegenden Komplex Aibase/Pimental -- sollte mit einem Videofilm abgeholfen werden: Birgit Hogefeld wurde beim Hofgang heimlich gefilmt, die Aufnahme wurde in 5
Sequenzen zerschnitten, in denen jeweils vier weitere Frauen zu sehen sind, die die Bewegungen der Gefangenen imitieren. Von diesen vier "Vergleichspersonen" haben drei hellblonde
lange Haare, alle vier sind von kräftiger Statur. Die ZeugInnen aus der Diskothek hatten die fragliche Frau übereinstimmend als schlank und dunkelhaarig beschrieben. Diese allgemeinen
Merkmale treffen in dem BKA-Film nur auf die Angeklagte zu. Hinzu kommen die erkennbaren Nachahmungsbewegungen der Vergleichspersonen. So stellten dann von den US-Soldaten
einige nach zehn Jahren folgerichtig fest, daß Birgit Hogefeld und die andere dunkelhaarige Frau Ähnlichkeit mit der Frau von damals haben. Einer der Zeugen ist sich sogar sicher, in
Birgit Hogefeld die Frau von damals wiederzuerkennen, obwohl er 1985 ausgesagt hatte, er könne die Frau nicht so genau beschreiben, da er kurzsichtig sei und am fraglichen Abend seine
Brille nicht dabei hatte.

Die GI's wurden in der Verhandlung vom Gericht nach Details wie Augenfarbe etc. befragt, sagten sie etwas zur Anklageschrift passendes, machte einer der Richter ein Häkchen, passte es
nicht, wurde so lange nach Lichtverhältnissen und Abständen gefragt, bis irgendwie doch noch ein Häkchen rauskam. Die Bundesanwaltschaft fragte meist wenig, wenn das Gericht seine
Häkchen beisammen hatte. War dann die Verteidigung mit der Befragung dran, ließ schon die Haltung einzelner Richter demonstratives Desinteresse erkennen. Diese offen zur Schau
gestellte Ignoranz zeigte sich auch darin, daß nahezu alle Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt wurden und darin, daß durchgängig die Verfahrensakten -- jedenfalls die, die die
Verteidigung bekam -- unvollständig waren. Da fehlten Vernehmungsprotokolle, Lichtbilder waren angeblich verschwunden, oder ganze Vorgänge wurden von der BAW mit Billigung
des Gerichts als nicht zum Verfahren gehörig definiert.

Allein zum Anklagepunkt Weiterstadt existieren fünf weitere Aktensammlungen. Das heißt, es wird weiter ermittelt, Zeugen befragt, Untersuchungen angestellt, jedem Fussel nachgerannt.
Insofern der Fussel rot war, fand durchaus eine Aktennachlieferung statt. Die Logik dabei ist einfach: Birgit Hogefeld hatte bei ihrer Festnahme eine rote Strickjacke dabei, deswegen
waren 1995 aufgefundene rote Fussel eben dann doch verfahrensrelevant. Da wurden Gutachten nachgereicht und sogar ein BKA-Beamter geladen, der berichtete, wie er in einem bei der
Weiterstadt-Aktion benutzten Auto die mikroskopische rote Faserspur fand. Diese Fussel, die von den meisten industriell gefertigten roten Wollprodukten stammen können, sind die einzige
Grundlage für eine Verurteilung von Birgit Hogefeld wegen der Knastsprengung, die Zeugenaussagen haben nichts für eine Verurteilung verwertbares erbracht.

Nach über anderthalb Jahren Beweisaufnahme gibt es also: wissenschaftlich fragwürdige Schriftgut-achten zu den Autobeschaffungen, einen kurzsichtigen Augenzeugen für den
Anklagepunkt Pimental, eine rote Faserspur zu Weiterstadt und zu Tietmeyer eine Autovermieterin, die die Angeklagte nach deren Festnahme an O-Beinen erkannt haben will. Diese
Zeugin hat, nachdem sie in ihrer ersten Vernehmung 1988 eine andere Frau als Automieterin beschrieben hatte, in der Zeitung gelesen, daß laut BKA Birgit Hogefeld die Automieterin
gewesen sei. Da wußte sie dann nach Bad Kleinen, wen sie erkennen soll. Ihre Mutter, deren Beschreibung auch bei der Befragung im Prozess überhaupt nicht auf die Angeklagte passte,
begann ihren Bericht mit dem Satz: " Also, da kam die Frau Hogefeld (...)." Mit Blick auf die Angeklagte erklärte sie dann eifrig, diese könne ja blaue Haftschalen getragen haben. Ganz
ähnlich nahm sich die Beweisaufnahme des Gerichts aus: einmal fragte beispielsweise der Vorsitzende eine Zeugin, ob sie sich vorstellen könne, daß der Eindruck lückenhafter und gelb-
brauner Zähne durch Bemalung vorgetäuscht worden sein könnte. Und auch die BAW führte in ihrem Plädoyer aus, daß die Tatsache, daß ZeugInnen nicht die Angeklagte, sondern eine
andere Frau identifiziert hatten, daher käme, daß eben diese andere Frau Birgit Hogefeld ähnlicher sähe als die Angeklagte. Aus dieser Beweisaufnahme ergibt sich für die BAW je einmal
lebenslänglich für die Autobe-schaffungen, einmal lebenslänglich für Pimental, 15 Jahre für die Knastsprengung und für Bad Kleinen noch ein lebenslänglich, und zwar mit "besonderer
Schuld-schwere".

Die Beweisaufnahme zu Bad Kleinen wäre, wenn es nach Gericht und BAW gegangen wäre, bereits im Frühjahr abgeschlossen gewesen. Von den 142 Zeugen und Zeuginnen, die zu den
Vorgängen auf dem Bahnhof etwas ausgesagt haben, wollte das Gericht nur zwei hören: Den GSG-9-Beamten "Nr.4" und einen Lokomotivführer. "Nr.4", der vor Gericht maskiert und
verkleidet erschien, sollte nur dazu aussagen, wie er Birgit Hogefeld festgenommen hat. Alle weiteren Fragen sind vom Gericht abgeblockt worden. Dabei ist nicht einmal klar, ob
GSG-9-"Nr.4" derjenige war, der Birgit Hogefeld festgenommen hat, ebenso war letztlich nicht festzustellen, ob der vor Gericht erschienene Zeuge überhaupt derjenige ist, der in den
Akten als "Nr.4" geführt wird. Nicht nur, daß "die Todesumstände des Wolfgang Grams nicht Gegenstand dieses Verfahrens" sein sollten, wie der Vorsitzende Richter mehrmals vehement
erklärte, auch eine Beweisaufnahme dazu, wie Newrzella ums Leben kam, sollte in Frankfurt nicht stattfinden. Auf keinen Fall sollte zur Sprache kommen, wieviele und welche Waffen
und Munitionstypen in Bad Kleinen eingesetzt wurden, wo überall die eingesetzten Polizisten postiert waren und was diese taten und sahen. Alle von der Verteidigung beantragten
Beweismittel -- Vernehmung weiterer Beamter und anderer AugenzeugInnen usw. -- wurden unisono abgelehnt. Birgit Hogefeld -- obwohl sie die einzige ist, die in Bad Kleinen sicher
nicht geschossen hat -- soll hier völlig ohne Beweisaufnahme verurteilt werden. Denn jeder Ansatz einer Aufklärung der Abläufe in Bad Kleinen käme trotz der erheblichen
Beweismittelvernichtungen in diesem Komplex nicht umhin, festzustellen, daß es so, wie die offizielle Version behauptet, nicht gewesen sein kann.

BAW und Gericht in Frankfurt wollten von dem Lokomotivführer nur hören, daß Wolfgang Grams in Bad Kleinen geschossen hat -- alles andere ergibt sich daraus in der ihnen eigenen
Logik von selbst, nämlich daß es Wolfgang Grams war, der die GSG-9-Beamten Newrzella und "Nr.5" insgesamt sechsmal aus verschiedenen Richtungen, Höhen und Winkeln getroffen
hat und daß Tötungsabsicht vorlag. In der Anklageschrift steht: " Wolfgang Grams erschoß in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit der Angeschuldigten vorsätzlich den
Kriminalkommissar Michael Newrzella und versuchte, weitere sechs GSG-9-Beamte zu töten. Für dieses Tatgeschehen ist die Angeschuldigte Hogefeld als Mittäterin verantwortlich", und
zwar weil, so die BAW, es in der RAF eine Absprache gäbe, in einer Festnahmesituation "den Fluchtweg (...) durch die Tötung von Polizeibeamten freizuschießen". Diese Absprache
existiert jedoch bloß in der Phantasie der Strafverfolgungsbehörden. Birgit Hogefeld hat unter anderem in einer Prozeßerklärung am 23.Januar 1996 darauf hingewiesen, daß es seit 16
Jahren in Verhaftungssituationen seitens der RAF nur ein einziges Mal zum Schusswaffengebrauch kam und dies seit der Deeskalationserklärung 1992 ohnehin kein Thema mehr war.
"Erbärmliche Feiglinge" nannte daraufhin der Vertreter der BAW diejenigen RAF-Mitglieder, die bei ihrer Festnahme nicht geschossen haben -- ein bezeichnender Hinweis auf die
Denkkategorien dieser Behörde.

"Für die Entscheidung unerheblich", nannte das Gericht Beweisanträge der Verteidigung, die die Existenz einer " Verabredung zum Schießen" widerlegen sollten. Dafür, daß Wolfgang
Grams den Polizisten Newrzella erschossen hat, gibt es keinen Augenzeugen, selbst die GSG-9-Beamten haben dies nicht ausgesagt. Der Lokomotivführer hat -- wie etliche in Frankfurt
nicht gehörte AugenzeugInnen -- ausgesagt, daß Wolfgang Grams erst auf dem Bahnsteig eine Waffe gezogen hat. Daß nicht er das Feuer eröffnete, sondern seine Verfolger, und daß er
nicht in den Treppenschacht auf seine Verfolger geschossen hat. Auch der Fundort der zu seiner Waffe gehörigen Hülsen beweist, daß er erst von seinem Standort zwischen Gleis und
Treppengeländer schoß.

Vieles -- z.B. Richtung und Verlauf der tödlichen Schußrichtung -- spricht dafür, daß der tödliche Schuß auf Newrzella nicht von Wolfgang Grams kam, sondern daß Newrzella
versehentlich von seinen eigenen Leuten erschossen wurde. Das würde auch erklären, warum er erstaunlich schnell beerdigt wurde und warum es bezüglich der Übergaben der ihm
entnommenen Projektile "Dokumentationslücken" in den Akten gibt, wodurch nicht mehr rekonstruierbar ist, ob es sich bei den später der Waffe von Wolfgang Grams zugeordneten
Projektilen um die bei der Obduktion entnommenen handelt oder ob sie etwa aus dem Vergleichsmaterial stammen, das vom BKA mit jener Waffe produziert wurde. Die Projektile sind bei
der Obduktion entgegen jeglicher Routine weder fotografiert noch gekennzeichnet worden. Die Protokolle in den Akten besagen, daß sie an mehreren Orten zur gleichen Zeit untersucht
wurden.

Spurenlücken dieser Art sind in dem ganzen Komplex Bad Kleinen geradezu symtomatisch, seien es die noch vor der Obduktion grundlos gewaschenen Hände des Wolfgang Grams, sei
es die unterbliebene Untersuchung seiner Waffe nach Fingerabdrücken, sei es die von den GSG-9-Beamten erst Tage später abgegebene und teilweise gereinigte Kleidung, usw. Dabei war
auch im Prozeß in Frankfurt zu hören, wie penibel die Ermittlungsbehörden sich sonst geben -- zu jedem Bekennerschreiben etwa war bis auf die Uhrzeit genau festgehalten, wann
abgeholt, von wem, wann übergeben, an wen usw. Solches wurde denn auch in der Hauptverhandlung dezidiert berichtet. Das Gelände der JVA Weiterstadt wurde über ein Jahr lang nach
Spuren buchstäblich durchgesiebt.

Die Klärung der Vorgänge in Bad Kleinen ist "für die Entscheidung unerheblich", so das Gericht. "Unerheblich" ist auch, von wo aus Wolfgang Grams in Bad Kleinen geschossen hat,
"unerheblich" ob er oder die GSG-9 den Schusswechsel eröffnet hat, "unerheblich" auch, wie die Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang die Deeskalationerklärung der RAF von 1992
sieht. Was in Bad Kleinen wirklich passiert ist, ist in Frankfurt "nicht verfahrensrelevant". Für Bundesanwaltschaft und Gericht ist die offizielle Version, die nie gerichtlich aufgeklärt
wurde, die Gültige; ganz so, wie es Kanther angeordnet hat. Deswegen soll Birgit Hogefeld die einzige sein, die jemals wegen Bad Kleinen verurteilt wird.

Schlußwort Birgit Hogefeld vom 29. Oktober 1996


 

Als im November 1994 dieser Prozeß gegen mich begann, habe ich meine erste Prozeßerklärung mit dem Satz eingeleitet: "Während ich hier vor Gericht sitze, laufen die Mörder von
Wolfgang Grams frei und staatlich gedeckt draußen rum." Wie nicht anders zu erwarten, hat sich daran bis heute nichts geändert. Die politischen Signale aus Bonn sind bei der deutschen
Justiz angekommen. Kurz nach der Polizei-Aktion von Bad Kleinen stattete Bundeskanzler Kohl der GSG-9 einen Truppenbesuch ab und signalisierte damit, daß die Hinrichtung von
Wolfgang Grams seine volle Rückendeckung hat. Zu diesem Zeitpunkt stand fest: die staatliche Linie sollte das starre Festhalten an der Selbstmordversion sein und außerdem die
Verhinderung der Aufklärung der Ereignisse von Bad Kleinen vor einem deutschen Gericht. Und so war es dann auch. Mangels hinreichendem Tatverdacht gegen die GSG-9 Beamten
wurde die Klage der Eltern von Wolfgang Grams durch alle Instanzen abgewiesen; diese Entscheidung wurde zwischenzeitlich auch vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet.

In der letzten Version des OLG Rostock heißt es, Wolfgang Grams habe sich während des Sturzes ins Gleisbett, also zu einem Zeitpunkt, als er schon mehrfach angeschossen und durch
einen Bauchschuß schwerstverletzt war, selbst in den Kopf geschossen. Diese Version ist nicht weniger absurd als die vorherigen. Zwei dazu befragte international anerkannte
Gerichtsmediziner äußerten sich in der ARD-Sendung Monitor vom 18.4.96 wie folgt:

Pounder:

"Denken Sie an die Realitäten! Er hat einen Bauchschuß und Beinschüsse und er muß große Schmerzen haben. Er fällt rückwärts in einem unkontrollierten Sturz und wir wissen, daß
geschossen wurde, als sein Kopf sehr nahe oder schon auf dem Gleis war. Genau in diesem Augenblick hätte er Selbstmord begehen sollen. Um das hinzubekommen, bräuchte man einen
Übermenschen."

Knight:

"Ich habe in vierzig Jahren alle Arten von Selbstmorden gesehen, aber noch nie, daß sich einer in der Luft selbst erschießen konnte, während er fällt. Das ist höchst unwahrscheinlich."

"Das Szenario (der Rostocker Richter) ist unmöglich, es kann nicht passieren. Das ist einfach völlig unmöglich."

All das ist öffentlich und denen, die sich dafür interessieren, bekannt, und nur wenige folgen also der staatlichen Version vom Selbstmord Wolfgang Grams'.

Aber in einer Zeit, in der inhaltliche Positionen, die vor wenigen Jahren als 'rechtsaußen' gegolten hätten, heute in der gesellschaftlichen Mitte angesiedelt sind, führt die Erschießung eines
schwerverletzten Raf-Mitglieds durch ein paramilitärisches Sonderkommando dazu, daß die meisten Menschen, die dem kritisch gegenüberstehen, auch das nur noch resigniert zur
Kenntnis nehmen. Die gesellschaftliche Entwicklung ist da angekommen, daß es heute möglich ist, daß nach Brandanschlägen gegen Menschen aus anderen Ländern Polizei und
Staatsanwaltschaften immer häufiger gegen die Opfer dieser Anschläge ermitteln, anstatt die Täter ausfindig machen zu wollen. Der 'Kapitalstandort Deutschland' dürfe durch solche
Anschläge nicht gefährdet werden, meinte Außenminister Kinkel 1993 nach der Verbrennung von fünf türkischen Frauen und Mädchen in Solingen. Das Bild von rassistischen,
aggressiven deutschen Jungmännern soll keinesfalls im Ausland Assoziationen an die braune Vergangenheit wachrufen - damit war das Signal für die Ermittlungen gegen die Opfer
rassistischer Anschläge gegeben. Und daß der junge Libanese aus Lübeck heute wieder in Freiheit ist, hat er wohl vor allem der 'internationalen Untersuchungskommission' und der
dadurch gewährleisteten internationalen Öffentlichkeit zu verdanken. Die Solidarität, die es hier gab, hätte wohl kaum ausgereicht.

Angesichts dieser Gesamtentwicklung war also nicht zu erwarten, daß die Ereignisse von Bad Kleinen und die Hinrichtung von Wolfgang Grams über das kurze Interesse am Skandal
hinaus auf derart großes Interesse und Widerspruch in Teilen der Öffentlichkeit und bei den Medien stößt, daß die Politik zu einer tatsächlichen Aufklärung gezwungen wird.

Das ganze fand seine Entsprechung in diesem Prozeß.

Die wahnwitzige Mordanklage gegen mich wegen der Erschießung des GSG-9 Manns Newrzella und mehrfachem Mordversuch wurde zugelassen, obwohl ich nachweislich in Bad
Kleinen überwältigt und mit einer Polizeipistole auf meinen Kopf gerichtet auf dem Boden lag, bevor dort der erste Schuß fiel.

Diese Mordanklage gegen mich basiert auf der angenommenen geistigen Mittäterschaft, was in der Konstruktion ja davon ausgeht, Wolfgang Grams hätte den GSG-9 Mann erschossen.
Nachdem ich sowohl Anklage als auch die Akten zu diesem Komplex gelesen hatte, war ich sehr gespannt, wie das hier vor Gericht ablaufen würde, denn der in der Anklage behauptete
Ablauf stand in zentralen Punkten in Widerspruch zur Aktenlage. Die Fundorte der leeren Patronenhülsen aus der Waffe von Wolfgang Grams schließen aus, daß er - wie in der Anklage
behauptet - vom oberen Treppenabsatz aus auf die die Treppe hochstürmenden GSG-9 Männer geschossen hat. Aber aus genau dieser Position soll er Michael Newrzella erschossen haben.
Das kann so nicht stimmen. Und außer den Fundorten der Patronenhülsen sprechen auch Zeugenaussagen gegen diese Version. Doch trotz solch eklatanter Widersprüche soll so - laut
Bundesanwaltschaft - der Mord, dessen ich hier in geistiger Mittäterschaft angeklagt bin, abgelaufen sein. Und auch dieses Gericht sah trotz all dieser Unstimmigkeiten und Widersprüche
keinen Aufklärungsbedarf, es hat sogar alle diese Fragen betreffenden Beweisanträge meiner Verteidigung zurückgewiesen.

Wie gesagt, vorher war ich gespannt darauf, wie der Anklagekomplex Bad Kleinen hier behandelt werden würde. Sicher war ich mir nur, daß Bundesanwaltschaft und Senat alles daran
setzen würden zu verhindern, daß hier die tatsächlichen Todesumstände von Wolfgang Grams zur Sprache und Aufklärung kommen. Das war ja dann auch so, jede Frage meiner
Verteidigung, die über den unmittelbaren Zeitpunkt meiner Festnahme hinausging, wurde vom Gericht nicht zugelassen.

Über die Todesumstände von Michael Newrzella war ich mir vor diesem Prozeß nicht im Klaren. Ich habe die Widersprüche zwischen Anklage und dem, was in den Akten steht, gesehen,
aber das hätte ja in die eine oder die andere Richtung in der Hauptverhandlung Aufhellung finden können. Erst darüber, wie hier seitens des Senats auch zu dieser Frage durchgängig
gemauert wurde, bin ich mir heute sicher, daß von offizieller Seite davon ausgegangen wird, daß Michael Newrzella von seinen eigenen Leuten erschossen worden ist. Möglich, daß sie es
nicht definitiv wissen, denn auch hier wurden die Spuren systematisch verwischt bzw. vernichtet, aber sie halten es für wahrscheinlich und deshalb durfte diese Frage hier erst gar nicht in
Richtung tatsächlicher Aufklärung verhandelt werden.

Mensch stelle sich doch umgekehrt einmal vor, BKA und Bundesanwaltschaft hätten stichhaltige Beweise dafür in der Hand gehabt, daß Wolfgang Grams den GSG-9 Mann Newrzella
erschossen hat, was wäre denn dann hier passiert?

Nicht, wie in ursprünglich geplant drei, sondern in 30 oder mehr Verhandlungstagen wäre hier medienwirksam aufgepeppt eine umfangreiche und lückenlose Beweiskette auf- und
abgerollt worden. Tage-, vielleicht wochenlang hätten die Medien darüber berichtet, daß und wodurch der Verdacht, daß 'der Terrorist' den GSG-9 Mann erschossen hat, von
Verhandlungstag zu Verhandlungstag erhärtet wird, bis am Ende schließlich Gewißheit über diese Frage bestanden hätte.

Nein, die staatlicherseits Verantwortlichen gehen - genauso wie mittlerweile auch ich - davon aus, daß Michael Newrzella von einem seiner eigenen Leute versehentlich erschossen worden
ist. Für die Wahrscheinlichkeit dieses Ablaufs spricht - außer den genannten Widersprüchen in den Akten und dem Verhandlungsablauf hier - auch das Gesamtverhalten dieser Truppe in
Bad Kleinen. Als Plan X nicht genau so ablief wie vorgesehen, weil die beiden festzunehmenden Personen eben nicht dicht beieinander waren und eine auch noch die Flucht ergriff, sind
sie kopflos hinter Wolfgang Grams herschießend die Treppe hochgerannt. Da liegt es dann schon im Bereich des Möglichen oder sogar des Wahrscheinlichen, daß einer den anderen trifft
und erschießt.

Liegt da vielleicht auch der Grund, warum einer der GSG-9 Beamten unmittelbar nach dem Einsatz in Bad Kleinen besonderer psychologischer Betreuung bedurfte - war ihm klar
geworden, daß er in der Hektik seinen Kollegen erschossen hatte, und ist er deshalb dort zusammengebrochen? Ich weiß es nicht, aber diese Frage erscheint mir nicht gerade aus der Luft
gegriffen.

Fest steht nur: genausowenig wie die Todesumstände von Wolfgang Grams aufgeklärt werden sollen, sollte in diesem Prozeß hier vor dem OLG Frankfurt gefragt und beantwortet werden,
wer tatsächlich den GSG-9 Beamten Michael Newrzella erschossen hat.

Deshalb wurde auch ein Beweisantrag zur Ladung des damaligen Bundesinnenministers Rudolf Seiters zurückgewiesen. Denn Seiters hätte bekunden können, daß ihm in der Zeit
zwischen dem 27.6. und 4.7. folgende Informationen bekannt geworden sind:

* daß die Kioskbesitzerin Joanna Baron angegeben hat, beobachtet zu haben, wie zwei GSG-9 Beamte an den auf dem Gleis liegenden Wolfgang Grams herangetreten sind und einer der
beiden aus nächster Nähe auf dessen Kopf zielte und abdrückte;

* daß der BKA-Beamte mit der Legendierung Nr. 12 von seinem Standort auf dem Stellwerk aus beobachtet hat, daß kurz nachdem Wolfgang Grams verletzt ins Gleisbett gestürzt war,
zwei Personen hinterhersprangen und sich neben Wolfgang Grams postierten. Und daß diese Angabe im Widerspruch steht zu den Aussagen der GSG-9 Beamten, die schießend hinter
Wolfgang Grams die Treppe hochgerannt sind. Diese hatten nämlich angegeben, sie hätten sich auf dem Bahnsteig in Deckung gebracht und seien dort minutenlang in einen kollektiven
Black-out gefallen;

* daß gegenüber dem 'Spiegel' ein am Einsatz beteiligter Beamter, der anonym bleiben will, angab: "Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution";

* daß in keiner der Aussagen der in Bad Kleinen eingesetzten GSG-9 und BKA-Beamten von einem Selbstmord durch Kopfschuß die Rede ist - den viele aber gesehen haben müßten,
hätte er stattgefunden;

* daß bei der GSG-9 und ihr nahestehenden Polizeikreisen kursiert, ein GSG-9 Mann habe Wolfgang Grams den aufgesetzten Kopfschuß beigebracht;

* daß unmittelbar nach der Polizeiaktion das BKA, bei dem zuvor die Gesamtverantwortlichkeit für den Einsatz in Bad Kleinen lag, die Spurensicherung übernommen hat und daß im
Rahmen der Ermittlungen des BKA gegen sich selbst, noch vor der Obduktion von Wolfgang Grams wichtige Spuren vernichtet worden sind - z. B. wurden seine Hände gereinigt;

* daß die Wolfgang Grams und mir zugeordneten Waffen im BKA beschossen und untersucht worden sind, wobei Projektile und Hülsen mit den spezifischen Merkmalen dieser Waffe
produziert werden - für Vergleichszwecke, wie es heißt, aber genausogut können welche davon als Austauschmaterial benutzt worden sein;

* daß BKA-Beamte die bei der Obduktion von Michael Newrzella sichergestellten Projektile unsachgemäß dokumentiert haben, so daß eine lückenlose Überprüfung, ob es sich bei den
später untersuchten Projektilen tatsächlich um dieselben handelt, nicht mehr möglich ist;

* daß auch der weitere Weg dieser Projektile so dokumentiert wurde, daß eine sichere Rekonstruktion unmöglich ist - ob also der Wissenschaftliche Dienst Zürich tatsächlich die Projektile
untersucht hat, die aus dem Körper von Michael Newrzella entnommen worden sind, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden, es ist genausogut möglich, daß dort Austauschexemplare
untersucht worden sind;

* daß die Kleider, die die GSG-9 Beamten in Bad Kleinen trugen, erst nachträglich und teilweise in frischgewaschenem Zustand abgegeben worden sind;

* daß auch die GSG-9 Waffen nicht unmittelbar nach dem Einsatz, sondern erst später sichergestellt wurden;

* daß die Fundorte der Hülsen aus der Waffe von Wolfgang Grams in krassem Widerspruch zur offiziellen Version stehen, Wolfgang Grams hätte vom Treppenabsatz aus auf die ihn
nachstürmenden GSG-9 Beamten geschossen.

Rudolf Seiters hätte als Zeuge auch bekunden können, daß er aufgrund dieser und weiterer ihm vorliegenden Informationen ab dem 3.7.1993 wußte, daß

1. Wolfgang Grams durch ein Mitglied der GSG-9 mit einem gezielten Schuß in den Kopf getötet worden ist

und daß:

2. die Wahrscheinlichkeit, daß Michael Newrzella versehentlich von einem GSG-9 Beamten erschossen worden ist, mindestens genauso hoch, wenn nicht sogar höher ist, als die
Wahrscheinlichkeit, daß er von Wolfgang Grams erschossen wurde.

 
Seiters hätte außerdem bekunden können, daß die Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt befürchtet hat, daß durch Recherchen von Journalisten und/oder undichten Stellen im
Sicherheitsapparat die Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Verdacht, daß Michael Newrzella durch ein Mitglied der GSG-9 erschossen wurde, an die Öffentlichkeit dringen.

Und er hätte bestätigen können, spätestens am 4.7.1993 davon ausgegangen zu sein, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams und die nachfolgende Spurenvernichtung nicht länger
geheim zu halten sind, und daß er deshalb an diesem Tag in Absprache mit Bundeskanzler Kohl seinen Rücktritt eingereicht hat, um dafür die politische Verantwortung zu übernehmen.

Im übrigen ist es ja auch so:

Ausschließlich vor dem Hintergrund, daß die Bundesregierung befürchten mußte, daß die Hinrichtung von Wolfgang Grams und der Versuch ihrer Vertuschung öffentlich werden, ergibt
der Rücktritt von Seiters am 4. Juli 1993 einen Sinn.

Hier in diesem Verfahren ging es darum, für die offizielle Geschichtsschreibung zu Bad Kleinen festzuklopfen, daß Michael Newrzella von Wolfgang Grams erschossen worden sei. Und
da von Anfang an klar war, daß das nur funktionieren kann, wenn ein Gericht bereit ist, alle ins Auge springenden Fragen und Widersprüche um die Todesumstände des GSG-9 Manns zu
ignorieren und außer acht zu lassen, hat die Bundesanwaltschaft den 5. Strafsenat des OLG Frankfurt für die Anklageerhebung gegen mich ausgewählt.

Bei diesem Senat konnte sie sicher davon ausgehen, daß jede Anklage gegen eine Raf-Gefangene durchgeht und zur Verurteilung kommt und daß die Verhandlungsführung zu Bad
Kleinen so sein würde, daß die offizielle Version vom angeblichen Selbstmord Wolfgang Grams' nicht weiter erschüttert wird.

Es wurde mir öfter vorgeworfen, ich hätte noch vor Beginn dieser Hauptverhandlung durch Einschätzungen in Veröffentlichungen ein Lebenslänglich-Urteil herbeigeredet - an dem ja
mittlerweile niemand mehr ernsthaft zweifelt.

Für mich war die Entscheidung der Bundesanwaltschaft, mich hier vor diesem Staatsschutzsenat anzuklagen, ein deutliches Zeichen. Hatte doch noch im Jahre 1993 dieser Senat bei einem
Gefangenen, der wegen eines Brandanschlags im Zusammenhang mit einem Hungerstreik von Gefangenen von Action Directe zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war,
dessen Freilassung nur wenige Monate vor Ablauf der Endstrafzeit verweigert, obwohl dieser Mann lebensbedrohlich erkrankt war. Diese Entscheidung, ihn in seinem damaligen Zustand
nicht freizulassen, kam einem Todesurteil gleich, das wußten damals alle, die es wissen wollten. Und daß der Mann in den restlichen Monaten im Knast nicht gestorben ist, ist kein
Verdienst dieses Gerichts - es wollte ihn sterben lassen.

Deshalb, und wegen des Lebenslänglich-Urteils, das dieser Senat 1994 bar jeder ernstzunehmenden Beweisführung gegen Eva Haule verhängt hatte, wußte ich, daß ich es hier mit Leuten
zu tun haben würde, die heute so agieren, als würden wir das Jahr 1977 schreiben.

Das Muster, nach dem der gesamte Prozeß gegen mich abgelaufen ist, könnte heißen: DIE BANK GEWINNT IMMER - und es funktioniert denkbar einfach.

In diesen über 1_ Jahren Prozeßdauer habe ich u. a. gelernt, daß und wie die Bundesanwaltschaft mit einem solchen Senat jeden Menschen (der die Mitgliedschaft in der Raf nicht bestreitet
und jede Form von Verrat verweigert) fast jeder beliebigen Tatbeteiligung an Raf-Aktionen anklagen und verurteilen kann. Ich könnte das sofort als Versuch vorführen, ich könnte auf die
Zeil gehen und beispielsweise eine Frau zwischen Anfang 30 und Mitte 40 fragen, ob sie das Spiel mitspielt und sich hier als Raf-Mitglied präsentiert. Einziges Kriterium für die Auswahl
einer solchen Frau müßte sein, daß sie keine allzu auffälligen besonderen Kennzeichen hat. Ihre Größe sollte irgendwo zwischen 1,50 m und 1,80 m liegen, sie sollte zwei Beine mit je
einem Fuß haben und außerdem die übliche Anzahl Arme und Hände, und am Kopf zwei Ohren, zwei Augen, einen Mund und nicht mehr als eine Nase. Das reicht, dann ginge alles klar.

Wer hier die Art und Weise der Beweisaufnahme verfolgt hat, weiß, wovon ich rede.

Vielleicht denken jetzt manche, daß es unpassend zu meiner derzeitigen Situation sei, über den Verhandlungsablauf hier zu polemisieren, schließlich wird von diesem Staatsschutzsenat
demnächst ein Lebenslänglich-Urteil gegen mich ausgesprochen werden. Aber ich war jetzt an die 100 mal in dieser Veranstaltung und trotz der realen Drohung und Bedrohung, die dieser
Prozeß natürlich für mich, für mein Leben darstellt, habe ich es häufig nur noch als absurd, oft auch als lächerlich empfunden, was hier passiert ist. Alle Vorurteile, die ich jemals in meinem
Leben gegenüber einem deutschen Staatsschutzsenat hatte, wurden nicht nur bestätigt, vieles, was hier seitens der Bundesanwaltschaft und des Senats gelaufen ist, hat das, was ich mir habe
vorstellen können, bei weitem übertroffen. Hier wurde fast durchgängig nicht mal so getan, als ginge es darum, die tatsächlichen Abläufe aus den verschiedenen Anklagekomplexen
aufzuklären.

Noch in der Nacht nach meiner Verhaftung war mir von einem Bundesanwalt mitgeteilt worden, daß es für mich keine Lebensperspektive in Freiheit mehr gäbe, wenn ich nicht mit ihnen
zusammenarbeiten würde. In der Folgezeit wurden mir mehrmals Angebote gemacht, immer verbunden mit der Drohung einer Lebenslänglich-Strafe, wenn ich ablehne. Nach meiner
Ablehnung wurde dann der Haftbefehl erweitert - zuerst um die Mordanklage wegen Bad Kleinen, später um die Airbase-Pimental-Aktion.

Dabei ergab sich für die Bundesanwaltschaft natürlich das Problem, daß sie ihre früheren Ermittlungsergebnisse - die nie in meine Richtung zeigten - für nichtig erklären mußten, um nun
mich als 'Täterin' einzusetzen.

Dafür mußten alte Schriftgutachten durch neue, 'Hogefeld-bezogene' ersetzt werden, ein manipulativer Videofilm wurde hergestellt, anhand dessen jeweils ich als 'Täterin' ausgedeutet
werden sollte, denn nur ich entsprach in meinem allgemeinen Erscheinungsbild der angeblichen 'Täterinnen-Beschreibung' - klein, schmal, kurze dunkle Haare - also waren drei der
Vergleichspersonen blond und dick und somit sofort auszuschließen.

Trotzdem waren nicht alle früheren Ermittlungsergebnisse, die oft auf andere Personen, nie aber auf mich hindeuteten, aus den Akten zu bereinigen, und auch die Zeugenaussagen konnten
ja nicht einfach alle verschwinden. Es brauchte also schon einige Anstrengung seitens des Senats, gerade auch die Zeugenbefragung so durchzuführen, daß am Ende ich als die Frau
verurteilt werden kann, die mit Edward Pimental die Kneipe verlassen hat.

Im Fall Pimental gibt es beispielsweise einen 'Hauptbelastungszeugen', der mich anhand besagten Videofilms als die Frau wiedererkannt haben will, die er seinerzeit mit Pimental in der
Kneipe gesehen hat. Nun hatte aber gerade dieser heutige Hauptbelastungszeuge bei seiner polizeilichen Vernehmung im August 1985 angegeben:

"eine genaue Beschreibung der Frau, die mit Pimental sprach, kann ich nicht geben. Ich muß bemerken, daß ich kurzsichtig bin und normalerweise eine Brille trage. An dem Abend trug
ich keine Brille."

Während der Befragung dieses Zeugen durch den Senat hat kein einziges Senatsmitglied diese Problematik mit der Kurzsichtigkeit auch nur angesprochen. Mangels anderer Beweise
braucht dieser Senat die Aussage dieses kurzsichtigen Menschen, der seine Brille nicht dabei hatte und bei der Polizei den Satz sagte: 'eine genaue Beschreibung der Frau kann ich nicht
geben', denn seine heutige Aussage soll mich 'überführen' - also werden die früheren Aussagen negiert und es stört auch nicht weiter, daß dieser Zeuge hier angegeben hat, an besagtem
Abend betrunken gewesen zu sein. Solche Beispiele gab es im Laufe der Hauptverhandlung unzählige: seitens des Senats wurden immer nur die Fragen angesprochen und abgehakt, die in
irgendeiner Weise als mich belastend interpretierbar sind.

Oft hatte das durchaus Comic-Charakter und manchmal habe ich mich nach Prozeßtagen selber gefragt, ob das alles tatsächlich so gewesen ist, wie ich's in Erinnerung hatte. Aber da ich
mir sicher bin, daß ich hier immer mit klarem Kopf und nie in bekifftem Zustand oder so war, weiß ich, es war alles wirklich so. Die Zeugin, die mich beim Autokauf mit lückenhaften,
braunen Zähnen beobachtet haben will, wurde von einem der Richter gefragt, ob die Zähne vielleicht angemalt gewesen seien, um den Eindruck von Zahnlücken zu erwecken (denn zum
großen Ärger des Gerichts habe ich keine Zahnlücken). Wenn bei den Haaren die Farbe nicht stimmte, dann war von Haarfärbung oder Perücke die Rede, wenn ich zu klein bin, von
Stöckelschuhen, für die Veränderung der Augenfarbe sind verschiedenfarbige Kontaktlinsen auf dem Markt, nicht zu vergessen sind meine auffälligen O-Beine (auch sie spielen für meine
Identifizierung eine große Rolle), bei denen nur der Orthopäde sich weigert, die festzustellen, macht aber nix, denn die Richter haben sie längst per Röntgenblick durch den Tisch hindurch
identifiziert.

Aber die Krönung der Beweisführung kam erst im Plädoyer der Bundesanwaltschaft. Da wurde nämlich erklärt, daß und warum als sicher anzusehen ist, daß ich Mittäterin bzw. Käuferin
zweier Autos für die Tietmeyer- bzw. Airbase-Aktion sei, obwohl in beiden Fällen die Zeugen ursprünglich ganz sicher Sigrid Sternebeck wiedererkannt haben wollen.

Das erscheint ja auch möglicherweise einem unerfahrenen Prozeßbeobachter als Widerspruch - ist es aber nicht, sagt die Bundesanwaltschaft.

Frau Sternebeck war einmal hier in diesem Verfahren als Zeugin geladen, und wenn es als Grobunterscheidung zwei Frauentypen gibt, dann ist sie der andere als ich: nämlich blond, hell,
blauäugig, eben alles ist anders als bei mir. Trotzdem sagt die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer, das sei kein Widerspruch, im Gegenteil, wenn Zeugen bei der Lichtbildvorlage auf
Frau Sternebeck deuten und nicht auf ein Foto von mir, dann belastet genau dieser Wiedererkennungsvorgang mich. Denn - so die logische Schlußfolgerung - ich sehe Frau Sternebeck
ähnlicher als mir selber. Ich brauchte eine Weile, aber dann hab ich's verstanden. Das geht nämlich so: Raf-Mitglieder verändern in der Illegalität immer ihr Äußeres und dafür nehmen sie -
denn das ist praktisch - als Vorlage das Fahndungsfoto einer anderen Frau, natürlich einer, der sie normalerweise überhaupt nicht ähnlich sehen. Und anhand dieser Fahndungsfoto-Vorlage
machen sie so lange an sich rum (mit Schminke und Perücke - na das hatten wir ja alles schon), bis sie so aussehen wie das Fahndungsfoto.

Das ist doch jetzt klar, oder?

Wieso dann, fragt sich vielleicht noch jemand, es mich belastet, wenn ein Zeuge auf ein Foto von mir deutet? Die Frage ist schon fast dumm, denn sie ist leicht zu beantworten:

Raf-Mitglieder verändern sich nämlich nicht immer nach dem Prinzip der einfachen Umwandlung, nein, manchmal machen sie auch den doppelten Trick, und dann sehen sie natürlich
wieder sich selber ähnlich oder jemandem, der ihnen ähnlich sieht, jedenfalls ähnlicher, als die, denen sie überhaupt nicht ähnlich sehen - die von der Einfach-Umwandlung nämlich. Na so
ungefähr jedenfalls funktioniert das mit den Ähnlichkeiten nach Logik der Bundesanwaltschaft.

Wie eingangs schon gesagt: DIE BANK GEWINNT IMMER -

und die Frau von der Zeil hätte hier einfach keine Chance.

Manipulative und tendenziöse Zeugenbefragungen waren hier an der Tagesordnung, Zeugenaussagen und Indizien wurden hier zusammengedreht und Widersprüche ausgeklammert. Im
Mittelpunkt des Interesses dieses Senats stand von Anfang an nur eins: meine Verurteilung.

Folgerichtig wurde jede juristische Intervention, jede Zeugenbefragung, jeder Antrag meiner VerteidigerInnen immer als Störfaktor betrachtet, und moniert, sie würden damit die
Verhandlung unnötig in die Länge ziehen. Und Rechtsanwältin Seifert war fast durchgängig dem Frauenhaß der Bundesanwälte und einiger Senatsmitglieder ausgesetzt. Wenn sie Anträge
stellte, dann verzog regelmäßig einer der Richter sein Gesicht so, als würde er gerade gezwungen, Katzenscheiße zu fressen, andere schliefen demonstrativ ein und die Bundesanwälte
lachten und feixten häufig in der Art pubertierender Knaben.

Oder dieses ständige entnervte Schnauben seitens einiger Senatsmitglieder, wenn meine VerteidigerInnen wieder einmal die Aktenvervollständigung beantragten. Die Signale waren
deutlich, der 5. Strafsenat des OLG Frankfurt fühlte sich dafür nicht zuständig, und darüber hinaus interessierte ihn auch ganz einfach nicht, ob die Akten da waren oder nicht, das Gericht
benötige die Aktenvollständigkeit doch schließlich auch nicht, gaben sie unumwunden zu. Außerdem schienen sie sich zu fragen, warum wir damit immer wieder sie belästigen. Schließlich
weiß doch jeder halbwegs informierte Mensch in diesem Land, wo die Akten für solche Verfahren vollständig vorhanden sind. Warum also nerven wir damit immer wieder diesen Senat,
anstatt uns an den 'Spiegel' zu wenden und Herrn Aust zu fragen, ob er sie mal rüberschiebt? Und außerdem kann man solche Akten, wenn man sie unbedingt haben will, bekanntlich ja
auch direkt beim BKA oder der Bundesanwaltschaft kaufen. Aber das ist natürlich eine Kostenfrage.

Ich bin schon häufig gefragt worden, warum ich nichts zu den gegen mich erhobenen Vorwürfen aus der Anklage sage, und daß die Tatsache, daß ich sie nicht bestreite, gegen mich
gewertet werden wird. Wie diese Anklage zustande gekommen ist, habe ich schon geschildert, nach Aussageerpressungsversuchen mit Lebenslänglich-Drohung wurde die Anklage
mehrmals erweitert.

Damit sollte der Druck gegen mich verstärkt und natürlich auch die Basis für ein Lebenslänglich-Urteil gebaut werden. Der ganze Ablauf spricht für sich und sagt viel über die tatsächliche
Beweislage aus.

Aber während der Hauptverhandlung wurde mir von seiten der Bundesanwaltschaft nochmals die Kronzeugenregelung offeriert - aber darüber, daß solche Erpressungsversuche
mittlerweile schon in öffentlicher Veranstaltung gemacht werden, habe wohl nur ich mich gewundert. Schließlich ist das in diesem Land Gesetz. Im Grunde logisch: Gesetzgebung nach
dem Prinzip der freien Marktwirtschaft, ich habe Wissen, das andere unbedingt wollen - was also liegt näher, als gesetzliche Regelungen für die in solchen Fällen angepeilten Deals zu
installieren.

Also vonwegen Wahrheitsfindung, um die es hier und in ähnlichen Veranstaltungen angeblich geht. Um die Wahrheit ging es hier nie, sondern darum, die wenigen Splitter einer
manipulierten, löchrigen Indizienkette so zusammenzukleben, daß sie nicht gleich beim ersten Hinschaun reißt. Und dank der ständigen Anstrengung und Interventionen meiner
RechtsanwältInnen ist nicht mal das gelungen. Trotzdem wird dieser Senat zu dem Ergebnis kommen, daß die Anklagepunkte in der Hauptverhandlung nachgewiesen worden sind, und
ein Lebenslänglich-Urteil gegen mich aussprechen. Hier gab und gibt es nur die Alternative zwischen dem Lebenslänglich-Urteil und Verrat - dazwischen gibt es nichts. Dafür hat die
Bundesanwaltschaft diesen Staatsschutzsenat für die Anklage gegen mich gewählt, denn bekanntlich funktionieren heute nicht mehr alle Staatsschutzsenate in diesem Land in dieser Weise
als Handlanger für die Bundesanwaltschaft.

Verrat wäre für mich auch, zu den einzelnen Anklagekomplexen Angaben zu machen, die mich als Person entlasten würden, denn diese Angaben würden sofort mit anderen
Ermittlungsergebnissen zusammengewürfelt und dann gegen andere benutzt werden. Seit den Aussagen von Peter-Jürgen Boock gibt es dafür eine neue Wortschöpfung:
'Subtraktionsverfahren' wird das bei der Bundesanwaltschaft genannt, d. h. seine Aussagen sind nicht immer direkt belastend, lassen aber Rückschlüsse zu, die andere ins Fadenkreuz
rücken.

Diese indirekte Sorte von Denunziation kommt für mich als Weg genausowenig in Frage wie direkter Verrat.

In dieser Hauptverhandlung gab es nicht bloß diesen einfach nur noch absurden und oft auch lächerlichen Teil dieser Sorte Beweisführung, den ich schon angesprochen habe - natürlich
nicht. Hier wurden ausführlich die Todesumstände des US-Soldaten Edward Pimental beschrieben und Bilder seiner Leiche gezeigt. Edward Pimental war am Abend des 7. August 1985
von Raf-Mitgliedern in einem Waldstück bei Wiesbaden durch einen Kopfschuß hingerichtet worden. Er wurde von hinten in den Kopf geschossen, daß Projektil trat durch eines seiner
Augen wieder aus - Pimental war gerade mal 20 Jahre alt. Wenn ich heute versuche, mir eine solche Situation bildlich vorzustellen, wenn ich mir vorstelle, daß Menschen hergehen und
einen jungen Mann erschießen, weil er Soldat der US-Armee ist und einen Ausweis besitzt, den sie haben wollen, dann empfinde ich das als grauenhaft und zutiefst unmenschlich - anders
kann ich das nicht bezeichnen.

Oder Barbara Nies und Matthias Reams, die hier in der Hauptverhandlung als Zeugen ausgesagt haben. Barbara Nies und Matthias Reams sind zwei Menschen, die bei dem
Bombenanschlag auf die US-Airbase in Frankfurt schwerverletzt worden waren. Und obwohl beide hier nur kurz ihre Verletzungen schilderten und über die Auswirkungen dieses
Anschlags auf ihr weiteres Leben redeten, war deutlich zu spüren, wie sehr sie noch heute unter den körperlichen und seelischen Folgen leiden. Schon allein an diesen Beispielen wird für
mich deutlich, daß vieles in unserer Geschichte als Irrweg anzusehen ist. Da kam es sehr schnell zu Verselbständigungen und einer Eskalation des Militärischen - Bombenautos, noch
zusätzlich bestückt mit Metallteilen, die Menschen zerrissen haben und auch zerreissen sollten, Genickschüsse oder die Erschießung von Geiseln, wie schon bei der Botschaftsbesetzung in
Stockholm.

Wir waren denen, die wir bekämpfen wollten, in dieser Hinsicht sehr ähnlich und sind ihnen wohl immer ähnlicher geworden.

Wenn die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer unzählige Male aus Briefen einer anderen Raf-Gefangenen zitiert hat und in diesen Briefen über den Tod eines Menschen in Begriffen wie
'ausschalten' geredet wurde, dann sträubten sich mir dabei angesichts dieser kalten und menschenverachtenden Sprache oft die Haare. Gleichzeitig weiß ich aber auch, daß ich da nur
'Glück' habe, daß da nicht ich selber mit dieser Sprache zitiert wurde, denn in den 70er und 80er Jahren habe ich auch so geredet.

Und es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich die Erschießung eines US-Soldaten oder eine Autobombe auf der Airbase in Frankfurt oder Ramstein oder die Schleyer-Entführung, die
ganzen Aktionen der Raf seit ihren Anfängen eben, gerechtfertigt fand. Zu dieser Haltung habe ich heute eine große innere Distanz. Deshalb hatte ich in meiner Erklärung zur Raf-
Geschichte vom Juli 95 zu der Erschießung von Edward Pimental gesagt, daß sie mit revolutionärer Moral und revolutionären Zielen nicht vereinbar ist, und in Hinblick auch auf andere
Opfer, die unsere Seite, die Raf, seit ihrem Bestehen zu verantworten hat, die Frage gestellt:

"Wie konnte es dazu kommen, daß Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernten?"

Der Tod eines Menschen ist endgültig und eine Auseinandersetzung mit der Raf-Geschichte macht keinen Edward Pimental oder Gerold von Braunmühl oder Jürgen Ponto wieder
lebendig. Und auch die Situation von Menschen, die bei Raf-Aktionen verletzt worden sind oder die durch unsere Aktionen Familienangehörige oder Freundinnen und Freunde verloren
haben, wird dadurch, ob ich oder andere sich kritisch mit unserer Geschichte und dem, was ich heute als Irrweg und z. T. katastrophale Fehler bezeichnen würde, nicht leichter werden.

Wenn überhaupt, kann eine solche Auseinandersetzung auch gerade mit Blick auf die Opfer nur den Sinn haben, daß die dabei gewonnenen Erkenntnisse Wiederholungen vermeiden
helfen. Darin sehe ich aufgrund meiner Biographie, der Tatsache, daß mein Lebensweg 20 Jahre lang eng mit der Raf verbunden war, für mich selber eine Verpflichtung und
Verantwortung.
 

Aber gerade eine solche Auseinandersetzung ist offensichtlich staatlicherseits überhaupt nicht gewollt, anders jedenfalls ist nicht zu erklären, daß beispielsweise die für mich zuständigen
Behörden nichts unterlassen, um genau diese Auseinandersetzung zu blockieren und soweit als möglich zu verhindern.

Im linken Spektrum hielt sich die Resonanz auf meine Ansätze von Reflexion und Diskussion der Raf-Geschichte in Grenzen - was auch angesichts der gesamten Situation nicht anders zu
erwarten war. Reaktionen aus linksradikalen Kreisen waren häufig mit dem Vorwurf verbunden, ich würde in meinen Überlegungen und meiner Kritik unberücksichtigt lassen, daß es die
Verhältnisse sind, die den bewaffneten Kampf notwendig gemacht haben, und daß die sich bis heute weltweit eher verschärft als verbessert hätten. Diese Argumentationslinie, daß Kriege,
Ausplünderung, Hunger, eben das grenzenlose Elend unzähliger Menschen, Begründung und Legitimation für den bewaffneten Kampf auch hier sind, kenne ich gut - ich habe selber lange
so gedacht und argumentiert.

Und vieles schreit ja auch nach Veränderungen - heute nicht weniger als vor 10 oder 20 Jahren. Wer es wissen will, kann wissen, was sich beispielsweise hinter harmlos klingenden
Formulierungen wie einer Meldung im Wirtschaftsteil verbirgt, in der es heißt, IWF und Weltbank hätten beschlossen, daß der Schuldendienst dieses oder jenen Landes um soundsoviel
erhöht wird. Solche Forderungen sind häufig Todesurteile, die dann gegen die Ärmsten der Armen durch Hunger oder Krankheit vollstreckt werden. Und diejenigen, die solche
Entscheidungen treffen, wissen sehr genau, daß es sich dabei um Massenmord handelt. Wie gegen solche Entwicklungen und eine solche Politik Grenzen gesetzt, Macht beschnitten und
neue Orientierungen durchgesetzt werden können, weiß ich auch nicht. Ich habe darauf heute keine Antwort, sondern nur Fragen. Die bloße Behauptung, daß solche Verbrechen
bewaffneten Kampf notwendig machen und legitimieren, kann nicht die Antwort sein, denn die wesentliche Frage, nämlich die nach einem Weg, wie Veränderungen durchgesetzt werden
können, fällt dabei unter den Tisch.

Aktuell gibt es - natürlich sehr viel weniger als in den 70er oder 80er Jahren - in Teilen der Linken Diskussionen, in denen die Notwendigkeit militanter und/oder bewaffneter Aktionen
begründet werden. Die Begründungen für solche Aktionen in der heutigen Zeit werden auch da häufig aus der weltweiten Entwicklung abgeleitet und die Frage nach ihrer politischen
Bestimmung und konkreten Funktion, auf Veränderungen bezogen, bleibt weitgehend schemenhaft.

Da tauchen dann oft Formulierungen auf wie:

"Militante Projekte werden in der BRD vorerst versuchen müssen, Themen zu benennen, um eine politische Wirkung zu entfalten" oder "Es soll der Öffentlichkeit und den Herrschenden
bewußt gemacht werden, daß sich fundamentaloppositioneller Widerstand ungeniert seiner Ausdrucksformen bedient."

Wenn es Erfahrungen gibt, die aus den Kämpfen bewaffneter oder militanter Gruppen hier gezogen werden können, dann gehört dazu unbedingt die, daß aus solchen Kämpfen keine
Massenmobilisierung und in der Regel sogar überhaupt keine Mobilisierung entsteht. Das, was in den 70er Jahren viele Linke weltweit aus der sogenannten 'Focustheorie' an Interventions-
und Mobilisierungs-möglichkeiten abgeleitet haben, hat sich fast überall als so nicht umsetzbar erwiesen. Diese Erfahrungen sind bekannt und sie sind gewiß auch denen bekannt, die heute
hier über den Aufbau militanter und/oder bewaffneter Gruppen nachdenken. Was also treibt immer wieder Menschen oder kleine Gruppen zu diesen Aktionsformen, von denen sie
zumindest wissen könnten, daß sie angesichts der aktuellen Gesellschaftsrealität, also der Tatsache, daß der übergroße Teil der Bevölkerung dieses Landes Lichtjahre von jedem
umstürzlerischen Gedanken entfernt ist und es auch so gut wie keine organisierte Linke gibt, keine konkret bestimmbare Funktion für tatsächliche Veränderungen haben?

Ich denke, über diese Frage können z. T. auch Reaktionen auf meine Texte Auskunft geben. Da heißt es beispielsweise in einem Diskussionspapier: 'für mich waren die Aktionen und die
Politik der Raf mobilisierend, gerade auch wegen ihrer Unversöhnlichkeit, der persönlichen Konsequenzen', 'positive Ausstrahlung wegen ihrer Konsequenz und Verweigerungshaltung'
oder 'für mich war es wichtig, daß die Raf gezeigt hat, daß man den Verbrechen etwas entgegensetzen kann', oft ist auch vom 'stillen Beifall zu den Aktionen' die Rede.

Diese Zitate zeigen eine Haltung oder ein Verhältnis, das sich durch die gesamte Raf-Geschichte zieht.

In seinem Buch 'Achtundsechzig' schreibt Oskar Negt zu diesem Verhältnis Linker gegenüber der Raf unter der Überschrift: 'Bleierne Zeit, bleierne Solidarität': -

"In den folgenden Jahren (gemeint ist die Zeit nach 72) bildet sich ein Sympathisantenkreis innerhalb der Linken, der auf dieser Zwiespältigkeit beruht, einer merkwürdigen Gefühlslage bei
vielen Sympathisanten, die keineswegs eine bloße Erfindung des 'Systems' oder der reaktionären Gewalt sind, die Zwiespältigkeit besteht darin, daß nur wenige bereit wären, mit vollem
Lebensrisiko sich auf diese Strategie einzulassen oder auch nur einen Stein oder gar eine Waffe in die Hand zu nehmen. Es ist eben keine Identifikation, sondern Sympathie in der Weise,
daß andere ausagieren, was sie selbst sich nur in ihren Träumen zutrauen."

Und einen Mann, der zwischenzeitlich einen Ministerposten bekleidet hat und der heute im Bundestag sitzt, zitiert Negt mit einem Satz aus dem Jahr 1977:

"Wir können uns aber auch nicht einfach von den Genossen der Stadtguerilla distanzieren, weil wir unter demselben Widerspruch leiden, zwischen Hoffnunsglosigkeit und blindem
Aktionismus hin- und herschwenken."

Und zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die 'klammheimliche Freude' über die Erschießung des damaligen GBA Buback eines Menschen aus Göttingen, jemand, der der Raf-
Politik kritisch gegenüberstand, gleichwohl aber diese 'klammheimliche Freude' empfand.

Wenn ich mir solche Reaktionen bzw. die Haltung vieler Linker zur Raf anschaue - und gerade auch die von Leuten, die den Kampf der Raf politisch falsch fanden - dann scheint ein
wesentliches Moment der Gemeinsamkeit in eigenen Ohnmachtserfahrungen zu beruhen. Und genau das, also Ohnmachtserfahrungen, scheinen auch durch die Texte von Menschen, die
heute am Aufbau bewaffneter oder militanter Gruppen überlegen.

In einem Vortrag, den Carlchristian v. Braunmühl, dem Bruder des von der Raf erschossenen Gerold v. Braunmühl, 1994 auf einem Symposium gehalten hat, befaßt er sich u. a. auch
länger mit dieser Problematik der Ohnmacht. Carlchristian v. Braunmühl stellt in dem Zusammenhang die Frage:

"Vielleicht ist es so, daß wenige schießen, weil zu wenige sich gewaltlos einmischen, und zu viele sich darauf beschränken, die Politik ein schmutziges Geschäft zu nennen, sich auf ihre
Ellbogen konzentrieren - und weil es an Graswurzeln fehlt."

In meinem Text zur Raf-Geschichte hatte ich selber entlang meiner Biographie ausführlich über diese Erfahrung von Ohnmacht und dem Gefühl der Unveränderbarkeit geschrieben. Dazu
gehören für mich einerseits die Erfahrungen meiner Generation in Deutschland der 50er und 60er Jahre.
 

Ich hatte in dem Zusammenhang geschrieben: 'Faschismus, seine Verbrechen und der Krieg (...) waren Tabuthemen und lagen wie eine Glocke aus Dumpfheit, Enge und Schweigen über
allem.' Und andererseits die staatlichen, aber auch die Reaktionen der Gesellschaft Ende der 60er Jahre in den 70ern auf Versuche und Ansätze für Veränderungen, sei es in
Schülergruppen, bei Vietnam-Demos oder zu den Haftbedingungen der politischen Gefangenen, die immer nur auf Ausgrenzung oder Verfolgung aus waren.

Prof. Horst-Eberhard Richter schreibt in seiner Anmerkung zu meiner Prozeßerklärung:

"Birgit Hogefeld hat die Kampfbegriffe benannt, die der Grundsatzstreit hervorbrachte: Hier Reformismus, Integrations-, auch Karrierewille, Unterwerfung unter das System - dort
Putschismus und Militarismus. Sie selbst wandte sich endgültig dem militärischen Flügel zu, aber bedauert im nachhinein das Abreißen der Diskussion und die damals schon einsetzende
Selbstisolierung ihrer Fraktion.

Was man psychoanalytisch als paranoide Position benennen würde, kennzeichnet das Grundkonzept derer, die wie sie den bewaffneten Kampf bejahten. Sie spricht von der 'Radikalität des
Bruchs und der Negation', von 'ausschließlicher Orientierung unserer Politik an der Negation'. Kritisch schildert sie eine systematische Einengung des Blickfeldes, 'in dem alles zu einem
Schwarz-Weiß-Schema zusammengepreßt wurde'. Man nahm nur noch wahr, was in das paranoide Bild paßte: Schießwütige Polizisten, Tötung von Gefangenen, Napalm usw. Ihre
Solidarisierung mit der Raf verschaffte Birgit Hogefeld dann genau die auf ihr Denkmuster zugeschnittene persönliche Verfolgungserfahrung: Viele Hausdurchsuchungen, Autokontrollen
mit schußbereiten Maschinenpistolen, laufende Observationen."

Formulierungen wie 'paranoide Position' gehören nicht zu meiner Begriffswelt - und auch wenn ich H. E. Richters einseitige Zuweisungen für verkürzt halte, geben sie mir Impulse für ein
Nachdenken über die Gründe für meine bzw. unsere lange Zeit eingeengte Denkweise und reduzierte Wahrnehmung der Welt.

Meiner Meinung nach gehört zum Verständnis dieser Entwicklung als zweite Ebene hinzu, die Beweggründe für die in diesem Textabschnitt - ich bezeichne das hier mal als 'neutral' -
beschriebenen staatlichen Reaktionen zu beleuchten. Ich denke, ich kann als Tatsachenbehauptung in den Raum stellen, daß die staatliche Reaktion gegen Linke, gegen Menschen, oft
noch Jugendliche, die 68 bis heute für Veränderungen eingetreten sind, in vielen Fällen unverhältnismäßig waren und sind. Tote Gefangene, kriegsmäßige Einsätze in Brokdorf oder
Wackersdorf - und das zieht sich alles bis in die Gegenwart: ein Aufgebot unzähliger Hundertschaften Polizei gegen ein Punker-Treffen oder die alle Relationen negierende Verfolgung
von Göttinger Antifaschisten.

Negt versucht in seinem Buch solch typisch deutsche Verfolgungs- und Vernichtungsfeldzüge historisch zu erklären:

"Weil es in Deutschland im geschichtlichen Traditionszusammenhang nie die Erfahrung einer gelungenen Revolution gegeben hat, sind stets bereits Unruheherde, zivile Unbotmäßigkeiten,
Sitzblockaden, Lichterketten, revolutionäre Gedanken so verfolgt worden, als wären es realitätsgerechte Umsturzversuche."

Für die 'auf mein Denkmuster zugeschnittene persönliche Verfolgungserfahrung' (H. E. Richter) brauchte es in diesem Land nicht viel. Da reichten anfangs Sprühparolen zu einem
Hungerstreik aus, um tagelanger Observation durch die politische Polizei ausgesetzt zu sein.

Ich finde, es sagt einiges über einen Staat aus, wenn aufgrund von Parolen und Flugblättern Schüler und Schülerinnen staatlicher Verfolgung unterworfen werden.

Auf der anderen Seite waren es natürlich mehr die harten staatlichen Reaktionen wie Isolationsfolter, Erschießungen oder die Ermordung von Holger Meins, die mich und andere
radikalisiert haben.

Ich hatte in dem Zusammenhang auch über unseren verkürzten Faschismusbegriff geredet - allerdings hat gerade auch diese Sorte staatlicher Gewalt eine solche Verkürzung leicht gemacht,
denn sie hat Vergleiche und Parallelen geradezu aufgedrängt, gerade auch bei Menschen, die damals noch sehr jung waren.

Negt schreibt dazu:

"Im Operieren mit dem globalen Faschismusvorwurf steckt ein Zentralproblem der Linken in dieser Zeit. Die Leichtfertigkeit, mit der unangenehme Entwicklungen, staatliche Eingriffe,
Rechtsentscheidungen das Entwertungsetikett 'faschistische' aufgedrückt bekamen, widersprach dem wissenschaftlichen Selbstanspruch, historisch geprägte Gesellschaftsformen nicht
miteinander zu verwechseln."

Auch heute wird in Teilen der radikalen Linken wieder mit genau diesem verkürzt-falschen Faschismusbegriff operiert.

Meiner Meinung nach ist es aus den unterschiedlichsten Gründen an der Zeit, sich mit der Geschichte der Linken nach 68 zu beschäftigen. Es gibt mittlerweile einige interessante Ansätze
in diese Richtung wie das genannte Buch von Oskar Negt oder jetzt die Dutschke-Biographie von Gretchen Dutschke. Zu ihr hieß es in einer Besprechung in der Taz: "Für jüngere Leser
wird es (dadurch) zu einer wahren Zeitmaschine, die die Reise in eine bizarre, untergegangene Welt ermöglicht."

Und genau das ist wohl auch wichtig, denn ohne Einfühlung bzw. Neu-Einfühlung in diese Zeit wird ein Verstehen nicht möglich sein. Aus heutiger Sicht erscheint vieles, was in den 60er
oder 70er Jahren die revolutionäre Linke rund um den Erdball bewegte, wie aus einer anderen Welt, und das ist es ja auch.

Neulich habe ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in Frantz Fanons Buch 'Die Verdammten dieser Erde' (vor 20 Jahren in jedem linken Bücherregal anzutreffen) gelesen. Ich wollte
mir nochmal die Passagen zur Frage nach den individuellen Befreiungsmomenten, die dem bewaffneten Kampf in der damaligen Zeit zugeschrieben worden sind, anschauen.

Dabei bin ich auf folgende Textstelle gestoßen:


"Wenn die Bauern zu den Waffen greifen, verbleichen die alten Mythen, die Tabus werden eins nach dem anderen umgestülpt: die Waffe des Kämpfers ist seine Menschlichkeit. Denn in
der ersten Zeit des Aufstands muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus
der Welt schaffen. Was übrigbleibt ist ein toter Mensch und ein freier Mensch."

Der Autor dieser Sätze aus dem Vorwort zu Fanons Buch ist Jean-Paul Sartre, er hat sie 1962 geschrieben.

Die darin von Sartre vertretene Sichtweise und die auf den einzelnen Menschen bezogene Befreiungsfunktion von antikolonialen Kriegen spiegelt eine weitverbreitete Haltung der
revolutionären Bewegungen in den 60er und 70er Jahren wider. Für Gruppen wie die Raf war sie in Übertragung auf die Verhältnisse hier Teil des politisch-moralischen Fundaments für
den eigenen Kampf. Auch daran wird deutlich, es handelt sich um Gedanken bzw. eine Denkweise aus einer vergangenen Epoche - und daß die Raf diese und andere Ideen und
politischen Bestimmungen bis Anfang der 90er Jahre nicht reflektiert und revidiert hat, zeigt vor allem eins: wir sind alles in allem sehr deutsch.

Die weltweiten Erfahrungen haben zwischenzeitlich gelehrt, daß diese Frage sich ganz anders - umgekehrt - stellt. Auch Befreiungskriege prägen das Denken und Fühlen der daran
beteiligten Menschen nachhaltig und für viele unumkehrbar - aber das keineswegs bloß in einer positiven Richtung. Auch da stumpfen die Menschen ab und verrohen, und gerade während
langer Kriegsperioden werden Verhaltens- und v. a. Konfliktlösungsmuster eingeübt, die mit den ursprünglichen Gesellschaftsutopien oft nur wenig oder gar nichts zu tun haben. Ein
Resultat daraus zeigt sich fast überall da, wo Befreiungsbewegungen nach langem Kampf an die Macht gekommen sind, in den Schwierigkeiten beim Aufbau demokratischer
Zivilgesellschaften.

Viele der mir wichtig erscheinenden Fragen habe ich hier und in früheren Texten nur anreißen können und nur weniges ausführlicher behandelt. Mir scheint sicher, daß aus der Geschichte
(auch aus der der Raf) eine Menge Erkenntnisse gezogen werden können, die für zukünftige politische Bestimmungen, aber auch, um die Wiederholung alter Fehler zu vermeiden,
Orientierungshilfen sein können.

Der Kampf, wie ihn die Raf Anfang der 70er Jahre begonnen hat, gehört einer vergangenen Epoche an. Heute denke ich, daß eine Selbstreflexion allerspätestens 77 hätte einsetzen müssen,
anstatt in eine Auseinandersetzung Raf - Staat zu treiben, bei der die Gesellschaft, aber auch der Großteil der Linken außen vor stand.

Deshalb finde ich die Aufforderung von Helmut Pohl an die Illegalen, ihre Auflösung als Raf zu erklären, richtig - dieser Schritt ist lange überfällig.

Nach unserer Zäsur-Erklärung vom April 92 sah sich die Politik ganz offensichtlich durch die von unserer Seite aus zurückgenommene Eskalation von jedem Handlungszwang befreit und
überließ das Umgehen mit der Raf bzw. den Gefangenen aus diesem Zusammenhang den Verfolgungsbehörden und der Staatsschutzjustiz.

Welche Richtung und welche Interessen diese Behörden verfolgen, ist deutlich. Ganz offensichtlich soll jede politische Auseinandersetzung mit unserer Geschichte verhindert werden, und
jeder dahingehende Versuch wird blockiert, wo immer das möglich ist. Daran hat sich auch nach unserer Deeskalationserklärung nichts geändert, denn viele, allen voran dieser 'Braune-
Socken-Verein' aus Karlsruhe, wollen in der alten Konfrontationsstellung verharren und sie möglichst wiederbeleben.

Lange Jahre, v. a. Ende der 80er, wurden Initiativen der damaligen Gefangenengruppe für eine Diskussion untereinander und eine öffentliche Diskussion immer wieder auch mit der
Begründung verhindert, der Staat könne schließlich keine öffentliche Propagierung des bewaffneten Kampfes zulassen.

Wie Helmut Pohl nun vor einigen Wochen durch die Veröffentichung älterer Briefe deutlich gemacht hat, gab es seit 87 zumindest von einem Teil der Gefangenen Überlegungen in
Richtung einer Zäsur. So wie er heute darüber redet, kommt mir das ziemlich glatt und schöngefärbt vor, ich glaube nicht, daß das alles für ihn und andere damals so eindeutig war, wie er
das heute darstellt (dagegen sprechen auch Texte und Interviews von ihm aus der Zeit nach dem Hungerstreik 89).

Trotzdem stimmt aber, daß es die Überlegungen in Richtung eines Einschnitts gegeben hat und daß die Staatsschutzbehörden davon Kenntnis hatten.

Warum also wurde staatlicherseits alles daran gesetzt, die Isolierung der Gefangenen untereinander weiterhin aufrechtzuerhalten, mit dem voraussehbaren Ergebnis, daß sie als
Gefangenengruppe (und das war ja ihr Selbstverständnis) solche Gedanken nicht weiterentwickeln und in eine öffentliche Diskussion und so auch eine Diskussion mit der Raf einbringen
konnten?

Ich habe mich lange gegen den Gedanken gesträubt, daß dieser Staat, zumindest der reaktionäre Teil seines Sicherheits- und Justizapparats Gruppen wie die Raf braucht, um aus deren
Bekämpfung für sich selber Sinn und Identität zu ziehen. Doch gerade aus dieser Blockierung einer gemeinsamen wie auch der öffentlichen Diskussion der Raf-Gefangenen Ende der 80er
Jahre, aber auch aus den Erfahrungen, die ich seit meiner Verhaftung gemacht habe, bleibt eigentlich keine andere Interpretationsmöglichkeit.

Das geht schon sofort nach der Verhaftung bei Menschen, die aus dem Raf-Zusammenhang kommen, mit der Isolationshaft los. Über Isolationshaft, wie das ist und wirkt und wie mensch
sich darin fühlt, habe ich hier bereits ausführlich geredet. Isolationshaft ist eine Form von Folter, die langfristig auf die Zerstörung von Gefangenen zielt - aber es gibt da noch einen
weiteren Aspekt. Gerade für Menschen, die aus einer politischen Gruppe wie der Raf kommen, in der eine enge und dogmatische Denk- und Sichtweise vorgeherrscht hat, ist sie die
hundertprozentige Bestätigung dieses reduzierten Weltbilds. Ein Merkmal, das sich durch unsere Geschichte gezogen hat, war eine eingeengte Wahrnehmung der Welt, ein Schwarz-weiß-
Schema, das fast alle Widersprüchlichkeiten und gegenläufige Bewegungen ausgeblendet und negiert hat und in dem die Menschheit in 'Mensch oder Schwein' aufgeteilt wurde.

Diese Sorte Haftbedingungen: Totalisolation (bei mir knapp mehr als ein Jahr, bei anderen oft viele Jahre) schafft nun tatsächlich eine Erfahrungswelt, eine Alltagswirklichkeit, die nun
erstmals im Leben real mit dem gewohnten Schwarz-weiß-Schema in Deckung zu bringen ist, ohne daß man sich dafür Verknotungen ins Hirn denken muß. Das Leben unter diesen
Bedingungen ist ohne Facetten und Grautöne, da herrscht schwarz-weiß oder eben Freund-Feind-Schema als permanente Alltagserfahrung vor.

Ich denke, daß dieses Isolationshaft-Programm gerade gegen uns so exzessiv durchgezogen wurde, hängt nicht nur mit Rachebedürfnissen der Bundesanwaltschaft oder dem Versuch, uns
zu brechen und Aussagen zu erpressen, zusammen. Es soll auch ein Ausbrechen aus alten Denkstrukturen verhindert werden, dessen bin ich mir mittlerweile sicher; und auch die
Zensurbedingungen lassen keine anderen Rückschlüsse zu.

Hunderte Anhaltebeschlüsse, mit denen mir Texte, Bücher oder Broschüren zu den unterschiedlichsten Themen verweigert werden, habe ich mittlerweile - Literatur-, Musik- oder
Theaterzeitschriften, Texte von Hausbesetzern, Umwelt- oder kirchlichen Gruppen - all das bekomme ich nicht, denn damit soll ich mich nicht auseinandersetzen können.

Die Zensur beschränkt sich nicht - wie manche/r vielleicht denken mag - auf Texte mit linksradikalen Inhalten, eher habe ich den Eindruck, daß das Gegenteil der Fall ist. Vor einigen
Monaten wurden vom Senat Interviews eines katholischen Bischofs, in denen er sich mit der 'Terrorismus-Thematik' befaßt, aus einem Brief beschlagnahmt - der Mann ist gewiß kein
Linksradikaler und mit Sicherheit auch kein Raf-Sympathisant.

Und den oben erwähnten Text von Carlchristian von Braunmühl mußte ich mir auf inoffiziellen Wegen besorgen. Ende 1994 hatte ich von der Existenz dieses Textes gehört und wollte ihn
lesen. Da Fotokopien laut einem bis heute gegen mich bestehenden Haftstatut nicht weitergeleitet werden (die, die mich interessieren könnten, werden beschlagnahmt, andere nicht), bat ich
Rechtsanwältin Seifert, mir den Text über die Verteidigerpost zu schicken. Doch in meinem Fall wird - wie bei allen 129a-Gefangenen - auch die Verteidigerpost kontrolliert und zensiert.
Der damals zuständige Kontrollrichter am Amtsgericht Frankfurt schloß den Text von der Weiterleitung aus, mit der Begründung: es sei nicht ersichtlich, warum es sich bei diesem Text um
Verteidigerpost handelt, ich hätte doch überhaupt keine v. Braunmühl-Mordanklage.

Oder eine Anfrage, ob ich etwas zu einem Podiumsgespräch zum Todestag von Ulrike Meinhof schreiben wolle - eine auch in nicht-linken Kreisen registrierte Veranstaltung in Berlin. Das
wäre natürlich mein Thema gewesen: Diskussion über die Raf-Geschichte. Der Senat hat diese Anfrage (ein Zwei-Seiten-Briefchen) erst nach 4 Monaten ausgehändigt. Da war die
Veranstaltung natürlich lange vorbei.

Bei all dem, Haftbedingungen, Zensur, Ausgrenzung bestimmter Themen beim Besuch (da wird vorher angekündigt, daß das Ansprechen der Themen Raf, Prozeß und Bad Kleinen zum
sofortigen Abbruch führt), ist ganz offensichtlich, es ist dazu bestimmt, ein Ausbrechen aus gewohnten, oft engen Denkstrukturen zu verhindern und so eben auch eine Reflexion der
eigenen Geschichte.

Und, das möchte ich hier auch mal sagen: es ist für einen Menschen mit meiner Biographie sicherlich sowieso nicht einfach, sich seiner Geschichte zu nähern und all die Fragen, die dabei
auf einen zukommen, zuzulassen. Ich jedenfalls empfinde das häufig als ziemlich schwierig und muß dabei viele innere Widerstände überwinden. Und wenn dann die äußeren
Lebensumstände so organisiert werden, daß sie jede Diskussion und Auseinandersetzung soweit als möglich blockieren, um einem die Anregung und Reibung mit und durch die Gedanken
anderer fast vollständig zu nehmen, und gleichzeitig auch so gestaltet werden, daß man immer wieder in die bekannten Konfrontationsmuster gezwungen wird und damit auch oft in die
eigenen bekannten Verhaltensweisen - dann macht das das ganze nicht leichter.

Vor einiger Zeit habe ich dazu in einem Brief geschrieben:

"Meine gesamte Situation ist recht schwierig: die Welt, aus der ich komme, der fühle ich mich nicht mehr zugehörig, und so bin ich irgendwo im Niemandsland auf der Suche nach, ja was
eigentlich? Und das in einer Situation, wo ich in Kürze ein Lebenslänglich-Urteil bekomme, also auf ungewisse Zeit in dieser reduzierten und entmündigenden Knastwelt leben muß, die
gerade von den Bereichen und Teilen der Gesellschaft(srealität), die mich am meisten interessieren, weitgehend abgeschottet ist. Das ganze kommt mir oft absurd vor: lange Jahre meines
Lebens fehlte mir die innere Bereitschaft, mich mit verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungen auseinanderzusetzen und darauf einzulassen, und heute, wo das anders ist und ich
selber gern mit den unterschiedlichsten Menschen reden und sie kennenlernen würde, wird das durch die äußeren Bedingungen fast vollständig verhindert."

Bundesanwaltschaft und Teile der Justiz- und Sicherheitsapparate wollen die alten Konfrontationslinien auf Biegen und Brechen aufrechterhalten und dafür soll und muß jede öffentliche
Auseinandersetzung um die Raf und die Gefangenen aus der Raf verhindert werden. Dafür - nicht nur, aber auch - wurde die Anklage gegen mich mittels Manipulationen um die
Mordanklage wegen der Airbase-Aktion und der Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental erweitert, denn mein Name sollte nicht weiter mit Bad Kleinen oder der Zäsur-
Entscheidung der Raf in Verbindung gebracht werden, sondern genau mit den Aktionen, die selbst in der Linken auf massivste Kritik und Verurteilung gestoßen waren. Ich habe diese
nachgeschobene Pimental-Anklage immer in diesem Kontext gesehen - über sie sollte versucht werden, mich aus einer öffentlichen Diskussion auszugrenzen, zumal ja bekannt war, daß
ich mich seit meiner Verhaftung darum bemüht habe, Gedanken und Reflexionen über die Raf-Geschichte öffentlich zu machen. Für ein Lebenslänglich-Urteil wäre diese Anklage-
Erweiterung zumindest bei diesem Senat wohl nicht nötig gewesen.

Vor Öffentlichkeit und einer öffentlichen Auseinandersetzung herrscht offensichtlich die größte Angst - anders sind auch diese irrsinnig begründeten Beschlüsse zur Ablehnung von
Interviews nicht zu erklären. Da wird seitens des Senats immer wieder und wider besseres Wissen behauptet, ich würde den bewaffneten Kampf propagieren - doch meine Texte sind
dahingehend eindeutig und lassen keinen Spielraum für andere Interpretationen offen.

Gegen die Beschlüsse des OLG zur Verweigerung von Interviews hat mein Verteidiger eine Verfassungsbeschwerde gemacht - sie wurde zurückgewiesen. In der Begründung des BVG
vom 31. August 1996 heißt es dazu:

"Das OLG knüpft dies (die Verweigerung einer Interviewgenehmigung) an die Erwägung, daß die Beschwerdeführerin auch weiterhin als führendes Mitglied der Roten Armee Fraktion
(RAF) zu betrachten sei und sich - ungeachtet ihrer Kritik an der Strategie der Vereinigung und dem Stil ihrer Führung in bezug auf bestimmte Vorfälle - nach ihrem bisherigen
Erklärungsverhalten grundsätzlich auch weiterhin zu ihren Zielen bekennt. Mangels anderer Anhaltspunkte sei daher davon auszugehen, daß die Beschwerdeführerin auch bei Interviews
und mit Hilfe von Filmaufnahmen diese Haltung bekunden und damit erneut den Tatbestand des [[section]] 129a StGB verwirklichen werde."

und weiter:

Die Beschwerdeführerin kann sich demgegenüber nicht auf Art. 5 Abs 1 GG berufen, Straftaten genießen keinen Grundrechtsschutz."

 
Das in diesem Land angebliche Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG gilt für mich also nicht, denn das, was ich sage, erfüllt einen Straftatbestand. Das BVG erkennt in
seinem Beschluß zwar, daß ich die Strategie der Raf heute kritisiere, aber ich würde weiterhin an den Zielen festhalten. Es sind also die Ziele, die aus der Sicht des Obersten Gerichts dieses
Landes den Straftatbestand des [[section]] 129a StGB erfüllen - und nicht etwa die Propagierung der Strategie des bewaffneten Kampfes.

Und in der Tat ist es ja auch so, daß das, was ich in meinen Erklärungen hier vor Gericht an Zielen formuliert habe, sich inhaltlich mit denen der Raf-Schriften deckt.

Schon in den 70er Jahren war in Raf-Texten, da wo es um die Formulierung allgemeiner Zielvorstellungen ging, von 'Befreiung der Menschen' die Rede, oder im ersten Satz unserer Zäsur-
Erklärung vom April 92 heißt es beispielsweise: "An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und
durchgesetzt werden kann." Es handelt sich also um Ziele, die in Begriffen und Kurzformeln wie: 'Befreiung', 'gerechtere Welt', 'gegen Ausplünderung ganzer Kontinente und für eine
gerechte Verteilung des Reichtums' oder 'für ein menschenwürdiges Leben' gefaßt worden sind.

Ja, ich habe in meinen Texten und Briefen keinen Zweifel daran gelassen, daß es diese Ziele von einer menschlicheren und gerechteren Welt sind, denen ich mich weiterhin verbunden
fühle. Und wenn die Formulierung und das Aussprechen solcher Ziele in diesem Land einen Straftatbestand nach [[section]] 129a StGB darstellt, dann werde ich sicherlich auch zukünftig
eine Straftat nach der anderen begehen.

Aber so ist dieser Beschluß wohl gar nicht gemeint. Es wäre heute wohl kaum denkbar, daß das BVG eine solche Entscheidung bei einem Menschen trifft, der nicht der Raf-Mitgliedschaft
angeklagt ist. Für mich ist diese BVG-Entscheidung ein typisches Lex-Raf-Beispiel. Es sagt viel über die politische Situation und die politische Kultur in diesem Land aus, daß auch ein
Gericht wie das BVG 1996 solche Beschlüsse faßt und ganz offensichtlich nicht den Mut findet, neue Signale im Umgang mit Gefangenen aus der Raf zu setzen. Signale, die die Tür für
eine Auseinandersetzung und Diskussion um die Raf-Geschichte hätten aufmachen können.

Den reaktionären Teilen der Staatsschutz- und Justizapparate bleibt also weiterhin freie Hand - auch für das, was ich oben als Wiederbelebungsversuch alter Konfrontationsstellungen
bezeichnet habe. Zu diesen Versuchen, die Geschichte zurückzudrehen, gehört für mich z. B., daß in den letzten Jahren wieder Menschen in die Illegalität getrieben wurden, und zwar
systematisch, mittels Haftbefehlen wegen der Zeitschrift 'Radikal' oder den Ermittlungen wegen der Weiterstadt-Aktion, wo ja gegen viele Leute Beugehaft angeordnet war und ein
Haftbefehl ergangen ist. Diese ganze absurde Konstruktion, Steinmetz sei an dieser Aktion beteiligt gewesen und in den Koffern seines Motorrads sei der Sprengstoff transportiert worden,
hatte von Anfang an die Kriminalisierung von Menschen aus linksradikalen Zusammenhängen zum Ziel.

Aber das scheint ja aus den unterschiedlichsten Gründen niemand hören zu wollen - die einen nicht, weil sie in Steinmetz den Superagenten sehen wollen, und andere nicht, weil sie von
dem Gedanken einer von Geheimdiensten gesteuerten Raf völlig fasziniert sind.

Ich finde, man sollte eins nicht unterschätzen, bei Behörden wie der Bundesanwaltschaft gibt es zu bestimmten Abläufen und Entwicklungen mehr Wissen, als allgemein bekannt ist.

Zu diesem Wissen gehört u. a., daß es in der Vergangenheit immer Leute gab, die aus den verschiedensten Gründen in die Illegalität gegangen sind - manchmal auch getrieben wurden -
und die sich aus dieser Lebenssituation dann irgendwann der Raf angeschlossen haben. Es gibt sicher keinen Automatismus, der besagt, daß der Weg in die Illegalität automatisch zur Raf
führt - und es gibt sicher mehr Menschen, die diesen Weg nicht gegangen sind, als andere. Gerade in den 80er Jahren gingen ja viele in die Illegalität, längst nicht alle gingen auch zur Raf.
Es gab damals von der Raf getrennte eigenständige Strukturen und ganz unterschiedliche Formen von Praxis - von der Herstellung einer Zeitung und Organisierung von Diskussionen bis
zu militanten Aktionen. Aber für manche, wie z. B. für Wolfgang Grams und mich führte er zur Raf.

Hier in diesem Verfahren wurde ja immer wieder behauptet, Wolfgang Grams und ich seien im Februar 84 in die Illegalität gegangen, um uns in der Raf zu organisieren - das stimmt nicht
und das ist auch den zuständigen Behörden seit damals bekannt. Es ging um ein geklautes Auto, das aufgeflogen war, ein Schwachsinnsprojekt, und es hatte mit der Raf nicht das geringste
zu tun. Für Leute wie uns, aus unseren politischen Zusammenhängen, hätte eine solche Geschichte natürlich sofort zu einer hohen Knaststrafe geführt - wie das eben gegen Linke hier in
diesem Land üblich ist, und um uns dem zu entziehen, sind wir damals in die Illegalität gegangen.

Das war also unsere Situation im Februar 84 - Illegalität, ohne genaue Vorstellungen und ohne zu wissen, wie man ein solches Leben organisiert. In dieser Situation trifft man nicht von
einem auf den anderen Tag eine Lebensentscheidung wie die, zur Raf zu gehen. Wann ich diese Entscheidung für mich getroffen habe, also ab wann ich Raf-Mitglied gewesen bin, das
weiß von allen, die hier in diesem Saal sitzen, nur ich - im Februar 84 war es jedenfalls nicht.

Interessant ist das alles auch nur im Hinblick auf das aktuelle Vorgehen bestimmter Behörden, denen solche Abläufe bekannt sind. Denn Wolfgang Grams und ich waren ja auch nicht die
einzigen in der Raf-Geschichte, bei denen der Weg zur Raf darüber gelaufen ist, sich der Verfolgung oder einer Knaststrafe zu entziehen, und die in der Illegalität die Entscheidung
getroffen haben, zur Raf zu gehen.

Und genau diesen Mechanismus scheinen die staatlichen Verfolgungsbehörden heute gezielt einzusetzen, um Menschen in diese Situation, in ein Leben in der Illegalität, zu treiben - wohl
in der Hoffnung, daß sich auf diesem Weg wieder bewaffnete Gruppen konstituieren. Auch um die Wiederholung solcher Abläufe zu verhindern, erscheint mir der Versuch einer
öffentlichen Auseinandersetzung mit der Raf-Geschichte so wichtig.

Gegen diese Auseinandersetzung gibt es staatlicherseits die verschiedensten Widerstände, denn die Politik überläßt das Feld den Verfolgungsbehörden und einer Rachejustiz - die da ihre
eigenen Interessen und Ziel verfolgen -, und die das 'Problem Raf' bzw. Gefangene aus der Raf auf justizieller Ebene behandeln und abarbeiten wollen und sollen.

Doch die Raf - und das zeigt auch die mehr als 20-jährige Kontinuität dieses Kampfes - war immer und in erster Linie die Reaktion von Menschen auf die hier herrschenden Verhältnisse.
Bei allen Verirrungen und allen Fehlern, wir waren kein krimineller Haufen, der losgezogen ist, um irgendwelche Besitztümer anzuhäufen oder ähnliches. Und wer heute versucht, der Raf-
Thematik auf dieser Ebene zu begegnen, der hat dafür seine eigenen Motive - und die dürften, wie es in diesem Land gute alte Tradition ist, zuallererst im Bereich der Verdrängung zu
suchen sein.
 

Sich mit der Raf-Geschichte auseinanderzusetzen, heißt zum einen, sich mit dieser Gesellschaft und den hier herrschenden Denk- und Wertmustern auseinanderzusetzen. Und es heißt auch
eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit dieses Landes, denn ohne NS-Faschismus, die Tabuisierung und Verdrängungen nach 45 und diesem daraus resultierenden massiven
Abgrenzungsbedürfnis einer ganzen Generation gegen diese Eltern hätte es die Raf in dieser Form und über diese Zeitspanne nie geben können. Man braucht sich heute doch bloß die
Reaktionen und die Abwehr auf das Goldhagen-Buch anzuschauen, dann weiß man auch, warum es eine Auseinandersetzung mit der Raf-Geschichte nicht geben soll.

Nicht nur die Irrungen auf unsrer Seite, unsere Bereitschaft zur Eskalation und die Verselbständigung des Militärischen haben eine sehr viel engere Verbindung zur Geschichte dieses
Landes, als uns, oder zumindest mir, das lange bewußt war.

Aber auch diese völlig überzogenen Reaktionen auf staatlicher Seite, Ausnahmezustand 77, das öffentliche Nachdenken von Politikern über standrechtliche Erschießungen von
Gefangenen, um Druck auf die Schleyer-Entführer auszuüben, Killfahndung und Morde an Gefangenen, haben diese geschichtlichen Wurzeln.

Es brauchte da schon zwei Seiten, die gut zueinander paßten, damit diese Eskalationsspirale so funktionieren konnte, wie sie funktioniert hat - das hat nicht die Raf allein zu verantworten.

Über diese Zusammenhänge, dieses Zusammenspiel, gibt es heute ja wohl bei einigen Leuten, die in den 70er Jahren in verantwortlichen Positionen auf Staatsseite wichtige
Entscheidungen in bezug auf die Raf bzw. auf Raf-Gefangene getroffen haben, durchaus ein Bewußtsein. Es wäre sicher nicht schlecht, wenn sie das über Gespräche im privaten Kreis
hinaus auch in eine öffentliche Debatte über diese Zeit einbringen würden.

Ich glaube zwar auch nicht, daß eine Auseinandersetzung über all diese Fragen heute auf allzu breites Interesse stößt, aber es gibt Menschen, die diese Diskussion führen wollen, und es
gibt viele und die unterschiedlichsten Gründe dafür.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist staatlicherseits ein anderes Umgehen mit uns und unserer Geschichte und dafür braucht es Signale in diese Richtung, die nur von der Politik
kommen können.

Birgit Hogefeld

Beiträge zum Buch: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen (s. Info Nr. 13)

Die Diagnose des Übervaters: Entgegnung auf Horst Eberhard Richter

Im Juni 1996 erschien im Psychosozial-Verlag das Buch "Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld."

In diesem Buch befinden sich unter anderem zwei Beiträge des Psychoanalytikers Horst Eberhard Richter und zwei Birgit Hogefelds.

Die eine Prozeßerklärung befasst sich mit Isolationshaft, die andere mit der Geschichte der RAF.

9 Jahre lang war Birgit Hogefeld Mitglied der RAF, über 20 Jahre, schreibt sie, ist ihr Leben aber eng mit dieser Gruppe verbunden. Daher übernimmt sie in ihrer Prozeß-erklärung
Verantwortung für die Politik der RAF weit über den Zeitraum ihrer Mitgliedschaft hinaus, bis in die 70er Jahre hinein.

Birgits Prozeßerklärung ist sehr selbstkritisch, und, da sie auch auf die verschiedenen Etappen ihrer Politisierung eingeht, sehr persönlich.

An dieser Prozesserklärung zieht sich nun der Artikel von Horst Eberhard Richter hoch.

Einen kürzeren Beitrag stellt Horst Eberhard Richter Birgits zentraler Erklärung "Zur Geschichte der RAF" voran und analysiert diese Erklärung in einem zweiten ausführlichen Text.

Für uns war die Politik der RAF über Jahre Teil unserer politischen Auseinandersetzungen. Wenn auch auf anderer Ebene und im Konkreten anders, können wir doch viele der von Birgit
Hogefeld angesprochenen Erfahrungen nachvollziehen bzw. erkennen uns darin wieder.

Deshalb denken wir, daß es notwendig ist, auf die "Anmerkungen" Horst Eberhard Richters, der meint, die Arbeit der Psychologen des Staatsschutzes, des BKA und des VS machen zu
müssen, einzugehen.

Horst Eberhard Richter galt vor allem in den 70er Jahren als einer, der als Arzt und Psychoanalytiker mit seinen Schriften und Aktivitäten ein politisches Engagement dokumentiert und die
Psychoanalyse als Instrument sozialer Einmischung wieder populär gemacht hat. Davon bleibt in seinem Textkommentar "20 Jahre in der RAF" nur ein fader Geschmack angepaßter
Ideologie zurück.
Lautete der Untertitel seines 1972 erschienen Buches "Die Gruppe" noch: "Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien", hat er bei dem Versuch, die RAF und
insbesondere Birgit Hogefeld zu analysieren, kräftig daneben gegriffen.

Schon in der Einleitung zu Birgits Erklärung maßt er sich an, als Arzt und Psychoanalytiker die Erklärung zu analysieren und dann eine Diagnose zu stellen.

"Indessen läßt der Bericht den Versuch der Autorin spüren, über die theoretische Auseinandersetzung ihre Identität als individuelle Person zurückzugewinnen" (H.E.Richter: S.16).

Dieser kurzen und wertenden Charakterisierung von Birgits Prozeßerklärung liegt die offene Unterstellung zugrunde, daß der Eintritt in die RAF gleichbedeutend mit der Aufgabe der
Identität gewesen sein muß.

Dagegen stehen gerade die Gefangenen der RAF mit ihren Isolations- und Sonderhaftbedingungen und ihrem jahrelangen Kampf für Menschen mit einer starken persönlichen Identität,
ohne die sie diese ganzen unmenschlichen Bedingungen überhaupt nicht ausgehalten hätten.

Auch die Offenheit und Selbstkritik von Birgit, die in ihrer Erklärung immer wieder deutlich werden, zeugen ebenfalls von einer starken persönlichen und politischen Identität, ohne die
diese Erklärung überhaupt nicht denkbar wäre.

Was spricht für eine unglaubliche Arroganz aus der Tatsache, daß Horst Eberhard Richter Birgit mal so kurz vom Schreibtisch aus ihre persönliche Identität abspricht!

H.E.Richter attestiert der RAF dann weiter "sektiererischen Realitätsverlust", was er noch steigern wird mit der Gleichsetzung der RAF mit einer Sektenkultur.

Es drängt sich die Frage auf, warum die Prozeßerklärung von Birgit dafür herhalten muß, H.E. Richters eigenes entpolitisiertes Weltbild plausibel erscheinen zu lassen?

Richter geht es weder um Birgit noch um die RAF, sondern darum, sein eigenes Politikverständnis zu verkaufen: soziales Engagement ist legitim, solange es im Rahmen der bestehenden
Ordnung bleibt und diese nicht grundsätzlich in Frage stellt. Für politische Veränderungen zu kämpfen, lohnt sich überhaupt nicht, für alle sonstigen Probleme leiste sich jede/r den eigenen
Psychoanalytiker.

Richter vereinnahmt Birgit für seine Zwecke, von einer echten Auseinandersetzung kann somit keine Rede sein.

Birgits Aussagen werden von H.E. Richter nur benutzt und verzerrt und auf widerwärtige Weise in den Dienst der Pathologisierung der RAF gestellt.

Diese Pathologisierung der RAF scheint dann auch das eigentliche Anliegen von H.E. Richter zu sein, wie sich beim genaueren Lesen herausstellt.

Legitimiert durch sein Renommee im Bereich der Psychoanalyse, Gruppendynamik und Friedensforschung analysiert er das "Phänomen RAF" zu seinen Zwecken: Aus denen, die
"ursprünglich keine verrückten Sonderlingen waren" (S.16), werden schnell Menschen mit "paranoider Position", wie er das Grundkonzept der RAF später bezeichnen wird.

Er wird der RAF und insbesondere Birgit Hogefeld eine "Opfer-Identifikation", eine "sado-masochistisch schematisierte Schwarz-Weiß Vision", einen megalomanen
(=größenwahnsinnigen) Aktionismus, eine psychopathologisch klassische Flucht in Größen- und Allmachtsphantasien" diagnostizieren.

Was beabsichtigt H.E.Richter, indem er die RAF pathologisiert?

Der offensichtlich bestehende Erklärungsbedarf für die RAF muss nicht mehr in den politischen Verhältnissen gesucht werden, denn die sind, glaubt man/frau der Argumentationslinie
eines H.E.Richter, sowieso nicht zu ändern. Einer der angetreten war, Psychoanalyse und Politik zu verbinden, fällt nun wieder zurück: alles wird individualisiert und entpolitisiert!

Reale gesellschaftliche Unterdrückung und der legitime Kampf dagegen für eine weltweit gerechtere soziale Gesellschaft haben keinen Platz in dieser psychoanalytisch verzerrten
Denkweise und sind und bleiben doch der eigentliche Auslöser für die Entstehung der RAF wie für alle anderen sozialen Kämpfe.

Zusammenfassend stellen wir fest: Richter benutzt Birgits Erklärung, um sein entpolitisiertes Modell durchzubringen. Dem Anspruch einer Auseinandersetzung wird er nicht gerecht. Seine
"Anmerkungen" sind denkbar ungeeignet, die Geschichte der RAF zu verstehen. Sein Standpunkt ist der des Übervaters: Vom Kampf eines Menschen um seine Geschichte und dem
Willen, die Erfahrungen für neue Kämpfe nutzbar zu machen, ewig weit entfernt auf einem ruhigen Plätzchen auf der Seite der Etablierten und Mächtigen. N.N. Berlin

Anmerkungen zu einer "Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter"

In einem Beitrag zu dem Buch "Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld" weist Horst-Eberhard Richter darauf hin, daß "noch immer hierzulande ...
ein Tabu gepflegt (wird), das eine komplette und dauerhafte Ausgrenzung der RAF-Mitglieder verlangt, sofern diese ihre Geschichte nicht als Ausgeburt purer Destruktivität verwerfen.
Wer diese Menschen verstehen und ihr Bemühen, sich selbst zu verstehen, der Öffentlichkeit zugänglich machen will, setzt sich sonderbarerweise dem Verdacht aus, er billige ihre Taten."

Das Gegenstück zu dem von Horst-Eberhard Richter angesprochenen Tabu liefert eine "Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter", in der ihm schlicht und einfach unterstellt wird, er meine
wohl, "die Arbeit der Psychologen des Staatsschutzes des BKA und des VS" machen zu müssen, und: sein "eigentliches Anliegen" sei die "Pathologisierung der RAF".

Beide, jenes Tabu, wie auch diese gereizt-empörte Unterstellung, gehorchen der gleichen Freund-Feind-Logik, die auf Texte und Argumente inhaltlich nicht mehr eingeht, sie nicht mehr
zu verstehen sucht, sondern nur noch danach abhört und durchmustert, wofür oder wogegen sie sind. Einem psychologischen Text, dem das Moment der Selbstreflexion wesentlich ist,
widerfährt es dann fast zwangsläufig, daß er als Angriff erfahren wird, der reflexhaft dem Feind zugeordnet wird: die einen sehen hinter dem Versuch, die RAF zu verstehen,
Sympathisanten der RAF, für die anderen steht der gleiche Versuch im Dienste des BKA und des VS. Der Text mobilisiert nur noch Abwehrmecha-nismen, auf ihn wird mit Ausgren-zung
und Diffamierung reagiert.

Es gibt einen Zusammenhang dieser Logik mit der Tatsache, daß der Prozeß gegen Birgit Hogefeld von der Öffentlichkeit eigentlich nicht mehr wahrgenommen wird. Das Gleiche gilt
übrigens schon für die letzten RAF-Prozesse, die trotz einiger skandalöser Urteile keine öffentliche Resonanz mehr gefunden haben. "RAF-Prozeß": Da schaut man, wie bei den
Obdachlosen in unseren Städten, nicht mehr hin; damit will man nichts zu tun haben. Im Falle des Prozesses gegen Birgit Hogefeld kommt hinzu, daß es die Ausgrenzung und
Verdrängung jetzt auch von der anderen Seite gibt: Nach der Erklärung Birgit Hogefelds vom 2.3.95, in der sie erstmals öffentlich zu einer Aktion der RAF, zur Tötung des
amerikanischen Soldaten Pimental, kritisch Stellung genommen hat, hat auch das "Angehörigen-Info" jede inhaltliche Berichterstattung über diesen Prozeß kommentarlos eingestellt; die
Gründe lassen sich aus den Umständen erschließen, im "Angehörigen-Info" sind sie nicht diskutiert worden.

Max Horkheimer hat einmal gesagt, daß ein Richter, der in den Angeklagten nicht mehr sich hineinversetzen kann, kein gerechtes Urteil mehr fällen könne. Genau dadurch aber
unterscheiden sich RAF-Prozesse von anderen Prozessen, daß sie jeden Versuch, in den Angeklagten sich hineinzuversetzen, ihn zu verstehen, prinzipiell und von vornherein
auszuschließen suchen, und das mit dem schärfsten Instrument des Rechts, dem der Kriminalisierung.

Das Selbstverständnis der Angeklagten aus der RAF, mit dem sie vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit ihre Entscheidungen und ihr Handeln begründen, ist ein politisches. Es ist damit
prinzipiell kritikfähig und sicher auch kritikwürdig. Verfahrensgrundlage der RAF-Prozesse aber scheint es zu sein, diesen Sachverhalt konsequent auszublenden. Für die BAW, und nach
den bisherigen Erfahrungen auch für die Gerichte, sind das Selbstverständnis der Angeklagten und ihre Motive nur noch Rationalisierungen einer niedrigen Gesinnung und eines
Mordtriebs, die zwangsläufig aus ihrer staatsfeindlichen Grundhaltung sich ergeben. Die Angeklagten erfahren dieses Vorgehen als gewaltsame Ausgrenzung und Kriminalisierung ihrer
auf Fakten, Wahrnehmungen und Erfahrungen gegründeten Überzeugungen.
 

Mit der Ausblendung des Selbstverständnisses der Angeklag-ten aber ändert sich sowohl ihr Status wie auch der Charakter der Prozesse: objektiv (aufgrund der Logik dieser
Prozeßführung und nicht nur aufgrund ihrer subjektiven Erfahrungen im Prozeß) sind die Angeklagten nicht mehr Angeklagte, sondern Feinde. Die gleiche prozessuale Vorentscheidung
entzieht der rechtsstaatlichen Forderung nach einem fairen Prozeß schon im vorhinein die Grundlage. Es gehört zu den Paradoxien der Logik dieser Prozesse, daß sie, gerade weil die
Prozesse mit einer wütenden Verbissenheit entpolitisiert und als reine Kriminalprozesse geführt werden sollen, zu politischen Prozessen werden; und es ist eine Folge dieser Logik, daß die
Gefangenen der RAF tatsächlich zu dem werden, als was sie sich erfahren und selbst bezeichnen, zu politischen Gefangenen.

In den RAF-Prozessen selber ist die Logik des Verfahrens geradezu sinnlich erfahrbar: Sie drückt in der Kälte und in der vergifteten Atmosphäre, die diese Prozesse kennzeichnen, sich
aus. Hierzu gehört nicht zuletzt der verächtliche, höhnische und zynische Ton, in dem z. B. die Vertreter der Anklage im Hogefeld-Prozeß nicht nur über die Angeklagte, sondern ebenso
über ihre VerteidigerInnen, über die Mutter der Angeklagten, über kritische Prozeßbesucher, die sie offensichtlich von "RAF-Sympathi-santen" nicht mehr unterscheiden können, und,
wenn eine Aussage nicht in ihr Konzept paßt, auch über einen Zeugen (und das hinter seinem Rücken: nachdem er den Gerichtssaal verlassen hat) reden.

Es gehört zur inneren Logik dieser Atmosphäre, die darin der Logik des Vorurteils gleicht, daß sie von denen nicht mehr wahrgenommen wird, die sich mit ihr gemein machen, die sie
übernehmen, sich mit ihr identifizieren. Diese Kälte scheint für die, die sie verbreiten, eine Naturqualität zu sein, die der moralischen Reflexion sich entzieht; die Erfahrung derer, die dieser
Kälte ausgesetzt sind, ist für sie inexistent.

Diese Atmosphäre und die Gewalt ihrer Logik bleibt nicht auf den Gerichtssaal begrenzt. Sie strahlt zwangsläufig auch auf die Öffent-lichkeit aus, sie bestimmt das Bild, in dem RAF-
Prozesse in der Öffentlichkeit wahrgenommen wer-den. Und man wird davon ausgehen dürfen, daß RAF-Prozesse auch in dem Sinne als politische Prozesse geführt werden, daß diese
Öffentlichkeitswirkung beabsichtigt und gewollt ist (mit der Konsequenz, die in den letzten RAF-Prozessen immer deutlicher hervorzutreten scheint, daß es auf einen öffentlich und
beweislogisch nachvollzieh-baren Schuldnachweis, auf den Nachweis der persönlichen Schuld der Angeklagten, so sehr eigentlich nicht mehr ankommt, sondern vor allem auf die
formalrechtliche Haltbarkeit von Urteilen, deren eigentliches Ziel ihre Öffentlichkeits-wirkung ist).

Dem widerspricht es nicht, daß RAF-Prozesse in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen werden, daß sie, wenn nicht im formalrechtlichen, so doch in einem moralischen Sinne
"unter Ausschluß der Öffentlichkeit" geführt werden; es ist vielmehr eine der weiteren Folgen des prozessualen Verfah-rens, und auch die, so darf man unterstellen, ist gewollt: Würden
RAF-Prozesse wirklich öffentlich wahrgenommen, so wären sie auch reflexions- und kritikfähig; dem Blick einer kritischen Öffentlichkeit aber würde diese Art der Prozeßführung, die nur
in dem Tabu-Klima möglich ist, das sie selbst erzeugt, nicht standhalten.

Es gehört zu dem bedrückenden Eindruck der eingangs genannten "Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter", daß diese Dinge, von denen ich annehme, daß sie zum Hintergrund der
Reflexionen Horst-Eberhard Richters gehören, überhaupt nicht wahrgenommen werden. Statt dessen reproduziert dieser Text blind und hilflos genau die Logik, die auch die RAF-Prozesse
beherrscht, und die er nicht begreift. Es wäre ihrem Verfasser etwas von der "psychoanalytisch verzerrten Denkweise", die er glaubt, so abfertigen zu können, zu wünschen. Feste
Feindbilder sind keine geeignete Basis für eine Politik, die auf Befreiung zielt; wer sie nicht mehr zu reflektieren vermag, hat eigentlich, auch wenn er es nicht weiß, schon vor der
Übermacht der versteinerten Verhältnisse kapitu-liert.

Am Ende der "Entgegnung" heißt es zu Horst-Eberhard Richter: "Sein Standpunkt ist der des Übervaters: Vom Kampf eines Menschen um seine Geschichte und dem Willen, die
Erfahrungen für neue Kämpfe nutzbar zu machen, ewig weit entfernt, auf dem ruhigen Plätzchen auf der Seite der Etablierten und Mächtigen."

Dieser Satz erinnert an eine Bemerkung, die Georg Lukács zuerst auf Schopenhauer, später dann auf Adorno bezogen hat, das Wort vom "Grand Hotel Abgrund" (vgl. Lukács: Theorie
des Romans, Neuauflage 1962, S. 17). Mir scheint, die Konstellation, die Lukács damals bezeichnen wollte, wird genauer getroffen, wenn man sie statt auf Personen auf die Sache bezieht;
das aber ist leicht über eine Änderung des Bildes möglich, wenn man nämlich das Bild vom ortsfesten Hotel und dem Abgrund daneben (ähnlich wie das vom "ruhigen Plätzchen auf der
Seite der Etablierten und Mächtigen") dynamisiert und durch das eines Luxuszugs, der auf den Abgrund zurast, ersetzt.

In diesem Zug wird man dann einige merkwürdige Aktivitäten beobachten können:

* einige verriegeln und bewachen die Türen (auf daß kein Unbefugter hereinkommt) und werfen alle raus, die nicht zu den privilegierten Nutzern des Luxus-Zuges gehören;

* andere bemalen die Fenster und geben die Bilder als die Außenwelt aus, auf die diese Bilder zugleich den Blick versperren;

* dann aber gibt es Einrichtungen, die die Aufgabe übernommen haben, den eingeschränkten und versperrten Blick auch von innen noch abzusichern: es reicht offensichtlich nicht, die
Bewegung des Zuges, die Existenz der Außenwelt und den Abgrund nur zu leugnen, diese Leugnung muß zusätzlich durch Ausgrenzung und Diskriminierung derer, die der kollektiven
Verdrängung sich entziehen, die den freien Blick sich nicht verbieten lassen wollen, stabilisiert werden. Und hier bietet sich als eine Art Naturheilmittel die Feindbildlogik als Vorurteils-
generator, als identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft, an: die Mobilisierung des blinden Flecks der Logik (aus dem gleichen Grunde brauchte der Nationalsozialismus den
Antisemitismus).

Angesichts dessen bleibt die ernsthafte Frage, ob die Personali-sierung des Problems, ob die Beantwortung der Feindbildlogik durch Gegenfeindbilder noch hilfreich ist. Das Personal des
mit wachsender Geschwindigkeit dahin-rasenden Kapitalismus-Express ist längst von ihm instrumentalisiert, es beherrscht ihn nicht mehr, sondern bedient ihn nur. Käme es nicht vielmehr
darauf an, die Bedienungs-anweisungen des Zuges, seine Technik, die Bewegungskräfte und die mittlerweile automatisierten Beschleunigungsmechanismen zu studieren (zu denen - in den
ökonomischen Kräften selber - auch die systembedingten Verblendun-gen, die über starre Feindbilder sich reproduzierenden Vorurteilsstrukturen, gehören), um den Sturz in den Abgrund
eines neuen, und dann vielleicht endgültigen Insektenstaats, viel-leicht doch noch zu verhindern?

Hubert H.

Liebe berliner ProzeßbesucherInnen,

ich habe Richters Bemerkungen zu Birgits langer Prozeßerklärung vom Juli 1995 nochmals gelesen und finde sie immer noch zu oberflächlich. Aber sie als Arbeit eines Psychologen für
den Staatsschutz zu sehen? Ich weiß nicht, woran ihr das festmacht, denn das, was ihr dazu ausführt, gibt der Text nicht her. Also frage ich mich, was eure heftige Kritik veranlaßt haben
mag. Ich bin zwar kein Psychologe, denke aber, daß er einen Nerv bei euch getroffen hat und zwar nicht unbedingt den, den ihr mit eurem Text benennt. Deswegen scheint es mir auch
nicht sinnvoll zu sein, auf einzelne Aspekte eurer Rezension einzugehen. Eher will ich versuchen, den Nerv zu benennen.

Sein Versuch, die RAF zu verstehen (Buchtitel), reicht sicher nicht aus. Er schreibt aber auch nicht als "Sympathisant", eher steht zu vermuten, daß er der Politik der RAF ablehnend
gegenüber steht. Das allein disqualifiziert ihn jedoch nicht. Eine wissenschaftlich genaue Analyse erfordert ja nicht unbedingt ein positives Verhältnis zum Untersuchungsgegenstand. Auch
wenn der Vergleich nicht so ganz hinhaut, Marx' Analyse der Kapitalbewegung war ja auch nicht von Sympathie für das Kapital erfüllt. Allerdings verstehe ich unter wissenschaftlicher
Genauigkeit mehr als das, was Richter dort geleistet hat. Er deutet nur in groben Zügen an, aber gerade da, wo es spannend werden könnte, hört er schon wieder auf. Die genauere
Darstellung gruppendynamischer Prozesse wie individueller Verarbeitungsmuster würden mich da schon eher interessieren.

Richters Analyse mangelt ganz sicher daran, daß er den Bezug zur politischen Realität herausnimmt. Ob das Absicht war und wenn ja, welche, wäre von ihm genauer auszuführen. Bis
dahin ist der Text nur dann sinnvoll zu lesen, wenn wir das fehlende politische Moment mitlesen und uns unsere eigenen Gedanken dazu machen.

"Gruppenstrukturen, die keine Differenzen geschweige denn Widersprüche aushalten, müssen nicht, aber können leicht verhindern, daß Menschen wachsen und an innerer Stärke
gewinnen." (Birgit in ihrer Prozeßerklärung vom Juli 1995, im Buch auf Seite 39)

Ist es wirklich eine Unterstellung, wenn Richter Birgits Eintritt in die RAF mit der Aufgabe ihrer Identität in Verbindung bringt? In ihrer Erklärung wechselt Birgit tatsächlich von der
"Ich"- zur "Wir"-Form über, wenn es um ihre Zeit mit und in der RAF geht. Wenn ich auch geneigt bin, die RAF als Kollektiv von sich selbst bewußten Individuen zu begreifen, so kann
es durchaus sein, daß jede und jeder in der RAF einen Teil des eigenen Ich in einer Art Kollektiv-Über-Ich transformiert hat. Und es ist eine nicht unerhebliche Frage, ob die Menschen in
der RAF (aber auch die Gefangenen aus der RAF) dies genügend reflektiert haben. Angesichts dessen, was die RAF von Anfang der 70er bis 1992 zu den eigenen kollektiven Strukturen
gesagt hat, sind die beiden folgenden Jahre ziemlich desillusionierend gewesen - ich meine hier insbesondere die Spaltung. Die fiel ja nicht vom Mond auf unbearbeitete Erde, obwohl ich
zugeben muß, daß ich dann doch überrascht (und erschrocken) war.

Mir stellt sich die Frage, ob das, was Richter hier für die RAF analysiert und was ich in vielem noch zu verkürzt halte (und manchmal für so banal, daß ich auch ohne Fachbegriffe darauf
hätte kommen können und es z.T. auch bin), um der RAF gerecht zu werden, nicht vielmehr mindestens genauso für die Teile der radikalen Linken zutrifft, die seit 25 Jahren für sich eine
besondere antisystemi-sche Radikalität reklamiert haben.

Denn das, was Richter aus psychologischer Sicht zur RAF schreibt, gilt in weiten Zügen auch für weite Teile der legalen Linken. Wer nicht für uns war/ist, war/ist gegen uns. Identifikation
mit den "Opfern" imperialistischer Ausplünderung ist sicher kein biographischer Einzelfall, sondern durchzieht Denken und Handeln vieler Linker. Damit verbunden Schuldgefühle und
Leistungsdruck. Und ein gewisses Maß an Verlogenheit, denn schließlich müssen die Widersprüche zwischen dem, was frau/man denkt, bringen zu müssen (Ansprüche von außen und/
oder an sich selbst), und der eigenen Lebensrealität kompensiert werden. So weit entfernt von Sektierertum, gar von Sektenstrukturen? Wirklich? Wer auch nur halbwegs die Strukturen der
(radikalen) Linken der letzten 25 Jahre kennen gelernt hat, weiß, daß es hierarchische waren und sind. Von Egotrips und Aktionismus, Macht und unhinterfragbaren "klaren" Weltbildern
ganz zu schweigen. Das ist nichts neues und schon vor über 20 Jahren kritisiert worden. Geändert hat sich nichts. Und das ist eine Frage an alle, die sich heute noch als links begreifen: wie
wollt ihr, wie wollen wir das ändern? Wollen wir es überhaupt und wann packen wir es endlich an?

Oder um es platt (und richtig) wie die frühe RAF zu sagen: wenn du es willst, dann tust du's - oder du willst es nicht. Nur kann das nicht durch Druck oder auf Befehl, sondern nur als
gemeinsamer kollektiver und bewußt angegangener Lernprozeß vonstatten gehen. Emanzipation und Repression schließen sich aus. Ob Richter diese Konsequenzen seiner Analyse
begreift, weiß ich nicht, ist aber auch unerheblich. Aber Staatsschutzfragen sind seine Fragen nicht, sondern für eine emanzipatorische Linke essentielle. Sie gehen ans Eingemachte und
mobilisieren Abwehr. Diese lese ich in eurer Rezension. Doch darüber müßte geredet werden, offen und solidarisch. Und manchmal ist der Blick eines Außenstehenden dabei hilfreich,
selbst oder gerade weil er Psychologe ist.

[Ihr klammert euch an "Identität", der Begriff erscheint dreimal hintereinander an zentraler Stelle eures Textes. Könnte es sein, daß dieses selbstvergewissernde, aber auch
selbstverteidigende Etwas-Sein verhindert (und auch verhindern soll), die eigenen Widersprüche wahrnehmen, reflektieren und auch akzeptieren zu können - bei sich selbst und anderen?]

Zum Schluß - trotz aller Kritik eine Selbstverständlichkeit - solidarische Grüße,

der Rezensent aus Nr. 13.

Zum gleichen Kontext ein Beitrag aus dem Jahr 1992

Ich wurde gefragt, ob mein Brief aus '92 im Kontext dieser Kontroverse im Prozeßinfo abgedruckt werden könnte. Da ich denke, daß das, worum es mir darin geht, heute aktueller ist
denn je, nicht zuletzt was die Zustände unter denen betrifft, die mehr als zwei Jahrzehnte lang, drinnen und draußen, gemeinsam gekämpft haben, habe ich zugestimmt. Ich habe aber in
meinem Brief von einem Emanzipationsprozeß geredet, also davon, die subjektiven Deformationen und Verletzungen aus eigener Kraft anzugehen. Das wäre ein Lernprozeß, der ein ganz
anderes Begreifen über sich und andere in Gang setzt als die klassifizierende Betrachtung des Psychoanalytikers von außen.

Berlin, 24.10.1996, Lutz Taufer

>> DIE SACHE MIT DEN "KLAREN POSITIONEN" [...] ist eben so eine Sache. Dahinter steckt die Überzeugung, daß das Handeln der Menschen bzw. der Linken bestimmt ist von
rationalen Prozessen, daß also eine solch "klare Position" Ausdruck rationaler, klarer Vernünftigkeit und Überle-gung ist. Ich bezweifle das. Nicht grundsätzlich und nicht in jedem Fall.
Aber den Verbalradikalismus, den es in den vergangenen Jahren etwa bei einigen sog. Antiimpis gegeben hat, also diese Sorte "klarer Positionen" betrachte ich eher als eine Art
Schutzpanzer gegen die aggressiver werdenden Zumutungen der kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, der ununterbrochenen Enteignung der eigenen politischen
Anstrengung, Initiative durch die Repression oder durch Institutionen. Es gibt den weitgehend unbewußt ablaufenden Mechanismus, die Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle, in die du
hier sehr schnell reinkommen kannst, dadurch zu kompensieren, daß du dich in einem mächtigen Feind spiegelst. Je mächtiger, desto größer kannst du dir, der den Mut hat, diesem Feind
die Stirn zu bieten, selbst vorkommen. Ich mache mich über Genossinnen und Genossen, die einem solchen Dilemma erliegen, ganz bestimmt nicht lustig. Ich halte es auch für albern und
nur für eine Wiederholung dieses Mechanismus auf anderer Ebene, wenn dann welche herkommen, und solche Verbalradikalos mit dem Gestus der Verachtung abhaken. Denn der
subjektive Mechanismus, der abläuft, ist kapitalverursacht, staatsverursacht - und entweder lernen wir es, damit umzugehen und solche unbewußt steckenbleibenden Konfliktsituationen
aufzulösen - oder wir überlassen diese Genossinnen und Genossen eben Kapital und Staat. Marx war es, der seinerzeit feststellte, daß der Arbeiter bei der Arbeit außer sich und erst außer
der Arbeit bei sich ist - diese Zustandsbeschreibung können wir heute, wo wirklich auch noch der intimste Winkel menschlicher Existenz warenförmig adaptiert und deformiert wird, nicht
übernehmen. Es gehört zur Tradition der Linken, sich wirksam gegen Repression zu schützen, aber gegen die stündlich auf uns in dieser Gesellschaft einstürzenden moralischen, ideolo-
gischen und emotionalen Pressio-nen haben wir bis heute kaum Methoden der Sicherung unserer Autonomie entwickelt. Wenn jetzt eine oder einer kommt und will mit mir über die Frage
diskutieren, um nur ein Beispiel zu nennen, ob es im Staat, in der politischen Klasse, Fraktionen gibt oder ob es ein monolithischer Apparat ist, kann das eine vernünftige Auseinander-
setzung sein - es kann aber auch eine "Position" sein, die gesponsert ist von eben solchen Kompensa-tionsbedürfnissen, wie ich sie oben beschrieben habe. Im zweiten Fall ist es sinnlos, im
Stil eines Streits um Positionen zu argumentieren und aufzuklären, denn was immer du in die Diskussion an Argumenten einbringst, du erreichst die Ebene der bewußtlos bleibenden
Konflikt-situationen nicht. Wer erträgt schon gerne bewußt das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit? Also organisiert der mentale Prozeß alles, um dieser schmerzhaften Situation aus
dem Weg zu gehen. Und nachdem du die "Position" mit hundert Argumenten widerlegt hast, wird das hundertundeinste auftau-chen, eine schlechte Unendlichkeit. Um zu einer Lösung, zu
einem lösenden Prozeß zu kommen, braucht es einen anderen Diskurs. Der ist zwischen drinnen und draußen nicht organisierbar, denn es ist zweifellos ein Diskurs, in dem die emotionale
Seite eine große Rolle spielt, und es ist ein Prozeß, der nicht immer nach der Logik einsichtsvollen Nachvoll-zugs von Argumenten verläuft, denn vor allem im Bereich eingeklemmter
Konflikte, bewußtloser, weil ver-drängter Konflikte bestehen häufiger sehr starke Widerstände, die als bestimmte Rationalisierungen un-unterbrochen "unverdächtig" organi-siert werden.
Ich denke, solche bewußtlos bleibenden Konfliktsitua-tionen haben ganz besonders in Zeiten der Defensive, wo der Gegner sehr stark erscheint oder ist und wo du dich oft klein fühlst,
eine starke Ausbreitung, die Menschen neigen in Situationen solcher Bedräng-ung, auf lebensgeschicht-lich weiter zurückliegende Verhaltensmecha-nismen zurückzugreifen, weil sie sich
mit diesen Verhaltensweisen auskennen, sich mit ihnen sicherer fühlen. Ein Emanzipationsprozeß ist ja auch immer verbunden mit einer Öffnung und somit erstmal mit Verwundbarkeit,
und die Bereitschaft, ein solches Risiko einzugehen, sinkt natürlich mit der Aggressivität der Gegenseite und vor allem aber auch mit dem regressiven Verhalten, dem Abrutschen der
Emanzipations-prozesse in der eigenen Umgebung. Wo der Umgang untereinander sehr robust und aggressiv und verständnislos ist, dort ist der, der sich weiter um Offenheit und
Emanzipation und Menschlichkeit bemüht, natürlich schnell in der Rolle des Trottels oder des Nicht-Kämpfen-Wollens. Aber genau das wäre das Kunststück, um das wir kämpfen müßten.
Denn hinter der allgemeinen Abkapselung, hinter abweisendem Verhalten, hinter Verhalten, das bis an die Grenzen des Verfolgungswahns geht, steckt natürlich, dialektisch gesehen, das
gegenteilige Bedürfnis - das Bedürf-nis nach Menschlichkeit, Freund-schaft, nach sozialer Gerechtigkeit, nach Entfaltungsmöglichkeiten - und ich bin mir absolut sicher, daß eine linke
Bewegung, die den Mut und die Kraft und die Selbstsicherheit hat, einen solchen menschlichen Emanzipationsprozeß auf den Weg zu bringen, gegen die allumfassende Wirklichkeit von
Macht und Egoismus und Konkur-renz sichtbar und erlebbar zu machen, daß eine solche Gruppe ungeheuer überzeugend und erfolgreich sein wird. Das hat natürlich nichts mit
Innerlichkeit zu tun, denn die Ursachen der Entfrem-dung liegen nicht in uns, sie sind materieller Natur und wollen bekämpft sein. Und die Innerlichkeit ist schließlich nur ein Ja zum
Machtanspruch von Staat und Kapi-tal, der da lautet: wir bestimmen alles alleine - ihr habt euch aus allem rauszuhalten. Also eine Wiederholung der Entfremdung auf anderer Ebene. Eine
Realitätsflucht. Ein solcher Emanzipations-prozeß ist auch nicht dadurch organisierbar, daß man über ihn spricht wie über die NATO oder die Entwicklung der Produktivkräfte. Ich hatte
vor 7 Jahren, in meinem Brief, den ich als Kritik an der Erschießung von Pimental geschrie-ben hatte, geschrieben: "Entfremdung kann man nicht analysieren, wie man die Counter, die
NATO, die Bourgeoisie analysiert, also etwas, was außerhalb von einem selbst ist; Entfremdung kann man nur entziffern, wenn man dabei bei sich selbst anfängt ..." und das wiederum ist
ein ganz anderer Diskurs als der Diskurs, der seit Jahr und Tag betrieben wird. Um dorthin zu kommen, müßtest du diese Mauer der Widerstände - und ich behaupte, bei vielen
Positionsbausteinen dieser Mauer handelt es sich um ebensolche Widerstände - durchbrechen.

Ich will noch kurz auf einen anderen Punkt hinweisen. Wenn du Psychoanalytiker werden willst, mußt du eine Lehranalyse machen, also eine Analyse deiner eigenen subjektiven
Konstellation, damit du mit deinen Schwächen und Stärken bewußt umgehen kannst und sie nicht an den Konflikten deiner Patienten unbewußt auslebst. Linke Politik ist ja irgendwo eine
vergleichbare Situation. Wie immer du dich selbst politisch einschätzst, wie immer du dich politisch verhältst, ML oder libertär oder was weiß ich, du setzt dich mit deinem politischen
Handeln der Gesellschaft mehr oder weniger vor die Nase, du hast also eine bestimmte Verantwortung der Gesellschaft gegenüber - und ich denke, du darfst die nur wahrnehmen, wenn du
dich einigermaßen selbst kennst. Es gibt ja in der Linken schon immer diese Haltung, daß gesagt wird, was das Subjektive betrifft, hat das mit der Politik nichts zu tun. Das halte ich nicht
nur für brutal, sondern auch für ausgesprochen dumm. Das ist m.E. durchaus verwandt dem kapitalistischen Leistungsprinzip, das im Nazi-Reich gipfelte in der Aussonderung aller, die
angeblich nicht leistungsstark waren, bis hin zur Euthanasie. Und mit den subjektiven Anteilen unserer Handlungsantriebe müßten wir endlich mal lernen umzugehen. Methoden
entwickeln, wie wir zu dem kommen, was wir früher Identität nannten. Denn das meint nichts anderes als die Übereinstimmung von Denken und Fühlen im politischen Kampf, was aber in
den letzten Jahren oft so mißinterpretiert wurde, daß Empfindungen, Gefühle, Instinkte, Wünsche, die nicht auf der politischen Linie liegen, unterdrückt werden. Damit sind sie natürlich
nicht aus der Welt, sondern toben sich umso verheerender aus. Und umgekehrt, würde ich sagen, entfernt sich eine solchermaßen zurechtgetrimmte Politik immer stärker von der
Alltagsrealität der Menschen, denn die kommunizieren mit der Wirklichkeit sehr viel emotionaler als wir. Und ich behaupte mal, die Wünsche und Gefühle, z. B. Gerechtigkeitsgefühl, das
jedem Menschen eingeborene Bedürfnis nach Selbstbestimmung und anderes mehr, nach der Rebellion gegen Unterdrückung, der Durst nach Freiheit (auch wenn diese 'natürlichen'
menschlichen Regungen im Lauf eines kapitalistischen Sozialisations-prozeß verkrüppelt und zugeschis-sen werden), all diese Gefühle und Bedürfnisse sind oft ein besserer Kompaß in der
Frage "was tun?" als alle im Kopf mühsam ausgerechnete Analysen und Positionen.<<

Lutz Taufer

...die allerletzte Seite...

Dies ist das letzte Info zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld.

Die InfoAG ist bereits in Auflösung begriffen und es wird voraussichtlich keine gemeinsame Stellungnahme zu unserer Arbeit geben.

Info 14 geht in Druck, ohne daß die Finanzierung gesichert ist. Wir bitten dringend die Verteilstellen, Gruppen und Einzelpersonen zur Kostendeckung beizutragen. Etwaige Überschüsse
werden auf Birgits Konto überwiesen.

Ohne die Arbeit des Berliner "Prozeßbüro Birgit Hogefeld" hätte das Info nicht erscheinen und schon gar nicht verbreitet werden können.

Wir wollen uns auf diesem Wege bei allen bedanken, die unsere Arbeit unterstützt haben.

Herausgeber:

InfoAG zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld, Werderstr. 8, 65195 Wiesbaden

Birgits Postadresse:

Birgit Hogefeld c/o OLG Frankfurt, 5. Strafsenat, Postfach. 60256 Frankfurt

Druckkosten des Info: Dringender Appell zu Spenden an:

Linke Projekte e.V., Wiesbaden, Wiesbadener Volksbank: Kto-Nr: 9 314 407, Bankleitzahl: 510 900 00

Stichwort: "InfoAG

Spendenkonto:

zu Verfahren Birgit Hogefeld und Todesermittlungsverfahren z.N. Wolfgang Grams:


Sonderkonto V. Luley, "Bad Kleinen", Postbank Frankfurt, BLZ: 50010060, Kto-Nr.: 16072-603

für Birgits persönlichen Bedarf: Sonderkonto Birgit Hogefeld:

R. Limbach, Ökobank, BLZ: 50090100, Kto-Nr.: 250228

Hinweis: Nächste Prozeßtermine im Verfahren gegen Monika Haas:

Donnerstag, 21.11. und Donnerstag 28.11. jeweils 10.15 Uhr Frankfurt, Gerichtsgebäude E, Saal II - Weitere Termine bei: Forum für Monika Haas. Postfach Bodo Lube 180148, 60082
Frankfurt

Broschüre: Der Prozeß gegen Monika Haas. Oktober 1996, 8,--- DM gegen Vorkasse bei obengenannter Adresse.

Das könnte Ihnen auch gefallen