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45.

Jahrestagung GDM 2011


Pädagogische Hochschule Freiburg
21.-25.02.2011

Vektoren sind wie Zahlen – nur ganz anders

Eine didaktisch orientierte Sachanalyse zum


Vektor- (und Matrizen-)begriff in der Oberstufe

Andreas Vohns
Untersuchungsfragen

- Welcher Art ist das Verstehen, das angestrebt bzw.


vorausgesetzt wird, wenn Vektoren (und Matrizen) als
arithmetisch-algebraische Objekte (mit ggf. flexibler
geometrischer Deutung) aufgefasst werden (sollen)?

- Welche (impliziten oder expliziten) Kohärenzannahmen liegen


dieser Auffassung zu Grunde?

- Welche Differenzerfahrungen erscheinen diskussions- und


reflexionsbedürftig (fachdidaktisch/ im Unterricht)?

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Verstehen und Verständnisse

- Verstehen ist ein Akt subjektiver Sinn- und Wissenskonstruktion, der


als autonome geistige Aktivität der Lernenden durch die Lehrenden
direkt weder erzwingbar noch manipulierbar ist.
- Im Unterricht können Lehrende lediglich versuchen im Rahmen einer
kommunikativen Validierung über fachliche
Bedeutungsvorstellungen einen Konsens mit den Lernenden
herzustellen.
- Die Grundlage solcher kommunikativen Validierungen bilden
Verstehensprodukte („Verständnisse“).
- Verstehen als Prozess ist ohne Rückgriff auf bereits vorhandene oder
verfügbare Verstehensprodukte nicht möglich.

(Maier 1995)

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Orientierung an mathematischen Vorstellungen / Ideen
Mathematische Ideen / Vorstellungen sollen zum Nachdenken über
schulmathematische Gegenstände einladen, sie sollen helfen, diese besser oder
anders oder überhaupt einmal zu verstehen.
Solche Vorstellungen / Ideen sollten insbesondere geeignet erscheinen,
Lehrer(innen) ebenso wie Schüler(innen) zum Nachdenken über Kohärenzen und
Differenzen anzuregen
- zwischen bereits Gelerntem (Gelehrtem) und noch zu Lernendem
(Lehrendem),
- zwischen implizit Genutztem / Geahntem und explizit Thematisiertem,
- zwischen alltäglichen und mathematischen Denk- und Handlungsweisen.

(Vohns 2010)

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Kohärenzen und Differenzen: Zahlen und Vektoren

Kohärenzangebote:
- „Vektoren sind ‚neue Zahlen‘ (‚höherdimensionale‘). Sie können als Punkte oder Pfeile
gedeutet werden, wobei auch ihre Rechenoperationen mehrfache Deutungen
erfahren.“ (Bürger/ Fischer/ Malle/ Reichel 1980)
- „Das Rechnen mit (…) arithmetischen Vektoren kann man als ein Rechnen mit
‚verallgemeinerten Zahlen‘ verstehen. Auch die geometrische Interpretation weist
Analogien zu den Zahlen auf.“ (Tietze/ Klika/ Wolpers 2000)
- „Manche Sachverhalte lassen sich durch einzelne Zahlen nicht angemessen
beschreiben, man braucht vielmehr ganze Listen von Zahlen, die man in Zeilen,
Spalten oder auch in rechteckigen Zahlenschemata [Matrizen und Vektoren]
anordnet.
Wie wir sehen werden, kann man mit Matrizen [und Vektoren] aber nicht nur viele
mathematische und außermathematische Sachverhalte darstellen, sondern man
kann mit ihnen auch rechnen.“ (Kronfellner/ Peschek 1995)

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Kohärenzen und Differenzen: Zahlen und Vektoren

Diskussions- und reflexionsbedürftige Differenzerlebnisse:

- Schon beim Übergang zwischen verschiedenen Zahlbereichen


„bleibt alles anders“ (Grönemeyer 1998); werden ebenso gut
Diskontinuitäten erlebt, wie Kontinuität erfahren wird
(vgl. Hefendehl-Hebeker 2006, Hefendehl-Hebeker/ Prediger 2006)
- „Wir nennen als diese Gegenstände Zahlen, weil wir das Gemeinsame sehen,
nämlich dass sich die Operationen Addition und Multiplikation so einführen
lassen, dass gleichartige Rechengesetze gelten.
Aber diese Operationen (Addition und Multiplikation) müssen doch für die
drei Arten von Dingen (natürliche Zahlen, Brüche, irrationale Zahlen) recht
verschieden eingeführt und definiert werden.“(Gericke 1970)
Diese Sichtweise ist (schon historisch gesehen) keinesfalls alternativlos.

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Objektvorstellungen zu Zahlen (unvollst.)

- Kardinalzahlen
-   ()
Anzahlen, Zählzahlen

- Ordinalzahlen ()
Anordnen, in eine Reihe bringen

- Maßzahlen ()
Messen

- Relationalzahlen ()
Relatives Vergleichen, Anteile, Verhältnisse

- Punkte auf der (lückenlos besetzten) Zahlengeraden ()


beliebig genaues Nähern, Kontinuierlichkeit

- Rechenzahlen ()
(gedankenloses) Operieren nach festgelegten Spielregeln

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Objektvorstellungen: Zahlen vs. Vektoren

- Vektoren
-   „erben“ über ihre Komponenten die Vielschichtigkeit/
Mehrdeutigkeit des Zahlbegriffs

- Vektoren werden als verallgemeinerte Maßzahlen konstruiert

- Vektoren werden als verallgemeinerte Relationalzahlen konstruiert

- Vektoren werden als Verallgemeinerung der „sekundären GV“ von der


(lückenlos besetzten) Zahlengerade konstruiert

- Vektoren bringen als verallgemeinerte Rechenzahlen z.T. neue Spielregeln

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Grundvorstellungen für Operationen

-  
Addition / Subtraktion
Zahlen
- Addition:
Hinzufügen, Zusammenfügen, Weiterzählen
- Subtraktion:
Wegnehmen, Vermindern, Unterschied bestimmen, Zurückzählen
- Summanden/ Minuend/ Subtrahend als Zustände oder Änderungen
- Vorstellungsumbruch negative Zahlen:
„Minus“-Zeichen erweitert seine Bedeutung (Vor-, Rechen-, Inversionszeichen)
Subtraktion ab jetzt i.P. redundant

Vektoren:
- wie bei i. P. keine neuen GV nötig
- Rechnerische Ausführung einfach (da strikt komponentenweise)

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Addition/ Subtraktion: Geometrische Vorstellungen
Zahlen:

Vektoren:

(Bürger/ Fischer/ Malle/ Reichel 1980)

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Addition/ Subtraktion: Handlungsvorstellungen
Vektoren:

(Malle et al. 2010)

„Rule of the tool“-Syndrom: Wieso fragt man nicht (auch):

c) Berechne, was Anna für Flug und Hotel zusammen ausgegeben hat!

d) Berechne, um wie viel Bea für den Flug weniger ausgegeben hat als für das Hotel!

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Grundvorstellungen für Operationen

-  
Multiplikation / Produktbildung
Zahlen
- zeitlich sukzessive Handlungen
als fortgesetztes Hinzufügen / mehrfache Addition gleicher Summanden
(falls 2. Faktor ),
Zahlen dabei z.T. in unterschiedlichen Rollen (Maßzahl und Rechenoperator,
Anzahl und Maßzahl, Rechenoperator und Rechenoperator)
- kontinuierliches Vergrößern () bzw. kontinuierliche Größenänderung
als auf erweiterbare, mit der 1. Vorstellung eng verwandte Alternative
- räumlich simultane Anordnung / Flächeninhaltsvorstellung
auf erweiterbar
Maßzahl mal Maßzahl möglich, aber i.d.R. nicht innere Multiplikation eines
Größenbereichs
- Multiplikation mit negativen Zahlen erfordern Setzung/ Permanenzargument

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Multiplikation / Produktbildung

-  
Vektoren
Multiplikation mit einem Skalar

(Malle et al. 2010)

„Rule of the tool“-Syndrom: Wieso fragt man nicht (auch):

Inzwischen sind Flüge um 10%, Hotels um 15% teurer geworden. Wie sieht der
Ausgabevektor A' heuer aus?

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Multiplikation / Produktbildung

-
Vektoren
 
Multiplikation mit einem Skalar

Vektoren Zahlen

1. Faktor Skalar () Operator

2. Faktor Vektor Maßzahl

Produkt Vektor Maßzahl

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Multiplikation (mit Skalar): Geometrische Vorstellungen

-  
Zahlen:
2 ∙ 4 = 8 oder doch 4 ∙ 2 = 8 (?)

Vektoren:

15
Multiplikation / Produktbildung
Vektoren
Skalarprodukt

(Malle et al. 2010)

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Multiplikation / Produktbildung
Vektoren
Skalarprodukt

17
Multiplikation / Produktbildung

-
Vektoren
 
Skalarprodukt

Vektoren Zahlen

1. Faktor (Anzahl-)Vektor Anzahl

2. Faktor (Maßzahl-)Vektor Maßzahl

Produkt Skalar (), Maßzahl Maßzahl

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Skalarprodukt: Geometrische Vorstellungen

-  
Vektoren:

Zahlen:

19
Multiplikation / Produktbildung
Vektoren
Skalarprodukt

(Malle et al. 2010)

„Rule of the tool“-Syndrom: Wieso fragt man nicht (auch):

3) Berechne den Vektor, der die Kosten für Nägel und Schrauben angibt!

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Multiplikation / Produktbildung

-  
Vektoren
Komponentenweise Produktbildung

Kostenvektor = Stückzahlvektor Stückpreisvektor

Diese Schreibweise ist zunächst sinnlos, weil wir noch kein Produkt von zwei Vektoren
definiert haben.

Wir definieren also:

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Skalarprodukt: Additive Struktur

-  
Ungeklärtes Problem 1:

a) Berechne, was Anna für Flug und Hotel zusammen ausgegeben hat!

b) Berechne, um wie viel Bea für den Flug weniger ausgegeben hat als für das Hotel!

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(Quadratische-)Matrix-Vektor-Produkt

-  
Wirkt zunächst auch nicht besonders intuitiv, löst aber alle bislang behandelten Probleme:

Ungeklärtes Problem 2:

Inzwischen sind Flüge um 10%, Hotels um 15% teurer geworden. Wie sieht der
Ausgabevektor A' heuer aus?

23
(Quadratische-)Matrix-Vektor-Produkt

-  
Ungeklärtes Problem 3:

Berechne den Vektor, der die Kosten für Nägel und Schrauben angibt!

Nur erste Diagonale besetzt:


Reine zeilenweise Multiplikation wird realisiert (wie in Vektorprodukt )

24
(Quadratische-)Matrix-Vektor-Produkt

-  
Ungeklärtes Problem 1:

a) Berechne, was Anna für Flug und Hotel zusammen ausgegeben hat!

b) Berechne, um wie viel Bea für den Flug weniger ausgegeben hat als für das Hotel!

Nur eine (erste) Zeile mit „(Betrags-)Einsen“ besetzt:


Addition der Komponenten wird realisiert

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(Quadratische-)Matrix-Vektor-Produkt
Neues Problem 4:

Ein Betrieb erzeugt aus zwei Bestandteilen B1,B2, zwei Zwischenprodukte Z1,Z2 und aus
diesen ein Endprodukt E. Die jeweils benötigten Bestandteile bzw. Zwischenprodukte sind
unten angegeben. Wie viele Bestandteile B1, B2 werden für ein E benötigt?
Bestandteile Zwischenprodukte Endprodukt
3
B1 Z1 4
5
E
2
8
B2 6 Z2
Z1 Z2 E E
B1 3 5 Z1 4 B1 ?
B2 2 6 Z2 8 B2 ?

 3 5 4 3 ∙ 4+5 ∙ 8
(2 6)( ) (

8
=
2∙ 4+6 ∙ 8 )
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(Q.-)Matrix-Vektor-Produkt: Geometrische Vorstellungen

-
Drehung
  Zentrische Streckung
= =

Achsenstreckung Parallelprojektion
= =

27 (Abb. nach Kirsch 1994)


Multiplikation / Produktbildung
Vektor- und Matrizenrechnung

- Die Vorstellung der Multiplikation als kontinuierliche Größenänderung /


Skalierung von Zahlen wird im Bereich der Vektor- und Matrizenrechnung
zur Vorstellung linearer Abbildungen verallgemeinert
- skalare Multiplikation: kontinuierliche Größenänderung / Skalierung
- Skalarprodukt: vergleichsweise komplexe Projektion auf die reelle
Zahlengerade
- Matrix-Vektor-Produkt: alle möglichen linearen Abbildungen (z.B.:
komponentenweise asymmetrische Skalierung)

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Weitere Kohärenzen/ Differenzen im arithmetischen Bereich

- Operationsvorstellungen
- Ordnen, Vergleichen, Passen, Aufteilen
- Rechengesetze

- Verhältnis Arithmetische vs. geometrische Objekte


- Zahlengerade i.A. nicht Untersuchungsobjekt, sondern eher
Veranschaulichung
- Aber: „Modellierung“ geometrischer Zusammenhänge durch
Gleichungen schon vor LA durchaus üblich
- Vektor- und Matrizenrechnung:
Lineare Algebra: eher Veranschaulichung,
Analytische Geometrie: eher Untersuchungsobjekt

→ „Henne-Ei“-Problem / Standpunktwechsel erforderlich

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Elementare Algebra und Lineare Algebra

-  „Vektoren sind primär Darstellungsmittel und nicht Rechenmittel.


Bei einem Vektor in werden reelle Zahlen zu einem neuen
Denkobjekt zusammengefasst.
Dies erlaubt, Rechenanweisungen (Vektorterme) und Beziehungen
(Vektorformeln) in knapper und übersichtlicher Form anzugeben.“
(Malle 2005)
→ Vektorrechnung als „Fortsetzung der Arithmetik“ nicht ausreichend
Es ist u.a. zu fragen:
- Inwiefern kann das Darstellen und Operieren mit Vektoren als Fortsetzung
des Darstellens und Operierens mit Variablen, Termen und Gleichungen
erfahren werden?
- (Wie) Verändern sich Objekt- und Operationsvorstellungen, falls Variable
nicht mehr nur für Zahlen, sondern auch für Vektoren und Matrizen (und
deren Komponenten) stehen können?
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