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Kulte, Mythen, Theologien

Kulte, Mythen, Theologien


Hubert Canciks gesammelte Religionsgeschichten
Stefan Rebenich

Lange Zeit war die Geschichte der römischen Religion ein Stiefkind der neueren
Altertumsforschung. Während seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Jean-Pierre
Vernant in Frankreich und Walter Burkert in der Schweiz einen Paradigmenwechsel in der
Erforschung der Geschichte der griechischen Religion einleiteten, war auf dem Gebiet der
römischen Religion nach wie vor Georg Wissowas antiquarischer Positivismus höchst einflussreich.

Synthetische Religion

Dass sich die Zeiten auch in der deutschsprachigen Forschung inzwischen glücklicherweise
geändert haben, ist nicht das geringste Verdienst des klassischen Philologen Hubert Cancik, der bis
zu seiner Emeritierung im Jahre 2003 an der Universität Tübingen lehrte und über vier Jahrzehnte
hinweg aus kulturwissenschaftlicher Perspektive die Geschichte der römischen Religion erforscht
hat. Er fahndete nicht mehr nach dem spezifisch «Römischen» an dieser Religion; ihn trieb
vielmehr um, die römische Religion als eine «synthetische Religion» verstehbar zu machen, die
schon von ihrem Ursprung her unterschiedliche Traditionen und Praktiken integrierte und folglich
nur als Teil einer europäischen Religionsgeschichte erforscht werden kann.

Der Gegenstand von Canciks Interesse ist nicht ethnisch oder national, sondern vielmehr
topografisch und historisch definiert: Römische Religion ist ein Ensemble von Kulten, Mythen und
Theologien, die in den Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende zunächst in der Stadt Rom und
dann im römischen Kaiserreich nachgewiesen werden können.

Interdisziplinäres Gespräch

Hubert Canciks einschlägige Aufsätze liegen jetzt in zwei Bänden vor, die die programmatischen
Titel «Römische Religion im Kontext» und «Religionsgeschichten» tragen. Philologische
Genauigkeit, stupende Quellenkenntnis und intellektuelle Präzision zeichnen die Beiträge aus, die
sämtlich durch glasklare Gliederungen und stringente Argumentationen bestechen.
Zusammenfassungen bringen die Ausführungen auf den Punkt, Fragen bezeichnen Lücken unseres
Wissens und benennen Desiderate der Forschung.

Den Reigen eröffnet eine «Skizze» zur «Römischen Religion», die im Jahr 1994 für ein
italienisches Handbuch verfasst wurde und jetzt zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt:
Sie gehört zu den besten Einführungen in das Thema. Andere Ausführungen widmen sich der
römischen Religion als System und Praxis, den literarischen, philosophischen und sozialen
Kontexten dieser Religion, der antiken Religionsgeschichtsschreibung, den komplexen
Interaktionen der römischen mit der griechischen, der jüdischen und der christlichen Religion, der
Genese eines multireligiösen Systems in der römischen Kaiserzeit («Reichsreligion») und
schliesslich der Transformation der römischen Religion im Zuge der Christianisierung des
Imperium Romanum.

Hubert Cancik bringt seine klassisch-philologische Kompetenz in ein vielstimmiges,


interdisziplinäres Gespräch ein und vermag den Graben zwischen einer der historisch-kritischen
Methode verpflichteten altertumswissenschaftlichen Religionsgeschichte und einer theoretisch
anspruchsvollen Kultur- und Religionswissenschaft zu überbrücken.

Hubert Cancik: Römische Religion im Kontext. Kulturelle Bedingungen religiöser Diskurse.


Gesammelte Aufsätze I. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2008. 484 S., Fr. 201.–. Ders.:
Religionsgeschichten. Römer, Juden und Christen im römischen Reich. Gesammelte Aufsätze II.
Ebd. 2008. 406 S., Fr. 184.–.
29. Oktober 2008, Neue Zürcher Zeitung

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