Entscheidung
Erzählung
Dieses Buch darf, auch in Ausschnitten, nur mit Erlaubnis des Verfassers
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Rückmeldungen sind erwünscht. (E-Mail: r.strassheim@arcor.de)
2
1
In keiner westlichen Kultur wird einem richtig beigebracht, wie man
Beziehungen führt. Das Gelingen einer Beziehung setzt Klarheit
voraus, und das kann schon die erste Schwierigkeit sein.
Martin will sich sicher sein. Soll er Zara heiraten? Zara ist Kurdin,
23, hat dunkelbraune Haare, ein hübsches Gesicht, eine schlanke,
trainierte Figur; Martin ist Deutscher, 29, blond, mit kleinen,
lebendigen Augen - im Gegensatz zur Gesetztheit des Körpers.
Beide leben in Kassel.
Wichtiger ist: Sie liebt seine blauen „Mavi-bonçuk-Augen“ und will
ihn heiraten. Er liebt sie mit ihrer dunklen Haut und ihren langen,
hennagestreiften Haaren, ohne an Ehe zu denken.
Nun ja, streng genommen hat er es ihr zugesagt:
Nachdem sie im „Arkadaş“, dem kurdischen Lokal gegessen hatten
und auf den Bus warteten, es war die Haltestelle Erzbergerstraße,
sagte Zara: „Schau doch, die Sterne leuchten uns!“
„Und dort, das Polizeihochhaus, es überwacht uns“, ergänzte
Martin, „die haben überall Kameras.“
„Du hast keine Romantik“, beschwerte sich Zara.
Er zog sie zu sich heran, und sie küssten sich, da fragte sie:
„Heiratest du mich?“
Das traf ihn unvorbereitet. Steif sagte er: „Ja.“
„Wenn du eine richtige Arbeit hast“, meinte Zara, „können wir
heiraten.“
Vor Schreck verstummte er.
Nun sind sie fast ein Jahr lang zusammen. Martin hat eine
Doktoranden-Stelle, sie wollen zusammen wohnen, aber vorher will
Zara ihrer Familie den Trauschein präsentieren – die „Ehre“ gebiete
es. Ob er mit einer kurdischen Hochzeit einverstanden wäre?
„Natürlich nehme ich auf deine Familie Rücksicht“, versicherte
Martin, „und wenn es nötig ist, heiraten wir auf kurdisch.“
Von Zweifeln hat er nichts gesagt. Ob deutsch oder kurdisch, ist
irrelevant. Heiraten, nicht zum Schein, gebunden sein für’s Leben -
eine solche Verpflichtung einzugehen, das ist die Frage. Im Grunde
findet er sich unentschieden, „fundamental unentschieden“. Die
Ehe gehört nicht zu seinem Plan zum Glücklichsein. Warum sollte
er sich amtlich binden? Nur aus Rücksicht? - Ungenügend. - Will er
auf Dauer mit dieser Frau zusammen sein? Um dem
Beziehungschaos zu entrinnen? Um endlich Ruhe zu haben? -
Klingt fatal nach Friedhofswahl.
Ganz anders bei Zara: Für sie ist es mehr ein Vortasten. Sie prüft,
spürt bei Martin, bei ihren Geschwistern, bei sich selbst nach, ob er
der Richtige ist. Dass Ehe und Kinder zu ihrer Erfüllung gehören,
weiß sie, seit sie denken kann, und diese Gewissheit ist ihr
geblieben. So reift ihre Entscheidung im Stillen, wächst, wenn sie von
Liebeserlebnissen begossen wird, oder sie verkümmert, von
Streitigkeiten vergiftet. Denn der Prozess der Bindung ist
reversibel: Irritationen verunsichern ihre Entscheidung – sie hängt
davon ab, wie verpflichtet und entschlossen der Mann die
Beziehung pflegt.
Dieser Mann ist nun allein und weiß, dass er sich der Frau stellen
muss. Noch für einen Monat weilt Zara in der Türkei. Bis zu ihrer
Rückkehr will er Klarheit schaffen. Das mag ein intensiver Prozess
werden, den er ohne sie austragen will – unbeeinflusst, in aller
Ruhe, für sich allein.
Früher hatte Martin die Ehe als grauenhaftes Spießertum
abgelehnt, als Symbol des Besitzstanddenkens. Ähnlich die
romantische Abart: Alles, was der Romantiker schmackhaft findet
an einer Frau, den Sex, die Nähe, die Freundschaft, das Vertrauen,
das glaubt er verschnüren und konservieren zu können – mit dem
magischen Band der Ehe. Hanebüchen. Töricht. Spintisiererei. Aber
eben auch ein schöner, kindlicher Traum.
Die Ära Zara. „Warum nicht aus der Ära ein Äon machen?“ überlegt
er. „Mich in unbegrenzte Liebe hinein entspannen, in Zaras Liebe,
in ihre Arme, an ihren Busen, o himmlisches Empfinden! - - – Nein,
so kann ich nicht denken. Ich schmachte. Man soll ja auch nicht
hungrig einkaufen.“
1
vgl. Theodor W. Adorno: “Minima Moralia.” Aphorismus 110: “Constanze”
2
vgl. Eric Berne: Spiele der Erwachsenen.
7
2
Freitag Nachmittag. Es gewittert mächtig, Martin sitzt im
vollgetankten Auto, schenkt Milchkaffee aus der Thermosflasche
ein, klemmt den doppelwandigen Stahlbecher in die Halterung,
füttert den CD-Player und hat endlose Kilometer von Kassel nach
Hamburg vor sich. Niemand könnte sicherer sein als er in seinem
alten Golf, niemand könnte glücklicher sein, er hat seinen Raum, er
hat seine Musik, sein Ziel, sein Gaspedal, was will ein Mann mehr?
Zara! Sie liebt es, sich von ihm chauffieren zu lassen. Sie erzählt
ihm Geschichten, er lässt seine rechte Hand auf ihrem Bein ruhen,
streichelt über zarte Haut oder feine Nylonstrümpfe. Jetzt spürt er
das Leder seines Steuers, trommelt im Takt von Alanis – ja, er ist
geneigt, die Autobahnauffahrt Richtung Frankfurt zu nehmen, um
nur nicht zu schnell anzukommen. Die erste Baustelle: Hinein in
den Stau! Wohlgeordnete Schlangen, saubere gelbe Markierungen.
Dagegen in der Türkei! Türkische Fahrer unterwerfen sich keinen
Linien, sie machen aus drei markierten Spuren vier bis fünf, und
auf der Standspur wird eifrig überholt. Wie liebt er diese Disziplin
auf deutschen Autobahnen!
Das Land von oben. Zara war aufgeregt. Seit drei Jahren hatte sie
die Türkei nicht mehr gesehen, ihr Heimatland, das sie trotz allem
so liebte. Wange an Wange schauten sie hinab auf ein schnelles
Wechselspiel von braunen Bergen, blaugrünem Wasser und scharf
zerschnittenen gelben Feldern, versprengten Häusern und kleinen
Siedlungen. Sie freuten sich auf ihren Badeurlaub – von der bösen
Überraschung, die sie dort erwartete, ahnten sie nichts.
Durch die Tür des Flugzeugs traten sie ins Freie, und das war ein
Backofen. Jacke und lange Hosen hielten die Heißluft ab – nicht
lange, unaufhaltsam drangen Wärmemengen durch die Jeans ein.
Hier an der Südküste wollten sie sich eine Woche lang in
Zweisamkeit erholen, in der zweiten Woche die Verwandtschaft in
Malatya besuchen, und danach haben sie sich getrennt: Martin
reiste nach Kassel ab, Zara ist noch in der Türkei geblieben, um alle
möglichen Freunde zu besuchen.
Erste Station: Antalya. Im Flughafen empfing sie die „Ada-Pension“
mit Namensschild, Fahrer und als „Shuttle“ ein japanischer
Transporter, in dem sich die Hitze staute. Sie wurden durch eine
Gegend chauffiert, die keine Landschaft mehr war: verfallene
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‚Welche Frau will ich heiraten, wenn nicht diese?!’ denkt Martin,
froh, einen objektiven Indikator gefunden zu haben, noch dazu
einen, der in den meisten Liebesbeziehungen trockene bzw. immer
trockenere Verhältnisse anzeigt. „Typisch Mann“, würde Zara urteilen.
Sollte er nachzählen, wie viele Tüten übrig geblieben, ausrechnen,
wie viele durchschnittlich pro Tag verbraucht worden sind? Wenn
man von solchen Zahlen auf die Zukunft einer Beziehung schließen
könnte! Man kann es nicht, das ist die Crux aller
Geisteswissenschaft.
Nein, er muss Anhaltspunkte finden, die nicht so glitschig sind! In
der Türkei haben sie noch viel anderes erlebt, das aussagekrätiger
ist.
Haaresbreite die Leute aus dem Weg, scharf rechts bis zum
Abgrund: das Meer!
Links die Ada-Pension, ebenfalls von Delâl vermittelt: ein kleines,
einstöckiges Haus, aus dessen Dunkel ihnen Atatürk
entgegenblickte; Ali der Wirt, erhob sich von seinem Plastiktisch.
„Merhaba!" - Martin musste Hände drücken, dringend pinkeln, Zara
hingegen mit Ali reden. Einfach nur Günaydin (Guten Morgen) zu
sagen und dann seine Ruhe zu haben, durfte sich zwar der
Deutsche erlauben, doch seine hübsche kurdische Begleiterin
wurde von den Türken verwickelt in Worte, in Gespräche, in Palaver.
Als sie endlich die Koffer in ihr Zimmer geschleppt, abgelegt, die
Tür verschlossen, sich aller Stoffe entledigt hatten, traten sie auf
den Balkon, ließen die feuchte Haut von warmen Brisen umwehen
und die Augen im nahen Meer Ruhe finden. Sonne, blauer Himmel,
smaragdgrünes Wasser, Wellenrauschen – sie umfassten sich und
fingen an, das Salz auf der Haut zu kosten...
3
mavi = blau; boncuk = Steinchen, Teil (übertragen: Augen)
11
verraten worden zu sein. Sie traute sie nicht mehr, an ihre Uni
zurückzukehren. Stattdessen fing sie in Deutschland von vorne an.
Und mit dem deutschen Diplom in die Türkei zurückkehren? Martin
fragte sie das, als sie am Strand lagen und einig waren, dass es
keinen ins nasse Deutschland zieht.
„Ich hatte immer vor, in die Türkei zurückzugehen.“
„Aber deine Familie lebt in Deutschland.“
„Zelal ist in Malatya, und meine beste Freundin ist in Istanbul. Ich
wollte immer in Istanbul eine Familie gründen.“
„Und jetzt?“
„Jetzt will ich mit dir Kinder haben. Ich liebe dich mehr als die
Türkei. Eigentlich liebe ich die Türkei überhaupt nicht. Wirtschaft
und Politik sind wirklich schlimm. Nur die Menschen, die liebe ich.
Die Deutschen sind dagegen kalt.“
„Wenn du das glaubst, wie konntest du dich in mich verlieben?“
„Du warst so freundlich.“
„Ich wollte auch nie deutsch sein.“
„Mir dir will ich in Deutschland sein. Zwei Kinder haben. Und
arbeiten. Ich kann nicht zu Hause sitzen, wie die ganzen Türkinnen,
die keine andere Idee haben als Kinder.“
Dafür könnte Martin zu Hause sitzen, lesen, forschen, publizieren
nach Herzenslust. Wie liebt er Zara!
Martin fährt an einer Tankstelle ab, kauft sich Camel, in memoria.
Als er vor zehn Tagen nach Hause zurückkehrte, empfing ihn eine
Urlaubskarte von Zara, die sie in Side heimlich geschrieben und
abgeschickt hat. Er nimmt das Andenken aus dem Handschuhfach,
betrachtet ihre grazile Mädchenschrift:
Side, 20. 8. o2
Mein Askim!
Ich liebe dich noch mehr hier in meinem
Heimatland. Alles ist schön mit dir, am Meer, auf
der Lokal, unterwegs. Meine Sehnsucht nach
Heimat geht mit dir noch schneller weg. Deine
mavi Augen sind noch schöner wie Mittelmeer
hier, in Side. Die passen so schön zueinander,
deshalb mag ich Meer noch mehr.
Viele viele nasse Küsse von deiner Donna
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Natürlich hilft das alles nichts. Er muss sich gedulden. Ein Leben
lang wird er mit ihr verbringen. Wenn er will. Wie könnte er das
nicht wollen?
Liebe Meika,
kurz bevor unser Nachtleben in Side beginnt, sitze ich
im Meeresrauschen auf dem Balkon unserer
vortrefflichen Ada-Pension, Zara gesellt sich in ihrer
aufreizenden Abendgarderobe hinzu und wir widmen
uns einer hier äußerst seltenen Tätigkeit, dem
Schreiben. Was machen wir sonst? Ich träume, ich
erwache und Zara macht mir den Traum wahr!
Alles Liebe aus dem Urlaub, Martin & Zara
Lieber Thomas,
unser Urlaub ist traumhaft! Zu den alles
charakterisierenden Worten von Zara: "Sonne, Meer
und Sex" will ich nur hinzufügen: Essen, Schlafen,
Lesen. So bleibt mir wenig Zeit zum Schreiben, denn so
vieles verlockt mich, und allzu gerne gebe ich mich hin.
Aus dem Reich des Glücks grüßen dich
Martin & Zara
4
cici=hübsch; Karicin=„Ehefrau“; „Ehemann“=Kocacun. Karicigim: „Meine Ehefrau“;
Kocacum: „Mein Ehemann“
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Am dritten Tage sah Martin seine Donna aus der Ferne von
ausgiebigem Schwimmen zurückkehren. Hinter ihr lief ein Mann,
der sie rasch einholte, neben ihr herlief, auf sie einredete.
Sie winkte, rief ihm entgegen: „Hier ist ein Mann, der mich ärgert!"
Martin sprang auf, musterte den Kerl, von weitem, feindselig: Er
war dunkel, kräftig, mit kurz geschorenen Haaren, er blieb Zara auf
den Fersen.
„Du musst ihn vertreiben", verlangte Zara.
Aug in Aug dem Feind: dickes Gesicht, dunkel unrasiert, schweiß-
perlend, aber ein Grinsen, seltsam. Der Störenfried reichte ihm die
Hand: Rudi, Zaras Schwager; und nicht weit entfernt feixte ihre
Schwester Rojda. — Wie das? Vorsorglich hatte Zara Delâl gebeten,
Rojda die Adresse der Ada-Pension nicht, auf keinen Fall
auszuliefern. Es stellte sich nun heraus, dass Delâl nicht ganz Wort
gehalten hatte: Sie hatte auf Rojdas Drängen zwar beteuert, die
verlangte Visitenkarte nicht mehr zu besitzen, aber Rojda hatte
darauf beharrt, dass ihre Schwester sich wenigstens an den Namen
jener Pension erinnern müsse, in der sie doch selber kürzlich
Urlaub gemacht hatte, und so verriet sie den Namen. Mit
detektivischem Geschick gelang es Rojda, Zara mitsamt Freund am
Urlaubsort ausfindig zu machen. Die Überraschung war ihr
gelungen. Und zu ihrem Stolz war sie nun die erste aus der Familie,
die Zaras Auserwählten begutachten würde.
Die uneingeladenen Verwandten hatten sich in einem Hotel unweit
der Ada-Pension einquartiert. Nicht nur das. Wie sich am nächsten
Tag herausstellte, hatte Rojda keine Stippvisite geplant. Nein, sie
wollte den Urlaub zu Viert verbringen.
Damit endete die ungestörte Zweisamkeit. Nicht jedoch der Urlaub.
14
5
Honig bzw. Wassermelone
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auf deutsch, nicht auf englisch, sondern auf kurdisch, auf türkisch,
ganz wie sie wollten. Martin wollte überhaupt nicht. – Zara merkte
das, knapp bevor bei ihrem Liebster ein Langeweile-
Verlassenheitsanfall ausbrach (die sehr saure Mine war schon da),
da schleppte sie ihn zu dem kurdischen Friseur, den der Patron
empfohlen hatte. Martin fügte sich. Er wurde bis in die Ohren und
Nasenlöcher hinein abfrisiert und ungefragt gesichtsmassiert, für
zwei Euro, weil der Patron dabei saß und auf den Preis aufpasste.
Zara war stolz. Jetzt war ihr Koça ordentlich eingekleidet und auch
schick gestylt. „Rojda ist eifersüchtig", wünschte sie sich. „Gehen
wir ins Bett“, wünschte sich Martin, froh, durch den schlauen
Schachzug seiner Karicigim der Gesellschaft entkommen zu sein.
Auf dem Nachhauseweg fasste Zara die türkischen Unterhaltungen
zusammen: Der Patron klagte über die horrend teure Pacht des
Lokals sowie die türkische Polizei, die alle paar Monate in die
kurdischen Häuser eindringe, die Satellitenschüsseln abschraube
und konfiziere; danach kauften sich die Beraubten neue Schüsseln
und guckten wieder den verbotenen kurdischen Sender. Der Kellner
hatte ihr anvertraut, dass er und seine Kollegen auf eine Gele-
genheit warteten, eine Touristin kennenzulernen, die sie heiraten
und nach Europa oder in die USA mitnehmen würde; dafür seien
diese Restaurants beste Sprungbretter. Das schien zu klappen,
denn alt wurden sie hier nicht.
„Es gibt doch eine neue Regierung“, meinte Martin. „Warum wird
das nicht besser?“
„Die machen doch dasselbe. Nur für die religiösen Leute tun die ein
bisschen was. Im Fernsehen werden Sexfilme verboten.“
„Das ist richtig. Bei uns müsste auch viel mehr verboten werden.
Ganze Sender müsste man verbieten.“
„Aji! Türkisches Fernsehen ist nicht wie deutsches. Wir haben keine
Pornos. Die verbieten normale Spielfilme mit Sex drinnen. Davon
könnten doch die Leute was lernen.“
Martin dachte an Julia Roberts und gab ihr Recht.
Warum wollte Martin kein Türkisch lernen, verlangte Zara zu
wissen! Martin argumentierte, wenn er Zeit und Mühe in eine
Fremdsprache investieren würde, dann wäre es Englisch, das sei
die Sprache der Wissenschaft, und außerdem könne man sich
damit überall verständigen. Wozu Türkisch? In der Türkei zu leben
käme niemals in Betracht.
Martin mochte gar nicht daran denken, was ihm in der Türkei
noch bevorstand. Rojda wusste es. Sie wollte nicht nach Malatya.
Zara freute sich auf ihre Heimatstadt, doch sie konnte abwarten.
Martin war es ganz recht, weniger Tage als geplant dort zu
verbringen. Rudi aber brannte darauf, seine Mutter wiederzusehen.
Rojda spannte Zara gegen ihn ein, und so beschlossen sie, bzw.
überstimmten Rudi, noch zwei Tage länger in Side zu bleiben.
18
Eine andere Sache war kritischer. Zara wollte diskutieren, was sie
vor über einem halben Jahr erlebt hatten – wie eine dunkle Wolke
ließ die Erinnerung an diese Geschichte die sonnige Welt des
Aquariums verblassen:
Sie hatte ihren Drucker in Reparatur gegeben. Sechs Wochen
später, fand sie im Briefkasten eine Postkarte vor, dass das Gerät
fertig und abzuholen sei. Diese Benachrichtung kam gerade an
dem Samstagnachmittag, als sie abreisen wollte: Sie arbeitete in
den Semesterferien in Hannover, wo sie bei ihren Eltern wohnte.
Martin war bereits bei seinen Eltern in Göttingen. Das Problem: Sie
würden beide zwei Monate lang nicht nach Kassel kommen. Und
die Frist für die Abholung: acht Tage! Wer sollte das erledigen?
„Schatz, würdest du das machen?" fragte Zara am Telefon.
21
„Du weißt doch, dass ich erst mit dir zusammen wieder nach Kassel
komme."
„Aber du könntest von Göttingen aus viel besser nach Kassel
fahren als ich von Hannover."
„Das stimmt, aber wegen eines Druckers fahre ich nicht nach
Kassel."
Die Katastrophe war perfekt. Sie nahm ihm die Weigerung übel. Er
empfand es als Zumutung, dass sie nicht zuerst Kasseler Freunde
gefragt hatte. Als ob er nichts zu tun hätte als nach Kassel zu
fahren, um einen Billigdrucker abzuholen, der sowieso nie richtig
funktionierte. Schon die dritte Reparatur in einem halben Jahr.
Beim ersten Mal, als sie ihn zum „realmarkt“ gebracht hatten, war
er schon schlecht gelaunt gewesen, weil er mit musste, zum
Schleppen. Er hatte den großen Karton auf den Fahrradgepäckträ-
ger geschnürt, weil sie sich nicht traute, damit zu fahren; er fuhr
den Einkaufswagen, weil er ihr zu schwer war. Sie kommandierte
ihn durch den Supermarkt, hierhin, dorthin, der Monsterwagen
wurde immer mehr beladen, ließ sich kaum um die Ecken
manövrieren, aber sie schimpfte, wenn er nicht schnell genug
nachkam. Zweimal, dreimal, und plötzlich fing er an zu schreien. In
der Öffentlichkeit. Sie hörte auf zu schimpfen; sprach kein Wort
mehr mit ihm.
Die beiden nächsten Male ging es glimpflicher aus, aber immer
schlecht. Und nun sollte er von Göttingen aus eine Reise zum „re-
almarkt“ unternehmen.
Er ist doch nicht verrückt!
„Du bist eben egoistisch!"
Er grunzte. Nichts ist schlimmer als die Neuauflage eines Streits.
Und dazu der altgehasste Egoismusvorwurf!
Er ließ den wässrigen Sand durch seine Hände laufen, abwesend
träufelte er ihn auf die Badehose; er stellte sich vor: Nachher
würden sie darum zanken, ob er diese verdammte Badehose
auswaschen muss. 'Ich muss nicht', dachte er, 'sie will es. Ich will
nicht. Vielleicht tu ich es trotzdem. Wie letztes Mal. Aber heute
nicht.'
„Ja, natürlich", entgegnete er, „das ist egoistisch, ich denke an
mich, ich habe keine Lust, nach Kassel zu fahren wegen einer
Lappalie!"
„Aber damals hatten wir uns wieder vertragen, weil du gesagt
hast, mein Drucker wäre auch dein Drucker, und du würdest alles
für mich tun!"
„Das würde ich ja auch. Aber ich hatte auch gesagt, selbst für
meinen eigenen Drucker würde ich nicht nach Kassel fahren. Eher
würde ich mir einen neuen kaufen."
„Aber ich habe nicht soviel Geld."
„Du hättest jemand anderes fragen können."
„Ich vertraue nicht jedem."
„Ajii, du hast doch Freunde. Und viel zu vertrauen gibt's da nicht.
Es geht nicht um dein Leben. Nein, für diesen schlechten Drucker
würde ich niemals fahren. Was mich das an Stunden kostet. Vier,
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fünf Stunden. Weißt du, was ich in einer Stunde für Geld verdienen
kann?"
„Du bist mein Koçacum nicht. Mein Koçacum wäre froh, wenn er
das für mich tun kann."
„Ich würde dir einen gescheiten Drucker kaufen!"
„Das sagst du erst jetzt! Ich will nicht, dass du mit Zwang was für
mich tust."
„Aber du willst mich zwingen, nach Kassel zu fahren!"
6
vgl. z.B. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.
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Die beiden Paare packten ihre Koffer (ein Reißverschluss ging dabei
kaputt) und die obligatorischen Plastiktüten. Zu Fuß verließen sie
Side, wandten sich dem Meer ab und schleppten und rollten ihr
Gepäck auf der heißen, staubigen Straße ins Landesinnere. Ihre
erste Station lag ein Kilometer außerhalb des Ortes: ein großer
Parkplatz an der Landstraße, wo in einer langgestreckten Baracke
die Büros der Busfirmen untergebracht waren.
Sie warteten bereits eine halbe Stunde auf den Kleinbus nach
Manavgat. Dort sollte um 15 Uhr ein großer Reisebus abfahren und
am nächsten Morgen in Malatya ankommen. Es war 14.30 Uhr. Rudi
fragte im Büro nach, wann der Bus käme. Er wurde vertröstet. Die
Zeit schritt voran. Rudi begleitete Martin zum Toilettenhaus, damit
jener nicht zu viel Geld bezahle. Nicht schlimm, beschwichtigten
die Bediensteten, der Kleinbus sei schon unterwegs, und der
Reisebus würde nicht ohne sie abfahren, weil sie schon Tickets und
Reservierungen hätten.
Sie hockten im Schatten des Hauses auf dem Betonboden, denn
alle Bänke standen in der Sonne. Freundlicherweise gab es eine
Wasserstelle, wo man kostenlos trinken konnte – diese humanitäre
Einrichtung ist in der Türkei öfter zu finden.
Der Kleinbus kam nicht. Rojda schimpfte über diese typisch
türkischen Verhältnisse, rauchte allerdings viel von den billigen
türkischen Zigaretten. Sonst tat sie nichts. Um kurz vor drei
handelte Zara. Sie entlarvte die Behauptungen der
Büroangestellten als falsch: Kein Kleinbus würde fahren. Sie
bestellte ein Taxi.
„Warum lügen die?" fragte Martin; „es ist doch logisch, dass das
nach einer halben Stunde raus kommt."
„Genau. Die lügen trotzdem. Ich hatte einmal mein Flugzeug
verpasst wegen der Lügerei. Die sagen immer, der Bus fährt. Wenn
es zu wenige Fahrgäste gibt, fährt der Bus gar nicht ab, er bleibt in
der Stadt, wo er starten sollte. Aber sie sagen, er würde fahren, die
wollen nicht, dass man wegläuft, denn wenn es genug Fahrgäste
gibt, fährt er doch."
15.10 Uhr. Das Taxi kam angebraust. Ein Auto für vier Personen
und drei Kubikmeter Koffer. Der Fahrer war nett. Nachdem sie den
Kofferraum voll hatten, lud er ihnen die restlichen Taschen auf den
Schoß. Dann drückte er auf das Gas, damit sie rechtzeitig
ankamen, sein kleiner Peugeot jaulte, der Kies der halbfertigen
Straße spritzte, hin und her geworfen erreichten sie die Stadt;
Fußgänger, todesmutig, kreuzten die vierspurige Straße wo sie
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wollten, einer lief auf ihre Spur, kam nicht weiter, da die rechte
Spur blockiert war, der Fahrer drückte mit Macht die Hupe, nicht
die Bremse, sie rasten auf den Mann zu, der rettete sich auf den
Grünstreifen in der Mitte. Dafür wurde das Taxi bald von Größeren
gejagt: ein Kleinbus nahm ihm die Vorfahrt, schaffte es knapp,
angespornt durch die gegnerische Hupe.
Martin kurbelte das Fenster ganz auf.
"Du machst Durchzug", beschwerte sich Zara, "mach das wieder
zu, Durchzug ist gefährlich!"
"Gefährlich? Ja, gefährlich, fatal ist es, deshalb brauche ich viel
frische Luft. Ich habe Angst, hier mitzufahren."
Zara versuchte, ihn zu beruhigen: "Aj, bibberst du wieder. Du bist
das eben noch nicht gewöhnt. Ich kenne das von früher."
„Nein", schimpfte er, „das bin ich wirklich nicht gewöhnt. Aber das
will ich auch gar nicht. Zwar kann man gegen die Gefahr
abstumpfen, aber was nützt das? Es ändert objektiv nichts.
Objektiv gelten hier dieselben physikalischen Gesetze wie in
Deutschland. Universelle Naturgesetze. Beschleunigung, Trägheit
der Masse, beschränkte Bremskräfte, Impulserhaltung und Tod! -
Lieber habe ich Angst als dass ich naiv sterbe."
„Die fahren wirklich schlimm."
Das war alles, was er von ihr hören wollte.
Aber sie fügte hinzu: „Deshalb fahre ich auch nicht gern Bus."
„Aber die Reisebusse fahren doch wohl vernünftig?"
„Es gibt viele Unfälle."
Sie hatten eine achtzehnstündige Busreise vor sich. („Warum nicht
mit der Bahn", hatte Martin verlangt. — Mit der türkischen Bahn
hätten sie Tage länger gebraucht.)
Sie kamen heil in Manavgat an. Dort mussten sie auf den Reisebus
warten. Sie setzten sich auf die aufgeheizten Bordsteine, Schatten
gab es nicht. Sie rauchten.
„Wird im Bus auch geraucht?"
„Nein, das ist verboten."
„Ich hätte denen zugetraut, auch den Bus vollzuqualmen."
„Vor vier Jahren war das noch so."
„Und du, bist du nicht gestorben auf so einer langen Reise?"
"Nein, ich hab doch selbst viel geraucht."
Martin kämpfte still gegen ein unerklärliches Grauen, er versuchte,
an etwas anderes zu denken, um dem Schatten aus seiner Seele
auszuweichen.
7
Höre ich dich, Wasserfall, wie geht es dir? Martin ist hier.
27
Zara, sie hatte eine kleine Hoffnung, dass sich grundsätzlich etwas
ändern würde. Nicht etwa, dass es eine neue Regierung und neue
Gesetze gibt, die für die EU gemacht seien. Gesetze seien in der
Türkei nicht so wichtig. Das Militär hätte die Macht, mit oder ohne
Gesetz, und die Polizei mache, was die Generale wollten. Sogar
29
Zaras Werte stimmen, sagt sich Martin, sie ist realistisch und
vertritt die mitteleuropäische Ethik. Vollkommen zufrieden schenkt
er sich seinen mitteleuropäischen Kaffee nach. Überall auf der Welt
kann man wissen, was gut und richtig ist – aber nicht viele
Menschen halten sich daran. Nicht mal beim Kaffee:
Im Bus reichte der gut gepflegte junge Mann mit Schlips und Anzug
jedem Fahrgast einen Styroporbecher halb voll heißen Wassers.
Dazu Kaffee oder Çay? Je nach Antwort gab er ein Tütchen dazu.
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Martin sah diese Frage auf sich zukommen. Er ereiferte sich vor
Zara: Immer diese Dualitäten: An Tee gibt's Schwarztee oder
Apfeltee. Gurke oder Tomate. Kavun oder Karpuz. Schluss.
Schokoladeneis oder Erdbeereis. Mehr Auswahl gibt's nicht. All die
tausend anderen Schöpfungen der Natur: Früchte, Teesorten,
Getreide-, Gemüsearten bleiben außen vor, die ganze Fülle — weg
damit! Unnötig. Wir pflegen die Monokultur. Vom Mittelmeer bis
zum Schwarzen Meer, von Kurdistan bis Europa, überall dasselbe:
geschmackloses Ekmek, und Atatürk! Der große Staatsgründer
und Bereiniger Atatürk prangt in jedem Geschäft, in jedem Lokal
sein Konterfei. Ein Mensch ist ein Anhänger Atatürks oder er ist ein
Feind. Eine grandiose Wahlmöglichkeit: Freund oder Feind.
Schwarzer Tee oder Apfeltee. Schluss. Einer ist ein Türke oder kein
Mensch.
Martin kannte türkische Kaffee-Qualitäten zur Genüge und wählte
Çay. Er bekam einen gelben Beutel English Assam-Blend, den er
auspackte und ins Plastikwasser tauchte. Die entstehende
tiefbraune Brühe käme dem türkischen Original fast gleich, meinte
Zara, die das Kaffeepulver vorzog. Sie verglichen: Beides hatte die
gleiche fatale, ja letale Wirkung auf die Geschmacksnerven…
Zara indes machte sich seinetwegen zu diesem Zeitpunkt ernsthaft
Sorgen: Wie sollte das werden, mit ihrem Aşkim8 in Malatya, wenn
er es tagelang in ihrer Familie aushalten musste (und umgekehrt)?
Würde er vor deren Augen einen guten Kandidaten als Koça
abgeben? Natürlich würde sie es sich von keinem verbieten lassen,
ihn zu heiraten. Aber die Meinung der Familie war ihr wichtig, vor
allem Zêlals, die ja als Älteste fast die Rolle der Mutter für sie
spielte. Ja, fast schien es ihr, als würde ihre Mutter noch leben und
sie, die „Kleine“ käme nach Hause, um ihr ihren neuen Freund
vorzustellen.
Würde Martin auch vor Zêlal schmollen? Das wäre schrecklich für
sie, einfach fatal, wie Martin sagen würde.
Sie piekte ihn an: „Du, Aşkim, bitte hab doch Geduld mit meinen
Leuten. Ich meine, wenn wir in Malatya sind, das wird bestimmt
anstrengend für dich.“
„Ich werde freundlich sein“, versprach er.
„Du musst türkisch reden“, verlangte sie, „wenigstens zur
Begrüßung. Lern doch noch ein bisschen.“
„Ich kann doch schon genug.“
Doch sie bearbeitete ihn, bis er sich mürrisch hinter ein Blatt mit
Vokabeln und Redewendungen zurückzog. Eine Bedingung musste
sie ihm erfüllen, nämlich folgende Sätze auf Türkisch
aufzuschreiben: „Nein, danke, ich habe genug“, „Ich bin müde“,
„Wo ist Zara?“, „Würden Sie mich/uns dispensieren?“
„Was soll das heißen, dispensieren, Schatz?“ fragte Zara.
„Würden Sie mich oder uns entschuldigen.“
„Was denn entschuldigen?“
„Das Zurückziehen.“
„Was willst du zurückziehen?“
8
Schatz
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Ein Zwischenfall, der dazu passte: Der Bus hielt plötzlich auf
offener Strecke. Der Stewart rollte den Teppich, der den Gang
bedeckte, zusammen und tauschte ihn gegen einen anderen aus
dem Kofferraum aus; während der Bus schon weiter fuhr,
verstänkerte er mit einem Deospray die Luft und spendierte jedem
einen Extraspritzer Limonensirup auf die Hände. Zara erklärte die
seltsame Handlung: Ein Kind habe sich übergeben müssen.
„Warum denn auf den Teppich? Haben die keine Kotzbeutel parat?“
„Doch, an jedem Platz gibt es eine Kotztüte. Aber der Junge durfte
sie nicht benutzen. Die Mutter hat ihm das Kotzen verboten.“
„Ist sie verrückt?“
„Ich habe gehört, wie der Kleine jammerte, dass ihm so schlecht
wäre. Schon eine lange Zeit, bevor er kotzen musste, hat er es
gesagt. Die Mutter hat immer mehr geschimpft, kurz vorher hat sie
ihn bedroht. Sie hat ihm versprochen, dass er Schläge bekommt,
sobald sie zuhause sind.“
„Was kann denn das Kind dafür!“
„Stell dir vor, was sie ihm für Schuldgefühle gemacht hat: wie
ekelhaft das wäre, was er macht, dass jetzt alle seinen Gestank
ertragen müssten, und dass der Teppich nicht mehr sauber zu
machen geht, und dass wegen ihm sogar der Bus Verspätung
bekommen hat.“
„Du musst mit der Mutter schimpfen!“
„Das nützt nicht, dann schlägt sie ihn noch mehr. Aber ich sage zu
dem Jungen, dass das nicht so schlimm ist.“
‚Wie ich dich dafür liebe’, spürt Martin, ‚meine Karicigim, du
gehörst zu den Guten.’
Ja, meine Donna wird eine gute Mutter sein, denkt Martin, von ihr
will ich Kinder haben, ich werde ihren Bauch füllen.
Martins eigener Bauch fühlt sich leer und einsam an. Er treibt ihn
und sein Auto auf einen Rastplatz. Wie sauber, perfekt betoniert
und trist sie in Deutschland sind! Alles ist da zum Leben, aber wo
ist die Lebendigkeit? Keine Kinder. Dagegen in der Türkei: Alle drei
bis vier Stunden machten sie an einem Otogar Halt, wo allerlei
grellbunte Busse einkehrten, Menschen sich mischten, Kinder
erstaunlich brav und ruhig bei den Eltern blieben, Çay-Jungs auf
Messingtabletts goldziselierte Teegläser balancierten, so flink, dass
man sich fragen konnte, wie sie es mit der Bezahlung hinbekamen.
Zwischen dem Gehupe rief eine sonore Lautsprecherstimme viele
viele ihm unverständliche Sätze aus, wie ein Gebet, und wenn
Martin ein Wort davon verstand, so war es „Malatya!": Alle Pilger
wurden aufgerufen, nach Malatya einzusteigen.
Nach Malatya kehrten sie alle zurück, nach Hause, für wenige
Wochen, bis die Arbeit wieder nach Deutschland zwang. Der Papa
war als Erster nach Hannover gegangen, als Zara geboren wurde,
nach und nach waren die Geschwister gefolgt, und der Papa
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forderte seine Frau an. Doch die Mutter verließ Zara nicht. Erst als
Zara, ihr letztes Kind, zum Studieren nach Ankara ging,
übersiedelte die Mutter nach Hannover. Allein Zelâl blieb, mit dem
Schwager und den beiden Töchtern, in Malatya, wo sie eine
Neubau-Wohnung besaßen. Dort sollten nun Zara und Martin
beherbergt werden.
„Fahrt ihr jedes Jahr nach Maltya?“ wollte Martin von Rudi wissen,
als sie wieder rasteten. Daraus entwickelte sich das einzige längere
Gespräch zwischen den beiden:
„Jaja. Immer fahren.“
„Das ist aber so eine lange Reise. Willst du nicht lieber in Malatya
leben?“
„Nein, in Türkei sehr schlecht arbeiten. Und nix Sozialleistungen.“
„Und was meinst du, sollte die Türkei in die EU kommen?“
„Nein, nein, mit EU Türken alle kommen nach Deutschland. Nix
gut.“
Darauf wusste Martin nichts mehr zu sagen. Vorzeitig stieg er
wieder in den Bus ein.
Wand und brach herunter auf ihr Bett. Sie bekam einen gehörigen
Schrecken, dann fand sie es lustig, wie das ganze Zimmer
eingeschwärzt war. Als sie älter war, wiederholte sich das Unglück.
Diesmal war ihr Schreck geringer. Sie wusste ja schon: Es war
normal, dass ein Ofenrohr herunterfällt! --- Was aber jetzt
geschah, das hatte Martin als aufmerksamer Mitfahrer sogar
vorausgesehen und konnte es genau bezeugen: Der Busfahrer
übersah eine Einmündung, kreuzte in vollem Tempo die
Vorfahrtsstraße, kriegte die Kurve nicht und brachte den Bus erst
vor einer Tankstelle zum Stehen. Martin — atmete weiter und
lockerte seine Füße, die die Fußstütze kräftig niedergedrückt
hatten. Das war nachts um halb drei. Martin schätzte, dass der
Fahrer seit 14 Stunden am Steuer saß. Nun phantasierte, träumte
Martin, er würde selber fahren, diesen Bus fahren, es wäre das
erste Mal, er stellte sich vor, wie er das große Steuerrad umfasste,
die Gänge suchte, sanft kuppelte, das Gas niederdrückte, es wäre
aufregend, aber er würde den Bus beherrschen, vorsichtig, sehr
vorsichtig...
Ein neuer Fahrer war da, mitten in der Nacht eingetauscht, die
Sonne stieg unaufhaltsam, ins Braun der Berge mischten sich
unten im Tal hellgrüne Plantagen, und schließlich sahen sie die
Sonne aufgehen, ein paar Mal, immer wieder verschwand sie hinter
Bergzügen, kam wieder hervor. Auch Zara wurde munter und
fragte Martin, ob er gut geschlafen habe? – Martins Antwort –
rüttelte Zaras zentrale Sorge wieder wach. Wie konnte sie ihn
beruhigen, dass er nicht so verstockt ankommen würde? Wie sollte
sie ihn vergesellschaften, wenn er doch kein türkisch verstand? Ihr
Repertoire an fraulichen Mittel ist begrenzt, Zärtlichkeit scheidet
aus, sie merkt, dass sie ihn doch nicht gut genug kennt. Ihr wird
bewusst, dass sie es nicht kontrollieren kann; ihre Mutter hat das
gesagt, du kannst den Mann nicht kontrollieren.
Sie flüsterte zu ihm: „Aşkim. Ich habe Angst.“
„Lass uns nie wieder so fatal Bus fahren. Jedenfalls nicht in der
Türkei.“
„Ich mache mir andere Sorgen.“
Sie ließ ihn überlegen.
„Meine Füße sind dick geworden. So eine schreckliche Busfahrt
mache ich nie wieder! Meine Beine sind auch geschwollen.
Tatsächlich, es besteht akute Thrombosegefahr! Guck doch, du bist
auch dick geworden.“
„Das macht doch nichts. Das ist normal. Das geht heute Abend
wieder weg. Ich meine doch, was werden meine Leute von dir
denken?“
„Ich gebe mir Mühe. Du kannst mir vertrauen. Frag mich doch die
Vokabeln ab.“
Bei der letzten Rast kehrten Rudi und die beiden Frauen mit langen
Hosen von der Toilette zurück. Ja, es würde wahr werden, als
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Nach einer Weile besann er sich auf das, was ihm vertraut war.
Seine Donna! Er schaute sie an. Die braun-roten Haare fielen ihr
auf die Brust. Er wollte ihren Kopf zu sich wenden, doch durfte er
sie nicht küssen. Mit funkelnden Augen sah sie ihn an.
„Hast du dich beruhigt, mein Schatz?"
„Jaja, natürlich", meinte er und fügte lächelnd hinzu: „Ich will dich
lieben!"
„Oh, ich will dich auch. Ich weiß nicht, ob das gehen wird."
Zara nutzte die Gelegenheit, um wichtige Fragen aus dem Protokoll
für die Ankunft in Malatya durchzugehen. Martin hatte gelernt, was
auf Türkisch zu sagen war -Merhaba / Merhaba/ wie geht es dir/
gut, und dir/ danke-, und das mit den Doppelwangenküsschen, die
realer als französische waren, kannte er schon. Nun versprach er
Zara, alles gut zu machen – wichtiger als die Sprache seien
Einfühlungsvermögen und Anpassungsfähigkeit. Dann wechselte er
zu einem Thema, das ihn mehr interessierte:
„Warum hast eigentlich erst bei mir gelernt, Tütchen zu benutzen?"
fragte er. „Hattet ihr in der Schule keinen Sexualkundeunterricht?"
„In der Schule? Das ist verboten!"
„Verboten? Aber das muss jeder lernen!"
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„Nein, die Frauen nicht. Die Männer lernen das und bringen es den
Frauen bei."
„Wo lernen sie das?"
„Die Männer können viel machen, bevor sie heiraten. Sie lernen es
von anderen Frauen. Wenn sie beim Militär sind, haben sie Geld
und gehen am Wochenende zu einer Prostituierten."
„Und wenn sie nicht wollen?"
„Sie müssen nicht. Seyhan, eine Freundin von mir, hatte einen
Verlobten, der hatte keine Ahnung vom Sex. Aij! Als Seyhan erfuhr,
dass er noch nie mit einer Frau geschlafen hatte, bekam sie Angst
vor der Hochzeitsnacht. Irgend einer muss doch wissen, wie das
geht! Also was machte sie? Sie schickte ihn zur Prostituierten, stell
dir vor!"
Sie lachten.
„War eigentlich dein Ex-Freund auch beim Militär?"
„Ja. Jeder Türke muss das. Wenn er sich nicht freikauft, aber wer
kann das. Das kostet ein Vermögen."
„War dein Ex-Freund auch im Bordell?"
„Ja, bevor er mich kennen gelernt hat."
„Aber warum habt ihr keine Kondome benutzt?"
„Weiß ich nicht. Er hat immer vorher rausgezogen. Er sagte, das ist
nicht gefährlich. Ich habe mir keine Gedanken darum gemacht."
Im Stillen negierte Martin, sich dieser Kultur anpassen zu wollen.
‚In Zaras Kultur schenkt die Frau dem Mann ein enormes
Vertrauen’, denkt Martin, ‚und welch ein Glück ist es für Zara, dass
sie ihr Vertrauen mir schenkt und nicht so einem Stümper. Und ich
will dieses Geschenk gerne annehmen. Aber muss ich dafür
heiraten? Nicht notwendigerweise. Aber Zaras Familie erwartet es.
Heiraten für Zaras Familie?’
Der Bus kroch einen Hang hinab in ein enges Tal, das letzte vor
Malatya. Malatya! Rudi stand auf, gesellte sich zu ihnen und Zara
übersetzte: „Die haben mal versucht, eine Brücke über das Tal zu
bauen, aber das hat nicht geklappt.“ Sie durchfuhren die Kehre in
der Talsohle, und der Bus krebste wieder drei Kilometer hinauf. Von
oben herab schaute ihnen pompös und finster Atatürk entgegen,
eskortiert von zwei Panzern vor einem riesigen Kasernengelände.
Dann das Übliche: vermüllte Flächen, Bauruinen, Supermärkte,
Petrochemie neben Krankenhäusern, und die immergleiche
Universal-Architektur der Wohnhäuser, die hier draußen wie in
jeder türkischen Vorstadt dicht an dicht standen, so dass man von
einem Hochhaus rüberspringen könnte ins Nachbarhaus. Abseits
dieser Zusammenballung wieder Platz, unermesslich viel Platz,
verwildertes Niemandsland.
Der große, moderne Otogar war der Stolz der Stadt, zu verdanken
Eçevit, einem Premierminister, der aus Malatya stammte:
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war gut so. Niemals würde Martin diese Schreihälse mit einem Kauf
belohnen!
Am Abend führte Zara ihren Aşkin in ihre Stadt. Ihr Malatya, ihre
Straßen, ihre alten Wege. Im Zentrum, wo der hilfsbereit
chauffierende Schwager die beiden absetzte, zeigte sie ihm erfreut
eine Bauruine, die schon markanter Teil ihres Schulwegs gewesen
war - und seitdem hätte sie sich nicht verändert! Indes fragte sich
nur der Deutsche, wie es wohl weiterginge: Würde das fünfstöckige
Haus je fertig gestellt oder wieder abgerissen? Das war wirklich
müßig, denn man hätte an jeder Ecke fragen können: Warum wurde hier nicht
weiter gebaut, abgerissen, repariert, aufgeräumt, gefegt oder Sperrmüll abgefahren?
Die ganze Stadt hielt unendlich viel Arbeit bereit, um in Ordnung gebracht und
gestaltet zu werden. „Wegen der Ordnung fühlen Türken sich in Deutschland wohl“,
meinte Zara.
— Bald mündete die dicht bevölkerte Fußgängerzone mit den
tausend kleinen Läden in einen schlichteren Stadtteil, den Martin
ebenfalls erkunden wollte — Zara aber bewog ihn zum Umkehren,
aus Sicherheitsgründen, die er nicht verstand, aber unverzüglich
befolgte.
Sie kehrten in ein parkartig angelegtes Lokal ein, in dem Zara einst
mit ihrer Mutter Eis gegessen hatte; bei volkstümlicher Livemusik
und grellem Neonschein über Plastikmöbeln gab es -wie eh und je-
auf Tellerchen das Eis in Scheiben: Vanilla und Schokolade. Ihr Papa
war niemals mit ihr Eis essen gegangen. Er war seit 1973 als
Gastarbeiter in Deutschland; einmal im Jahr nur war er nach
Malatya gekommen, und während dieser sechs Wochen „brachte er
die Ordnung der Familie durcheinander": Zara musste bei ihrem
Bruder schlafen, denn ihren Platz neben der Mutter nahm der Vater
ein. Das sechste Kind wollte er schon wegmachen lassen, aber ihre
Mutter hätte sie gewollt. So kam Zara als Letzte zur Welt. Danach
hatte die Mutter zehn Abtreibungen, jedes Jahr eine.
Die erste Nacht für Martin und Zara bei Zelâl kam heran. Wie
würden sie schlafen?
Zara stammte aus einer alewitischen Familie, was für sie ein Glück
war. (Die Alewiten sind eine Minderheit in der großen Familie der
islamischen Religion. Sie gehen nicht in die Moschee. Denn sie
beten, anders als die mehrheitlichen Sunniten, „nicht mit den
Knien, sondern mit dem Herzen" — wenn sie überhaupt beten.
Auch viele andere Gebote des Koran halten die Alewiten für
unverbindlich. Sie folgen lieber unmittelbar dem Weg der Liebe.
Dafür wurden sie über Jahrhunderte hinweg als gottlos von den
Sunniten verfolgt und ermordet.)
Unter der Prämisse der Eheschließung ist es weniger sensationell,
gleichwohl bemerkenswert, dass eine kurdische Familie einem
weiblichen Mitglied und ihrem Freund die Freiheit zukommen lässt,
die ein verliebtes Paar erst so richtig froh macht. Für diese Gunst
wäre wenigstens eine Verlobung erforderlich gewesen. Doch ging
es auch ohne — allerdings sollten nicht einmal Freunde oder
Bekannte davon wissen. Denn ausschlaggebend war nicht die
Moral, sondern der gute Ruf der Familie. Offiziell war Zara noch
jungfräulich, und das sollte sie bleiben bis zur Hochzeitsnacht.
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Wohlig gesättigt, nahmen sie den Çay mit ins Wohnzimmer und
schlugen die Koffer auf. Im Nu waren die achtsitzigen Polstermöbel
überschwemmt von Klamotten, Schokolade, Süßigkeiten, Photos,
Geschenkpäckchen, eine große Bescherung! Martin schenkte dem
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‚Zaras Familie ist alewitisch’, denkt Martin, ‚die können sich über
Fromme genauso ermpören wie wir. Von den ethischen Werten her
betrachtet, steht einer Bindung mit dieser Familie nichts entgegen.
Und wie herzlich mich alle aufgenommen haben. Ohne Bedingung.
Nicht nur Zara hat mir ihr Vertrauen geschenkt, auch ihre Familie.’
Er spürt, wie ein warmes Gefühl in seinem Bauch sich nicht nur mit
Zara verbindet, sondern auch mit Zelal, Dila und Zila umfasst. ‚Sie
alle haben diese braunen Augen voller Wärme und Liebe. Auch
Rudi und der andere Schwager begegnen mir freundlich,
aufgeschlossen und zugeneigt. In ihrer Fürsorge haben sie etwas
Rührendes, und in ihrem Kreis spüre ich Geborgenheit.’
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Was nun folgte, war die Begegnung mit der alten Wohnung ihrer
Familie, die seit dem Tode der Mutter verwaist und mit den meisten
Möbeln ehrfürchtig erhalten worden war wie ein Museum; in
einigen Wochen allerdings sollte sie aufgelöst werden. Zum letzten
Mal hatte Zara dieses Haus bei der Beerdigung vor zweieinhalb
Jahren betreten.
Sie kamen an. Zaras einstiges Zuhause. Zara führte Martin durch
die grüne Korridortür, altes, ornamentiertes Holz; langsam, be-
dächtig zeigte sie ihm Zimmer für Zimmer, erklärte, wie sie den
Ofen befeuert hatten, um zu baden, wie sie unter das Sofa
gekrochen war, wenn sie auf den Bruder sauer war, wie sie im
Sommer auf dem Balkon geschlafen hatten; in ihrem Zimmer
verweilte sie, schweigend, und als sie bedeutende Gegenstände
der Kindheit entdeckte, wiederfand, Bilderbüchlein, Kissen, bestickt
mit Vögelbildern, alte Comic-Kalender in Händen hielt, war es, als
hörte sie ihnen zu, als schwebe Mamas Stimme im Raum. Ruhig,
sehr bedächtig beschaute sie ihre verstaubten Schätze —
Trümmerstücke! Stille Tränen traten in ihre Augen, so sehr Mamas
Geist spürend, aber nichts Lebendiges mehr atmend.
Martin atmet tief ein. Langsam, fast sich ziehen lassend, fährt er
hinter einem Schwertonner her, Hände und Kinn auf das Steuerrad
gestützt, die Augenbrauen heruntergezogen. Wie durch einen
Nebel sieht er ein Schild. Hamburg 120 km. Malatya 12.000 km.
Bauch und Mund fangen an zu zucken. Alles droht zu
verschwimmen. Er nimmt eine Cassette Türkpop, im Grundton
melancholisch, noch knapp oberhalb der Linie von Tränen und
Verzweiflung.
Die restliche Zeit ging rasch vorüber. Zara buk und kochte mit
Zêlal, um die Nichten zu entlasten. Martin bevorzugte die
Gesellschaft eines Romans, in den er sich, in Ermangelung sicher
gelernter Phrasen, mit einer linkischen Verbeugung selbst
„dispensierte“. Zu den Mahlzeiten reihte er sich, mit einem
Merhaba und ohne Verbeugung, wieder in die reale Gesellschaft
ein.
„Sag Zêlal, sie soll dir alles beibringen. Es ist köstlich. Du musst
immer so kochen!“
Zara beargwöhnte seinen Bauch: „Wenn wir verheiratet sind, setze
ich dich auf Diät.“
Das wird nicht nötig sein. Seit ihrer Abwesenheit hat er nicht mehr
viel gegessen, die Mensa lässt ihn neuerdings verzweifeln. Er
würde sie rank und flink zurück erobern. Allerdings wird auch seine
bescheidene Bräune verschwunden sein.
Das schien sie wörtlich zu nehmen: Sie schrie ihre Mutter an und
stritt um das Ausmaß der Frondienste, die ihr auferlegt wurden.
Zara meinte, die „Kinder“ würden sich schon immer zu wehren
versuchen, aber Delal bleibe hart und streng:
Delal und ihr Mann liebten ihren Ruhesitz im Dorf, diesen kleinen,
aber soliden Bungalow dreißig Kilometer von Malatya entfernt.
Nach Zelâls Meinung gab es hier für Kinder nur das Beste: Bücher,
Gartenarbeit, Staub und strenge Sitten. Dass die herangereiften
Töchter zaghaft interessiert waren, erste Liebesbande zu knüpfen,
das erstickte Zelâl mit dem Argument der „Wirtschaftskrise“. Aber
sie benutzte auch subtilere Mittel. Eines Tages war irgendein Onkel
zu Besuch. Die Familie saß beisammen. Zelâl schwärmte von einem
Kind, das viel besser sei als ihre: ein Mathematik-Olympia-
Landessieger, schon mit 14, wie intelligent! Dila verließ die Küche.
Martin bemerkte, wie Zilas Augen groß und starr wurden.
Sido, dem Vater von Zelâl und Zara, war es einst viel schlechter
ergangen. Er weinte noch über dreißig Jahre später, als er Zara
seine Geschichte erzählte. Als junger, frisch verheirateter und arg
verliebter Mann arbeitete er auf dem Feld seines Vaters. Der Vater
war reich. Seinen Sohn Sido aber verachtete er, weil der nicht
studieren wollte. Sido musste für seinen Vater härter arbeiten als
ein Tagelöhner. Eines Tages war er von langer, schwerer Arbeit
hundemüde. Es war auf dem Acker, in der Mittagshitze. Sein Vater
befahl ihm, weiter zu arbeiten, ohne Pause, und ging fort. Sido,
völlig erschöpft, legte sich nieder. Der Vater kehrte früher als
erwartet zurück und fand Sido schlafend. Da nahm er eine Schaufel
und schlug seinen Sohn halb tot.
Sido bettelte um Arbeit. Er fand keine mehr. Er konnte seine
Familie nicht ernähren - bis er von Deutschland hörte. Er verließ
seine Familie und seine Heimat, um sich als Gastarbeiter zu
verdingen.
Zara redete Zêlal ins Gewissen. Warum war sie so unzufrieden? Die
Nichten waren wunderbare Töchter, und sie hatten etwas Spaß
verdient. Zêlal willigte ein. Zara und die Kinder machten einen
Ausflug ins Schwimmbad nach Malatya. Natürlich wollten sie Martin
mitnehmen. Der aber dachte an die Busfahrt über Land, die zu
vermutende Überfüllung der überwarmen Becken mit
strampelnden Leibern, und badete lieber in den Buchstaben seines
Romans. Donna war nicht böse, sie brachte ihm echten, frisch
gemahlenen Kaffee mit.
Ja, seine Donna wäre eine gute Mutter: Nicht nur würde sie den
Kindern das Kotzen erlauben, auch für den Spaß sorgte sie. Hätte
er Grund zur Eifersucht? Nein, der für ihn gebrühte Kaffee und
auch der letzte Abend haben bewiesen, dass sie ihn nicht zu kurz
kommen lässt:
Am Abend vor Martins Abreise feierten sie den siebzehnten
Geburtstag von Zila, ein paar Tage vorgezogen, damit Martin dabei
sein konnte. Im Garten legten sie alte Polster im Kreis auf die
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würden mit ihrem Körper niemals Geld einsammeln. Die hier macht
das. Wenn sie schon so einen dicken Mann dabei hat, dann ist sie
von dem abhängig. Selbst wenn sie wollte, könnte sie nicht
heiraten."
„Warum nicht? Was würde passieren?"
„Sie müsste fliehen. Manche machen das. Aber das ist sehr
gefährlich. Die Mafia würde sie suchen und ermorden. Und die
Polizei würde nichts machen, die wird von denen bezahlt. Ja, die
Polizei würde der Mafia noch beim Suchen helfen."
„Wie kann eine Frau so abhängig werden?"
„Das kann ganz schnell gehen. Viele kommen als Studentinnen in
die Städte, aus armen Familien, sie nehmen solche Jobs an und es
gefällt ihnen, Geld zu haben. Oder sie geraten in schlechte
Gesellschaft, in einer Kneipe werden sie betrunken gemacht,
wachen morgens auf und haben einen dicken Mann neben sich
liegen. Dann ist ihre Jungfräulichkeit weg und das darf nicht
herauskommen. Sie werden erpresst. Genauso passiert es, wenn
eine Frau mit ihrem Freund schläft und der sie verrät. Sie ist
entehrt. So kommen die meisten zur Prostitution."
„Aber warum gehen sie nicht zurück?"
„Wenn ihre Familie davon erfährt, dass sie nicht mehr Jungfrau ist!"
„Na und?"
„Oh, manche werden umgebracht. Es gibt Väter, wenn die das
hören, suchen die ihre Tochter und erschießen sie. Dann müssen
sie ins Gefängnis und die Familie ist kaputt. Andere sind nicht so
extrem. Da sagen die Eltern, das ist nicht mehr unsere Tochter, und
sie tun so, als kennen sie sie nicht."
„Dann muss es wohl viele Prostituierte geben?"
„In den Großstädten, ja. Deshalb ist Zelâl so streng. Sie vertraut
ihren Kindern, ja, aber den Männern, nein. Man kann nie wissen.
Lieber fernhalten."
„Hat Zelâl auch abgetrieben?“
„Nur einmal. Das war schlimm. Sie hatte wochenlang Schmerzen.“
„Ich schicke deinen Nichten aus Deutschland Broschüren von Pro-
Familia, auf Türkisch gibt’s die auch.“
„Auf keinen Fall. Zelâl sieht das.“
„Aber sie wird doch ihre Töchter aufklären, damit es ihnen besser
geht?“
„Über so was redet man nicht.“
„Ich denke, ihr habt eine Frauenkultur?“
„Genau. Als Mädchen nahm mich meine Mutter immer mit zu
anderen Frauen. Ich fand das langweilig. Heute vermisse ich das.“
„Geben Frauen ihr Wissen über Sex nicht an die jungen weiter?“
„Nie habe ich sowas gehört. Selbst unter Freunden kannst du nicht
vertrauen. Die fangen an und reden über dich. Alle wissen dann
von deinen Problemen. Dann bist du nicht mehr normal.“
Nicht normal zu sein birgt das Risiko der Ausgrenzung, denn man
gilt bald als verrückt. Mit Verrückten will keiner etwas zu tun
haben.
49
3
Rückweg im Trüben. Martin ist sich nicht mehr sicher. Nicht mehr
beflügelt, sondern gebügelt. Sollte er kein guter Mann für Zara
sein?
Martin denkt an Georg. Der Spaziergang mit ihrem blöden Hund.
„Wieso habt ihr auch noch einen Hund?“ fragte Martin genervt.
„Claudia hat sich immer einen gewünscht. Und ein Jahr nach der
Geburt haben wir den angeschafft. Ich wollte keinen, aber ich
wollte ihr den Wunsch erfüllen.“
„Ihr habt doch schon ein Kind.“
„Das passt doch gut zusammen.“
Der Hund ließ sich am Wegesrand nieder; sie warteten, Georg
nahm eine Plastiktüte aus seiner Tasche, klaubte die Kacke auf,
verknotete die Tüte und nahm sie mit bis zum nächsten Mülleimer.
Nein, an Demut fehlt es Georg nicht. Und Martin? Kann er die Liebe
mit seiner Demut hüten? Kacke in Tüten packen? Babies windeln?
Sein Mund verkniff sich.
Martin sitzt wieder in seinem Auto. Es gewittert. Nicht nur die lange
Rückfahrt liegt vor ihm. Sein Thema fordert ihn erneut heraus, aber
umgedreht: Kann er versprechen, ein guter Ehemann zu sein?
Martin stellt das Radio ab. Er braucht Ruhe.
Warum hatte er Zara nicht gefragt, warum sie ihn heiraten will?
Wieso will sie das eigentlich? Was liebt sie an ihm, blaue Augen
kann sie von vielen haben, warum von ihm? So lange sind sie
schon zusammen gewesen, und er weiß es nicht. (Natürlich hat
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Zara sich das gut überlegt. Und in diesen Wochen wird sie ihre
Wahl von der maßgeblichen Instanz ihrer Schwestern und
Freundinnen mit Herz und Vernunft prüfen lassen, um dann umso
sicherer -oder aber verunsichert- zurückzukehren. Endgültig wird
ihre Entscheidung erst sein, wenn sie das amtliche Ja spricht.)
Im Urlaub waren sie zum ersten Mal so viele Tage zusammen. Wie
war er als Koçacun? Wie hatte er sich in ihrem Land, in ihrer Kultur
verhalten?
„Aus der Flasche kann man nicht mehr trinken“, beharrte Zara,
„das ist total unhygienisch!"
Martin setzte seine vernünftigen Argumente durch. Tagelang diente
ihnen dieselbe Flasche für beide Zwecke. Das Leitungswasser war
etwas trüb, doch sicher hygienisch, da gechlort; gut gekühlt
schmeckte es nicht so schlecht. Zara gab nach, trank und wurde
krank (aber aus einem anderen Grund).
Der Kühlschrank brach zwei Tage später endgültig zusammen und
wurde abgefahren. Auf den leeren Podest hievten die Elektriker
einen anderen Dreißigjährigen (Siemens). Deutsche Fabrikate
halten eben lang. Das weiß man in der Türkei. Die Klospülungen
funktionierten übrigens selten 100%ig. Muss doch nicht unbedingt
sein. In deutschen Zügen kühlen ja die Klimaanlagen auch nur
dann, wenn es draußen nicht zu heiß ist; und im Regionalexpress
gehen oft die Uhren der gelben Digitalanzeige falsch. Trotzdem
vertraut man der Deutschen Bahn und liefert sein Leben ihrer
Technik aus.
Auch Zara riskierte ihr Leben – Martin ist sehr duldsam gewesen,
dass er ihr diese Schwimmtouren erlaubte. Sie fragte ihn gar nicht,
es erschien ihr selbstverständlich, endlos an der Küste entlang zu
kraulen, um ihre Kondition zu erhalten. Nur etwas weiter draußen
rasten Männer mit Motorbobs zwischen den Wellen, verpesteten
mit ihren Zweitaktern die Luft, und die Rücksichtslosesten schlugen
wilde Haken fast in die badende Menschenmenge hinein.
„Warum werden die nicht von der Küstenwache verhaftet!“
verlangte Martin.
„Das sind doch nur Touristen, die ihren Spaß haben“, wiegelte Zara
ab.
„Ich wüsste gern, wie viele Schwimmer jedes Jahr von denen
niedergemäht werden.“
Die Familie aber vertraute ihm. Zara spürte es unmittelbar, und sie
fühlte sich dementsprechend – glücklich: „Söre Kedi, mau, ich fress
dich heute noch! Stell dir vor, die lassen uns in ein Zimmer.“ – Die
Gewähr gemeinsamer und ungestörter Bettstatt stellte einen
Vertrauensbeweis und eine großzügige Geste der Aufnahme in den
Familienkreis dar. Martin musste sich das so abstrakt erschließen,
weil dieses Entgegenkommen in seiner Kultur fast
selbstverständlich war, und in der Abstraktion fand er es wohl nett,
gewiss, aber sein Herz spürte es nicht.
sollen. Doch Zara nahm endlich auf ihn Rücksicht und sie gingen
wieder.
„Du zerrst mich in ein fremdes Haus hinein, stellst mich vor die
Leute hin, ohne mir vorher ein Wort zu sagen“, schmollte Martin
auf der Straße, „wie einen Hund. Ich bin kein Hund! Auch nicht für
dich!“
Zara, erschrocken, versprach, keine Überraschungsbesuche mehr
zu machen.
Handelte es sich um einen Angriff? Warum scheute er solche
Überraschungen? Keine Abenteuer mit seiner Donna? Martin fehlte
das Vertrauen, seienr Donna blindlings zu folgen. Vertrauen! Also,
er musste mit der fremden Kultur vertrauter werden, dann würde
er auch mehr vertrauen können.
Auch seine Bequemlicheit stand ihm im Weg zu seiner Donna. Sie
wollte unbedingt den Berg hinter dem Dorf erklimmen – nicht nur
für ihre Fitness, Wandern ist für sie Erholung. Martin hasste
Bergsteigen.
„Komm doch mit! Die Nichten gehen auch mit“, bat Zara.
„Schön, dann macht doch Frauenkultur.“
„Aber ich will meinen Bergen zeigen, was ich für einen Koçacum
habe!“
„Können die mich hier nicht sehen?“
„Wo denn, in deinen Büchern?“
„Aber warum gehen die Nichten mit?“
„Wenn wir allein miteinander gehen, würden die im Dorf reden.“
„Was würden die sagen?“
„Aji, die sehen Mann und Frau zusammen, gehen in die Wildnis.
Vielleicht würden uns sogar welche nachlaufen.“
„Meinst du Voyeure?“
„Nein Schatz, ich meine Imam!“
„Sag denen allen, ich werde niemals Moslem! Wie könnte ich dich
sonst so schön lieben!“
„Genau. Deshalb würden die uns nachlaufen.“
Nun klärte sie ihn über das Hauptrisiko auf:
„Streunende Hunde gibt’s. Zu Viert können wir uns besser
verteidigen.“
„Verteidigen? Wie denn?“
„Mit Steinwürfen, vier treffen besser als zwei.“
„Ich bleibe hier bei meinem Buch. Nachher fahre ich euch ins
Krankenhaus.“
Martin entsagte seiner Lektüre, um sie den dreien anzuschließen,
nicht aus Lust, sondern zur Verteidigung.
So drangen sie in unmittelbare Natur ein. Der Sonne unentrinnbar,
staken sie durch die steinige, stachlige Steppe, die ihm, der auf
kurze Hosen hielt, die Beine Schritt für Schritt zerkratzte. Überdies
versuchte er, nicht an Hunde zu denken. Das mitgenommene
Wasser musste rationiert werden, der Berg erstreckte sich endlos.
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Ein Hund ließ sich aus der Ferne blicken, doch wollte er nicht
angreifen, noch nicht.
Martin bekam Kopfschmerzen, sagte aber nichts, glaubte, sie mit
der hässlichen Schirmmütze des Schwagers deckeln zu können. Er
fürchtete, die anderen würden seine Leidensmiene entdecken, aber
sie waren viele Schritte voraus. Sie warteten auf ihn.
„Ich kehre um“, schimpfte er, „das hier ist Wahnsinn.“
Zara erklärte die nächste Kuppe zum Ziel. Dort knipste eine Nichte
die obligatorischen gestellten Gruppenphotos. Endlich drehten sie
um. Jetzt gelangte ihr Blick in die Ferne. Das war Raum! Riesig
ragte ein Gebirgsprofil auf, dazwischen unermesslicher,
transzendierender Raum. Aber die Aussicht blieb nicht, denn sie
stiegen ab, mussten das Augenmerk auf verquere Steine richten.
Nein, hier am Boden war keine Transzendenz mehr, das war
primitive Natur, karg, hitzetrocken, menschenfeindlich.
„Siehst du die getrockneten Kräuter?“ fragte Zara, „Das ist
Bergtee! Wollen wir welchen sammeln, dann kannst du
mitnehmen, zu Hause trinken und dich an Donna erinnern!“
„Ich hasse Tee!“
Sie gelangten zurück in den Schatten des Hauses. Während sich
Martin auf einem Gartenstuhl ausgrollte, bereitete Zara Wasser
und guten Kaffee: Sie wusste, was seine Stimmung hob. Die
Nichten machten sauber (bei Zelâl musste jeden Tag gestaubsaugt
werden). Später schlugen sie mit Äxten Aprikosenkerne auf, aus
denen Minikerne geborgen wurden, die wie kleine Mandeln
aussahen und nussig schmeckten. Zila übergab Martin ihre Arbeit.
Dafür holte sie ihr Mathebuch und beriet mit Zara geometrische
Strahlensätze. Martin war froh, die Axt zu haben. So weit hatte
diese Natur es bei ihm gebracht!
Nun schämt er sich seiner Furcht. Aber was nützt die Scham?
Würde er daraus eine Lehre gewinnen und sich bessern? Ja. Er
muss seine Feigheit bekämpfen! Immerhin, an den barbarischen
Fahrstil hatte er sich gewöhnt: Auf der Rückfahrt konnte er im Bus
nur wegen der Enge schlecht schlafen. Sein behüteter Idealismus
war hier auf etwas härtere Realitäten gestoßen. Und die waren
nötig, um zu lernen, dass Idealismus ohne Mut nichts bedeutet,
nichts außer Illusion. Mit dem bewusst für die Ideale
eingegangenen Todesmut korrespondiert das weiche Herz. Würde
er ebenfalls kämpfen? Wenn er im Faschismus leben müsste, dann
sicher nicht ohne Widerstand zu leisten.
Martin wirft Frida ein, eine von Zaras Lieblings-CDs, und die
melancholische Musik spielt ihm Zaras Liebe ins Herz.
Etwas hatte er auf jeden Fall von selbst gespürt und gut gemacht,
und das war keine Kleinigkeit: In Malatya, in der früheren Wohnung
der Familie, wo alle sechs Geschwister mit der Mutter
aufgewachsen waren. Zara hatte ihn mitgenommen, dieses
Familienmuseum zu besuchen. In gespannter Erwartung gingen sie
zu Fuß durch die Stadt Richtung altes Zuhause, Zara zog ihn immer
fester an sich, und während der letzten fünf Minuten schwiegen sie
pietätvoll.
So gelangten sie ans Ziel. Die Schlüssel passten.
Sie standen Hand in Hand in dem zerwühlten, verstaubten
Durcheinander, das für Zara und ihre Geschwister, auch für ihren
Papa, eine Reliqiensammlung war. Zara hatte Tränen in den Augen.
Sie nahm ein kleines Bastkörbchen auf, in das sie in ihren
Kindertagen bunte Steinchen gefüllt und filigrane metallene
Blütenstengel hineingesteckt hatte. In ihrer Andacht spürte sie das
Mitgefühl ihres Liebsten. Die Mutter war tot, aber Martin war da.
Zara gab ihm das Körbchen in Obhut. Es war unbeschädigt und
immer noch schön. Martin trug dieses Kleinod ehrfürchtig auf
seiner Hand. Mit der anderen Hand hielt er Zaras Kopf, den sie an
seine Brust schmiegte. Sie standen ganz still.
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Bald darauf hatte auch er Grund für Traurigkeit: Mit dem Tag des
Abschieds. Morgens um sieben Uhr wollten sie ihr letztes
Liebesmahl haben. Zuerst musste er zur Toilette und lief
ausgerechnet Zêlal über den Weg, die schon Börek buk und ihn
freundlich begrüßte. Sie fragte nach Zara.
„Zara is sleeping“, log er und stahl sich zurück ins Schlafzimmer.
Diese Lüge passte ihm nicht. Zara lobte ihn dafür – ihre BWL-Ader!
– – Sein Frankfurter-Schule-Dünkel! Jedenfalls, die so gewonnenen
zehn Minuten Freiheit genossen sie beide.
Sie packten dicht und schwer, Zara gab ihm alles mit, was sie auf
ihrer Rundreise durch die Türkei nicht mehr brauchen würde.
„Die restlichen Tüten kannst du den Nichten schenken", meinte
Martin, nicht ernsthaft mit Zustimmung rechnend.
„Bist du verrückt", rief Zara, „Zelâl bringt mich um!"
In den berstenden Taschen suchten sie noch einen Platz für Zaras
Kinderkörbchen.
„Vorsichtig, dass es nicht zerdrückt wird", gebot Zara.
Martin machte das zu seiner Herzensangelegenheit. Es ist
wohlbehalten in Kassel angekommen.
Am Otogar bestieg Zara mit ihm den Bus. Sie sprach mit den
Mitreisenden, redete, lächelte, um sie für ihn zu gewinnen. Sie
setzte sich auf seinen Platz, damit er sie noch etwas länger spüren
könne. Dann musste sie aussteigen. Sie steckte ihm ein Briefchen
zu.
Als der Bus abgefahren war und er mit Winken aufgehört hatte, las
er:
Malatya, 29. 8. o3
Bir tanem,
meine große Liebe, mit dir bin ich immer glücklich. Du
warst mit mir bei Mama. Du verstehst meine
Schmerzen. Früher habe ich nie geweint mit anderen.
Ich habe von dir gelernt. Mit dir kann ich weinen. Mit
dir will ich alles teilen. Ich liebe dich immer und denke
an dich. Wenn du das liest, weine ich wegen dir. Ich
freue mich so auf das Leben mit dir!
Deine Donna
nicht mal was, die Wahrheit zu schreiben. Dafür kann man ins
Gefängnis kommen.’
Martin schaute aus dem Busfenster. Er sah in die Berge. Waren sie
wirklich nur braun und kahl? Er hatte sie erkundet, zusammen mit
Zara und den Nichten. Die Berge erschienen ihm plötzlich einmalig,
wie belebt, und sie sprachen zu ihm, dass sie Zaras Heimat waren
und immer hier bleiben würden. Er war im Begriff, die kurdischen
Berge zu verlassen, das ganze Land, Zara, seine Donna zu
verlassen. Der Abschied schnitt ihm ins Herz. Das wollte er dem
Mann auf dem Nachbarsitz nicht zeigen; er wandte sein Gesicht ab
zum Fenster, in die Sonne, die seine Augen trocknen sollte, zu den
Bergen, die schon so viel Schmerz aufgenommen hatten.
‚Was ist schon Wahrheit’, dachte Martin, ‚die wahre Wahrheit ist,
dieses Land hat eine Donna hervorgebracht. Meine Donna! Eine
wundervolle Frau aus einem wundervollen Land, einem Land voller
Widersprüche und tiefer Bindungen. Wahrer Bindungen, wahrer
Liebe! Die Wahrheit ist, ich bin traurig und versuche, mich mit
Überlegungen darüber hinwegzuretten.’
‚Es ist an der Zeit’, sprach die Ehrlichkeit in ihm, ‚diese Traurigkeit
zu ihrem Recht kommen zu lassen.’
Er kuschelte sich ein auf seinem Platz, der von Zaras Liebe geweiht
war. Die Sonne Kurdistans war stark, doch sie konnte seine Tränen
nicht mehr trocknen.
Warm spürt er die Tränen hinab rinnen. Er hält an. Nichts hält ihn
mehr zurück. Er weint, weint nun laut, spürt Zaras Liebe, eine reine
Gnade, dass sie ihn liebt, diesen Martin, der soviel versäumt,
abgelehnt hat.
Nein, er will es neu und besser machen, seinen Widerstand
aufgeben, der Liebe den Raum geben, den sie braucht. Wenn diese
Trennungszeit für etwas gut sein kann, dann dafür, dass er sehe,
wo er steht, und lerne, was es noch braucht. Auf dass aus dieser
traurigen Figur ein warmherziger, toleranter und großzügiger Koça
werde, der seine Donna glücklich macht!
„Aber ich kann darüber hinweggehen“, befiehlt er sich, „ich bin ein
freier Mensch, oder nicht? Ich werde tun, was ich will, innerhalb
von Recht, Gesetz und Vernunft. Und Liebe, ja, was die Liebe
gebietet. Liebe braucht Verpflichtung! Entschlossenheit! Disziplin!
Genau. Ich gebe mir die Übung, jeden Tag mindestens zehn
Minuten Türkisch zu lernen. Ab heute, bis Donna wieder da ist.
Dann verabreden wir, wie es weitergeht.
Es ist 23.35 Uhr. Ich habe Glück: Bis ich ankomme, ist Mitternacht
vorbei! Dann habe ich noch 23 Stunden Gnadenfrist. – Wie schlapp
fühlt sich das an. Was sind zehn Minuten? Zehn Minuten für eine
Liebe! Es gilt ab sofort.“
Er kommt nach Hause, will ins Bett fallen, da fällt ihm sein
Versprechen ein. Ist das die Hölle? Oder etwa Befreiung?
Irrelevant. Die Verpflichtung zählt. Im Regal kramt er das gelbe
Türkischlehrbuch hervor, das ihm Zara zu Weihnachten geschenkt
hat. Es ist noch ganz neu. Er schlägt es auf, es fühlt sich gut an.
Die erste Lektion ist nicht schwer. Schnell ist eine halbe Stunde
vergangen.
Es ist getan. Er löscht das Licht, bettet sich, spürt die Wärme im
Bauch und ist sich gewiss, dass es Liebe ist.
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4
Martin erwartet Zaras Rückkehr wie ein Schwimmer, der sich
vornimmt, zum ersten Mal vom Fünfmeterturm zu springen. Er will
sich wagen, er will springen, eintauchen und sich aalen in der
Liebe.
„Aji! Das wollen wir ändern!“ Sie drückt ihre Zigarette aus und
schmiegt sich an ihn. Als sie, weit vom Tod entfernt, beieinander
lagen, hielt Martin, in den Wellen der Lust, einen Moment inne,
schaute auf seine hübsche Gefährtin, dieses weibliche Individuum,
das sich nicht kontrollieren lässt, vielmehr frei, vollkommen frei,
ihn verlangt, ihn umschlingt und sich ihm ergeben will. So nimmt
er sie, in ihrer Freiheit, und lässt ihr keine Möglichkeit mehr als in
aller Süße mit ihm vereint zu sein.
Türkisch zu sprechen traut er sich noch nicht. Aber Zara findet ihn
abends beim Lernen.
„Du hast mich die ganze Zeit geliebt“, bemerkt sie.
„Wenigstens deine Sprache wollte ich abends bei mir haben.“
„Ich bring dir jetzt Türkisch bei“, verkündet sie, nahm ihm das Buch
weg und liebte ihn, garniert mit türkischen Vokabeln.
Damit ist Martin seines Versprechens, seiner Verpflichtung zum
Lernen auf das Lieblichste enthoben.
Dafür achtet Zara darauf, ihm beiläufig Vokabeln und
Redewendungen aus dem Alltag beizubringen. Und sie verabreden,
dass sie ihre Kinder zweisprachig erziehen würden: Zara würde
ausschließlich Türkisch mit ihnen sprechen, und Martin würde mit
den Kindern zusammen lernen. - Dass sie ihn überholen würden,
wäre nicht so schlimm, seinen Perfektionismus sollte Martin
bräuchte nicht gut zu reden, es käme vielmehr darauf an, dass er
ungefähr das Thema versteht, und mit den Kindern sollte er
sowieso Deutsch reden.
Martin ist beeindruckt, wie klar und schlau seine Donna alles
geregelt hat, ohne dass er große Opfer bringen soll. Er ist mit allem
einverstanden.
Der Streit beginnt mit der Saalsuche. Martin will einen gemütlichen
Raum in einem Restaurant. Das sei viel zu klein, urteilt Zara. Sie
müssten mit 150-2oo Gästen von ihrer Seite rechnen. Es stört ihn
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nicht, dass er von seiner Seite nur ca. 50 Gästen einlädt, von
denen vielleicht 30 kommen würden. Also insgesamt 200. Vielleicht
würde er dafür noch ein Restaurant finden? Zu teuer, sagt Zara.
Für eine Hochzeit könne man auch eine Turnhalle mieten. Bezüglich
Verpflegung wirbt bzw. erschreckt eine Annonce eines türkischen
Lieferdienstes: Komplettes Menü, z.B. Krautsalat, Köfte und
Mischgemüse ab 2,50 Euro pro Person, inclusive Plastikteller,
Plastikbesteck und Ausgabedienst. – Da könne er seine Gäste auch
billiger wegekeln, faucht Martin. Dasselbe Drama mit Getränken:
Nicht mehr als Wasser, Cola, Fanta, Bier will Zara erlauben, dazu
Plastikbecher. Was er verlangte: Geschirr, Kaffee, Sekt und Wein –
das alles sei zu teuer.
„Dann wird es für uns Deutsche keine Hochzeit sein, sondern ein
Notaufnahmelager!“
„Aber die kommen doch nicht zum Essen, sondern zum Feiern. Wir
schmücken den Saal und haben eine Musikband.“
„Gutes Essen und Trinken sind die Voraussetzung jeder gelungenen
Feier.“
„Nein, das ist das Tanzen. Die meiste Zeit tanzen wir.“
„Deutsche tanzen nicht lang. Sie wollen essen und sich
unterhalten.“
„Zum Unterhalten ist es zu laut.“
„Ich will mich aber mit meinen Gästen unterhalten.“
„Die Gäste kommen nach dem Essen an den Brauttisch und dürfen
sich kurz mit uns unterhalten.“
„Ich will aber nicht am Brauttisch festsitzen, sondern zu den
Gästen hingehen, sie ansprechen und sitzen, wo ich will.“
„Das geht nicht. Wir sitzen gemeinsam am Brauttisch, oder wir
tanzen. Außerdem haben wir noch die Geschenkzeremonie und die
Tortenzeremonie.“
„Viele Gäste von mir werden da sein, die ich lange nicht gesehen
habe. Ich will mich ausführlich mit ihnen unterhalten. Die
Geschenkzeremonie machen wir nicht.“
„Die mag ich auch nicht, aber das muss sein. Und zum Unterhalten
heiratest du doch nicht, Schatz. Das kannst du zu einer anderen
Zeit.“
„Nach dem Phototermin und vor der Lichter-Zeremonie haben wir
doch noch Zeit. Dann können wir wenigstens die Gäste begrüßen.“
„Wir kommen erst später zum Fest, wenn schon alle Gäste da
sind.“
„Nein, wir sind als Erste da. Wer sonst soll die Gäste begrüßen?“
„Die Eltern und Geschwister. Wir kommen eine Stunde später. Die
Gäste müssen auf uns warten.“
„Ich lasse meine Gäste nicht warten. Das ist extrem unhöflich.
Außerdem will ich mich mit ihnen unterhalten. Ich freue mich, sie
alle zu sehen, aber ich darf nicht pünktlich sein? Soll mich nicht
unterhalten, sondern nur mit dir sitzen und tanzen. Soll eine
Stunde meiner eigenen Hochzeit versäumen? Mache ich nicht. Das
ist vollkommener Unsinn!“
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Nun will er genauer verstehen, was die Hochzeit für Zaras Kultur
bedeutet.
Diese halbe Stunde dauert... Rojda und Dêlal sollten Zara helfen,
sich in das Kleid einzuzwängen, aber sie kommen nicht. Denn sie
müssen erstens frisch beim Frisör gewesen sein, zweitens die am
Vorabend von Martins Brüdern nach römisch-christlicher Ordnung
gestellten Tische nach ihrer Sitte umräumen und umschmücken:
Statt der klassischen Abendmahlsform mit dem Brautpaar in der
Mitte der Stirnseite stellten sie einen einzelnen Brauttisch abseits
von den übrigen Tischen und schräg zur Geometrie des Raumes
auf.
Der Phototermin wird bereits überschritten. Martin, der selber mit
der Krawatte kämpft, sieht sich zudem Zaras Schimpftiraden gegen
die Schwestern ausgesetzt.
„Rojda ist eben genauso narzisstisch wie du“, hält er entgegen.
Glücklicherweise versteht sie seine Bemerkung nicht; statt
nachzufragen, fordert sie ihn auf, ihr zu helfen – ihn, der das
Brautkleid vorher nicht sehen durfte.
„Bei euch ist alles umgekehrt wie bei uns“, scherzt er, „deutsche
Bräutigame pflegen ihre Bräute nicht anzuziehen, sondern
auszuziehen.“
„Bei uns ziehen Männer ihre Bräute niemals an. Wenn ich Rojda
sehe, schreie ich, ich bring sie um, mich so im Stich zu lassen!“
Martin hat solches Mieder nie zuvor angefasst: unzählige
Unterröcke, ein steifer, widerspenstiger Reifrock, Unmengen an
Tüll, noch schlimmer das Korsett mit unsichtbaren, nicht
auffindbaren Verschlüssen. Während Zara hektisch raucht und
kommandiert, schnürt er das Korsett zu tief am Bauch ein, dann zu
hoch, schlüpft unter den Rock, verheddert sich zwischen den
Schichten, „ich muss erst ganz nach nach innen“ meint er und
zupft am Schlüpfer, aber Zara verjagt ihn von dort, treibt ihn an,
nicht mit Trieben, sondern mit dem Verstand zu arbeiten, und
Martin versteht, dass sie erst diese Feier hinter sich bringen
müssen.
(Nicht ahnt er, dass sie in dieser Nacht so viele Logiergäste in ihrer
Wohnung würden aufnehmen müssen, dass -entgegen auch der
kurdischen Sitte- Rojda und Sido gemeinsam mit ihnen in einem
Zimmer schlafen würden.)
Als der Rock endlich sitzt, verlangt Zara nach ihrem Brautstrauß.
Martin hat vergessen, ihn abzuholen. In türkischer Fahrweise kurvt
er zu dem Laden, der zufällig noch geöffnet ist, bekommt das Teil,
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hat sogar Geld zum Bezahlen dabei, und sie hetzen weiter zum
Photostudio.
„Oh, Sie sind gestresst“, stellt der Photograph fest, „so bekommen
wir keine schönen Bilder.“
Für sieben Minuten werden sie zum Entspannen gezwungen – eine
Zigarettenlänge.
„Karicigim“, fragt Martin, „warum willst du mich heiraten?“
„Oh, mau! Meine mavi boncuk sind so tolerant und gucken nicht
mal mehr böse, wenn ich rauche. Und mein Aşkim hat für mich
Türkisch gelernt.“
„Ich will dich küssen“, sagt Martin.
„Darfst du nicht, der Lippenstift.“
„Aber die Zigarette nimmt dir auch Lippenstift weg.“
Zara steckt ihre Zigarette mit der dunkelroten Verfärbung zwischen
Martins Lippen. Er zieht, bläst ihr den Rauch ins Gesicht und küsst
sie.
Später schenkt Martin selber das Glück aus – das Glück im Unglück
vieler Deutscher. Er hat ein paar Freunde gebeten,
Thermosflaschen und Kaffeemaschinen mitzubringen, hat selber 2
kg „Jacobs“ gekauft, lässt frischen Kaffee kochen, und während
Zara ihren Halai weiter tanzt, erlaubt er sich, herumzustreunen,
um das begehrte Getränk anzubieten und sich beim Füllen der
Plastikbecher ein wenig zu unterhalten. Die meisten Deutschen
leiden unter der lauten Musik. Gespräche sind mühsam. Ältere
Deutsche verziehen sich in ihre Enklave, die Freiterrasse vor dem
Eingang, um sich in Ruhe zu unterhalten.
Martin beschwert sich mehrmals, aber die kurdische Kapelle wird
nicht leiser. Die Musiker wollen auch nicht kürzen. Sie spielen ein
Lied nicht vier oder fünf, sondern zwanzig Minuten lang. Die
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Das tun sie auch. Für eine Viertelstunde wird die dröhende
kurdische Schwermut von einer deutschen Katzenjammer-Violin-
Flöteneinlage unterbrochen. Schnell gehen sie zur
Geschenkzeremonie über, an der sich ausschließlich die kurdische
Seite beteiligt. Nur über das Tortenritual lässt sich vermuten, dass
die Torte wirklich allen schmecken würde. Aber nicht jeder konnte
ein Stück erhaschen, Zara sorgt nur dafür, dass jedes Kind ein
Stückchen abbekommt.
Für die Kurden ist es keine kurdische Hochzeit (zu wenige Gäste, zu
viel Gerede), für die Deutschen symbolisiert nur das weiße
Brautkleid, dass es eine Hochzeit sei. Auch in Kurdistan ist das
weiße Kleid obligatorisch, obwohl es zu keinem religiösen Ritual
getragen wird. Ebenso ist das kurdische Ringtausch-Ritual reine
Form, areligiös und unbegründet wie unsere Osterhasen. Der
traditionelle Rahmen, in dem es stattfindet, ist das Hennafest am
Vorabend der Hochzeit, dessen Zweck es ist, der Braut eine
Plattform für ihre Trauer zu geben. Sie nimmt Abschied vom
Elternhaus, in dem sie ihre letzte Nacht verbringt. Dazu singen alle
Frauen das melancholische Henna-Lied, und unter ihrem Schleier
beweint die Braut ihre Trennung vom Elternhaus. Dann bekommen
die Brautleute einen feuchten Klumpen Henna-Erde in die Hand
gedrückt, ziehen sich gegenseitig die Ringe über die Finger und
bekommen darüber jeweils einen rot ziselierten seidenen
Handschuh, für ein paar Minuten, während das Henna ihre Haut
orange färbt. Ebenso bekommen alle anderen unverheirateten
Gäste etwas Henna ab, die Älteste zuerst, als Symbol, dass sie bald
an der Reihe sei...
Martin und seine Eltern waren die einzigen Deutschen bei diesem
Hennafest. Sie waren auch die einzigen, deren Geduld zur Neige
ging, da die Feier wegen der um zwei Stunden verspäteten Braut
keinen Anfang nahm. Zudem störte es scheinbar niemand anderen,
dass vor der Eingangstür des Lokals Hundekacke lag, die Schuh für
Schuh hinein getragen wurde. Der kurdische Wirt wurde informiert,
tat aber nichts (die anderen hatten in ihrer Euphorie nichts davon
bemerkt; als sie das hinterher erfuhren, waren sie empört).
Schließlich legte Martins Vater einen Fußabtreter über den Haufen,
um wenigstens den Neuzugang zu stoppen. - Einen entsprechend
schlechten, griesgrämigen Eindruck machten die drei, die sich ja
trotzdem bemühten, freundlich und offen zu sein, beim Tanzen
mitzuhalten, aber unwillkürlich fixierten sie die brauen Flecken auf
dem Fußboden, bis sie zur Unkenntlichkeit verteilt waren.
Angemessener war ihre Stimmung, als endlich das Trauerritual
einsetzte. Die Schwestern sangen und weinten, weil sie glaubten,
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dass sie den engen Kontakt zu Zara verlieren würden (was ja allein
die Hochzeitsnacht widerlegen wird!); Martin schloss sich dem
Trübsinn an, Zara jedoch nicht. Sie hat ihr Zuhause schon seit
langem verloren und ist froh, dass sie mit Martin ein neues
bekäme.
Arm in Arm paradieren sie, auf dem Weg ihres Glücks, das ihnen
erscheint, wohin sie auch blicken: liebe Freunde und Verwandte,
mit Girlanden und Kerzen eine Gasse bildend, Wunderkerzen
sprühend, zujubelnd, Rosenblüten werfend, begleitet von einem
Flöten- und Trommelkonzert, da löst sich alles in der
Ausgelassenheit, wie in einem Traum hebt Martin den Schleier der
Braut, küsst ihre Stirn, im Beifall von allen Seiten, in
herabregnenden roten Ballonherzen eröffnen sie den Tanz, lachend
winden sie sich, mit diesem langen Kleid, keinen Schritt kann er
tun, ohne darauf zu treten, doch heiter versuchen sie das
Unmögliche, strauchelen, verzagen nicht, tanzen sich hinein in den
Stand der Ehe, mit unregelmäßigen, verpatzten Schritten, doch mit
unerschütterlichem Lächeln tiefster Gewissheit, schwingen sie über
die Falle des Absurden hinweg, gelangen auf die Seite des Humors
und der Freude, vereinigt waren sie das Königspaar, was sie tun, ist
richtig, denn es geschieht entschieden im Zeichen der Liebe.