1. Die Entdeckung
Die Schatten der Nacht waren längst aus all ihren Ecken und
Ritzen hervorgekrochen, als Anna vor der Haustür ihres
Wohnblocks angekommen war. Aufgeregt wühlte sie in den
Taschen ihres längst zu klein gewordenen Anoraks nach dem
Schlüssel. Sie wollte so schnell wie möglich hinein, denn ein
kalter Wind wehte an diesem Tag durch das Land, der sie bis
unter die Haut ausgekühlt hatte. Dummerweise konnte sie ihn
ausgerechnet jetzt nicht finden.
So ein Mist! Dann musste sie wohl bei ihrem Nachbarn
klingeln, einem alten grimmigen Herrn, der sich ständig
aufregte, wenn man ein klein wenig zu laut das Radio anstellte
und ihn dabei beim Mittagsschlaf störte. Immer wenn man ihm
im Treppenhaus oder auf dem Hof begegnete, wurde sein
bitterböses Gesicht noch finsterer. Aber das tat er bei anderen
Leuten auch. Es schien, als würde er alle Menschen dieser Welt
abgrundtief hassen.
Dort wollte Anna auf keinen Fall klingeln, aber bei der netten
Frau Schmidt konnte sie nicht klingeln, denn die war vor
kurzem zu ihrer Tochter nach Braunschweig gefahren, wo sie
die Weihnachtszeit verbringen wollte.
Aber was würde sie dort oben schon erwarten?
Nichts als eine kleine, kalte und hässliche Wohnung. Es würde
lange Zeit dauern, bis es dort oben warm wurde. Da konnte sie
genauso gut hier unten auf dem Hof auf ihre Mutter warten.
Wenn sie zusammen hineingingen, würde es dort wenigstens
nicht ganz so leer und trostlos sein. Außerdem musste sie nach
der Haustür auch noch die Wohnungstür öffnen und da hätte ihr
auch keiner der Nachbarn helfen können. Nur der Hausmeister,
ein äußerst unangenehmer, älterer Herr, der sich ständig über
seine viele Arbeit beschwerte und keine Kinder leiden konnte,
weil sie im Treppenhaus die Wände beschmierten und überall
ihren Kaugummi hinklebten.
Anna schlenderte über den Hof, wo das letzte Herbstlaub auf
den pfeifenden Windböen umhertanzte. Sie fror noch ein wenig
mehr und auch die vielen Lichterketten, Weihnachts- und
Schneemänner, die ihr aus allen Fenstern so warm und hell
entgegenleuchteten, konnten daran nichts ändern. Sie erinnerte
sich an einen singenden Weihnachtsbaum, den sie im Kaufhaus
gesehen hatte. Der Kitsch schien in dieser Weihnachtszeit
wieder einmal grenzenlos zu sein und alles Dunkle und
Grausame zu überdecken, als gebe es kein Leid auf der Welt.
Ihr eigenes Fenster war dagegen völlig dunkel. Nicht einmal
die kleinste Kerze leuchtete ihr entgegen, als ob dort überhaupt
niemand wohnte. Sie ging schnell weiter.
Vor dem Nachbarhaus waren eine Mutter und ihre Tochter
gerade dabei, einen Weihnachtsbaum vom Autodach zu
nehmen. Zwei kleine Jungs hopsten und sprangen singend und
lachend um sie herum. Die Familie war nicht sonderlich
vornehm und doch war Anna voller Neid auf sie. Ihre eigene
Mutter war bisher nicht dazu gekommen, etwas für das
Weihnachtsfest vorzubereiten. Sie musste ständig arbeiten und
am Wochenende lag sie kaputt auf dem Sofa herum.
Geschwister hatte Anna auch keine, dabei wünschte sie sich
nichts sehnlicher als eine Schwester. Eine Schwester, mit der
sie über all ihre Sorgen und Probleme reden konnte. Ihr könnte
sie die Geheimnisse ihres Herzens anvertrauen und wenn es
ihnen schlecht ging, würden sie sich gegenseitig aufheitern und
all die bitteren und traurigen Stunden ihres Lebens wären nicht
mehr ganz so traurig und bitter. Ein großer Bruder, wie
Susanne ihn hatte, wäre allerdings auch nicht übel. Der hatte
sie damals manchmal beschützt, wenn die frechen Kinder aus
ihrer Klasse sie über den Schulhof schubsten und ihnen die
Pausenbrote klauten.
Susanne war Annas beste und einzige Freundin in der Klasse
gewesen, aber vor einigen Wochen war sie weggezogen und
seitdem war sie allein, völlig allein.
Der kalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie griff in
ihre Hosentasche nach einem Taschentuch. Und wie sie dort so
herumwühlte, fand sie zwischen all den Tüchern doch
tatsächlich den Hausschlüssel.
Als sie endlich oben war, war es beinahe sieben Uhr. Der Tag
war fast um, wieder einer dieser trüben Tage, der ohne jede
Freude an ihr vorübergezogen war. Und der Anblick der leeren
Wohnung stimmte sie kaum fröhlicher. Da es nur 14°C war,
beeilte sie sich, die Heizung einzustellen.
Ihre Mutter würde erst sehr spät nach Hause kommen, weshalb
sie sich selber Abendbrot machte. Sie holte Brot, Käse und
Wurst aus dem Kühlschrank, in dem ansonsten gähnende Leere
herrschte. Sie stellte das Radio ein. Zu dieser Zeit wurden fast
nur noch Weihnachtslieder gespielt wurden, was ihr allmählich
auf die Nerven, wo ihr selbst doch kein bisschen nach
Weihnachten zumute war. Schweigend kaute sie an einer Stulle
und hörte zu, wie ein paar Kinder ihre Wunschzettel vorlasen.
Mein Gott, was hatten die nur für Ansprüche!
Vor lauter Wut drehte sie wieder ab. Sie selbst wünschte sich
in diesem Moment doch nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter
endlich nach Hause käme.
Sie sah sich in der Küche um und stellte fest, dass ihre
Wohnung von innen genauso unweihnachtlich aussah wie von
außen. Außer einem Schneeflockenbild, das sie in der Schule
gemalt hatte, erinnerte nichts daran, dass Weihnachten vor der
Tür stand. Sie hatte in der Schule zwar auch noch einen roten
Weihnachtsmann aus Pappe mit einem flauschigen Wattebart
gebastelt, aber den hatte Inga, die blöde Ziege, zerrissen.
Einfach nur so aus Spaß. Und auch mit der Ordnung war es
nicht gut bestellt. Auf der Spüle stapelte sich das Geschirr und
geputzt hatte schon lange keiner mehr. Es war ein trauriger
Anblick.
Doch da kam ihr plötzlich eine Idee! Eine Idee, wie ihr
vielleicht doch noch ein wenig weihnachtlich zumute werden
konnte. Ach, es war eine wundervolle Idee, aber zunächst
musste sie das Geschirr abwaschen und ihre Einkaufstaschen
leeren.
Als sie oben angekommen war, war ihre Mutter immer noch
nicht zu Hause. Trotzdem schoss sie sicherheitshalber die Tür
ihres Kinderzimmers hinter sich ab.
Ihr Zimmer war ziemlich klein. Sie hatte ein Etagenbett, unter
dem sich ein Kleiderschrank befand. Außerdem gab es dort
noch einen Schreibtisch, der vorm Fenster stand und an der
Wand ein kleines Bücherbord. Das war dann aber auch schon
alles. Und trotzdem blieb ihr kaum Platz zum Spielen.
Nun aber stellte sie die Pyramide auf dem Schreibtisch ab. Sie
steckte in jeden der sechs Kerzenhalter eine Kerze und zündete
mit einem Streichholz alle Dochte der Reihe nach an. Schon
setzte sich der Propeller in Gang und mit ihm drehten sich die
beiden Ebenen und ihre Figuren: auf der oberen Ebene drei
Engel, auf der unteren drei Hirten und zwei Schafe. Nachdem
Anna auch noch das Licht ausgeknipst hatte, wurde es richtig
unheimlich im Zimmer, wie das Bett, der Schrank, das Regal
und die Zimmerwände nur noch von dem schwachem Schein
der Kerzen angestrahlt wurden. Sie sah nach oben. Es sah aus,
als jagten sich die Geister des Lichts und die Geister des
Schattens gegenseitig über ihre Zimmerdecke. Sie rannten im
Kreis, wichen voreinander zurück, aber keine Seite schaffte es,
die andere zu besiegen.
Ach, was war das schön, so ruhig und entspannend. Sie mochte
es lieber ein wenig gruselig, als von riesigen, protzigen
Lichterketten angestrahlt zu werden. Viele Minuten saß sie nur
da und genoss das einzigartige Schauspiel, blickte in den
Schein der Kerzen, wie die Steinzeitmenschen vor Tausenden
von Jahren stundenlang ins Lagerfeuer geschaut hatten.
Langsam aber wurde sie müde. Ihre Augenschlitze wurden
enger und sie fiel in einen Trance, in dem sie alles andere um
sich herum vergaß.
Plötzlich aber schreckte sie hoch!
Etwas Seltsames war geschehen. Sie ließ sich in die Stuhllehne
zurückfallen und sah sich die Pyramide noch einmal aus der
Ferne an, stellte aber fest, dass alles genauso aussah wie
immer. Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass
einer der Hirten leicht mit dem Kopf genickt hatte. Es war
keine besonders große, sondern nur eine winzig kleine
beiläufige Bewegung gewesen, die sie nur am Rande bemerkt
hatte. Aber nun, als sie ein wenig genauer hinschaute, war
davon absolut nichts mehr zu sehen.
„Vielleicht habe ich mich ja doch getäuscht“, murmelte sie.
Sie vergaß, was sie gesehen hatte und blickte wieder stumm
und starr in das Kerzenlicht. Die Müdigkeit breitete sich immer
weiter in ihr aus. Sie merkte, dass es nicht mehr lange dauern
würde, bis sie…
Sie schreckte auf!
Was war das?
Wieder hatte sie das Gefühl, mit der Pyramide sei etwas
passiert. Da hatte einer der Engel doch tatsächlich mit dem
Flügel geschlagen und war sogar ein klein wenig in die Höhe
geflogen. Und auch das Muster an der Decke war nicht mehr
das Gleiche. Es war kaum noch zu sehen, da der Raum
oberhalb der Kerzen erfüllt war von bunten, leuchtenden
Farben, die aufgeregt umherschwirrten.
Aber auch diesmal war es nur ein sehr kurzer Eindruck, der
verschwand, sobald sie genauer hinsah.
Trotzdem wurde ihr die Sache langsam unheimlich.
Irgendetwas schien hier zu passieren! Mit der Pyramide war
etwas nicht in Ordnung, obwohl sie genau wusste, dass das
alles völlig absurd war und überhaupt nicht sein konnte. Sie
beugte sich vor, um das Ganze etwas genauer zu untersuchen.
Sie hielt den Propeller fest, dass die Ebenen zum Stillstand
kamen und fuhr mit dem Finger über all die hölzernen Figuren,
auch über den Engel, der gerade noch mit dem Flügel
geschlagen hatte. Aber nichts geschah, in den kleinen
Holzfiguren war nicht der geringste Hauch von Leben. Sie zog
ihren Finger wieder zurück und ließ dem Propeller freien Lauf.
Eigentlich sollte ich damit aufhören, dachte sie.
Es war einfach alles zu verrückt, um sich noch weiter damit zu
beschäftigen. Sie sollte die Weihnachtspyramide lieber wieder
verstecken, bevor die Mutter zurückkam. Als sie aufstand
blickte sie ein letztes Mal in das Gesicht des Engels, aber es
blieb völlig starr und leblos.
Dann holte sie tief Luft um die Kerzen auszublasen… Und
genau in diesem Moment hörte sie plötzlich ein Geräusch!
Es war nicht besonders laut. Wäre es im Zimmer nicht so still
gewesen, hätte sie es wahrscheinlich gar nicht gehört, aber da
war tatsächlich der Laut eines Tieres gewesen, genauer gesagt,
das Blöken eines Schafes. Vor lauter Schreck verschluckte sie
sich an der eigenen Puste. Sie fing an zu husten, stieß dabei
gegen den Stuhl, verlor das Gleichgewicht und dann fielen sie
beide, Anna und der Stuhl, hintenüber und landeten auf dem
Pappkarton.
„Au!“ schrie sie, als sie sich den Hinterkopf an der Tür stieß.
Auch ihr Rücken, mit dem sie direkt an eine Kante des Stuhls
gestoßen war, tat weh. Einige Sekunden lang ließ sie ihren
Tränen freien Lauf. Aber die Überraschung über das, was
gerade geschehen war, war größer als der Schmerz.
Was war das? Wie konnte es sein, dass im 3. Stock eines
Mietshauses mitten in der Großstadt plötzlich ein Schaf blökte?
Sofort fiel ihr Blick zur Pyramide, die sich weiterdrehte wie
bisher und mit ihr die beiden Schafe der Hirten.
Das konnte kein Zufall mehr sein! Ein drittes Mal hatte sie sich
sicher nicht geirrt! Die Figuren schienen tatsächlich lebendig
zu werden. Anna war so verblüfft, dass sie eine gute Weile nur
dasaß und nicht mehr wagte sich zu bewegen oder etwas zu
sagen.
Doch dann kam plötzlich Leben in sie!
Sie sprang auf. Mit einem Riesenschritt schritt sie auf den
Schreibtisch zu, griff nach dem Band des Rollos und zog es mit
wenigen, kräftigen Zügen hoch. Ständig sah sie sich
angsterfüllt zur Pyramide um. Was war, wenn die Engel
plötzlich auf sie zugeflogen kamen und sie hinterrücks
überfielen?
Als das Rollo oben war, griff sie nach dem Fenstergriff und riss
das Fenster mit einem Ruck auf. Es gab ein großes Geschepper,
als ihre Blumentöpfe von der Fensterbank herunterpurzelten
und zu Boden fielen. Beinahe hätte sie auch noch die Pyramide
mit umgerissen. Für eine kurze Zeit stockte Anna der Atem,
aber sie beruhigte sich schnell wieder. Sie hatte jetzt wichtigere
Dinge zu tun.
Hastig ergriff sie die Weihnachtspyramide, obwohl es ihr davor
gruselte, sie zu berühren. In Windeseile hob sie sie in die Höhe
und warf sie in hohem Bogen aus dem Fenster hinaus.
Nicht eine Sekunde länger wollte sie mit diesem unheimlichen
Ding in einem Raum sein! Sie knallte das Fenster zu, stellte
ihren Stuhl wieder auf und setzte sich unruhig hin. Sie knetete
ihre Hände, die vor Aufregung nur so zitterten, die Gedanken
schossen ihr durch den Kopf.
Ihre Mutter hatte Recht gehabt. Man hätte die Pyramide sofort
wegschmeißen sollen. Sie bereute nun, dass sie sie gegen ihren
Willen aufgehoben hatte, aber damals hatte sie ja nicht wissen
können, dass die Figuren lebten. Sie stellte sich vor, sie wären
mitten in der Nacht zum Leben erwacht und hätten in ihrem
Zimmer herumgespukt. Ein kalter Schauer lief ihr über den
Rücken.
Nach einer Weile kehrte die Ruhe in ihren Körper zurück.
Ohne den Schein der Kerzen war es im Zimmer fast völlig
dunkel und sie knipste das Licht wieder an. Da fiel ihr Blick
unter den Tisch und sie sah, was sie angerichtet hatte. Einer der
beiden Blumentöpfe war völlig zerbrochen und überall hatte
sich dunkle Blumenerde ausgebreitet. Sie stellte den heilen
Topf auf die Fensterbank zurück und bückte sich, um die
Scherben des Anderen aufzusammeln. Da erstarrte sie
abermals.
Was das auf einmal für ein seltsames Rauschen?
Es schien von draußen zu kommen. Sie schreckte hoch und
stieß sich den Kopf an der Tischplatte.
„Aua!“
Dieser Tag war einfach zu viel für sie. Alles in ihrem Kopf
schien hin- und herzuschwanken. Langsam krabbelte sie unter
dem Tisch hervor, stand auf und sah zum Fenster hinaus, wo
langsam, aber sicher etwas Helles auftauchte, das sie jedoch
kaum erkennen konnte. Sie ging zur Tür zurück, stellte das
Licht wieder aus und als sie dann abermals hinausblickte, sah
sie es ganz deutlich vor sich.