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Hans Sachs: „Klag der wilden holtzleut uber die ungetrewen welt“ (1590)

Ach Gott, wie verkommen ist die ganze Welt!

Wie sehr liegt die Schändlichkeit ausgebreitet!

Wie schlimm ist die Gerechtigkeit als Geisel genommen („gefangen“)!

Wie sehr schwelgt die Ungerechtigkeit!

Welch Ansehen genießt der Wucherer!

Wie schwer kann [ehrliche] Arbeit sich ernähren!

Wie hochangesehen [„edel“] ist „gemeines“ Einkommen!

Wie füllt der Eigennutz seine Scheune!

Wie nimmt die Geldwirtschaft überhand!

Wie spitzfindig ist die Betrügerei!

Wie schamlos geht Unrecht als Recht durch!

Wie sehr wird die Wahrheit verschmäht!

Wie wird die Unschuld mit Füßen getreten! 15

Wie wenig wird das Laster ausgemerzt!

Wie leicht/schlecht wiegt man des Menschen Blut! ??

Wie sehr doch hält man keine Bestrafung für rechtmäßig/gut!

Welch große Pracht führt der Reichtum!

Wie gänzlich ist Armut verachtet! 20

Wie steht die Weisheit im Abseits!

Wie drängt der Reichtum mit Gewalt hervor!

Wie schwach ist die Barmherzigkeit!

Wie weit kommt man mit Lügen!

Mit welch Schrecken/Gewalt regiert der Neid [die Feindschaft]! 25

Wie sehr ist die Nächstenliebe erkaltet!

Wie ist die Treue erloschen!

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Wie ist die Demut so völlig verschwunden! ----------------------------------------------------------------------------


[1]
Wie viele Wunden hat der Glaube bekommen!

Wie ganz und ganz ist die Geduld verschwunden

Wie ist die Frömmigkeit gänzlich erblasst/ausgestorben!

Wie ganz und gar ist die Unschuld verdorben!

Alle Freundschaft ist tot!

Wie stark ist die Wollust des Leibes!

Wie groß + prächtig zeigt sich der Hoffart [Hochmut]!

Wie stark herrscht Schmeichelei vor! 10

Wie sehr findet man Verleumdung/üble Nachrede überall vor!

Wie gern hört man neue Kunde herantragen! [= Sensationslust]

Wie sehr herrscht allerorten Betrug vor!

Wie ganz und gar unedel ist die Kunst!

Wie groß ist die Torheit auf der Welt! [„Unvernunft“] 15

Wie selten findet man noch Mäßigung!

Wie oft ist nun von Völlerei die Rede!

Wie arg muss der Friedsame stillsitzen!

Wie angesehen sind Mord und Kriegsführung!

Wie groß ist die Selbstverehrung! 20

Wie bodenlos ist der Geiz!

Wie eigennützig ist das Spiel!

Wie feindselig finden Räubereien statt!

Wie stark ist der Diebstahl [verbreitet]!

Wie hängt die Hinterlist stets in der Luft! 25

Wie ist die Gotteslästerung üblich geworden!

Wie gering wird der Meineid geahndet!

Wie gar der Ehebruch keine Schande mehr ist!

Wie ist der Klerus der Fleischeslust verfallen!

Wie blind ist die Heuchelei! 30


[2]
Wie wütet die Tyrannei!

Wie ungezogen ist die Jugend!

Wie sehr lebt auch das Alter ohne Tugend!

Wie schamlos benehmen sich die Weibsbilder!

Wie ist jeder Mensch so wild!

Wie ehrlos ist die Gesellschaft!

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Wie gehässig ist die Nachbarschaft untereinander!

Wie ohne Maßen ist die Wirtschaft!

Wie abgestumpft ist der Menschen Gewissen!

Wie ist das Unglück hereingebrochen!

Wie töricht/von Sinnen ist die Christenheit!

Wie seltsam ist der hohe Klerus! [o. sind die Sakramente]

Wie wenig befolgt man Gottes Gebote!

Wie wenig bereit ist man zum Sterben!

Wie wenig hat man den Blick auf Ewiges gerichtet!

Wie sehr trachtet man nach weltlichen Dingen! 10

Wie unwürdig man Gottes Wort lauscht!

Wie wenig lebt man denn auch danach!

Wie sehr ist alles verbittert!

Mit Betrug und Bosheit überkleidet!

In Kürze zusammengefasst: 15

Was in der Welt schlicht und fromm ist,

muss von der Welt verfolgt [und zu Grunde gerichtet] werden;

was aber verschlagen ist auf dieser Erde,

niederträchtig und betrügerisch allenthalben,


[3]
das heißt die Welt einen geschäftstüchtigen Mann. ---------------------------- 20

Seitdem die Welt nun so verdorben ist,

mit Ehrlosigkeit und Betrug völlig überzogen,

so sind wir daraus ausgestiegen,

hausen nun im wilden Wald

mit unseren „unerzogenen“ Kindern, 25

auf/so dass uns die schlechte Welt nicht finden möge,

während wir uns von wilden Früchten ernähren,

von den Wurzeln aus der Erde leben

und klares Wasser trinken.

Die helle Sonne wärmt uns. 30

___, Laub und Gras sind unser Gewand;

davon haben wir auch Bett und Decke.

Eine Höhle aus Stein ist unser Haus.

Aus der vertreibt niemand einen anderen.

Unser Beisammen- und Vergnügtsein 35

Findet im Gehölz mit den wilden Tieren statt.

So wie wir denen nichts tun,

so lassen sie auch uns in Frieden gehen,

während wir also in der Einöde sind,

gebären Kind und Kindeskind

und leben einig und brüderlich.

Kein Streit tritt bei uns auf.

Ein jedes [Kind] verhält sich seiner Neigung nach,

so wie es ihm von jenem [=Gott] zugewiesen wurde. 5

Wir kümmern uns um keine weltlichen Angelegenheiten;

wir finden jeden Morgen etwas zu Essen [„unsere Speise“],

davon nehmen wir gerade so viel wie wir zum Leben brauchen und nicht mehr,
[4]
und sagen Gott dafür Lob und Preis.

Wird uns Krankheit oder Tod zu Teil, 10

wissen wir, dass es uns von Gott zukommt,

der alle Dinge am besten tut. ---------------------------------------------------------------------------------

Daher vertreiben wir hier bescheiden/arglos unsere Zeit,

bis sich eine Änderung [Besserung] einstellt

überall in der weiten Welt,

dass jedermann treu und fromm werde,

dass in der Stadt Schlichtheit und Bescheidenheit herrsche,

dann wollen wir aus dem Wald wieder zurückkehren

und bei den Menschen wohnen.

Wir haben viele Jahre hier darauf gewartet,

dass Tugend und Redlichkeit emporwächst.

Dass dies bald geschehe, das wünscht uns Hans Sachs.

[5]

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