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Interview mit Werber Amir Kassaei - "Wir haben zu viel heiß... http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/2.220/interview-mit-w...

Wirtschaft

Interview mit Werber Amir Kassaei

"Wir haben zu viel heiße Luft


verkauft"
20.09.2010, 12:10

Interview: Angelika Slavik


Er gilt als Enfant terrible der Marketingbranche: Amir Kassaei
über den Untergang der Werbung, seine Forderung nach
Kreativen in Unternehmensvorständen - und seine
Erfahrungen als Kindersoldat.

Wo er ist, gibt's Krach: Seit Januar ist Amir Kassaei der beste
Kreative der Welt, findet zumindest die New Yorker Branchenbibel
The Big Won - und der gebürtige Iraner ist nicht der Typ, der sich
gegen diese Bezeichnung wehren würde. Mit seiner Werbeagentur
DDB betreut er Kunden wie Volkswagen, McDonald's oder Reebok.
Radikal in Ansichten und Sprache mutet Kassaei seinen Kollegen
einiges zu: Nicht die Banker, die Werber seien schuld an der Krise,
sagt er. Denn die hätten zum sinnlosen Konsum angestiftet. Zum
Gespräch in einem Münchner Innenstadt-Café chauffiert ihn ein
Freund: Auto fahren kann Kassaei nicht.

Amir Kassaei: "Ob ich eitel bin? Da haben Sie recht. Wer ist denn nicht eitel?" (© DDB)

SZ: Herr Kassaei, Volkswagen ist der vielleicht wichtigste Kunde


Ihrer Werbeagentur DDB - sollten Sie da nicht wenigstens einen
Führerschein haben?

Amir Kassaei: Als ich jung war, hatte ich kein Geld dafür, später

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hatte ich keine Zeit. Aber wenn man genügend Vorstellungskraft


hat, dann ist das kein Problem. Das funktioniert. Ziemlich gut sogar.

SZ: Weil es beim Verkaufen ohnehin nur auf die richtige


Verpackung ankommt?

Kassaei: Früher war das so, aber das ist vorbei. Durch die
Digitalisierung wissen die Menschen heute viel mehr als früher über
die Produkte, die ihnen angeboten werden. Man kann die Kunden
heute nicht mehr verarschen. Ein schlechtes Produkt hat es heute
viel schwerer, einen Markt zu finden. Und das ist auch gut so.

SZ: Aus Sicht des Werbers müssten Sie das doch eigentlich
schlecht finden.

Kassaei: Nein, denn das System funktioniert nicht mehr, wie die
aktuelle Wirtschaftskrise zeigt. Wir schimpfen immer alle auf die
Banker, aber die Wahrheit ist: Die Marketing-Leute haben die viel
größere Verantwortung. Denn die Wurzel dieser Krise liegt ja
eigentlich im Konsum: Wer hat denn jahrelang den Amerikanern
erzählt, dass sie sich über Konsum definieren sollen? Genau, wir
waren es. Also sind wir mindestens mitschuldig, nicht nur Lehman
Brothers oder Goldman Sachs.

SZ: Sie wirken nicht, als hätten Sie ein schlechtes Gewissen.

Kassaei: Nein, aber darum geht es auch gar nicht. Ein Grund
dafür, dass das System nicht funktioniert, ist, dass wir zu viel heiße
Luft verkauft haben. Die meisten Unternehmen haben aufgehört,
langfristig über sinnvolle Dinge nachzudenken, weil sie dachten,
man kann ohnehin jeden Blödsinn durch das richtige Marketing
verkaufen.

SZ: Und das ändert sich jetzt?

Kassaei: Das muss sich ändern. Unternehmen, die das nicht


kapieren, werden untergehen - egal, wie groß oder wichtig sie jetzt
noch erscheinen mögen. In der Krise haben viele Menschen
angefangen darüber nachzudenken, was sie eigentlich wirklich
wollen, was sie brauchen und was ihnen wirklich wichtig ist. Diese
Bewegung hat erst begonnen, aber sie wird stärker, das ist
unausweichlich. Es geht nicht mehr darum, möglichst viel von allem

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zu besitzen. Es geht darum, die Dinge zu haben, die einem das


Leben tatsächlich leichter, besser oder effizienter machen. Man
könnte auch sagen: Die Leute haben keinen Bock mehr auf
Schrott, und wenn er von der Werbung noch so hübsch verpackt
ist.

SZ: Macht das die Werbeagenturen dann nicht überflüssig?

Kassaei: Natürlich, Werbung im klassischen Sinn ist eine


sterbende Branche. Deswegen müssen die Kreativen ein neues
Selbstverständnis entwickeln, sie müssen den Firmen ein viel
breiteres Spektrum an Beratung anbieten, als Unternehmer denken
und Kreativität ganz anders leben. Wir müssen die Stärken von
Firmen wie McKinsey mit dem Talent der Kreativen verbinden, um
echte Innovationen zu produzieren.

SZ: Mit diesen Ideen haben Sie sich bei Ihren Kollegen nicht
unbedingt beliebt gemacht.

Kassaei: Das wollen die nicht hören, das ist mir schon klar. Aber
die Wahrheit ist: Wer sich nicht verändern will, wird untergehen.
Unternehmen müssen auf Herausforderungen reagieren, die nicht
immer im Bereich von Marketing und Kommunikation zu lösen sind.
Die man substantieller angehen muss. Wenn man aber als Werber
abgestempelt ist, dann sitzt man meist gar nicht mit am Tisch, wo
diese Dinge entschieden werden. Dabei bräuchte man genau dann
kreative Köpfe. Deshalb müssen die Kreativen ihr
Selbstverständnis verändern.

SZ: Inwiefern?

Kassaei: Sie müssen ihre Kompetenzen verbreitern. Die Vorstände


von Konzernen werden dich nur ernst nehmen, wenn du mit ihnen
auf Augenhöhe diskutieren kannst. Kreativ talentiert zu sein, reicht
also nicht mehr. Man muss künftig auch wirklich Ahnung haben.
(Lacht.) Das bedeutet natürlich eine Menge Arbeit für die Branche,
und darauf haben nicht wirklich alle Lust.

"Ich habe am Bahnhof die Klos geputzt"


SZ: Manche sagen, es ginge Ihnen gar nicht um die Sache. Die
Rolle als Enfant terrible der Werbebranche gefällt Ihnen schon,

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oder?

Kassaei: Fragen Sie mich, ob ich eitel bin? Da haben Sie recht.
Wer ist denn nicht eitel? Aber das ist nicht der Punkt. Wenn man
etwas verändern will, muss man konsequent sein. Aber bei
Veränderungen haben die meisten Angst, aus der Angst heraus
entsteht Unverständnis und aus diesem Unverständnis heraus
entstehen Vorurteile. Deswegen habe ich bei manchen vielleicht
einen schlechten Ruf. Aber es stimmt schon, ich bin natürlich auch
nicht der geborene Diplomat.

SZ: Das ist noch milde ausgedrückt.

Kassaei: Ich habe aufgrund meiner Lebensgeschichte eine ganz


andere Einstellung und Perspektive als die meisten. Das fängt
schon damit an, dass ich es mir schon in sehr jungen Jahren im
wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten konnte, mir selbst oder
anderen etwas vorzumachen. Das prägt.

SZ: Sie waren mal Kindersoldat.

Kassaei: Im Ersten Golfkrieg (Iran-Irak-Krieg; Anm. d. Red.), das


stimmt. Ich war dreizehn damals. Nach zwei Jahren bin ich über die
türkische Grenze nach Österreich geflüchtet.

SZ: Ganz allein?

Kassaei: Ganz allein. Irgendwann stand ich mitten in Wien, als


Fünfzehnjähriger, ohne Geld und ohne ein Wort Deutsch zu
sprechen. Da ist keine Zeit für Bullshit-Bingo. Da kann man dann
nicht jammern, man ist damit beschäftigt, irgendwie zu überleben.
Ich habe die Sprache gelernt, bin zur Schule gegangen und habe
nebenher jeden denkbaren Job gemacht, den man in Wien machen
kann.

SZ: Zum Beispiel?

Kassaei: Ich habe Schnee geräumt, am Bahnhof die Klos geputzt.


Alles, was irgendwie Geld gebracht hat. Das war hart, aber im
Nachhinein die beste Schule. Das hat mich souverän gemacht.

SZ: Souverän?

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Kassaei: Ich bin nicht korrumpierbar. Viele Leute werden


irgendwann Bewahrer und Verteidiger des Alten. Weil sie denken,
dass das, was sie aufgebaut haben, das Wichtigste ist, und weil sie
Angst haben, es wieder zu verlieren. Ich aber weiß, dass ich meine
Familie jederzeit auch anders durchbringen könnte. Ich brauche
kein Segelboot und keine Designeranzüge. Alles, was ich seit
meinem 15. Lebensjahr erlebe, ist die Kür. Ich sollte eigentlich gar
nicht mehr da sein. Mit diesem Wissen geht man anders durchs
Leben, souveräner eben.

SZ: Wie war Ihr Kontakt zur Familie damals?

Kassaei: Lange nur telefonisch. Als ich meine Familie das erste
Mal wiedergesehen habe, war ich schon 25, da haben sie mich in
Wien besucht. Heute ist es immer noch schwierig, die Reise ist für
meine Eltern langsam ziemlich anstrengend und ich kann ja nicht
runterfahren. Ich darf nicht einreisen.

SZ: Sie können nie mehr zurück?

Kassaei: Solange die politischen Verhältnisse so sind, nein. Ich bin


ein Deserteur. Das wäre wirklich keine gute Idee.

SZ: Vermissen Sie Teheran manchmal?

Kassaei: Heimat zu konservieren ist nichts für mich. Ich rotte mich
auch nicht zusammen mit anderen Iranern, wie andere das
machen. Integration ist meiner Meinung nach Bringschuld und nicht
Holschuld. Ich habe keine Heimatgefühle für den Iran. Wenn ich
mich festlegen müsste, würde ich sagen: Ich fühle mich als
Österreicher. Aber wenn sich die Dinge ändern, wer weiß? Man
sagt, je älter man wird, desto größer wird die Sehnsucht nach den
Wurzeln.

"Im Privatjet begreife ich das Leben nicht"


SZ: Sie haben kürzlich ein neues Unternehmen gegründet, Hubble
Innovations. So wenig Vertrauen in die Werbebranche, dass Sie
schon an Alternativen basteln?

Kassaei: In zehn Jahren werde ich wahrscheinlich nicht mehr in


der Werbung arbeiten, zumindest nicht in der Werbung in ihrer
derzeitigen Form. Hubble Innovations ist eher ein Think-Tank. Wir

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produzieren Innovationen, die das Leben der Menschen einfacher,


besser und effizienter machen. Wir haben keine Kunden, sondern
Partner. Wir können aus dem Wissen über Märkte, Technologien
und Menschen andere Schlüsse ziehen als Unternehmen selbst
und kommen zu ganz anderen Konzepten. Das Beste aus der Welt
der Unternehmensberatung mit multidisziplinärer Kreativität.

SZ: Aber wollen die Unternehmen wirklich von ihren Werbeleuten


gute Ratschläge, wie sie ihr Geschäft führen sollen?

Kassaei: Wenn wir den Anspruch haben, auch ein Unternehmen


und seine Herausforderung zur Gänze zu verstehen, dann ja. Bei
Reebok etwa bin ich auch für die Kommunikation verantwortlich.
Aber mit Hubble beraten wir das Unternehmen von der
Produktentwicklung bis hin zum Vertrieb. Meiner Erfahrung nach
sind Unternehmenslenker viel eher bereit, innovative Wege zu
gehen, als ihr Stab es einem weismachen will.

SZ: Tatsächlich?

Kassaei: Werbeagenturen sind üblicherweise nicht so irre, den Ast


abzusägen, auf dem sie sitzen, und ihren Kunden zu sagen: Die
Kommunikation, die wir machen, hat keinen Mehrwert. Dabei
wollen die Unternehmen das sogar. Vorstandsvorsitzende sind
immer von Jasagern umgeben, die begrüßen das, wenn ihnen mal
einer sagt, was er wirklich denkt. Es ist doch so: Wenn ich immer
im Heck einer Limousine oder im Privatjet sitze, kann ich doch das
wahre Leben nicht begreifen. Wie soll ich dann Produkte
entwickeln, die die wahren Bedürfnisse von Menschen befriedigen
und einen nachvollziehbaren Mehrwert haben? Das geht doch gar
nicht. Man sollte mal eine Umfrage machen, wie viele
Dax-Vorstände regelmäßig mit der Straßenbahn fahren oder im
Supermarkt einkaufen. Das würde mich interessieren.

SZ: Sie gehen selbst in den Supermarkt?

Kassaei: Natürlich. Viele Menschen in Spitzenpositionen laufen


Gefahr, in einer Scheinwelt zu leben, weil das so ein eigener
Kosmos ist. Mit meinem Hintergrund bin ich da sicher weniger
gefährdet. Wenn man das normale Leben kennt, zieht man auch für
seine Arbeit die richtigen Schlüsse. Ob man Werbung macht oder

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Unternehmen dabei hilft, Innovationen zu produzieren. Ich weiß,


wie es ist, auf 20 Quadratmetern zu leben, und das ist wichtig.

SZ: Und wie viele Quadratmeter hat Ihre Wohnung heute?

Kassaei: (lacht) Viel zu viele. Ich hab die Wohnung selbst


ausgebaut, mit ein paar Kumpels. Wir haben für ganz wenig Geld
eine Rohbaustelle gekauft und zweieinhalb Jahre gewerkelt. Aber
ich könnte jederzeit auch wieder in eine 20 Quadratmeter-Wohnung
ziehen, das wäre kein Problem für mich. Diese innere Freiheit
haben nicht viele Menschen in meiner Position. Es ist immer noch
alles besser, als Klos am Bahnhof zu putzen, oder sich eine Woche
lang von zehn Scheiben Extrawurst zu ernähren. Oder mit 13
zuzusehen, wie zehn Meter weiter der beste Freund in einem
Minenfeld zerfetzt wird.

SZ: Haben Sie damals auch jemanden erschossen?

Kassaei: Ja, mehrere.

SZ: Beschäftigt Sie das heute noch?

Kassaei: Ich habe nachts Albträume, und das wird auch immer so
sein. Es wird im Laufe der Zeit weniger. Aber als ich vor fünf Jahren
zum ersten Mal in Dubai war, das ist nur ein paar Kilometer südlich
von der Frontlinie, an der ich damals gekämpft hatte, da wollte ich
nur mal kurz raus aus dem Flughafengebäude, um eine Zigarette
zu rauchen. Aber als ich durch diese Tür trat, war da plötzlich
wieder diese ganz spezielle Luft, die gleiche Luft wie damals. Da
kam plötzlich alles wieder hoch, all diese Bilder. Das war heftig,
richtig heftig. Eigentlich gibt es kein Wort, das dieser Erfahrung
gerecht wird.

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Quelle: (SZ vom 20.09.2010/bbr)

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