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Ipupiara
Peter Niederer
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Kapitel 1 Altes Pergament
An ihrem Haus hatte Emilia ganz besonders Freude, denn sie hatte es
zusammen mit ihrem Mann und Freunden aus der Siedlung selber gebaut. Das
Haus war klein und bot gerade genug Platz um darin zu wohnen, doch war es
umgeben von einer grossen, gedeckten Veranda und dies gab der Familie viel
geschützten Platz um ihr tägliches Leben weitgehend im Freien verbringen
zu können.
Emilias Lieblingsplatz auf dieser Veranda war ihr Schaukelstuhl. Von dort
genoss sie den herrlichen Rundblick weit in den tiefen Urwald hinein, und sie
genoss es, mit ihrer Familie in diesem Haus in Brasilien zu leben. Emilias
Kinder hiessen Juanita und Thiago. Juanita war 9 Jahre alt und schon ganz
schön gross und schlau. Thiago, das war ihr kleiner Bruder, 2 Jahre alt und
ein Lausbub, wie es fast alle Buben in diesem Alter sind. Aber er war ein
lieber Lausbub und Juanita hatte grosse Freude an ihrem Bruder.
Eines Tages kamen die zwei Kinder eifrig mit einem riesigen Pergamentpapier
angerannt.„Meine lieben Kinder, Juanita - Thiago“, staunte Emilia, „was trägt
ihr denn da in euren Händen?“. „Mami, Mami, schau mal, ein grosses Papier,
ein Pergamet, es lag auf dem Dachboden“. Emilia lächelte überrascht. „Habt
ihr mein altes Pergament gefunden?“, wunderte sie sich, „das Pergament?“.
„Ja schau mal“, ereiferte sich Juanita, „schau mal Mama, ein Pergament.
Schau mal, wie schön es ist“. „Ja dieses Pergament“, erinnerte sich Emilia,
„dieses Pergament ... - einen grossen Teil meiner Zeit habe ich damals im
Indianerdorf mit diesem Pergament verbracht“.
„Ihr kennt es ja, das Indianerdorf Uwattibi“, sprach Emilia weiter, „von
diesem Dorf habe ich euch doch schon öfters erzählt. Seht ihr das Bild auf
dem Pergament? So sah das Dorf damals aus. Ich hatte es als kleines
Mädchen gezeichnet“, „Oh sööön“, freute sich Thiago, der inzwischen auf das
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eine Bein von Emilia gekraxelt war. Das andere Bein hatte sich Juanita zum
draufsitzen gewählt. So sassen die drei eng beisammen und bestaunten die
vielen Zeichnungen und Schriftzeichen auf dem Pergament.
„Es ist später Nachmittag“, erklärte Emilia ihren Kindern, „eigentlich wollte
ich jetzt das Abendessen zubereiten. Es gibt Eier Pfannkuchen und
Honigfrüchte“. „Mhhh fein, mhhh fein“, leckte sich Thiago die Lippen. „Nein
bitte, erzähl uns was vom Pergament“, wünschte sich Juanita, „bitte Maija,
erzähl uns vom Pergament“. „Ja aber euer Papa kommt schon bald und wird
Hunger haben“. „Nein bitte, erzähl uns was, bitte, bitte“, drängte Juanita.
„Ist Koo, ist Koo, Muh, Muh, dicke Schwanz“, plapperte Thiago und staunte
auf das Pergament. „Aber das ist doch keine Kuh“, lachte Juanita, „lieber
kleiner Thiago. Du bist auch eine Kuh. Thiago Muuh, Thiago muuh“. „Muuuh,
Muuh“, antwortete Thiago und zeigte mit seinem kleinen Zeigefinger aufs
Pergament, denn er glaubte steif und fest, dass die Zeichnung auf dem
Pergament eine Kuh darstellen würde. „Schau mal Thiago“, erklärte Juanita,
„deine Kuh auf dem Pergament hat ja einen Fischschwanz und keinen
Kuhschwanz. Sag mal Maija, was ist das für ein schreckliches Tier?“.
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„Hüa, hüa, komm mein Pferd, komm meine liebe Rosabranca, komm zu mir,
komm zu Emila“, rief das Mädchen Emilia ihrer weissen Stute zu. Einen
Augenblick später stand Rosabranca vor Emilia. „So viele fremde Leute sind
heute nach Uwattibi gekommen“, erklärte Emilia, während sie ihr Pferd
sattelte, „des Indianerkönigs Ajun Bebe hochwohlgeborene Botschafter,
alles noble Indianer. Und dann die Aufregung, was sie wohl zu berichten
haben. Meistens erzählen die sowieso nur so langweiliges Zeugs, nur für
Erwachsene. Ach komm, Rosabranca, das kann ja nicht so wichtig sein. Ich
ziehe meine Indianerfedern über und dann gehen wir ans Meer“. Abare, dem
Papagei brauchte Emilia keine zwei mal zu rufen. Schon kam er
herbeigeflogen und hatte auf Rosabrancas Sattelholm Platz genommen. .
„Kraah, kraah“, grüsste Abare, „Kraah, kraahh, Abare Meer, krahhh, Abare
baden, kraaah, Wasser kalt, buuuaa, kalt, Wasser kalt...krahh, kraaah“. Emilia
lächelte. „Lieber Abare, du brauchst ja nicht baden gehen im Meer, wenn du
nicht willst“, meinte sie liebevoll zu ihrem Papagei. Darauf ging der Ritt los.
Emilia gefiel das Leben im Indianerdorf. Sie war ein Mischlingsmädchen, halb
Indianerin, halb Europäerin. Früher da lebte sie in einer grossen Stadt, in
Porto. Porto gehört zu einem Land, das heisst Portugal und liegt auf der
anderen Seite des Grossen Wassers, das die „Newe Welt Prasilien“ vom alten
Europa trennt. Vor etwas mehr als zwei Jahren, im Jahre 1533, hatten sich
Emilia, ihr Bruder Kevin und ihre Mutter Silivia aufgemacht, auf einem
Segelschiff von Portugal nach Brasilien zu reisen. Dies hatte seinen guten
Grund. Emilias Vater Luiz wurde nämlich ein Jahr zuvor im Urwald Brasiliens
von Räubern gefangen und die drei wollten mithelfen, ihren Vater zu
befreien.
Auf ihrer langen Reise lebten sie nun schon seit vielen Monden im
Indianerdorf Uwattibi, wo Emilias Mutter als Kind aufgewachsen war. Wenn
auch das Leben im Indianerdorf schön war, Abwechslung gab es nicht viel. Es
geschah fast jeden Tag dasselbe und Emilia wäre doch so gerne wieder zur
Schule gehen, wie damals in Porto. Nur Schule gab es im Indianerdorf weit
und breit keine. Und am heutigen Tag, da waren noch Botschafter des
Indianerkönigs ins Dorf gekommen und die redeten nur so Zeugs für
Erwachsene und sowas fand Emilia doppelt langweilig. Da war ein Ausritt ans
Meer schöner.
Eine Zeit lang ritten die drei einem Bach entlang. Hie und da konnte Emilia
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Fische im Wasser sehen, grosse, lange Lachsfische. „Nehmt euch bloss in
Acht“, warnte Emilia die Fische, „nehmt euch in Acht, dass euch keine
Piranhas Raubfische anschleichen. Sonst machts ‚Wuddrrrr’ und von euch ist
nichts mehr da, ausser ein paar Schuppen, die im Wasser schwimmen“. Aber
es nützte nichts. Die Lachse hörten Emilia nicht zu und schwammen weiter,
und - Piranhas haben halt manchmal einfach Hunger. Das ist so in der Natur.
Schon bald wurde der Boden sandig und nicht weit vor Emilia war das weite
Meer zu sehen. Kräftige Wellen schlugen an die hohen Steine der Küste.
Einige Felsen ragten am Strand empor, doch dazwischen lagen
Meeresbuchten mit feinstem Sandstrand. „Komm Rosabranca, hier bleiben
wir eine Weile und geniessen die Ruhe am Meer“. Abare flog derweil weite
Kreise am Strand und zischte mehrmals an den zweien vorbei, bevor er im
Sand neben Emilia Platz nahm.
Zwei, drei mal schwamm Emilia hinaus und genoss das Bad im warmen,
salzigen Wasser des Meers. Dann wieder lief sie dem Strand entlang und
suchte all die wertvollen Sachen, die es an einem Sandstrand am Meer zu
finden gibt, schöne Muscheln, bunte Steine, verwaschene salzige Hölzer, und
was sonst noch so alles am Sandstrand herumlag. Schliesslich aber legte
Emilia eine Pause ein und blickte lange Zeit hinaus aufs weite Meer.
Emilia blickte aufs Meer und sah das Licht der Sonne im Wasser glitzern.
„Ah das blendet“, stöhnte sie zu Rosabrance, „das ist ja so hell, so enorm
hell“. Emilia hielt sich die Arme vor das Gesicht um sich gegen das grelle
Sonnenlicht zu schützen. „So hell, mir wird schwindlig, was soll das?“,
stöhnte Emilia. Emilia schwankte ein paar Schritte hin und her, bevor sie ihre
Arme wieder vom Gesicht wegnahm. Erneut blickte Emilia aufs Meer hinaus,
doch was sie jetzt sah, liess ihr das Blut in den Adern stocken. Vor ihr lag
ein riesiger Wirbel im Wasser. In tösendem Donnern drehte sich der Wirbel
und verschwand in seiner Mitte in die Tiefe des Meers. „Träume ich oder bin
ich wach?“, wunderte sich Emilia, „ein Wirbel, der das Wasser im Meer
verschluckt?“.
„Banggg“, knallte es sogleich übers Meer und der Wirbel schoss nun aus der
Tiefe empor, mit Surren, Pfeiffen und Heulen, in die Höhe des Himmels. Der
Wirbel bäumte sich vor Emilia zu einem Berg, zu einem zackigen, schuppigen
Berg. „Baaahh“, knurrte eine Stimme tief aus diesem Berg heraus, und der
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Berg nahm allmählich die Form einer dämonischen Gestalt an.
Als nun allmählich das Wasser ins Meer zurück floss, grinste schliesslich ein
Dämonenwesen Emilia hämisch ins Gesicht, eine Dämonenfrau, halb Mensch,
halb Fisch, mit dem Kopf einer Frau und dem Fischschwanz einer
Meerschlange.
Emilia blickte ängstlich empor „Wer, wer bist du?“, fragte sie mit leiser
Stimme. „Hua, hua, hua, du kennst mich nicht? Ha ha, ich bin Ipupiara, die
Dämonin des Wassers“, antwortete sogleich das Unwesen, „.ich fresse alle
Indianermädchen, die sich alleine ans Meer wagen“. „Ich bin aber nicht
alleine“, wehrte sich Emilia und zeigte neben sich auf ihr Pferd, „da schau,
Rosabranca, mein Pferd ist auch bei mir“.
Ipupiara riss ihre Augen auf und glotzte auf Rosabranca hinunter. „Fress ich
auch gleich“, fauchte sie durch die Haifischzähne ihres Rachens. Dazu
streckte Ipupiara ihren langen Fischschwanz hinter sich in die Höhe, bereit,
jeden Moment damit zuzuschlagen. Ihr Oberkörper aber, den sie vorne nach
oben streckte, war von menschenlicher Gestalt, mit kräftigen Armen und
starken Schultern. Aus ihrer grimmigen Dämonenfratze blickte sie mit
feurigen Augen drohend zu Emilia hinunter.
Emilia rannte drauf los und wollte fliehen. Doch Ipupiara schlug mit ihrem
haushohen Fischschwanz aufs Wasser ein, sodass eine Sturmesgischt Emilia
in den Sand warf. „Ha, ha, mir entkommst du nicht“, schimpfte Ipupiara. Sie
griff mit ihren kralligen Fingern nach ihrem Dämonenstab, nach ihrem
Dämonenstab, der aus dem Sägeblatt eines Sägezahnfisches geschmiedet
war und zuvorderst, da steckte ein lebendiger Fischkopf darauf, der Kopf
eines gierigen, gefrässigen Riesen-Prianhas.
„Gsch, gsch, kä, kä kä“, klapperte und fauchte das Gebiss des Riesen-
Piranhas auf Emilia los. „Rosabranca, rette dich, rette dich“, rief Emilia zu
ihrem Pferd. Rosabranca wieherte und versuchte davonzurennen. Doch schon
schlängelte sich eine lange Zunge aus dem Mund des Riesenpiranhas um
Rosabrancas hinteres Bein. Nun hatte das arme Pferd keine Möglichkeit
mehr zu entkommen und konnte nicht mehr fliehen. Emilia blickte zurück und
ergriff blitzschnell einen Holzstecken, der neben ihr am Boden lag. Damit
schlug sie auf die Schlangenzunge ein, sodass der böse Fischkopf jaulte vor
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Schmerzen. Zornig glotzte Ipupiara auf Emilia runter. „Wart nur, du kleine
Göre, jetzt kannst du was erleben“, drohte sie hämisch.
Hilflos blickte Emilia nach oben in Ipupiaras feurig rote Augen. Doch Emilia
sah ob sich nicht nur Ipupiaras böses Gesicht, nein, weit oben im Himmel
erblickte sie Abare, ihren treuen Papageienfreund. „Abare, Abare“, rief
Emilia, „hilfee“. „Kraaah, krrahh“, krächzte der Papagei, der zu Emilias
Ueberraschung zwei Bündel scharfer Pfefferschoten in seinen Krallen hielt.
Kühn flog Abare Ipupiara vors Gesicht und warft die Pfefferschoten der
Dämonin in die Augen. „Ahh“, stöhnte Ipupiara schmerzhaft, „Feuerpfeffer,
oh das brennt, uh weeh “. Einen Moment lang zog sich die böse Dämonin
zurück und rieb sich die Augen. Kurz nur, doch Emilia und Rosabranca gelang
es, hinter einen Felsen zu fliehen.
Ipupiara hatte sich schnell erholt. Wenige Sekunden später schon stand sie
wieder da. „Wo seid ihr?“, erzürnte sie sich, „denkt bloss nicht, dass ihr mir
entkommen könnt“. Darauf spie sie wütend Feuer aus dem Rachen ihres
Mundes und schaute sich um. „Da hinter dem Felsen müssen sie sein“, knurrte
Ipupiara und begann um den Felsen herum zu schwimmen. „Nein, nein nur das
nicht“, fürchtete sich Emilia zitternd, doch in dem Moment erschien
unerwartet eine violette Lichtkugel über dem Wasser.
Emilia erkannte das Licht sofort. „Der liebe alte Schamane in seiner
Lichtkugel“, stellte sie erleichtert fest, während sie ihr Pferd an den Zügeln
hielt, „Rosabranca, jetzt ist Hilfe nahe“. Emilia sah einen alten Mann mit
runzliger Haut in der leuchtenden Kugel stehen. Der Alte war spärlich
gekleidet, ein Hüftgürtel, eine kleine Umhängetasche und einige wenige
Lederbänder mit dunklen Federn zum Schmuck. Mehr trug er nicht.
„Ipupiara“, erhob der alte Schamane seine Stimme „scher dich in die Tiefen
des Grossen Wassers zurück, wo du hingehörst, zu den Dämonen der Tiefe
und der Finsternis. Du hast nichts verloren im Land der Indianer“.
„Ha ha ha du alter Mann. Du hast mir nichts zu sagen. Siehst ja krank aus, du
alter Lümmel. Magst nicht mehr Alterchen?“, stänkerte Ipupiara, „die kleine
Indianerin da ..hääär. . sie gehört jetzt mir, die fress ich“. Emilia schaute
zum alten Schamanen. Tatsächlich, er sah schwach aus. Kalter Schweiss lag
auf seiner Stirne. „Du magst mächtig sein Ipupiara“, entgegnete der alte
Schamane, „aber deine Macht ist an den Fluch der Geister der Tiefsee
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gebunden. An Land sind deinen Kräften Grenzen gesetzt. Auch wenn du mich
inzwischen geschwächt hast. Die Kräfte des höchsten Schamanen stehen mir
bei, die Kräfte des Lichts und der Wärme. Nimm dich in Acht, Ipupiara“.
Ipupiara grinste hochmütig und streckte ihren Fischarm nach vorne. „Kräfte
des Lichts und er Wärme? Päh, dass ich nicht lache! Willst du etwas sehen
und etwas spüren, etwas helles und warmes, du alter Knacker?“, fragte
Ipupiara, „siehst du die Dämonenkugel in meiner Hand, du alter
Schamanenlümmel?“. Eine giftig gelbe Feuerkugel stieg aus Ipupiaras Hand
auf. Heisses Wasser brodelte aus dieser Kugel und Ipupiara warf das feurige
Geschoss mit voller Wucht auf den alten Schamanen los. Blitzschnell hob der
alte Mann die Hand und liess einen Lichtstrahl hervorschnellen. Ipupiaras
Kugel wurde zurückgeworfen, doch die Kräfte der Dämonenkugel warfen den
Schamanen hart zu Boden. „Hast du dich verletzt?“, fragte Emilia besorgt,
„kann ich dir helfen?“.
Der Schamane kniete kraftlos am Boden, blickte zu Emilia und stöhnt leise:
„Das Zauberkraut, schnell, gib mir das Zauberkraut aus meiner Tasche. Dort
drüben liegt sie. Schnell, hol sie mir, bevor es zu spät ist. Ich mag nicht
mehr“. Emilia rannte drauf los, doch schon stand wieder Ipupiara neben ihr
und begann mit ihren Krallen nach ihr zu greifen. Doch auch Abare blieb
nicht untägtig. „Kraah, kraah“, kam Abare nochmals mit einer Ladung
Pfefferschoten angeflogen: „Kraah, kraaah, blöde Ipupiara, kraah, kraaah,
kleine doofe Ipupiara, krahh krahhh kraaah“. Sowas hörte Ipupiara gar nicht
gerne. „RRrrggghhhh, warte nur du Vögelchen“, knurrte sie wütend und liess
sich ablenken, „du Vögelchen. Jetzt kannst du was erleben. Möchtest wohl
gerne ein Bratvögelchen werden, du dummes kleines Ding da, schmeckst
bestimmt nicht schlecht, hä hä hä“. Ipupiara machte Fäuste und spie feurige
Rauchwolken aus ihrem Rachen in die Höhe. Doch Abare flog noch höher und
neckte Ipupiara: „kraah, kraaah, blä blä blä“, bevor der brave Papagei zum
Sturzflug ausholte une eine weitere Salve Pfefferschoten der Dämonin
blitzschnell in die Augen warf.
Emilia konnte ein Kichern nicht verklemmen, doch rannte sie nun so schnell es
ging zur Tasche. „Das Kraut, das gelbe Kraut“, rief der Schamane mit letzter
Kraft. Emilia war schnell im Rennen. Im nu hielt sie die Tasche in den Händen
und war zum Schamanen zurückgekehrt. Der alte Schamane zog ein gelbes
Kraut aus seiner Tasche hervor. „Hier du böse Ipupiara, das Kraut der
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Urwaldfee“, rief er, so laut er noch konnte.
Auf der Stelle stand Ipupiara still vor Schrecken. „Waaass, Woo? Neiiiiin,
das kann nicht sein, woher, woher hast du das? keine gelbes Feenkraut,
ooohh, Neeeiiin“, knurrte Ipupiara ungläubig und blickte dem Schamanen
ängstlich ins Gesicht, Der Schamane streckte seine Hand aus und liess das
Kraut in Richtung Ipupiara aus seiner Hand fahren.
Auf der Stelle schoss ein heller Blitz auf Ipupiara los und warf die Dämonin
weit hinaus ins Meer, bis sie nicht mehr zu sehen war. Grell schoss der Blitz
aus der Hand des alten Schamanen nach vorne, heller wie das stärkste Licht
der Sonne. Emilia hielt sich beide Arme schützend vors Gesicht um nicht
geblendet zu werden. Zudem war es heiss und Emilia lief der Schweiss aus
allen Poren ihren Körper hinunter.
Als Emilia nach einer Weile ihre Arme senkte, sah sie vor sich das Licht der
Sonne im Wasser glitzern. Das Meer war ruhig. Von Ipupiara und dem Alten
Schamanen war nichts mehr zu sehen. Rosabranca stand neben ihr. „Habe ich
geträumt oder war ich wach?“, fragte Emilia ihr Pferd, „meine liebe
Rosabranca, war da gerade eine Dämonin und der alte Schamane oder war
alles nur ein Traum?“. Doch Rosabranca war ein Pferd, eine Stute , treu und
liebevoll, und Antwort geben, das konnte sie nicht.
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Kapitel 2 Paygis Drache
Bevor Thiago jeweils zu Bett ging, spielte er ein wenig mit seiner
Schwester. „kempfen kempfen, komme böse Demon komm“, schrie der
kleine Thiago. Doch Juanita wehrte sich. „Nein nein, du kleiner wilder
Indianer, ich bin kein Dämon und kein Drache, Hilfe, tu mir nichts“.
Aber es half nichts. Ihr kleiner Bruder griff sie an und warf sie
rücklings auf die Bettmatraze.
So spielten sie eine Weile auf dem Bett. „Kinder, es ist Zeit zum
Schlafengehen“, mahnte Emilia, „Indianer, Dämonen und Drachen, ab
ins Bett“. Eine einzige Kerze erhellte das Schlafzimmer der Kinder.
Draussen war es stockdunkel. Die Zirkaden und Grillen sangen den
Kindern ein Schlaflied in der ruhigen, warmen Nacht.
„Maija, Maija, erzähl uns noch was von früher“, wünschte sich Juanita,
„erzähl uns was vom Indianerdorf, vom Pergament. Wie geht die
Geschichte weiter? Hat dich die Dämonin des Wasser nochmals
überfallen? Bitte erzähl uns weiter“. „zellen, zellen“, liebäugelte
Thiago, der bereits unter die Decke verkrochen war. Schliesslich legte
sich Emilia zwischen ihre zwei Kinder, hielt das Pergament in den
Händen, überlegte eine Weile und begann dann zu sprechen, „Auf
diesem Pergament habe ich damals im Indianerdorf soviel drauf
geschrieben und gezeichnet. Hm, wo geht’s denn da weiter? ... Also
gut, ich erzähl euch noch was vor dem Schlafen“.
„Der König kommt, der Indianerkönig kommt uns besuchen“, hörte
Emilia von weit her die Indianer rufen, wie sie nach ihrem Abenteuer
am Strand ins Indianerdorf zurückritt. Dazu sangen Frauen und Kinder
und die Männer trommelten einen Rhythmus, den sie eigens zum
Empfang des Königs spielten. Sie nannten diesen Rhythmus „Ipuvae
Maracatu“. Wenn der König seinen Besuch ankündigte, so wurde dieser
Rhythmus gespielt. Er wurde solange gespielt, bis seine Hoheit, der
König im Indianerdorf eintraf, ohne Unterbruch, Tag und Nacht. Stets
waren einige Indianer am Trommeln, während die anderen arbeiteten,
jagten oder des Nachts schliefen. Endlos war dieser Rhythmus.
Zurück im Dorf wurde Emilia von ihrem Bruder Kevin empfangen. Kevin
war zweieinhalb Jahre älter wie Emilia. Seit er mit seiner Freundin
Kwarahi zusammen war, hatte er nicht mehr soviel Zeit für seine
Schwester. Das ist halt so im Leben, so was kann ändern. Dafür hatte
Emilia in Kwarahi eine ganz gute Freundin gewonnen und das ist auch
viel wert „Emilia, Emilia, der Indianerkönig kommt“, freute sich Kevin,
„Ajun Bebe und sein Sohn Konyan Bebe kommen uns besuchen. Konyan
Bebe wird zum König ernannt, denn sein Vater meint, er habe jetzt
selber lange genug regiert und wünscht sich ein ruhiges Leben
zusammen mit seinen Frauen. Und da will Konyan Bebe alle Dörfer
besuchen, auch Uwattibi“. „Ach so“, staunte Emilia, „darum sind also all
die Königlichen Gesandten gekommen? Na ja, dann wird es hoffentlich
ein schönes Fest geben. Wann kommt er denn?“. „Hm !“, zögerte Kevin,
„das wissen wir noch nicht. Der König hat seine Ankunft erst
angekündigt. Irgendwann in der nächsten Zeit wird er dann kommen.
Er muss halt in vielen Dörfern vorbeigehen. Irgendwann kommt er,
genaueres wissen wir nicht“.
Einzig Emilias Mutter Silvia und Häuptling Avanene standen vor dem
Tor einer Strohhütte und schauten nachdenklich hin zu Emilia.
Avanene trug zwar seinen hohen Häuptlingsschmuck auf dem Kopf,
aber so richtig in Feststimmung schien er nicht zu sein. „Was ist denn
mit euch los?“, fragte Emilia, „habt ihr in einen sauren Apfel
gebissen?“. „Ach nein“, antwortete Avanene und kratzte sich am
Hinterkopf, „weißt du Emilia, so einfach ist das alles gar nicht“. „Was
ist nicht so einfach?“, fragte Emilia verdattert, „ der König kommt auf
Besuch - ist doch schön, da gibt es viele Feste, viel Musik und Tanz.
Das ist doch schön, und - unter uns gesagt, mmmh“. Emilia hielt ihren
Zeigefinger vor den Mund und meinte keck aber leise, „der König ist ja
gar nicht so wichtig. Hauptsache es gibt viele schöne Feste, feines
Essen, Musik und viel fröhliches Schmincken“. Avanene lachte auf den
Stockzähnen, sagte aber weiter nichts.
Avanene und Silvia standen neben Emilia und führten ihr Gespräch
fort. „Tja du musst schon verstehen“, sprach Avanene zu Silvia, „da
kann ich nichts ändern. Ihr wolltet zwar nächsten Monat weiterreisen
und deinen Mann Luiz im Urwald suchen, aber wenn der König seine
Ankunft ankündigt, darf niemand mehr das Dorf verlassen. Und vor
allem nicht du, Silvia. Du bist die einzige Indianerin, die auf der
anderen Seite des Grossen Wassers war und wieder zurückgekehrt
ist. Da will der König ganz bestimmt lange mit dir reden und alles
wissen, was du da drüben gesehen hast. Wenn du da nicht hier wärst,
das könnte ich nicht wieder gut machen“. „Aber wir müssen doch Luiz
suchen“, entgegnete Silvia, „das eilt. Er ist von Räubern gefangen und
braucht unsere Hilfe“. „Ja schon“, zeigte sich Avanene verständlich,
„da hast du Recht. Wenn wir doch wenigsten wüssten, wo sich die
Räuber aufhalten, dann könnte ich vielleicht eine Ausnahme machen“.
„Ich möchte halt von Ort zu Ort gehen und überall fragen, ob jemand
etwas weiss“, drängte Silvia, „Avanene, das muss doch möglich sein“.
Doch Häuptling Avanene schüttelt den Kopf. „ Du kannst auf jeden Fall
nicht gehen, auf keinen Fall“, liess er nicht locker, „Wenn du nicht da
bist, wenn der König kommt, so kannst du von ihm nie mehr Hilfe
erwarten. Ich kenne Ajun Bebe. Der ist schnell beleidigt. Nein, nein,
das geht nicht“. So diskutierten sie noch eine Weile am Brei herum.
„Ich kann dir nur etwas anbieten“, schlug schliesslich Avanene vor,
„wir schicken ein paar junge Männer los. Ajun Bebe kann verstehen,
dass ich nicht alle jungen Männer im Dorf zurückhalten kann. Von
denen darf ich einige gehen lassen. Da sagt niemand was“. „Ja“,
seufzte Silvia, die einsah, dass es zwecklos war, Avanenes Meinung
ändern zu wollen. „Schau Silvia“, erklärte Avanene, „ein Dutzend junge
Männer sollen losziehen. Kevin kann mitgehen, wenn er will. Er soll
sogar mitgehen, denn es müsste jemand dabei sein, der die
portugiesische Sprache spricht und die Sitten und Gebräuche der
fremden Leute kennt. Auch seine Freundin Kwarahi darf mitgehen,
denn sonst geht er ja bestimmt nicht. Wenn sie die Räuber und Luiz
aufspüren und wir dann wenigstens wissen wo sie sind, ja dann, dann
kann ich Verstärkung nachsenden. Dann wird auch der König gerne
seine besten Männer zur Verfügung stellen, denn einen solchen Kampf
will er sich ganz bestimmt nicht entgehen lassen. Aber du und deine
Tochter Emilia, die als gescheitestes Mädchen im ganzen Land
Ubatuba bekannt ist, ihr müsst hier bleiben“.
Nun meldete sich auch Emilia zu Wort. „Darf ich denn nicht mit Kevin
mitgehen, Maija und Avanene?“, fragte sie bittend, „ich möchte auch
in den Urwald hinaus“. Doch Silvia schüttelte den Kopf. „Nein, das geht
nicht“, sagte sie zu Emilia, „dazu bist du noch zu jung und zudem ein
Mädchen. Nein das geht nicht“. Traurig verliess Emilia die Strohhütte.
Silvia und Avanene blickten ihr hinterher.
Eines Morgens sang und hüpfte Emilia auf dem Dorfplatz umher. Sie
genoss den sorglosen Morgen, hatte fein gefrühstückt und wusste
noch nicht, was sie weiter tun sollte. Doch dann sah sie Ojang Utan,
den kleinen zweijährigen Indianerjungen. Wenn auch Ojang Utan noch
klein war, er hatte schon ganz schön was drauf. Er war stark, konnte
gut kämpfen und hatte nicht so schnell vor etwas Angst, aber vor
allem war er ein Lausbub und für fast jeden Streich zu haben. Seit
Emilia Ojang Utan beim Schminkfest so schön getröstet hatte, waren
die zwei die besten Freunde.
„Oh da ist ja mein kleiner Räuber“, rief Emilia freudvoll zu Ojang
Utan, „den fang ich jetzt“. „Alme Indianelflau, Läubel kämpfe, blä blä
blä“, neckte Ojang Utan und machte Emila eine lange Nase und schon
begann ein fröhlicher Räuberkampf mitten auf dem Dorfplatz. Ojang
Utan, zwar noch ein kleiner Junge, war dennoch schnell im Rennen und
Emilia hatte Mühe ihm zu folgen. Schliesslich aber hatte sie den
Räuber gepackt und hielt ihn liebevoll auf den Armen.
Mit Ojang Utan auf den Armen lief Emilia auf dem Dorfplatz umher.
Zu Emilias Erstaunen hatten sich dort schon viele Indianer
versammelt. Das war ungewöhnlich zu dieser Tageszeit. „Was machen
denn all die Leute mitten auf dem Dorfplatz?“, wunderte sich Emilia.
Dann schliesslich sah sie Paygi, den Dorfpriester, auf seinem hohen
Priesterthron sitzen, umgeben von Frauen und Männern. „Komm Ojang
Uten, gehen wir zuhören, was Paygi erzählt“, schlug Emilia vor und so
lief sie, Ojang Utan auf dem Arm tragend, hin zur Versammlung auf
dem Dorfplatz.
In der Hütte sah Kevin seine Schwester neben Ojang Utan stehen.
Emilia hielt beide Fäuste in die Hüfte gestemmt. „Ich kann diese
Geschichten von Paygi langsam nicht mehr ausstehen“, entsetzte sich
Emilia, „immer die gleichen selbst erfundenen Heldengeschichten und
die Frauen drängen sich darum, welche von ihnen Paygi trösten darf,
wie liebevoll und zärtlich **!??!!!??*“. „Ja die Frauen“, antwortete
Kevin mit einem Lachen, „die brauchen halt hie und da eine schöne
Geschichte, dass sie so richtig warm werden. Und das weiss Paygi
genau. Er wird wohl zum Trost für sein gefährliches Abenteuer wieder
ein gebratenes Schwein ganz alleine verdrücken dürfen“.
Wenn ihr glaubt, Ojang Utan sei ein schlimmer Lausbube gewesen,
dann kennt ihr seine Schwester Iakunae noch nicht. Iakunae war ein
lustiges, zappliges Mädchen. Sie lachte immerzu und hüpfte gerne auf
dem Dorfplatz herum. Sie war ein einfaches Mädchen. Komplizierte
Sachen verstand sie nicht immer so ganz und hatte ihren eigenen Reim
von der Welt und wie sie die Probleme lösen könnte. Und da fiel ihr
den ganzen Tag ein Streich nach dem anderen ein. Die Indianer
erzählten sich, dass es noch nie ein grösseres Lausemädchen im
ganzen Lande Ubatuba gegeben habe wie Iakunae.
Iakunae stand in der Materialhütte neben Emilia und grinste. „Der
Paygi, der geht mir auch langsam auf den Kecks“, lachte Iakunae laut,
„blä blä blä, ich habe den Drachen besiegt, hi hi hi, wers glaubt, hi hi“.
Emilia und Iakunae schauten sich in die Augen und lächelten sich an.
Das ist so, wenn zwei Mädchen Freundschaft schliessen. Sie mögen
sich auf den ersten Blick und wissen sofort, dass sie Freundinnen sein
werden. „doofer Paygi“, entsetzte sich Emilia, „tut so, wie wenn er der
grösste und stärkste wäre“. „Hi hi, komm Emilia“, grinste Iakunae,
„dem spielen wir einen Streich, einen lustigen Streich, hi hi hi“. Emilia
blickte fragend zu Iakunae. „Was sollen wir denn dem Paygi
anstellen?“, wollte Emilia wissen. Iakunae hüpfte um Emilia herum und
sprach: „Komm wir verkleiden uns als Teufel und machen ihm mal
gehörig Angst“. „Ja genau“, freute sich Kevin lachend, „genau, das
machen wir“.
„hmm?“, studierte Kevin, „am besten ist es, wenn Ojang Utan mir auf
die Schultern sitzt und die grosse Ritualmaske da umbindet. Um uns
herum binden wir Hängematten als Bauch des Drachens, und vorne
nehmen wir den grossen Federschmuck von Häuptling Avanene. Das
sieht fürchterlich aus“. „Oh ja, gute Idee“, pflichtete Iakunae freudig
bei, „Emilia und ich, wir verkriechen uns unter einen Schwanz aus
Hängematten und da drunter schlagen wir zwei mit Trommeln und
Rasseln gehörig Radau dass es kracht, wie es sich für einen richtigen
Teufel gehört. Hi hi hi“.
„Bah, bah bah“, stotterte Paygi mit vollgestopften Backen und riss
ungläubig Augen und Mund so weit auf, dass ihm das gebratene
Schweinebein aus dem Mund fiel. Die Haare standen ihm zu Berg. „Ji
Ji Ji Jingange, der leibhaftige Teufel“, stotterte er und stand auf.
„Pa pa pa“, stotterte Paygi. Doch schliesslich fiel ihm ein, dass es
eigentlich seine Aufgabe war, den Teufel zu vertreiben. „Ta Ta Tamma
Tammaraka“, stammelte er und griff mutig nach seinem Tammaraka.
Schliesslich hob er seine Hand und rasselte laut drauf los.
„Tamaraaka“, schrie er laut dem Ungeheuer entgegen. Doch vergebens
hoffte er, dass dieses nun verschwinden würde. Ganz im Gegenteil, das
Teufelsungeheuer bäumte sich auf vor Paygi, schrie, donnerte und
krachte lauter denn je zuvor. Das war für Paygi zuviel, er zitterte vor
Angst so stark dass ihm das Tammaraka schliesslich aus den Händen
fiel. Häuptling Avanene grinste leise ob Paygis Missgeschick. Doch wie
es sich in solchen Situationen oft ergibt, war dies nicht das einzige
Missgeschick das geschehen sollte.
Nico und Filippo umkreisten wild den Teufel, bellten, kläfzten und
miauten so laut sie konnten. Kevin, überlegte sich in aller Eile, was er
dagegen tun könnte. Doch es war zu spät etwas zu tun. Die zwei
Vierbeiner hatten ihre letzte Angst überwunden. Nico biss in die
Hängematte und zerrte daran so fest er nur konnte. Filippo nahm
einen riesigen Satz, sprang die Hängematte hoch und klammerte sich
mit seinen langen scharfen Krallen am Tuch fest. „Autsch“, schrie
Kevin, denn unter dem dünnen Tuch, da war seine Hüfte und da hatte
nun Filippo ein paar ganz deftige Schrammen reingekratzt ... armer
Kevin.
Paygi aber atmete drohend tief ein. Er schaute gar nicht mehr
verängstigt drein, sondern sehr, sehr wütend. „Kommt“, meinte Kevin
im trockenen Ton „kommt, es ist glaub besser wenn wir jetzt
verduften“. Wie der Blitz rannten die Kinder vom Dorfplatz weg, Paygi
humpelte hinterher. Schliesslich gelang es den Kindern aber, zwischen
den Stecken des Dorfhages hindurch zu schlüpfen, wo Paygi nicht
mehr durchkam.
Juanita lag neben Emilia im Bett und hielt den Kopf an den Arm ihrer
Mutter. Emilia sah wie neben ihr Thiago seine Augen geschlossen hielt
und bereits schlief. „Und Paygi?“, fragte Juanita, „als ihr
zurückgekommen seid ins Dorf, hat er euch da verhauen?“. Emilia
lächelte zu Juanita. „Nein, nein“, antwortete sie, „die Frauen trösteten
ihn und schon bald war er wieder mild gestimmt. Das konnten die
Frauen gut und machten es gerne. Paygi hatte zwar keine Freude an
uns Lausekindern, aber so richtig böse war er dennoch nie mit uns. Da
hatte auch er eine gute Seele“. Juanita hielt ihren Kopf an Emilias
Schulter. „Oh liebe Maija“, seufzte sie erleichtert und kuschelte sich
bei ihrer Mutter ein. Juanita schloss ihre Augen und fiel in tiefen
Schlaf.
Kapitel 3 Kevins Abschied
„Und Paygi?“, fragte Juanita plötzlich, „war er dir nie böse wegen dem
Teufel Streich?“. „Oh doch“, lächelte Emilia, „der hatte sich auf seine
eigene listige Art an mir gerächt. Das war zudem noch an dem Tag als
Kevin das Dorf verlassen hatte, als ich schwer Abschied nehmen
musste von meinem Bruder“. „Maija das tut mir leid“, töstete Juanita
ihre Mutter Emilia, „du musst ja ganz traurig gewesen sein, als Kevin
das Dorf verlassen hat“. „Ja, das war ich.....„, antwortete Emilia und
schwieg eine Weile.
Einzig ein Mädchen stand bockstill da, mitten auf dem Dorfplatz und
tat keinen Wank – Emilia - sie hatte sich ihre dicken schwarzen
Wuschelhaare rund um den Kopf geschlagen sodass niemand mehr
etwas von ihrem Gesicht sehen konnte. „Ich will nichts mehr hören und
ich will nichts mehr sehen“, trotzte sie. Dazu stampfte Emilia ein paar
mal kräftig auf den Boden, bevor nur noch ein Weinen von ihr zu hören
war.
Kevin seufzte und auch Kwarahi warf einen mitleidigen Blick hin zu
Emilia. Zusammen gingen sie auf Emilia zu und umarmten sie. Sogleich
blickte Emilia hoch und schlang beide Arme eng um Kevins Hals. „Komm
bald wieder, mein lieber Bruder“, schluchzte Emila und gab ihrem
Bruder einen Kuss. „Komm bald wieder liebe Kwarahi“, wandte sich
Emilia auch ihrer Freundin Kwarahi zu, „Auf Wiedersehen“. Darauf war
es soweit. Während Silvia ihre Arme um Emilia hielt, schritt die
Gruppe junger Indianer drauflos, in den Urwald hinaus, fernen Welten
entgegen.
Nach dem Abschied setzte sich Häuptling Avanene neben Emilia auf
eine Holzbank. Eine Weile schwiegen sie beide, doch dann begann
Emilia zu sprechen. „Ach ist das Dorf jetzt leer, ohne Kevin und
Kwarahi“, klagte Emilia,“ tot und ausgestorben“. „Ja Emilia, du hast
recht“, seufzte Häuptling Avanene, “die zwei fehlen mir auch. Kevin ist
ein lieber Junge und Kwarahi, deine Freundin, passt so gut zu ihm.
Aber weisst du, die jungen Leute müsssen halt mal raus in die Ferne,
etwas neues erleben, fremde Menschen kennenlernen. Und sie kehren
ja schon bald wieder zurück. Tja, tja.... ein paar Monde und dann sind
sie hoffentlich alle gesund wieder hier...Ich kann mich da auch nicht
anders darüber hinweg trösten“. So sassen der grosse Häuptling
Avanene und Emilia eine Zeit lang nebeneinander. Avanene hielt seinen
Arm um Emilias Schulter und Emilia lehnte ihren Kopf an Avanenes
Brust. „Tja Avanene“, schluchzte Emilia, „ich hoffe dass es meinem
Bruder gut gefällt“.
„Weißt du was Emilia?“, munterte Avanene Emilia auf, „ich habe doch
noch eine Schale voll Honigbonbons im meiner Hütte. Komm mit, da
naschen wir ein wenig“. Avanene und Emilia machten sich auf zu
Avanenes Hütte. Heimlich aber glotzte ihnen ein Mann mit grossen
Augen hinterher. Es war Paygi. Was der sich wohl ausheckte?
„Mh niamm miamm pläpf pfläpf“, genoss Emilia die Bonbons. „Ach
Emilia“, freute sich Avanene, „nimm doch gleich die ganze Schüssel
mit. Ich schenke sie dir“. Ueberrascht blickte Emilia zu Häuptling
Avanene hoch „Oh danke Avanene“, freute sie sich ,„das ist lieb von
dir. Dann will ich Iakunae und den andern Kindern auch gleich welche
geben“.
Einem Mann kam das Gewitter gerade recht gelegen. Paygi, er betrat
Avanenes Hütte. Paygi war nicht alleine. Viele Indianerfrauen und
einige Männer begleiteten ihn. „Ich habs genau gesehen“, begann eine
von Paygis Lieblingsfrauen die Ansprache, „haargenau in dem Moment,
wo Emilia die Schale mit den Honigbonbons in die Hände genommen
hat, genau in dem Moment hats gedonnert und das Gewitter krachte
drauf los“. „Oh“, „Uhh“, „die Honigbonbons“, entsetzten sich die
anwesenden Indianer und starrten mit weit offenen Augen auf die
Schale vor ihnen. „Honigbonbons?“, staunte Paygi und nahm eines der
Honigbonbons vorsichtig in die Hand und schaute es genau und lange
von allen Seiten an. „Hm“, überlegte er laut, "ich sehs genau. Ja - das
ist nicht zu übersehen, da steckt der Teufel drinne“. Darauf hob Paygi
andächtig seinen Kopf und begann seine Erklärungen in der hohen
Stimme eines weisen Priesters darzulegen. „Ihr solltet es doch wissen,
liebe Indianer“, mahnte Paygi im ernsten Ton, „seit Ahatukka uns
grosse Gefahr varausgesagt hat, müssen alle Speisen vor dem Essen
den Göttern des Urwaldes vorgelegt werden. Wenn ihr nicht wollt,
dass uns der Teufel wieder angreift wie soeben, dann müssen wir das
mit diesen Honigbonbons aber unbedingt auch tun.“. „Ja genau, ja ja“,
bestätigten die Männer und Frauen, die ihren hohen Priester
begleiteten und denen der Schrecken noch immer im Gesicht stand.
Avanene verzog ein trauriges Gesicht und zuckte mit den Achseln.
„Ah“, seufzte Avanene und warf einen bittenden Blick auf Paygi. Doch
dieser winkte ab und erklärte demütig: „Vergiss nicht Häuptling
Avanene, es ist meine Aufgabe, euch vor dem Jngange und weit
grösseren Gefahren zu beschützen“. Und mit überschwenglich
liebevoller Stimme meinte Paygi schliesslich zu Emilia: „Morgen, wenn
die Honigbonbons eine Nacht auf dem Dorfplatz den Göttern des
Urwaldes dargelegt waren, schmecken sie bestimmt noch viel besser“.
Emilia blieb nichts anderes überig, als Paygi die Schüssel zu
übergeben.
Die ganze Nacht hielt Paygi draussen Wache unter dem Stohdach, wo
die Indianer jeweils ihre Zeremonieen abhielten. Von Zeit zu Zeit
segnete er die dargelegten Speisen ein. Da lagen die feinsten
Grilladen, bereit, um am nächsten Tag auf dem Feuer zu brutzeln,
ebenso Maniokawurzen und leckere Früchte. Gleich dahinter, grad vor
Paygi, stand auf einem Opfertisch Emlias Bonbonschüssel. „Mhhh“,
leckte sich Paygi die Lippen. So viele feine Sachen und es war seine
grosse Aufgabe, diese Köstlichkeiten zu segnen und vom Fluch des
fürchtlichen Jingange, des leibhaftigen Teufels zu befreien.
Iakunae nahm Emilia bei der Hand und führte sie in die Materialhütte.
„Diesen Lederbeutel da, den nehmen wir jetzt mit uns, hi, hi, hi“,
flüsterte Iakunae zu Emilia. Die zwei Mädchen schlichen sich durchs
Dorf zum hinteren Tor, wo niemand sie sah, vorbei an der Hütte in der
Paygi seinen wohlverdienten Schlaf abhielt. „Chnaaaa, Pfrrrrr -
Chnääää, Tschibüüüüü“, hörten sie das Schnarchen des braven Paygi
beim Vorbeilaufen. Iakunae grinste und zeigte mit ihrem Finger in
Richtung Schnarchgeräusche. „Oh der Aermste“, kicherte Emilia.
Darauf schlichen die zwei Mädchen weiter.
„Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Emilia neugierig, nachdem die zwei
unbemerkt das Dorf verlassen hatten. Eine Zeit lang blickte Iakunae
ihre Freundin an. Dann erklärte sie: „Erinnerst du dich an das Gebüsch,
wo die Indianer neulich glaubten, den Jngange gesehen zuhaben, als
beim Schminkfest eine Indianerfrau erschrocken ins Dorf gerannt
kam?“. „Ah ja, der alte Geissbock, der uns dort mit seinen spitzen
Hörnern so böse angeschaut hat. Aber sag mal, was willst du denn
dort?“, wunderte sich Emilia. „Na dann lass dich mal überraschen. Eine
Idee, die ich schon lange mal ausführen wollte. Hi hi hi hi“, kicherte
Iakunae. Mehr sagte sie nicht, denn sie machte es gerne etwas
spannend für ihre Freundin.
„Wääähh“, verzog Emilia schon bald ein langes Gesicht, „dem Gestank
nach zu urteilen liegt das Gebüsch nicht mehr weit entfernt, bääähh.
Willst du da wirklich hingehen, Iakunae?“. Iakunae grinste und legte
eine Hand auf Emilias Schulter. „Den Gestank wirst du schön
überstehen, Emilia. Stell dir einfach vor, du wärst am Meer unten beim
Baden und schleckst ein paar Bonbons. Dann vergisst du den Gestank
schnell“.
Schon bald konnten die Mädchen den alten Geissbock sehen. Er lag
friedlich in seinem Gebüsch und machte ein Nickerchen. Iakunae
winkte ihm zum Grusse. „Hallo lieber Geissbock, schlaf nur mal ruhig
weiter“, grüsste Iakunae, „schlaf weiter, du lieber Geissbock, wir tun
dir nichts ... tu du uns bitte auch nichts“. Der Geissbock öffnete kurz
die Augen, wie wenn er den Mädchen Guten Tag sagen wollte, dann
döste er weiter vor sich hin.
„So jetzt füllen wir den Sack mit Geissenböhnchen“, erklärte Iakunae,
„und mit stinkiger Furz Luft vom Geissbock. Wenn der Sack so richtig
gefüllt ist, so schleichen wir uns zurück ins Dorf und legen ihn Paygi
unter seinen hohen Priesterthron und warten bis er sich draufsetzt“.
„Ja, Iakunae“, kicherte Emilia begeistert, „füll ihn bis er prall voll ist
mit Kacke und Furz. Jetzt machen wir einen richtig stinkigen
Geissbock Furzsack für Paygi. Da kann er sich dann mal feste
draufsetzten, Paygi soll ruhig was abkriegen“. Schnell war der Sack
mit der klebrigen Masse und der stinkigen Luft gefüllt, bis er beinahe
kugelrund war. Iakunae band ein Lederband um die Oeffnung des
Sackes, sodass da jemand schon richtig drauf sitzen musste, bevor
der Sack losgehen würde.
Zurück im Dorf hatten sich die Indianer draussen vor dem Steckenhag
ums Dorf versammelt. Sie besprachen, wo sie das nächste Manioka
Feld anlegen wollten. „Das kommt uns gerade gelegen“, freute sich
Iakuane.
Rasch beendete Iakunae ihr Werk und dann verzogen sich die zwei
Mädchen in die Materialhütte, von wo sie durch ein kleines
Fensterchen auf den Zeremonienplatz direkt zu Paygis Priesterthron
blicken konnten. „Jetzt müssen wir nur noch warten bis es losgeht“,
kicherte Iakunae vergügt. „Freu dich nicht zu früh“, antwortete Emilia
etwas enttäuscht, „komm mal ans Fenster und schau dir an was ich
sehe“. Durchs Fenster sahen die Mädchen wie Häuptling Avanene, der
zuvor die Mädchen beobachtet hatte, auf Paygis Priesterthron zulief.
„So ein Mist“, seuftzte Iakuane, „wenn er etwas riecht ist Schluss mit
unserem Streich“. „Und noch schlimmer“, doppelte Emilia hinterher,
„Avanene weiss sogar wer es war, Scheibenkleister, das hat uns
gerade noch gefehlt“. Die zwei Mädchen beobachteten, wie Avanene
vor dem Priesterthron stehen blieb, kurz das Sitzfell an einem Ecken
ein wenig hob und wieder ablegte. Avanene verzog ein schräges
Gesicht und rümpfte sich die Nase. Doch dann lief er wieder in seine
Strohhütte, ohne dass weiter etwas geschah.
Zwei Stunden später hörten Emilia und Iakunae ein Rumoren in Paygis
Hütte. Schnell beendeten die zwei Mädchen ihr Spiel und begaben sich
ins Freie. „Ah, war das eine strenge Nacht“, jammerte Paygi vor seiner
Hütte und streckte seine Glieder aus, „und mein Magen knurrt“. Ein
paar Frauen winkten ihm freundlich zu. „Dein Frühstücksschwein ist
schon fast durchgebraten, lieber Paygi“, schmeichelte eine von ihnen.
„Nimm Platz und mach es dir bequem“, forderten die Frauen ihn auf,
„und erzähl uns, was du die letzte Nacht schreckliches durchstehen
musstest“.
Paygi lief zur Grillstelle. „Oh, sieht ja ganz lecker aus“, schwärmte er
und schleckte sich die Zunge, „mhh, da freue ich mich aber auf mein
Frühstück“. Paygi zwackte schon mal ein Stück ab vom Schwein und
fuhr dann schmatzend fort, „Pfniatsch, Ja, pfniatsch, etliche male ist
der Gehörnte letzte Nacht ins Dorf gekommen, pfniatsch. Immer
wieder hat er versucht, die leckeren Esswaren, die wir dem holden
Geiste der Urwaldes vorgelegt haben, zu stehlen. Aber ich konnte ihn
mit dem Tammaraka immer wieder kämpfend vertreiben. Pfniatsch. Er
konnte nichts stehlen ausser einige wenige Grilladen und ein paar alte
Bonbons, pfniatsch, die ohnehin nicht mehr gut waren. Also nicht so
schlimm, meine lieben Freunde, pfniatsch, pfniatsch“. „Alte Bonbons,
die nicht mehr gut waren“, knurrte Emilia auf ihren Zähnen, aber laut
sagen wollte sie nichts.
Ohne weiter auf Iakunae einzugehen näherte sich Paygi seinem Thron.
„Ich musste mir feste die Nase zuhalten“, erklärte er und drückte
dabei nochmals mit der rechten Hand seine Nase zu, „so fest
gestunken hat es nach Teufel, nach Geissbock. Aber für euch Indianer
mache ich das gerne“, In dem Moment setzte sich Paygi mit
zugehaltener Nase auf seinen Thron und „Pfrrrrr“, furzte und zischte
die Knete unter seinem Sitzleder hervor.
Avanene aber blickte zu Emilia und Iakune und gab ihnen mit seinem
Finger zu verstehen, sie sollen ihm in seine Hütte folgen. „Obs jetzt
wohl schimpfe gibt?“, fragte Iakunae etwas ängstlich ihre Freundin.
Emilia zuckte mit den Achseln und antwortete: „Weiss nicht, aber
komm, es bleibt uns nichts anderes übrig“.
So traten die zwei Mädchen in des Häuptlings Hütte ein. „Iakunae und
Emilia“, sprach Avanene, „ihr zwei Mädels, hat euch doch der böse
Teufel die Bonbons gestohlen. Dieser schreckliche Jngange. Aber
meine Frauen haben heute morgen neuen Honig gesammelt, extra für
euch zwei. Hier diese Schale gehört euch. Und gebt den anderen
Kindern auch welche“. „Klar machen wir gerne“, antworteten Emilia und
Iakuane, „und danke vielmals“.
Schliesslich traten sie ins Freie und liefen an Paygi vorbei, der immer
noch mit der Reinigung seines Thrones und seines Hintern beschäftigt
war. „Bäääh“, streckte ihm Emilia mit der Schüssel in der Hand die
Zunge raus. Iakunae, die beide Hände frei hatte, steckte die Daumen
in ihre Ohren und wackelt mit den Fingern. „illi illi illi gitt“, rief sie zu
Paygi, der hochrot im Gesicht war, aber für einmal nichts zu sagen
wagte. Verdutzt guckte er den beiden Mädchen hinterher. Die zwei
aber spazierten vergnügt von dannen und schleckten Bonbons.
Kapitel 4 Emilia lernt Zaubern
„Nur spielen...“, grinste Emilia und schüttelte den Kopf, „nur Spielen,
sagst du dem. Ich hatte vor der Reise nach Brasilien in Portugal Lesen
und Schreiben gelernt und alsbald aus der höfischen Bibliothek ein
Buch nach dem andern verschlungen. Und dann stand ich plötzlich
mitten im Indianerdorf, wo niemand lesen konnte und es keine Bücher
gab. Kevin war fort, Kwarahi war fort, und zu allem Uebel musste
meine neue Freundin Iakunae für zwei Wochen ins Nachbardorf an ein
Familienfest. Das war die härteste Zeit in Uwattibi. Es hatte viele
Kinder und ich habe mit ihnen lange gespielt. Aber immer nur Spielen,
wenn man Rechnen, Schreiben und Lesen kann, viele Bücher gelesen
hat und ein neugieriges Kind ist? Nein, nein, es war mir manchmal total
langweilig und ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht als wieder zur
Schule gehen zu können oder so ein richtig dickes Buch zu
verdrücken. Doch es gab weit und breit keine Schule und kein Buch“.
„Ach Maija“, stimmte Juanita ein, „da hast du ja recht. Ich glaube, mir
würde es gleich ergehen. Auch wenn ich nicht immer so gerne in die
Schule gehe, ohne wärs mir langweilig. Zudem ist Spielen ist für die
Kinder ja viel schöner, wenn sie zwischendurch auch mal etwas
ernsthaftes machen müssen“. „Tja, Juanita, du hast es erlickt. Darum
gefällt dir spielen so gut, weil du hie und da was anderes machen
musst“.
„Maija, aber früher bei den Indianern, wie ist denn das weiter
gegangen, was hast du denn getan, wenn es dir oft so langweilig war?“.
„Wie das weiter gegangen ist? Ich hatte noch das grosse Pergament,
das mir Dottore einmal geschenkt hatte, sowie ein paar Federn und
Stifte zum Schreiben. Dieses Pergament war meine Rettung. Ich habe
es vollgekripselt und vollgeschrieben mit der Geschichte, die mir
damals passiert war. Es war meine rettende Insel, auf der ich der
Langeweile entfliehen konnte. Stundenlang hatte ich das Pergament
vor mir, zeichnete und schrieb“.
„So jetzt ist genug“, sprach Emilia zwei Stunden später zu Abare, der
neben ihr auf einem Balken sass und geduldig und liebevoll zuschaute,
„komm Abare, ruf Nico und Filippo. Wir gehen ans Meer“. „kraah,
kraaah, Nico, Filipo, Meer Meer, Strand, komm, komm, kraah kraah“.
Mehr brauchte Abare nicht zu rufen. Wie der Blitz rannten die zwei
Vierbeiner herbei. Sie miauten und kläfzten freudig. Gemeinsam
stiegen sie alle das Pferd Rosabranca und ritten dem Bach entlang
Richtung Meer. Abare stand vorne auf dem Sattelholm während Nico
und Filipo es sich auf dem Sattel vor Emilia bequem gemacht hatten.
So gefiel es Emilia. „Wenn schon alle meine Freunde verreist sind,
dann reiten wir halt alleine ans Meer und geniessen es so gut es geht“,
sprach sie liebevoll zu ihren Tierfreunden. Schon bald kamen sie am
schönen Strand an.
„Komm Nico, fang den Ast“, Emilia nahm einen Ast und warf ihn Nico
weit ins Meer hinaus. Sie selber sprang auch gleich hinterher. Nur
Filippo der Kater, der wollte gar nicht baden gehen, denn Katzen
scheuen das Wasser. Mit der kleinen Pfote reichte er vorsichtig in das
salzigie Wasser hinein, floh dann aber schnell wieder zurück. „Filippo,
willst du nicht auch baden kommen?“, „Mau“, reklamierte Filippo, und
das heisst in Katzensprache „Nein“.
Eine Weile schwammen Nico und Emilia im Wasser. Dann begab sich
Emilia zurück an den Strand. Ein paar mal noch warf sie Nico den
Holzstab ins Meer. Schliesslich aber nahm sie den Holzstab und
zeichnete und schrieb in den Sand. Sie zeichnet das Indianerdorf
Uwattibi, das grosse Wasser und auf der anderen Seite weit weg
zeichnete sie Porto. „So jetzt zeichne ich euch eine Landkarte“,
erklärte Emilia ihren Tieren, Emilia zeichnete ihr Haus wo sie gewohnt
hatte, das Königsschloss und das Schulhaus. Als nun aber Emilia wieder
hochblickte, da stand plötzlich ein alter Mann vor ihr. Der alte Mann
stand im Nebel und ein Wind wehte ihm ins Gesicht. Der Wind blies,
doch der Nebel,der den Mann umgab, verschwand nicht. Emilia kannte
den Mann sofort. Es war der alte Schamane, ihr geheimnisvoller
Freund.
„Schau hinaus aufs Meer und sag mir was du siehst“, forderte der alte
Schamane auf. „Ich sehe das Meer und weit draussen, da, da sehe ich
gelbe Blitze im Wasser zucken, helle Lichter im Wasser“. „Ja genau,
das gelbe Licht, es ist die Dämonin des Wasser, die schreckliche
Ipupiara. Sie vesucht erneut an Land zu kommen. Noch hat sie ihre
Kräfte nicht wieder beisammen. Sie ist geschwächt vom Feenkraut,
mit dem wir nach ihr geworfen haben. Aber es wird nicht mehr lange
dauern, da erhält sie ihre Dämonenkräfte zurück. Wenn es den
Schamanen, Zauberern, Medizinmänner und Medizinfrauen nicht
gelingt, sie zu besiegen, so sind die Indianer verloren“.
Emilia erschrak und schaute lange hinaus aufs Meer. Wie versteinert
stand sie da und fürchtete sich vor den Blitzen im Wasser. Als sich
Emilia nach einiger Zeit umdrehte und zurückblickte, da war der alte
Schamane verschwunden. „Kommt meine lieben Tiere“, sprach Emilia
nachdenklich, “für heute ist es genug, lasst uns ins Indianerdorf
zurückkehren“.
„Panyma, Panyma“, freute sich Emilia und eilte hin zu der alten Frau.
Panyma stand auf und begrüsste Emilia: „Meine liebe Emilia, es freut
mich, dich wiederzusehen“. Schliesslich umarmten sich die zwei Frauen
und hielten sich eine Weile fest.
„Panyma, du bist hier?“, wunderte sich Emlia, „ich dachte du bist weit
weg im Urwald“. „Das war ich auch“, antwortete Panyma, „doch dann
wurde ich hierher geruften“, „Hierher?“, fragte Emilia, „ist denn
jemand krank im Dorf?“. „Nein, nein, krank ist niemand“, lächelte
Panyma, „aber es sei ein Mädchen im Dorf, ein Mädchen namens Emilia,
das sich fürchterlich langweilt, hat mir der alte Schamane mitgeteilt.
Da dachte ich mir. Ich komme mal ein wenig auf Besuch“. „Das ist aber
schön“, freute sich Emilia, die vor lauter Ueberraschung nichts mehr
zu sagen wusste, „wegen mir bist du gekommen? Das ist aber lieb von
dir. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut, dass du hier
bist“.
„Kevin ist doch älter wie du“, meinte Panyma, „kann er dir da nicht
noch etwas mehr beibringen?“. „Ach Kevin“, seufzte Emilia, „Kevin ist
nie gerne zur Schule gegangen. Der arbeitet lieber im Freien etwas.
Da kann ich jetzt schon viel besser Lesen, Schreiben und Rechnen wie
Kevin. Zudem ist er jetzt mit seiner geliebten Kwarahi auf Reise im
Indianerland Ubatuba“. Emilia legte eine Pause ein beim Erzählen und
fuhr etwas später mit trauriger Stimme fort: „Er fehlt mir so sehr,
mein lieber Bruder“. „Ja die jungen Leute“, lächelte Panyma, „wenn sie
grad so frisch verliebt sind - die müssen halt mal raus in die Welt und
selber herausfinden, wo es ihnen am besten gefällt. Meistens kehren
sie dann letztendlich wieder nach Hause zurück oder bleiben ganz in
der Nähe, wo sie mal aufgewachsen sind. Dann gründen sie Familien
und noch bevor sie so richtig merken was passiert ist, haben sie schon
eigene Kinder, auf die sie aufpassen müssen“. Panyma schwieg und
blickte auf Emilias Pergament.
„Tja, da habe ich kleine Probleme dagegen“, gestand Emilia ein, „mir ist
halt einfach etwas langweilig bei dieser ewigen Warterei auf die
Ankunft des Königs. Ich möchte in die Schule gehen, etwas lernen.
Aber hier im Indianerdorf lernen die Kinder nur fischen und jagen,
Manioka pflanzen und Brot backen. Das ist ja schön und bestimmt
auch wichtig, aber ich bin mich halt von Porto her gewöhnt, Sachen zu
lernen, bei denen ich meine Gedanken viel mehr anstrengen muss“.
Panyma legte Emilia beide Hände auf die Schultern, schaute sie an und
sprach: „Zeig mal dein Amulett, das du um den Hals trägst. Du hast es
vom alten Schamanen geschenkt bekommen. Das gleiche wie ich es
auch trage“. Panyma blickte Emilia tief in die Augen und fuhr fort:
„Der alte Schamane hat mich gebeten, dich in die Zauberkünste der
Schamanen einzuführen“. Emilia riss ihre Augen auf und starrte
Panyma sprachlos an, denn die Ueberraschung war zu gross, als dass
sie noch ein einziges Wort über ihre Lippen gebracht hätte. „Ja du
hast richtig gehört“, schmunzelte Panyma, wie sie Emilias verdattertes
Gesicht sah, „ich soll dir die Zauberwelt näherbringen. Das wünscht
sich der alte Schamane. Wenn du willst, so wirst du meine
Zauberschülerin“.
„Aber zaubern?“, zögerte Emilia, „kann ich denn das lernen? Ich
dachte man kann das oder man kann es eben nicht? Muss jemand nicht
dazu geboren sein?“, „Du bist dazu geboren“, antwortete Panyma,
„aber lernen musst du es trotzdem noch. Auch wenn der alte
Schamane in dir die Ader einer Zauberin entdeckt hat, so musst du
noch lange üben und viele Kräuter, Hölzer, Wurzeln und Steine im
Urwald kennenlernen, bevor du diese Kunst als Meisterin
beherrschst“. „Warum soll ich begabt sein zum Zaubern und andere
nicht?“, wollte Emilia wissen. „Es ist ein kleiner Unterschied“, erklärte
Panyma, „eigentlich könnten alle Menschen zaubern, aber wenn jemand
nicht eine gewisse ruhige und klare Betrachtungsweise für die feinen
Unterschiede in der Unterwelt des Geistes schon in sich trägt, so ist
es fast unerreichbar. Und du hast diese Fähigkeiten in dir, liebe
Emilia“.
„Setz dich mir gegenüber ans Feuer“, wies Panyma Emilia an, „so, dass
du mich gut sehen kannst“. Emilia wurde ein wenig mulmig, aber sie
setzte sich Panyma gegenüber. „Es gibt viele Möglichkeiten den
Zauber zu beginnen“, erklärte Panyma, „ich selber begehe gerne den
Zauberpfad durch das Feuer“. Zwischen den zwei Frauen loderte
über einer tiefroten Glut ein kleines Feuer, auf das Panyma einige
wohlriechende Hölzer legte. „Maja ga maia, Maja ga maia....“, begann
Panyma dazu in tiefen Tönen zu singen. Die zwei Frauen blickten sich in
die Augen. Ein feiner Kranz aus goldenem Licht umgab Panymas Kopf.
Gebannt blieb Emilas Blick auf Panymas Gesicht stehen. Aus dem
goldenen Kranz um Panymas Gesicht begannen Farben auszufliessen,
die sich in Spiralen um Panymas Körper drehten. Allmählich
verwandelte sich Panymas Gesicht in hunderte Gesichter mit
tausenden von Augen, in eine unzahl von Teile, die sich aufzulösen
begannen, bis schliesslich von Panyma nichts mehr zu sehen war.
„Panyma, wo bist du?“, rief Emilia, „ich kann dich nicht mehr sehen“.
Doch schon erhob sich ein Schwall leuchtend brauner Brühe, da, wo
Panyma einen Augenblick vorher noch gesessen hatte. Durch diese
braune Brühe hindurch leuchtete ein helles Licht, bevor die Brühe
allmahlich ins nichts zerfloss und Panymas Körper langsam wieder in
Vorschein trat. „Sing jetzt leise mit mir mit“, forderte Panyma auf
und sang weiter: „Maja ga maia, Maja ga maia....“.
Emilia nahm mit ernster Mine das zartrosa Kraut in ihre Finger.
„Balung ga nae.... Balung ga nae“, sang sie dazu und Panyma begleitete
den Gesang mit leiser Stimme. Emilia öffente ihre Hand über der Glut
und lies das Kraut hinunterschweben. Ein tiefes Loch entstand im
Feuer an der Stelle, wo das Kraut auftraf, und ein schwarzgoldenes
Licht leuchtete durch das Loch hinauf. „Gut“, freute sich Panyma,
„gut, das klappt ja vorzüglich. Sing weiter Emilia, immer weiter und
noch länger“. „Balung ga nae.... Balung ga nae“, sang Emilia weiter bis
sie müde wurde und kaum mehr etwas spürte. Emilia erlebte, wie sie
weitersang, aber gleichzeitig auch mit Panyma sprechen konnte.
„Panyma ich kann ja mit dir sprechen“, staunte Emilia, „ich kann mit dir
sprechen, und singen tue ich gleichzeitig auch. Wie ist denn das
möglich?“. „Siehst du Emilia“, erklärte Panyma, „das sind diese feinen
Unterschiede in der Unterwelt des Geistes, die du erkennen musst um
zaubern zu können. Aber das ist bei weitem noch nicht alles. Unser
Zauber geht weiter und jetzt wird es entscheidend. Schau ins Feuer
so tief du kannst und solange es dir möglich ist“. Emilia blickte ins
Feuer, doch zu ihrem Erstaunen verschwand das Feuer auf der Stelle
und sie sah dunkle Wolken mit silbrig leuchtenden Rändern aus dem
Boden aufsteigen.
Zufrieden schaute Panyma ihrer Schülerin zu. „Jetzt Emilia, stell dir
einen Ort vor, den du kennst“, wies Panyma an. „Einen Ort?“, fragte
Emilia verlegen, „welchen Ort denn, Panyma?“. „Irgendeinen Ort -
sagen wir mal - stell dir den Dorfplatz von Uwattibi vor. Bleib sitzen,
konzentriere dich auf diesen Ort und schau weiterhin ins
Wolkenfeuer“. Panyma stand auf. Sie lief zu einem Holzbalken an dem
eine grimmige Ritualmaske hing und auf die zwei Frauen hinunter
stierte. Panyma nahm die Maske und legte sie neben Emilia auf den
Boden. Panyma holte einige spitze Dornen aus einer ihrer Taschen und
legt sie auf die Maske. „Leg nun diese Teufelsmaske ins Wolkenfeuer“,
sprach Panyma mit leiser Stimme.
Emilia kniete auf, nahm die Maske und senkt sie langsam und behutsam
in die sengende schwarze Glut. Allmählich verwandelte sich die dunkle
Maske in eine helle leuchtende Scheibe. „So und jetzt schauen wir da
mal hinein, was wir da so sehen können“, lächelte Panyma. „Buah, der
Dorfplatz“, staunte Emilia, „ich sehe den Dorfplatz da drin. Aber es
ist ja schon dunkel auf dem Platz. Sind wir schon so lange am
Zaubern?“, „Ja“, antwortete Panyma, „beim Zaubern vergeht die Zeit
schnell. Da musst du gut aufpassen. Sonst kann es dir geschehen, dass
du ohne es selber zu spüren, für viele Jahre aus deiner Zeit
verschwindest. Und das ist nicht immer gut. Aber schauen wir jetzt
mal was auf dem Dorfplatz geschieht. Das ist schliesslich der Sinn
unserer jetztigen Uebung“. „Mh, viel ist da nicht mehr los“, meinte
Emilia ein wenig enttäuscht, „die sind glaub alle in ihren Hütten am
Essen oder gar schon am Schlafen. Ach da schau mal, Panyma, da sitzt
noch einer auf einem hohen Stuhl“. Panyma fächerte mit ihrer Hand
etwas Dampf weg, der sich auf der Scheibe gebildet hatte. Nun
konnte Emilia mehr erkennen. „Paygi“, staunte Emilia, „jetzt kann ich
ihn sehen. Ist wieder einmal beim Einsegnen der Speisen für den
nächsten Tag“. „Mh Paygi“, entsetzte sich Panyma energisch, „Paygi,
immer dieser Paygi. Muss der uns wieder den ganzen Zauber
vermasseln. Verflixt und zugenäht... mhhh.. Ach Paygi, Paygi“.
Immer noch blickte Emilia in die geheimnisvolle Scheibe die vor ihr lag
und konnte kaum glauben, dass sowas möglich sit. „Jetzt ist er
aufgestanden, Panyma, schau mal“, wunderte sich Emilia, „er läuft um
den Opfertisch herum“. Emilia und Panyma konnten sehen wie Paygi am
Opfertisch stand. Er drehte seinen Kopf in alle Richtungen und
schaute, dass auch ja niemand ihn beobachtete, denn vor ihm stand
eine Schale mit Honigbonbons. „So ein Schuft“, entsetzte sich Emilia,
„meint wohl es sehe ihn niemand. Jetzt will er wieder den Kindern ihre
Honigbonbons klauen. So ein gemeiner Kerl, und morgen erzählt er
wieder der Jngange seis gewesen“. Paygi leckte sich die Lippen mit der
Zunge und streckte seine Hand nach der Bonbonschale aus. Panyma
kicherte auf den Stockzähnen und gab Emilia einen feinen Zweig in die
Hände. Mit einem Zwick im Handgelenk gab sie Emilia zu verstehen,
was sie jetzt tun sollte. Emilia zögert keinen Moment und gab dem
kleinen Paygi auf der Scheibe einen kräftigen Klaps.
„So das ist genug Zauberlektion für heute“, meinte Panyma zufrieden,
„und Paygi, der hat auch grad eine wohlverdiente Lektion abbekommen.
Morgen Nachmittag werden wir zuerst in den Urwald gehen und dann
zeige ich dir die wichtigsten Kräuter für den Anfang. Aber jetzt ist es
Zeit zum Abendessen und Schlafen gehen. Ich werde dich noch in
deine Hütte begleiten“.
Bei der Hütte angekommen, streifte Panyma Emilia zum Abschied mit
ihrer Hand über die Schultern: „Gute Nacht Emilia und träum süss“.
„Gute Nacht Panyma, schlaf gut“.
Kapitel 5 Die Zauberblätter
Juanita sass auf der Veranda und widmete sich fleissig ihren
Hausaufgaben. Thiago schaute ihr aufmerksam zu. Doch nur zuschauen
machte ihm keinen Spass. Wie so oft, wollte er wieder mal genau das
gleiche tun, wie seine Schwester, und dies ganz zu Juanitas Aerger.
„Thiago ist halt noch ein kleiner Junge“, erklärte Emilia, „und die
wollen immer das gleiche haben wie die grossen“. „Ist aber ganz schön
nervig“, beklagte sich Juanita, „ich will auch mal was nur für mich
alleine tun können. Ich kann ja später wieder mit Thiago spielen“.
„Tja ja“, seufzte Emilia, die inzwischen das Pergament in die Hände
genommen hatte, das ein paar Tage zuvor ihre Kinder auf dem
Dachboden gefunden hatten, „wir hatten damals auch so einen kleinen
Jungen in Uwattibi, er hiess Ojang Utan. Der wollte oftmals immer
genau dasselbe haben, wie es seine Schwester Iakunae auch hatte. An
jenem Tag, Iakunae war gerade seit zwei Tagen aus dem Nachbardorf
zurückgekehrt, war es ganz besonders schlimm. Iakunae und ich
konnten am Morgen kaum Schule spielen in der Materialhütte. Immer
wieder ist Ojang Utan zu uns gekommen und wollte uns die
Schreibfeder und das grosse Pergament wegnehmen. Aber am
Nachmittag, als ich bei Panyma in der Zauberschule war, da war es
ganz besonders schlimm .... Ich habe es doch irgendwo auf dem
Pergament aufgeschrieben“. Eine Weile suchte Emilia auf dem grossen
Pergament. Dann las sie vor:
Die zwei Zauberinnen aber liessen sich nicht länger ablenken. „Und nun
zum letzten Kraut, das wir gestern gesammelt haben“, begann Panyma
ihre Erklärungen, „wir nennen es Rotblutende Ranke. Es birgt viele
Kräfte in sich, doch das Problem ist, an diese Kräfte heranzukommen.
Wenn jemand nicht genau weiss wie das geht, so ist es ein Kraut wie
jedes andere. Nicht mal besonders schön. Im richtigen Zauber jedoch
legt es Kräfte frei, so stark, dass es für den Zauberer selbst die
grösste Gefahr bedeuten kann, es überhaupt zu verwenden“. „Ist das
nicht viel zu gefährlich?“, fragte Emilia etwas ängstlich. „Zaubern ist
immer gefährlich, merk dir das“, belehrte Panyma ihre Schülerin,
„wenn ein Zauberer etwas falsches macht oder sich in zweifelndem
oder gar argwöhnischem Geist befindet, so kann es für ihn gefährlich
werden. Da kann es geschehen, dass er krank wird, sich verwandelt
ohne zurückfinden zu können oder gar für immer und ewig
verschwindet. Ich weiss von einigen Zauberern, die plötzlich
verschwunden sind, und kein Mensch weiss wohin oder wo sie sich
jetzt befinden. Die Schamanen vermuten, dass es tief in der Erde
drin einen Ort gibt, an dem Zauberer, die einem falschen Geiste
verfallen sind, eingesperrt sind. Ein Ort, finster und grässlich, an dem
die bösen Zauberer und Magier in Schlingen gefesselt während
hunderten von Jahren allmählich vor sich hindörren und langsam
lebendigen Leibes in den Sumpf der Erde verschwinden. Noch nie ist
jemals ein an diesen Ort verdammter Zauberer zurückgekehrt“.
„Aah“, stöhnte Emilia, öffnete ihren Mund und starrte Panyma mit
weit aufgerissenen Augen an: „Meinst du da ist es richtig, dass ich
zaubern lerne?“. „Ja, ja, hab keine Sorge, mein Zauberkind“, beruhigte
Panyma ihre Schülerin, „bemühe dich, allen lebenden Wesen gutes zu
tun, dann besteht keine Gefahr, dass du diesen schrecklichen Ort
jemals sehen wirst“.
„Komm jetzt Emilia, ich glaube die Glut des Feuers ist soweit, dass wir
mit dem heutigen Zauber beginnen können. Wir brauchen eine grosse
Menge roter Glut. Sie muss ganz fein sein und es darf keine Flammen
mehr geben im Feuer“. Darauf setzten sich die zwei Frauen ums Feuer
und verteilten die Glut mit Holzstäben. „Oh das sieht schön aus“,
schwärmte Emilie, „das rote Funkeln der Glut - wie leuchtende Sterne
am Himmel“. „Ja das ist wichtig“, erklärte Panyma, „eine satte Glut
brauchen wir, dass unsere Zauberblätter genug Kraft in sich
aufnehmen können“.
„Lass uns zuerst die feuchten Minzblätter aus der grossen Schale auf
die Glut legen“, wies Panyma Emilia an, „dies gibt uns magische Dämpfe,
mit denen wir zum Schluss die blutroten Rankenblätter zu
Zauberblättern verwandeln werden“. Emilia und Panyma legten die
Minze aufs Feuer. Ein silbriger Dampf stieg auf. „Hei hoha ha, ho
haha“, sang Panyma und tanzte ums Feuer. Emilia machte es ihr gleich.
„Hei hoha ha, ho haha“, sang auch Emilia.
Alsbald war die Materialhütte mit silbrigem Nebel erfüllt durch den
das Sonnenlicht an den Toren der Hütte nur noch ganz spärlich
eindringen konnte. Ein wohliger Geruch nach Silberminzendampf
machte sich breit.
„So, jetzt legen wir die blutroten Ranken auf die dampfenden
Minzenblätter“, erklärte Panyma. Emilia und Panyma nahmen je einige
der Rankenblätter und legten sie auf Feuer. Ein Blitz zuckte durch die
Hütte und im Feuer liegen silberglänzende Kristallblätter. Mit weit
geöffneten Augen kam Emilia nicht mehr zum Staunen hinaus. „Oh sind
die schön“, schwärmte sie, während Panyma die Blätter aus dem Feuer
nam. „Ja“, freute sich Panyma, „sie haben sich in silbrige
Zauberblätter verwandelt. Es sind Farbzauberblätter. Wenn du sie
etwas anwirfst, so kannst du dir eine Farbe wünschen, die der
angeworfene Gegenstand dann annimmt. Es ist ein Zauber, den
Zauberschüler am Anfang lernen müssen. Er birgt in sich hohe
Zauberkräfte ohne grossen Schaden anrichten zu können, denn sonst
könnte es gefährlich werden“. „Darf ich es einmal versuchen?“, fragte
Emilia. „Mh“, zögerte Panyma, „nur mit den Kristallblättern alleine ist
es wohl noch zu schwierig für dich. Lass uns zuerst im Urwald das
violette Runkelkraut suchen gehen. Dann kannst du beide zu Hilfe
nehmen. Das macht es dir viel einfacher. Ein forgeschrittener, guter
Zauberer könnte vielleicht mit den silberglänzenden Kristallblättern
alleine Zaubern, aber für einen Anfänger ist es fast unmöglich. Komm
lass uns die Blätter bis zu unserer Rückkehr in dieser Ledertasche
aufbewahren“. Panyma und Emilia legten die Kristallblätter vorsichtig
in die Ledertasche und hingen diese an einem Balken auf. „Lass uns
jetzt in den Urwald gehen“, schlug Panyma vor und die zwei Frauen
verschwanden ins Freie.
Mit grossen Augen bewunderte Iakunae das Blatt in ihrer Hand. „Oh“,
staunte sie, „ist das schön, so glänzend silbrig“. Darauf roch sie an
diesem Blatt und verzog ein schräges Gesicht, „bäääh, so schön silbrig
sind die Blätter und trotzdem riechen sie so grässlich nach Pech und
Schwefel“.
Iakunae hielt eines der Blätter in ihrer rechten Hand und betrachtete
es lange. Weit riss sie vor ihre Augen auf, wie plötzlich das Blatt zu
leuchten anfig. Sie bestaunte das Blatt und da plötzlich – geschah
etwas unerwartetes. „Patsch“, knallte es und Iakunae wurde von einem
Büschel Stroh am Kopf getroffen. „Ah“, stöhnte Iakunae, „das kann
doch nur....“. Dann sah sie wer vor ihr stand, Ojang Utan und in der
Hand hielt er Otsaro, den Lemur. “ Ojang Utan, du dummer Lausbub,
wart nur“. Iakunae hob den Stroh auf, der vor ihr lag, nahm ihn in die
Hand und rief: “Ojang Utan, du dummer Lausbub verschwinde. Ich will
dich nicht mehr sehehn“. Iakunae nahm den Stroh und warf ihn Ojang
Utan an. Doch da geschah ein Missgeschickt, das nicht hätte
passieren dürfen. Zu allem Unglück warf Iakunae nicht nur den Stroh
in ihrer Hand, nein, sie warf auch das silbrige Zauberblatt ihrem
Bruder an den Kopf. „Verschwinde, du Nervensäge, ich will dich nicht
mehr sehen“, rief Iaknae noch einmal wütend ihrem Bruder zu.
Darauf knallte es laut und ein Blitz zischte durch die Hütte. Von Ojang
Utan und Otsaro war nichts mehr zu sehen. Iakunae wurde Angst und
Bang. „Jede Farbe kann man da zaubern... ?“, erinnerte sie sich an
Panymas Worte, „jede Farbe? Hmm, und ich habe mir gewünscht, dass
Ojang Utan verschwindet und nun er ist unsichtbar geworden“.
Plötzlich war Iakunae nirgends mehr wohl. Sie spürte, dass sie etwas
ganz dummes angestellt hatte.
Iakunae zog Ojang Utan dieselbe Ritualmaske über wie damals. Sie hob
ihren Bruder auf die Schultern, warf eine Hängematte über sich und
band Avanenes Federschmuck um ihren Hals. Otsaro hatte sich
zuhinterst unter die Hängematte geschoben und rasselte wild mit zwei
Tammarakas.
Derweil watschelte und rasselte der Teufel auf dem Dorfplatz umher.
„Hilf uns, Paygi, hilf uns“, riefen die Indianer vergnügt, „hilf uns, der
böse Teufel kommt und greift uns wieder an“. Doch Paygi schenkte
dem Teufel keine Aufmerksamkeit, sondern erzählte den Frauen eine
schaudrige Geschichte wie ihn ein feuerspeiender Drache fressen
wollte. Keinen Deut Aufmerksamkeit schenkte er dem Teufel auf dem
Dorfplatz. „Scheisse“, dachte Iakunae, denn das war gar nicht etwa
das, was sie eigentlich wollte. So begann das Teufelsungeheuer im
Kreis um Paygi und seine Frauen zu tanzen und die Frauen waren nicht
so mutig wie Paygi. „Hilfe, hilfe“, flehten sie Paygi an, „hilf uns, du bist
doch unser Schutz gegen den Teufel“. Dazu hielten sie sich fest an
Paygis Arm, was sie ohnehin gerne machten. „Ha ha ha“, lachte Paygi
überlegen und zeigte mit dem Finger auf das Ungeheuer. „Ach die
doofen Kinder unter dem Baumwolltuch meint ihr?“, grölte Paygi laut
herau, „die dummen Kinder die mir einen Streich spielen wollen, ha ha
ha. Schert euch weg ihr frechen Gören, oder ihr kasssiert ganz
ordentlich was ab, ha ha“.
Jetzt hatte Iakunae endgültig die Schnauze voll, denn sie dachte
zuerst, es sei viel einfacher, Paygi zu ärgern. Und das wollte sie ja
unbedingt. Doch schon kam ihr ein weiterer Einfall. Gut versteckt
unter der Hängematte, hob sie einen Zweig vom Boden auf, und gab
Paygi einen kräftigen Klaps auf seinen allerwertesten Hintern. „So“,
knurrte Paygi zwischen seinen Zähnen hervor, „jetzt reichts ein für
alle mal“.. Den Kindern, denen wollte er es jetzt endgültig mal
beibringen. Mit beiden Händen fasste er die Maske des Teufels und
riss sie weg, während gleichzeitig Federschmuck und Hängematte zu
Boden fielen. Doch nun traf Paygi die grosse Ueberraschung. „Ihr
dummen Göööörr...“, wollte Paygi ein letztes mal schimpfen. Dann fielen
ihm beinahe die Augen aus dem Kopf heraus. „ göööö .... gööööörrrrr“,
stammelte der verdatterte Urwaldpriester verzweifelt. Nichts, kein
Kind, kein Tier, kein Mensch, niemand war unter dem Tuch, der sich als
Teufel verkleidet hatte, nur gähnende Leere. „Da da da da“,
stammelte Paygi und liess vor Schrecken gelähmt sein Tammaraka aus
den Händen fallen, „da. da ist ja gar niemand“.
Und nun ging es wild zu und her im Indianerdorf. Unablässig fiel Stroh
runter von den Dächern auf die Köpfe der Indianer. Eimerweise
spritzte kaltes Wasser in die Reihen der hilflos umherrennenden
Männer, Frauen und Kinder. Dann wurde es wieder ganz ruhig und
nichts mehr gechah bis plötzlich einige Indianer gekitzelt wurden.
So wild wäre es wohl noch lange zu und her gegangen, wenn da nicht
zwei Frauen ins Indianerdorf zurückgekommen wären, Panyma und
Emilia. „Panyma, Panyma. Hilfe hilfe“, schrieen einige Frauen, „böse
Geister überfallen das Dorf. Sie werfen mit Stroh nach uns, spritzen
uns mit Wasser voll und kitzeln uns“. Panyma verzog ein schräges
Gesicht wie sie das hört. Ohne ein Wort zu sagen fasste sie Emilia an
der Hand und eilte in die Materialhütte. „Hab ichs mir doch gedacht“,
sagte sie schliesslich zu Emilia, „diese Iakunae - ein schlimmes
Lausemädchen. Zauberblätter hat sie genommen und damit geworfen ,
und dann sogar der Unsichtbarzauber. Ich galubs ja nicht“. Nach einer
Weile Ueberlegen fuhr Panyma fort: „ Aber wart nur Iakunae, jetzt
wirst du eine Ueberraschung erleben“. „Was meinst du damit?“, fragte
Emilia. „Hi, hi hi,“ kicherte Panyma, „gib mir doch mal das violette
Runkelkraut, das wir vorhin gesammelt haben“.
Unter den Minzen fand Panyma noch einige Glut des Feuers und schon
bald dämpft es wieder in der Materialhütte. Viel geschah nicht, als
Panyma die drei violetten Runkelblätter in die Glut fallen liess. Ein
leises ‚Klick’ und die Blätter zerfielen ins Nichts. „So, die drei Blätter
siehst du nicht mehr“, lächelte Panyma zu Emilia, „aber draussen sind
drei Lausebengel wieder sichtbar geworden“.
Nun ist es so, dass gemäss den Gesetzen der Zauberei beim
Unsichtbarzauber einzig die Sichtbaren die Unsichtbaren nicht mehr
sehen können. Die Unsichtbaren selber aber sehen alles so wie zuvor,
sowohl sich selbst als auch die Sichtbaren. Das bedeutet aber, dass
wenn der Zauber plötzlich aufgehoben ist, die Unsichtbaren dies
vorerst gar nicht bemerken können, denn für sie selber ändert sich
nichts. Sie sehen immer noch dasselbe, wie wenn sie noch unsichtbar
wären, es sei denn......
So begaben sich die zwei Frauen in eine Ecke und berieten lange.
Emilia hatte sich neben Iakunae gestellt, der inzwischen erste Tränen
die Backen hinunterrollten. „Es war halt so lustig“, erklärte Iakune
ihrer Freundin mit trauriger Stimme. Emilia legte ihren Arm um ihre
Freundin und versuchte sie zu trösten. Lange berieten Panyma und
Iakunaes Mutter. Einige Wortfetzen können die zwei Mädchen
vestehen: „Ja meinst du wirklich?“, hörten sie Iakunaes Mutter
sprechen, „....ja sowas ..... wieso nicht... meinst du das geht?“
„Die werden sich wohl eine ganz schlimme Strafe für mich ausdenken“,
befürchtete Iakunae, „vermutlich darf ich jetzt ein ganzes Jahr lang
den Dorfplatz putzen und Paygi einen Monat lang jeden Tag ein fettes
Schwein servieren“. „Das glaube ich nicht“, machte Emilia ihrer
Freundin Mut, „das Schwein bekommt Paygi sowieso lieber von seinen
Frauen geschenkt. Aber irgendeine Strafe werden sie schon finden
für dich“.
Nach einiger Zeit kamen Panyma und Iakunaes Mutter auf die zwei
Mädchen zugelaufen. Panyma schaute streng zu Iakunae hinunter.
„Weisst du wie gefährlich das ist, was du soeben gemacht hast
Iakunae?“, fragte Panyma mit drohender Stimme, „wenn du da etwas
falsch machst, so kannst du jemanden verletzen oder du selber kannst
für immer und ewig selber verschwinden. Da hast du Glück gehabt“.
Iakunae stierte vor sich in den Boden hinein, hob die Schulter und
stammelte: „Entschuldigung“. „Ja, ja, so sind halt die Lausemädchen“,
fuhr Panyma in freundlicherem Ton fort, „und eines hast du uns auch
gezeigt, Iakunae. Nur gute Zauberer sind in der Lage alleine mit den
Zauberblättern zu zaubern. Ich hätte es nie für möglich gehalten,
dass du das auf Anhieb kannst. Da habe ich mir gedacht, du wirst
vielleicht in Zukunft weniger ein Lausemädchen sein, wenn du
gefordert wirst und etwas lernst. Es wäre mir eine Freude, wenn du
zusammen mit Emilia zu mir in die Zauberschule kommen würdest“.
„Du meinst.....?“, staunte Iakunae und brachte kaum mehr ein Wort
über die Lippen, „du meinst wirklich…?“. „Ja genau“, antwortete
freundlich Panyma. Emilia umarmte ihre Freundin. „Juhuu, jetzt sind
wir zu zweit in der Zauberschule, juhuu“, freute sich Emilia.
Kapitel 6 Wald der Schwarzen Schatten
„Du sollst aber auf deinem eigenen Blatt zeichnen“, wies Juanita ihren
kleinen Bruder zurecht, „da drüben ist dein Blatt“. „Nein, nein, Thiago
zeichne hier. Das Thiago Blatt“. „Nein das ist nicht dein Blatt. Das ist
mein Blatt“, wehrte sich Juanita entschieden, „Tu doch bitte auf dein
eigenes Blatt zeichnen, Thiago“. Doch einen Moment später hatte
Juantia ein bessere Idee. „Weißt du was Thiago?“, sprach sie zu ihrem
Bruder, „wenn du auf deinem eigenen Blatt eine schöne Zeichnung
fertig hast, so werden wir sie direkt über deinem Bett in unserem
Zimmer aufhängen. Und wenn du willst, so können wir sie sogar über
meinem Bett aufhängen“.
Das hatte bei Thiago die gewünschte Wirkung erzielt. „Thiago machen
Geschenkli Juanita. Sööne Zeichnung, liebe Juanita“, freute sich der
Junge. Ja so ist es doch, andern etwas zu schenken macht selber am
meisten Freude. Das wusste auch schon der kleine Thiago.
Eine Weile schaute Iakunae auf die Zeichen im Sand. „Das D ist leicht
sich zu merken“, bemerkte sie, „das D sieht ja aus wie ein dicker
Bauch“. „Ja“, erklärte Emilia, „aber gib acht, dass du es nicht mit dem
P verwechselst. Das sieht auch aus wie ein Bauch, aber halt nur bis zur
Hälfte runter“. „Hi, hi“, grinste Iakunae, „das P sieht ja noch viel
lustiger aus. Wie ein dicker Hängebauch. P, wie der Bauch von Paygi.
So kann ich mir das P auch gut merken“. Die Mädchen kicherten und
lachten. Sie hatten es vergnügt in ihrer Schule.
Im hinteren Teil der Hütte sass schon seit Stunden Panyma reglos da
und schaute in die Glut des Feuers vor ihr. Die zwei Mädchen standen
auf und gingen hin zu Panyma. „Na ist eure Schule zu Ende?“, fragte
Panyma im freundlichen warmen Ton ihrer Stimme. „Ja“, antwortete
Emilia, „wir wollten dich fragen, ob wir am Nachmittag zu dir in den
Zauberunterricht kommen dürfen“. „Ja natürlich dürft ihr zu mir
kommen“, antwortete Panyma, „Seht ihr die schöne Glut? Seht ihr
sie?“. Panyma fuhr mit ihrer Hand über die hellrot glimmernde Glut.
Hinter ihrer Hand verwandelte sich das Rot der Glut in das
tausendfache Funkeln goldener Steine. „Oh schön“, staunte Iakunae.
„Hi hi hi“, kicherte Panyma und wie sie mit ihrer Hand zurückfuhr war
wieder die alte Glut da.
6-1
Emilia und Iakunae mochten kaum warten bis die Stunde nach dem
Mittagessen vorbei war. So gespannt waren sie auf die Abenteuer, die
sie an diesem Nachmittag erleben würden. Dann endlich war es soweit.
Gemeinsam betraten sie die Materialhütte. In der dunkelsten Ecke,
zuhinterst in der Hütte kniete Panyma am Boden. Mit beiden Händen
griff sie in die schwarze, kalte Asche der Feuerstelle. „Schwarze
Asche“, sagte sie zur Begrüssung zu den zwei Mädchen und begann
sich am ganzen Körper einzureiben, „im Wald der Schwarzen Schatten
müssen wir uns mit schwarzer Asche einreiben. Dann sind wir schwarz
und nicht mehr zu sehen. Und das kann entscheidend sein“. Die zwei
Mädchen knieten ebenfalls nieder und rieben sich mit Asche voll. „Ist
das die gleiche Asche mit der du am morgen gezaubert hast?“, fragte
Emilia. „Ja“, antwortete Panyma, „ja du hast recht, es ist dieselbe
Asche. Es ist keine gewöhnliche Asche mit der wir uns einreiben“.
„Ah“, erschrak Iakunae und hielt sich fest an Emilias Arm, „hätten wir
doch nur Pfeil und Bogen mitgenommen“. Emilia zitterte und schaute
gebannt auf das Ungeheur, das da irgendwo nicht mehr weit weg auf
sie zukam. „Wenigstens bist du bei mir, Iakunae“, stöhnte Emilia und
hielt sich eng an Iakuanes Arm, „es ist schön eine Freundin wie dich
bei mir zu haben“. Nahe standen die zwei Freundinnen zusammen, fest
entschlossen einander bei jeder Gefahr zu helfen.
Die Bedrohung kam näher und näher. Doch dann, „Gru, Gru, gru“,
grunzte und schnarchte es den dreien lautstark entgegen.
„Wildschweine“, kicherte Panyma erleichtert, „satte vollgefressene
Wildschweine. Die tun niemandem etwas zuleide“. Ein gutes Dutzend
runde kurzbeinige Schweine rannten wakelig hervor und guckten
verdutzt auf die drei Frauen. „qui, qui, qui“, beschnupperte ein kleines
Schweinebaby Emilias Fuss und versuchte vergebens, da noch ohne
Zähne, Emilias Fuss zu knellen und zu beissen. Emilia lachte: „Oh du
süsses liebes Schweinebaby“. „Gru, gru grugru“, schimpfte die
Schweinemutter aus sicherer Entfernung und blickte ängstlich auf die
drei kohlenschwarzen fremden Gestalten. „qui, qui, qui“, quitschte das
kleine Baby, schaute nochmals zu Emilia empor und humpelte vergnügt
zur grunzenden Mama. So schnell wie die Wildschweine in der Wildnis
aufgetaucht waren, so schnell waren sie wieder verschwunden und
nichts war mehr von ihnen zu hören.
Kurz darauf führte der Weg in eine Waldschneise hinein. Auf beiden
Seiten ragten die Baumriesen weit zum Himmel empor und dazwischen
bedeckte mannshohes Gras die weiche, warme Erde. „Wieso müssen
wir eigentlich durch den Wald der Schwarzen Schatten gehen an
dieses Zauberertreffen?“, fragte Emilia, „die Zauberer hätten das
Treffen ja auch auf unserer Seite des Waldes abhalten können“.
„Tja“, antwortete Panyma, „wir sind die einzigen Zauberer, die auf
dieser Seite des Waldes leben und die andern wollten nicht alle durch
diesen gefährlichen Wald hindurch. - Und - unter uns gesagt, aber von
dem dürft ihr am Treffen nichts sagen, die meisten Zauberer würden
es niemals wagen, diesen Wald zu betreten“.
Es war gut, das Panyma vorauslief und sich jetzt nicht drehte, denn
wenn sie die Gesichter von Emilia und Iakunae gesehen hätte, so wäre
es ihr nirgends recht gewesen, welch tiefen Schrecken sie mit diesen
Worten den zwei Mädchen eingejagt hatte. Emilia hielt den Atem an
und staunte. „Was? Wie? Die meisten Zauberer würden es nicht
wagen, diesen Wald zu betreten?“, fragte Emilia befremdet, „habe ich
das richtig gehört? sie wagen es nicht?“. Panyma blieb stehen und
wandte sich den Mädchen zu. „Habt ihr jetzt etwa Angst bekommen?“,
staunte sie. „Weißt du Panyma“, stotterte Iakunae, „du sagst, die
meisten Zauberer haben Angst in den Wald der Schwarzen Schatten
zu gehen und wir sind doch noch Mädchen, jung und ohne viel
Erfahrung“. „Ach was“, beruhigte Panyma ihre zwei Schülerinnen,
„vergesst die anderen Zauberer. Da gibt es einige darunter, die
können weniger zaubern wie ihr. Das sind nicht alles nur die besten.
Aber es sind gemütliche und liebe Menschen, und das finde ich das
wichtigste“.
Panyma blickte hoch, zeigte mit der Hand zum Himmel und winkte.
„Dreht euch mal um Mädchen. Es scheint, dass uns doch jemand aus
dem Dorf gefolgt ist“. Iakunae und Emilia sahen zwei Vögel fliegen. Es
waren die Urwaldeule und Abare, der Papagei. „Abare, Abare. Hier
sind wir“, rief Emilia zum Himmel empor und winkte ihrem Freund.
„Emilia, Emilia, kraaah, kraaah“, antwortete Abare. Darauf
verschwanden die zwei Vögel in den Wipfeln der Bäume.
„Lasst uns weiter gehen“, forderte Panyma auf. Immer schmäler wurde
die Waldschneise, in die sie hineinliefen und die Bäume ragten steil
zum hohen Himmel empor. Was Emilia aber am meisten verwunderte
war die Tatsache, dass sie in den Wald links und rechts von ihr nicht
hineinblicken konnte. Das Laub, die Gräser, die Büsche und die Dornen
am Waldrand wuchsen dicht und liessen die Vorbeigehenden keinen
einzigen Zentimeter des Waldesinnern erkennen.
Von Iakunae, die sonst immer gerne etwas erzählte, war seit einiger
Zeit nichts mehr zu hören. Hatte das Mädchen etwa zuviel Angst, um
sich in den Wald der Schwarzen Schatten hinein zu wagen? „Du bist so
ruhig, Iakunae“, bemerkte Panyma, „was ist denn los mit dir? Du
erzählst doch sonst immer was. Hast du etwa Angst mitzukommen?“.
„Ja, das vielleicht auch“, schluchzte Iakunae und rümpfte sich weinend
die Nase, „aber weißt du Panyma, da ist noch was anderes. Bevor wir
fortgingen, habe ich etwas getan, was ich glaub nicht hätte tun
dürfen. Und das plagt mich jetzt“. „Was hast du?“, staunte Panyma.
„Sie hat etwas gelausert“, lächelte Emilia, „los Iakune, sag uns schon,
was hast du schlimmes angestellt?“. „Wisst ihr“, schluchzte Iakunae,
„wie sich Emilia mit Asche schwarz anmalte, bin ich in der
Materialhütte herumgelaufen. Als ich plötzlich die wunderschönen
silbrigen Zauberblätter vor mir sah, da habe ich mir heimlich einige
davon eingesteckt. Die glitzern halt so schön. Und jetzt, wo wir hier
sind, habe ich das Gefühl, dass das nicht richtig war von mir. Ich habe
ohne zu Fragen etwas genommen, einfach gestohlen. Und das dürfen
doch Kinder nicht“. „Ach so, du hast ein schlechtes Gewissen“, lächelte
Panyma, „Zauberblätter gestohlen, ts ts. Ja, du hättest es uns sagen
sollen, bevor du da etwas nimmst. Aber gestohlen? Du hast ja
schliesslich beim Sammeln mitgeholfen, und beim Zaubern auch. Also
ein bisschen gehören sie dir ja ohnehin. Und Zauberblätter sind
schliesslich extra für Zauberschüler gedacht und wir haben genug
davon. Aber ja, bevor du in Zukunft etwas nimmst, so sag es uns. Dann
wissen wir was los ist, wenn plötzlich etwas fehlt. Aber so schlimm ist
das nun auch wieder nicht. Kopf hoch Iakunae, und versuchs halt in
Zukunft besser zu machen“. Iakunae stand da und sprach kein Wort,
doch Emilia lächelte freundlich. „Du bist so lieb zu uns, Panyma“,
freute sich Emilia, „auch wenn wir manchmal Lausekinder sind. Du
schimpfst nie, sondern machst uns Mut, es in Zukunft besser zu
machen. Das ist so schön an dir“. Panyma hielt beim Laufen inne,
drehte sich und umarmte ihre zwei Zauberschülerinnen. „Ja ja meine
zwei Lieben“, freute sie sich, „mit euch gefällts mir auch gut. Was
Iakuane getan hat ist zwar nicht ganz in Ordnung, aber besonders
schlimm ist es nun auch wieder nicht“. - - - Nicht so schlimm? Ob
Panyma das auch noch gesagt hätte, wenn sie gewusst hätte, was die
drei im Wald der Schwarzen Schatten erwartet?
Mit einem mal, urplötzlich geschah es nun. Nicht nach hinten - nicht
nach vorne - nirgends konnte Emilia noch das geringste erkennen.
„Hilfe, Panyma, wo bist du?“, flehte Emilia verzweifelt und versuchte
vor sich im Dickicht Panyma zu erkennen. Doch Panyma war im Grün
der Blätter verschwunden. „Ahh, Hilfe, Emilia“, hörte Emilia hinter
sich Iakunae schreien. „Iakunae, wart, ich komm dir helfen“,
antwortete Emilia und drehte sich tapfer auf die andere Seite, um
ihrer Freundin zu helfen. Doch auch dort konnte Emilia nur noch die
Blätter des Waldes erkennen. Iakunae konnte sie nirgends sehen.
Blätter, überall nur Blätter und sie hatten die Waldschneise
vollkommen zugewachsen. Einen Augenblick später spürte Emilia den
unheimlichen Druck der Blätter auf ihrem Körper, eng und enger. Eine
gewaltige Kraft presste ihr den Brustkorb zusammen und liess sie
nicht mehr einatmen. „Hnnn, hnnnn“, stöhne Emilia leise und ringte
hilflos nach Luft, „hilfe, Luft, Luft“. Von unausweichlichen Kräften
zusammengedrückt und gefangen gehalten, war es Emilia nicht mehr
möglich, die geringste Bewegung auszuführen. Doch nur einen kurzen
Augenblick dauerte das bedrängende Drücken der Bäume auf Emilias
Körper. Nach ein paar Sekunden schon liess der Druck nach und Emilia
fühlte eine kalte Leere um sich herum. Es war stockdunkel und
schwarz geworden.
6-2
„Emilia, Emilia, wo bist du?“, rief Iakunae in der Finsternis. „Hier bin
ich“, antwortete Emlia, „, aber ich sehe nichts“. “Habt Geduld ihr
zwei“, sprach Panyma mit leiser Stimme, „es dauert eine Weile bis sich
unsere Augen an die Finsternis gewöhnt haben. Jetzt aber seid still,
dass niemand uns hören kann“.
So verging die Zeit und sie verging langsam. Die Minuten schlichen wie
Ewigkeiten dahin. Allmählich konnte Emilia in der Dunkelheit etwas vor
sich erkennen. „Iakunae, siehst du das Glitzern da vorne?“, fragte
Emlia. „Nein nicht da vorne“, antwortete Iakunae keck, „da vorne sehe
ich nichts. Ich sehe ein Glitzern in der Richtung aus der du sprichst“.
„Seid ruhig ihr zwei“, mahnte Panyma nochmals eindringlich, „wir sind
nicht die einzigen hier im Wald der Schwarzen Schatten“.
Während die drei darauf warteten, dass sie in der Dunkelheit mehr
und mehr erkennen konnten, hielt Iakunae, sichtlich gelangweilt, einen
feuchten , dreckigen Stein ich ihrer Hand. Sie liess ihn zwischen den
Fingern gleiten, warf ihn mit der linken Hand hoch und fing ihn hinter
ihrem Rücken mit der selben linken Hand wieder auf, von der linken
warf sie ihn zur rechten, wie es ihr gerade gefiel. So spielte Iakunae
eine Weile um sich die Zeit zu vertrödeln. Emilia, etwas ängstlich und
nervös, was sie sonst selten war, störte sich daran. „Musst du
unbedingt immer mit diesem doofen Stein spielen?“, stänkerte Emilia
leise. Iakunae sagte kein Wort. Sie hielt den Stein in ihrer Hand,
guckte ihn kurz an, zuckte ihre Schultern, und warf den Stein
schliesslich weit weg. „Ahhhh“, wehklagte ein fürchterlicher Schrei
aus der Richtung, in die Iakunae den Stein geworfen hatte. Panyma
blickte erschrocken zu Iakunae. „Bitte nimm dich zusammen Iakunae“,
mahnte Panyma mit ernster, verzweifelter Stimme, die man von ihr nur
selten hörte, „wenn du hier einen derartigen Tumult verursachst, sind
wir schnell erledigt“.
Bis zu den Knöcheln versanken die drei Frauen beim Gehen in der
sumpfigen Knete. „Gebt acht, dass ihr in keine Schatten hineintretet“,
warnte Panyma nochmals eindringlich, „auch wenn ihr da nichts seht,
kann sich da eines der Unwesen verstecken“. „Was sind denn das für
welche?“, fragte Emilia. „Einige kenne ich“, erklärte Panyma, „denn
viele sind immer am selben Ort. Doch wieder andere kenne ich nicht“.
„Können wir sie sehen?“, wunderte sich Iakunae. „Wenn sie aus den
Schatten hervorkommen, dann ja“, erklärte Panyma, „In den Schatten
selber aber sind sie unsichtbar. Da vorne beispielsweise, der ganz
grosse dunkle Fleck, dort ist die Waldkrake angekettet. Weil sie ihnen
sonst alles wegfrisst, darum haben die Bewohner des Waldes sie
angekettet. Da dürft ihr nicht zu nahe rangehen, sonst ergreift sie
euch mit ihren Armen, wenn sie euch riecht. Und dann seid ihr
erledigt, aufgefressen“. „Und was essen die Bewohner des Waldes
denn sonst so?“, fragte Emilia. „Seht ihr diese nasse Stinkmorchel, die
hier wächst?“. „Meinst du diese Schleimpilze?“, fragte Iakunae und
hielt sich die Nase zu. „Ja genau“, fuhr Panyma fort, „für uns stinken
sie nach Hundekot, aber für die Bewohner des Waldes sind es
begehrte Delikatessen auf dem Speisezettel“. „Ob ich die arme
angekettete Waldkrake damit füttern darf?“, wollte Iakunae wissen.
Panyma grinste und sprach, „Wenn es dir Spass macht - du kannst es
ja mal versuchen“. Iakunae klemmte sich mit der linken Hand die Nase
zu und mit der rechten warf sie ein Stück Stinkmorchel in den grossen
Schatten hinein. Auf der Stelle schlugen graue riesige
Tintenfischarme mit aller Kraft und lautem Klirren von Ketten im
Schatten umher. „Mmmamppffff, mmmapff“, knurrte das Unding,
öffnete seinen schlabrigen Mund und stopfte sich gierig den stinkigen
Pilz in seinen Rachen. Darauf gorpste die Waldkrake laut,
„öööööhhhhhhhchchch“. „Jetzt kann ich die sie sehen“, erschrak
Emilia, „buah so gross“. „Tja nehmt euch in Acht“, warnte Panyma, „die
Waldkrake ist gross und stark, hungrig nach allem, und gefrässig.
Mensch, Tier, Pflanze, einfach alles frisst sie auf, was ihr vor ihrem
Mund in die Arme kommt“.
Panyma lief den Mädchen voraus und erklärte mit leiser Stimme:. „Die
Ajangs, Dämonen in der Tupi Sprache, knurrlige kleine Wesen,
beherrschen den ganzen Wald. Sie ketten alle jene an Bäume, die
ihnen missfallen. An diesem Stamm da drüben haben sie
Schleckschmatzi gefesselt. Es ist harmlos, aber wer ihm zu nahe
kommt, den küsst es mit seinem klebrigen Schleim nass ab und lässt
ihn lange nicht mehr los“. „Bääh“, entsetzte sich Emilia, „so was
ekliges, bäh“. Iakunae, die zuhinterst lief konnte es nicht lassen, eine
Handvoll sumpfige Walderde in eben diesen Schatten hineinzuwerfen“.
Sogleich regte sich dort eine kleine, warzige Gestalt mit fettem
Gesicht. „Ohhh, ohhh, komm her zu mir mein Schatzi, mein Süsses, du
bist so putzig, so neidlich, komm, komm!“, krächzte das dicke trollige
Schleckschmatzi und piepste durch die Lippen ihres Schmollmundes,
„wo bist du denn, wo bist du? Komm her mein Liebstes, müpf, müpf,
müpf, schleck, schleck“. Iakunae erschrak und rannte einen Schritt
zurück. Doch Schleckschmatzi griff nach ihr. „Wähh“, erschrak
Iakunae erneut und rannte den anderen zwei hinterher. Panyma verzog
eine ernste Mine. „Eigenartig, Iakunae“, wunderte sich Panyma
nachdenklich, „wie sie sich auf dich zubewegte, wie sie dich ergreifen
wollte? Wie wenn sie dich hätte sehen können. Oder vielleicht
riechen? Das sollte eigentlich nicht möglich sein. Die Zauberasche die
wir uns eingerieben haben, macht uns unsichtbar und dämmt sämtliche
Gerüche. - Na ja, - vielleicht konnte sie dich hören. Ich hab zwar
immer gemeint, Schleckschmatzi sei schwerhörig. - hm - vielleicht
täuscht sie die Schwerhörigkeit auch nur vor, damit die anderen ihr
Mitleid schenken. Das würde ich dem alten Schleckschmatzi voll
zumuten“. So liefen die drei weiter ihres Weges.
Die Worte des Königs hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Die
versammelten Ajangs stampften auf den Boden und gerieten ausser
sich vor Wut. „Vernichtet es“, kreischten die Ajangs, „zerschlagt es“,
„ausrotten“, „fesselt es“, „nieder mit ihm“, „Blut Blut Blut“. Das
Ajangvolk tobte und stampfte und war kaum mehr zu halten.
„Hä“, „Hä“, „Hä“, „Hä“, schrieen die Ajangs im Takt ihres Schrittes mit
dem sie von allen Seiten den dreien näher kamen, „ hä hä hä hä“. Doch
dann, als die Ajangs unmittelbar vor den drei Zauberinnen standen,
liefen sie an Panyma und Emilia vorbei, ohne sie auch nur zur Kenntnis
zu nehmen, direkt auf Iakunae zu. „Nein nicht mich, nicht schon
wieder mich“, schrie Iakunae verzweifelt , „lasst mich in Ruhe, bitte,
lasst mich in Ruhe“. Doch die Ajangs hörten nicht auf Iakunae. Ganz im
Gegenteil, erbarmungslos zerrten sie das Mädchen an ihrer Tasche mit
sich. „Packt es“, schrie wütend der König, „Packt es und runter in die
Gruft mit ihm“.
„Arme Iakunae“, seufzte Emilia, „nun haben die bösen Ajangs sie in die
Gruft runnter gezerrt. Wie sollen wir ihr nur helfen?“. Doch Panyma
liess sich nicht auf eine Diskussion ein und handelte schnell. „Wirf die
Zauberblätter weg, Iakunae“, schrie Panyma so laut sie konnte, „wirf
die Zauberblätter weg, Iakunae. Nur die Zauberblätter können sie
sehen. Dich selber sehen sie nicht“. „Hilfe“, schrie Iakunae aus dem
tiefen Knochengraben, in den die Ajangs sie gezerrt hatten, „hilfe,
hilfe“. Darauf wurde es still. „Lebst du noch, Iakunae?“, rief Emilia
ihrer Freundin zu. Doch es blieb still. Auch die Ajangs waren mit einem
mal ruhig geworden.
„Ohhh“, staunten plötzlich die Ajangs in der Tiefe der Gruft. „Glitzer
ohhhh“. Die Ajangs waren ausser sich, denn sie hatten ihr ganzes
Leben noch nie etwas glitzriges gesehen. Doch dann hörten alle
anwesenden unüberhörbar laut Iakunaes schreiende Stimme, denn
Iakunae verstand es sehr wohl, mit den Zauberblättern etwas
auszurichten:
Doch Iakunae, immer noch in der Tiefe der Gruft, hatte nach wie vor
deftige Probleme. „Hilfe, ich komme nicht mehr hoch und das Skelett
kommt auf mich zu“, schrie Iakunae. Darauf hörten Emilia und Panyma
ein grässliches Schlagen und kämpfen aus der Gruft, Boxhiebe und
Knochenklirren, bevor es still wurde. Nun konnten Emilia und Panyma
rufen solange sie wollten und so laut sie wollten, von Iakunae hörten
sie nichts mehr. „Mhh“, überlegte sich Panyma mit äusserst besorgtem
Blick, „Emilia, da muss schnell etwas geschehen, sonst ist es zu spät“.
Panmya nahm ein Kraut aus ihrer Tasche, warf es in die Gruft hinunter
und streckte ihre Arme aus. „Kaiama ina, Kaiama ina“, sprach sie in
Schamanensprache vor sich her. „Kaiama ina“, sprach Emilia ihr nach,
denn als Schülerin verstand sie es gut, Panyma beim Zaubern zu
helfen.
Eine blaue Lichtsäule stieg aus der Gruft empor in die Höhe. „Kaiama
jaka .. kaiama jaka“, sprachen Panyma und Emilia nunmehr und sogleich
folgte dem blauen Licht ein riesiger Haufen Knochen, graue stinkige
Knochen. Blitzschnell zwickte Panyma mit ihren Fingern und die
Knochen wurden weit in den Wald hinaus geschleudert. Wo immer die
Knochen auf den Waldboden auftrafen, verwandelten sie sich sofort in
hohe Flammen und verbrannten auf der Stelle.
Im starken Licht der blauen, magischen Säule waren die drei nun,
trotz Panymas Zauberasche, für die Ajangs sichtbar. Doch die
grässlichen Ajangs scheuten das blendende Licht. Sie schauten
ängstlich aus sicherer Entfernung dem Spektakel zu. „Eindringlinge,
drei fremde Eindringlinge in unserem Wald“, ärgerte sich der König
der Ajangs, „Los los, Leute, packt sie“. Doch obwohl der Ajangführer
wütend mit seiner Peitsche um sich schlug und seine Leute unablässig
zwickte, wagte es keiner der Ajangs, auch nur einen einzigen Schritt
in Richtung der drei Zauberinnen zu gehen. So sehr schmerzte ihnen
das grelle Licht in den Augen. „Krrrrrnnnggg“, knurrten sie und
schlugen wütend in sicherer Entfernung ihre Keulen und Aexte um
sich.
„Hier zu den Wurzeln dieses Baumes“, wies Panyma Emilia und Iakunae
an. Aber schon standen die Ajangs dicht hinter ihnen. „Wo sind sie
jetzt, wo sind sie?“, schrieen die Ajangkrieger, „wir können sie nicht
mehr sehen“. Eine Weile standen die Ajangkrieger bockstill und
guckten verdutzt um sich. Doch dann machte einer der Ajangs die
entscheidende Entdeckung. „Seht ihr da vorne, da glitzert doch
wieder was“, schrie er. „Ahhh, jaa“, kreischten die Ajangs alle
zusammen und rannten erneut auf Iakunae zu. „Scheint dass du nicht
alle Blätter fortgeschmissen hast, Iakunae“, sorgte sich Emilia.
„Kommt, kommt“, forderte Panyma auf und schob Emilia vor sich ins
Wurzelwerk eines immens hohen und dicken Baumes hinein. Hinter sich
zog sie Iakunae nach. Einer der Ajangkrieger wollte noch nach Iakunae
greifen. Doch es war zu spät. Auch Iakunae war in den Wurzeln des
Baumes verschwunden und sah vor sich das helle Licht der Sonne.
6-4
Wie Iakunae hinter sich den Vorhang der Wurzeln schloss, stand sie
im Freien, im hellen lichten Wald. „Ahh, befreit“, stiess Iakunae
freudigen Atems von sich, „befreit - wir sind draussen“. „Ja das ist
grad noch mal gut gegangen“, freute sich auch Panyma und die drei
Zauberinnen umarmten sich vor Freude. „Sag mal Panyma“, stöhnte
Iaknunae, „mir graut jetzt schon beim Gedanken an die Rückreise“.
„Ach Iaknuae“, tröstete Panyma ihre jüngste Schülerin, „das ist das
magische und auch gute am Wald der schwarzen Schatten. Es gibt ihn
nur in die eine Richtung. Gleich von welcher Seite du kommst, es gibt
diesen Wald nur beim hingehen. In Richtung zurück gibt es ihn nicht“.
Arm in Arm liefen Emilia und Iakunae vergnügt hinter Panyma durch
den Urwald. Panyma stimmte ein Melodie an und die drei wandelten
singend durch das herrliche Grün. Eine unzahl bunter Hängeblumen
zierten die Astgabeln der Urwaldriesen und Schwärme von Papageien
in allen Farben hatten es sich auf den Baumwipfeln bequem gemacht.
„Kraaah, Krraaah, Emilia, Abare“, wurde Emilia von ihrem treuen
Freund begrüsst. Abare landete auf Emilias Arm und rieb sich liebevoll
seinen Kopf an Emilias Schulter während Abares Freund, die
Urwaldeule weite Kreise um die drei Frauen zog. „Oh du lieber Abare,
oh liebe Urwaldeule“, schwärmte Emilia, „ihr habt Angst gehabt um uns
und seid uns gefolgt um uns zu schützen“. Nochmals rieb Abare seinen
Kopf an Emilias Schulter und flog wieder drauf los zur Urwaldeule.
„Das ist ein schöner Wald“, wunderte sich Iakunae. „Kein Wunder“,
erklärte Panyma, „denn es ist der Wald des alten Schamanen. Die
bunten Pflanzen, die lieben und treuherzigen Tiere und viele weise
Zauberer scharen sich um ihn, und machen diesen Platz zu einem der
schönsten Orte im weiten Land der Indianer“.
Nach kurzer Zeit standen die drei mitten im Wald vor einer grossen
Strohhütte. „So da sind wir“, freute sich Panyma, „hier findet das
Schamanentreffen statt. Lasst uns rein gehen. Die anderen warten
bestimmt schon einige Zeit auf uns“.
Das innere der Hütte war angenehm hell. Grosse Fenster liessen das
Sonnenlich hineinstrahlen. „Panyma, Panyma, seid willkommen“, riefen
die anwesenden Zauberer freundlich den Ankömmlingen entgegen.
„Hast du deine hübschen jungen Zauberschülerinnen auch
mitgebracht? Das freut uns sehr. Seid willkommen ihr zwei lieben
Mädchen“, begrüsste eine ältere Frau Emilia und Iakunae. So war den
beiden Mädchen wohl unter all den fremden Gesichtern, die sie noch
nie zuvor gesehen haben. Gut zwei dutzend Zauberer und Zauberinnen
sassen im Halbkreis versammelt um einen Altar herum in dessen Mitte
eine grimmige Steinstatue auf die Anwesenden hinunterblickte.
Einer der Zauberer namens Tokoma stand schliesslich auf und stellte
sich zwischen die zwei Mädchen und die Zuschauenden. Der Mann trug
ausserordentlich viele Federn zur Zierde und einen spitzen Hut mit
Schleif, einen Hut, ganz ähnlich wie ihn die Zauberer auf der anderen
Seite des Grossen Wassers auch kannten. Der Zauberer wandte sich
an die versammelte Gesellschaft. „Schaut mal her ihr Lieben. Ich will
euch was zeigen. Schaut mal her, was ich hier habe“, sprach Tokoma in
hohem Ton, „schaut her, was der Zauberer Tokoma euch zu zeigen hat.
Ich habe hier einen Zauberstab, den ich von den Portugiesen für vier
Säcke Pfefferschoten abgekauft habe. Die Händler versicherten mir,
dass es ein Zauberstab vom grössten Zauberer auf der anderen Seite
des Grossen Wasser ist, vom grössten der Zauberer eigenhändig
angefertigt“. Alle Anwesenden hatten inzwischen ihre Gespräche
beendet und ihre Augen auf Tokoma gerichtet. Emilia erkannte den
Zauberstab sofort. Solche Zauberstäbe aus billigem Trompetengold
wurden in Porto auf Jahrmärkten als Spielzeug verkauft. Früher als
sie oft mit ihrer Mutter auf dem Markt unterwegs war, hatte ihre
Mutter für sie manchmal einen solchen Glitzerstab gekauft, wenn sie
während dem Markt schön brav war und auch sonst nichts wollte und
nichts abbettelte. Emilia ärgerte sich innerlich über die
portugiesischen Händler, die mit ihren billigen, kitschigen Geschenken
von den Indianern Güter und Produkte erschwindelten, für die die
Indianer oft monatelang gearbeitet hatten. Noch mehr aber ärgert sie
sich über die hochnäsige Art des Zauberers, der vor ihr stand.
„Schaut her ihr zwei Kinder“, wandte sich Tokoma zu Emilia und
Iakunae, „schaut her, wie ich mit diesem Stab zaubern werde. Da
könnt ihr mal was lernen“. Emilia schielte Iakunae in die Augen.
Iakunae dachte ohne Zweifel dasselbe wie Emilia.
Der grosse Tokoma rückte sich den spitzen Hut zurecht und erhob
seinen Stab. „Seht ihr das Blatt, das da am Boden liegt? Das werde ich
jetzt mit Hilfe dieses Stabes emporheben. Gebt gut acht ihr zwei
Kinderchen“. In seiner Hand schwenkte der Zauberer sachte den Stab
hin und her. „Hawa owewe – Hawa owewe“, befahl er in ernster
eindringlicher Stimme in Tupi Sprache, was in unserer Sprache soviel
heisst wie ‚Blatt fliege’. Nichts tat sich. Tokoma lächelte
verständnisvoll zum Publikum und lächelte verlegen. „Haaawa oweeee
oweeeee“, beschwor er mit sanfter Stimme das Blatt vor sich. Leider
völlig vergebens. „Hawa owewe – Hawa owewe“, wurde Tokoma
zusehends lauter. Einige der Anwesenden begannen sich am Hinterkopf
zu kratzen oder husteten leise. Tokoma, mit seinem Stab in der Hand,
knurrt ungeduldig. „Hawa owewe - owewe - oooowwweeewwweee“,
schrie er, doch das Blatt erhob sich nicht. Langsam aber erschien ein
Gesicht auf dem Blatt, ein runzliges Blattgesicht. Es öffnete den
Mund. „Bäh bäh bäh bäh bääää“, sprach das Gesicht und streckte
Tokoma die Zunge raus. Tokoma atmete tief ein und und wurde wütend
im Gesicht. Iakunae aber griff in ihre Tasche, wo sie immer noch zwei
Zauberblätter versteckt hielt. Sie nahme eines der Blätter zwischen
Daumen und Zeigefinger uns spickte es in Richtung des
trompetengoldenen Zauberstabes. „Plinck“, klang es kurz am
Zauberstab und der Zauberstab war aus der Hand Tokomas
verschwunden. Ungläubig stierte der verdatterte Tokoma auf Emilia
und Iakunae, denn er hatte sehr wohl gesehen, dass da von den zwei
Mädchen etwas auf ihn zugeflogen kam. Panyma verliess ihren Platz am
Tisch und stand auf. „Nimm dich in acht Tokoma“, mischte sich Panyma
in die Runde ein, „nimm dich in acht, wenn du dich mit meinen
Zauberschülerinnen einlässt, die können was“. Panyma schwenkte ihre
Hand in Richtung des Bodens und da liegt der Stab vor dem armen
Zauberer, der ihn eilends emporhob. Ein heiteres Lachen ging durch
die Runde. Nur Tokoma im bunten Federngewand hielt den Stab in
seinen Fingern und knurrte etwas vor sich hin.
Emilia und Iakunae hatten es sich nach wie vor in einer Ecke der Hütte
bequem gemacht. Sie sassen am Boden und schauten gemütlich dem
bunten Treiben der Zauberer zu. Manch einer zeigte seltene
Zauberkräuter, Hölzer, Steine oder gar Knochen. Es wurde viel
diskutiert, aber auch gelacht und gar fröhlich gesungen. Tokoma stand
nach wie vor in der Mitte des Raumes, kratzte sich am Kopf und und
betrachtete ungläubig seinen trompetengoldenen Zauberstab. Es
gefiel ihm gar nicht, wie Emilia und Iakuane kichernd neben ihm am
Boden sassen.
„Emilia, kannst du auch ein Gesicht machen wie ein Affe?“, fragte
Iakunae. Iakunae griff mit beiden Händen in ihre Nasenlöcher, Augen
und Mund, zog mit einer Hand nach unten und mit der anderen Hand
über ihren Kopf nach hinten. So starrte Iakunaes fürchterliche
Grimasse auf den armen Tokoma. Emilia verzog ein nicht
ungefürchigeres Gesicht. Nur zog sie mit einer Hand nach links, mit
der anderen nach rechts. „Lausekinder, dumme Lausekinder“,
entsetzte sich Tokoma. Doch dann setzte sich Tokoma neben die zwei
Mädchen.
„Sagt mal, wie habt ihr das gemacht mit dem Zauberstab?“, fragte
Tokoma neugierig, „sowas habe ich schon oft versucht, aber gelungen
ist es mir noch nie“. „Hm das ist ganz einfach“, erklärte Emilia, „wir
haben mit Panyma zusammen Zauberblätter gesammelt und auf
unserem Feuer verzaubert. Mit Zauberblättern geht dieses
Kunststück ganz von alleine“. „Ah“, wunderte sich Tokoma,
„Zauberblätter?“. „Ja Zauberblätter“, erklärte Iakunae kichernd,
„schau mal ich hab hier noch eins in meiner Tasche. Es ist mein
letztes“. Vorsichtig griff Iakunae in ihre Tasche und zog ein
Zauberblatt hervor. „Ohhhh“, staunte Tokoma und hielt seine Hände
offen unter Iakunaes Hände, „ohhh, so was schönes“. „Ja sie sind
wunderschön“, stimmte Iakunae mit ein, „Dieses hier ist mein letztes.
Weißt du was Tokoma? Weil du uns vorher so liebevoll deinen
Zauberstab gezeigt hast, so schenke ich es dir“. „Wirklich?“, fragte
ungläubig Tokoma. „Ja natürlich schenken wir es dir“, doppelte Emilia
hinterher, „es tut uns leid, wenn wir manchmal Lausekinder sind. Aber
wir meinen es nicht böse. Nein, das Zauberblatt, das schenken wir dir
gerne. Du kannst dir eine Farbe wünschen und dann das Blatt auf
irgendwas zuwerfen. Wo das Blatt zerbricht, dort ändert sich die
Farbe“. „Meinst du jede Farbe, auch unsichtbar, wie vorhin?“, fragte
Tokoma, wie ihm Iakunae das Blatt in seine zittrigen Hände legte. „Ja
natürlich, auch unsichtbar“, antwortete Iakunae in freundlichem Ton.
„Unsichtbar... unsichtbar“, staunte Tokoma und konnte vor Aufregung
das Blatt kaum richtig in den Händen halten. „Unsichtbar“, stammelte
Tokoma ein letztes mal, bevor das Unglück geschah. Mit einer
nervösen Zuckung in seiner Hand zerbrach er das Zauberblatt und
‚Plinck’, von Tokoma war nichts mehr zu sehen.
„Hilfe, hilfe, Panyma“, rief Emilia, „hilfe, Tokoma hat sich selber
unsichtbar gezaubert“. „Ach was“, antwortete Panyma lachend, „was
ist denn jetzt schon wieder geschehen?“. „Wir haben Tokoma ein
Zauberblatt schenken wollen“, erklärte Iakunae, „und innerhalb einiger
Sekunden hat sich der Tollpatsch selber unsichtbar gezaubert“. „Ah,
das ist nicht so schlimm„, beruhigte Panyma die zwei Mädchen,
„spätestens morgen früh hört die Kraft des Zauberblattes ohnehin
auf zu wirken. Und ich hab hier ein Kraut, mit dem ich ihn sofort
wieder sichtbar machen kann, wenn wir genau wissen, wo er steht“.
„Tokoma, wo stehst du denn?“, wollte Panyma wissen, „Hab keine Angst
Tokoma. Sag uns wo du stehst und dann bist du schnell wieder
sichtbar“. Doch die Anwesenden konnten fragen solange sie wollen, von
Tokoma bekamen sie keine Antwort. Ob es ihm gar gefiel, von den
anderen nicht mehr gesehen zu werden?
„Meine lieben Freunde und Freundinnen des Zaubers“, begann der alte
Schamane seine Rede, „es freut mich, dass ihr so zahlreich zu unserem
Schamanentreffen erschienen seid. Seid willkommen in meinem Wald
und seid willkommen in meinem Haus“. Wie der alte Schamane in seiner
Rede kurz innehiel, brach eine Flut begeisterter Zurufe los, denn die
Freude war gross ob dem Erscheinen des alten Schamanen, des
höchsten irdischen Zauberers im Land der Indianer. „Es ist euch
bekannt, dass der Grund unseres Zusammenkommens ernster Natur
ist“, fuhr der alte Schamane fort, „doch es steht inzwischen weit
schlimmer wie erwartet. Vor zwei Monden gelang es uns die böse
Dämonin des Wasser, die gefürchtete Ipupiara mit gelbem Feenkraut
in die Untiefen des Grossen Wassers zurückzuschlagen“. Nach einem
kurzen Blick hin zu Emilia fuhr der alte Schamane fort. „Wir hatten
damals geglaubt, die drohende Gefahr für mindestens zehn Monde
besiegt zu haben. Doch vor sieben Tagen schon wurde Ipupiara bereits
wieder am Strand des Meeres gesehen. Stärker denn je zuvor und in
die Höhe feuerspeiend bis zu den Wolken des Himmels“. „ohhh, uhhh,
nein, iiiii, Ipupiara, ie ie ie ie“, stöhtnen die Indianer wie sie von dieser
unerwarteten Neuigkeiten wie von einem harten Schlag ins Gesicht
getroffen wurden. „Das alles wäre nur halb so schlimm“, erklärte der
alte Schamane weiter, „aber wir finden im ganzen Land der Indianer
kein gelbes Feenkraut mehr, unsere einzige wirksame Waffe im Kampf
gegen die Dämonin. Ohne das gelbe Feenkraut weiss ich auch nicht, wie
wir gegen Ipupiara vorgehen sollen. Ich frage euch, hat jemand von
euch in den letzten zwei Monden gelbes Feenkraut gefunden? Hat
jemand von euch eine Idee, was wir noch tun können?“.
Ein lauter Tumult brach unter den Anwesenden los, wie der alte
Schamane diesen Satz fertig gesprochen hat. All die versammelten
Zauberer und Magier begann wild durcheinander zu reden und zu
quasseln, zu lärmen und zu heulen. „Halt, halt, halt“, unterbrach
lautstark der älteste Zauberer, der die Versammlung leitete. Er
schlug mit einer Holzkeule auf den Bambustisch und befahl, „Ruhe
bitte, Ruhe jetzt. Redet einer nach dem Andern. Und überhaupt, ihr
solltet wissen, dass ihr den alten Schamanen während seiner Rede
nicht unterbrechen sollt. Ruhe, Ruheeee nochmals“. „Nein, nein, lass
sprechen“, forderte der alte Schamane den ältesten Zauberer an,
„lass sprechen, die Meinung eines jeden ist gefragt“.
„Wenn ich mir das so genau überlege“, begann einer der Zauberer, „wir
stellen uns alle zusammen in einer Reihe auf am Strand, und wenn dann
Ipupiara kommt legen wir alle zusammen gleichzeitig mit unserem
besten Zauber los. Da hat doch die keine Chance“. „Ja, ja ,ja“, „ja, der
zeigen wirs“, „ho ho ho, soll kommen die alte Tante, die verwandeln wir
zu einem Haufen brutzelnden Bratspeck, hä hä hä“, riefen die
Anwesenden begeistert über den Vorschlag. Doch der alte Schamane
schüttelte den Kopf. „Damit wir alle schön auf einer Reihe stehen“,
entgegnete der alte Schamane, „einer Ipupiara gegenüber, die einen
uns unbekannten gigantischen Zauber auf dem Grund des Grossen
Wassers gefunden hat? Einen Zauber, dessen Macht wir nicht kennen?
Damit sie uns auf einer Reihe alle zusammen gleichzeitig abservieren
kann? Viel zu riskant. Nein, nein, da müssen wir uns etwas besseres
einfallen lassen“. Einen Raunen ging durch die Menge: „ja recht hat er“,
„Kräfte vereinen ja, aber so nicht, nein, nein“, „haa, igittigitt“.
„Wie dem auch sei mit Arukka“, versuchte der älteste Zauberer das
Gespräch wieder auf brauchbare Bahnen zu lenken, „jemand von uns
muss sich aufmachen zum Tor des Todes“. Erneut wurde es still wie in
einem Grab. Alle Blicke waren auf den alten Schamanen gerichtet. „Ich
habe es viele male versucht“, erklärt der alte Schamane, „aber es ist
den Lichtwesen nicht möglich zum Tor des Todes zu gelangen. Gleich
wie ihr Wesen, die ihr nicht des Lichtes seid, nicht über eure
Schatten springen könnt, da sie ewig von euch wegweichen, in gleicher
Weise weicht das Tor des Todes ewig von den Lichtwesen weg. Nein,
ich kann es nicht. Es ist mir nicht möglich. Jemand von euch muss
dorthin gehen oder dieser mächtige Zauber, der im magischen Spiegel
versteckt ist und uns Hilfe von weit her bringen kann, wird uns nicht
zur Verfügung stehen“.
„Ja ein mutiger junger Mann mit Erfahrung wäre der Richtige“,
stimmte nun auch der alte Schamane mit ein, „jemand der stark ist
und Erfahrung hat in der Zauberei. Zugegeben, wir kennen niemanden,
der jemals von diesem Ort zurückgekehrt ist, aber ist denn keiner von
uns Zauberern bereit, die Gefahren des Tor des Todes auf sich zu
nehmen?“. Wie Emilia so ruhig an ihrem Platz sass spürt sie plötzlich
ein Kratzen an ihrer Schulter. War das nicht die Feder eines
Indianers? Aber sie sah niemanden. Dann hört das leise Flüstern eines
Selbstgesprächs neben sich: „Oh wie gut, dass mich jetzt niemand
sehen kann. Hä hä. Dann muss ich nicht hingehen, hi hi hi“. „Fauler
Kerl“, dachte sich Emilia, wie sie die Stimme sofort erkannte . Emilia
schielte zurück zu Panyma und tippste mit dem Zeigefinger ganz fein
in Richtung neben sich. Panyma verstand es sofort.
Doch dann, zuletzt, kam leider die grosse Enttäuschung für Thiago.
Durch die Büsche blickte der Kopf einer Kuh. „Grrrr, grrrr“, knurrte
die Kuh durch den offenen Mund und glotzte zu den Kinder. „Tumme
Kuu“, schimpfte Thiago, dem nun ein heldenhafter Kampf entgangen
war. Emilia lächelte zu Thiago. „Die hat Schmerzen im Bauch. Deshalb
schreit sie so eigenartig“, erklärte sie ihren Kindern, „sie ist
hochschwanger und wird heute oder morgen ihr junges Kalb zur Welt
bringen“. „Oh liebe Kälbli, oh liebe Beebeli“, freute sich nun Thiago,
denn er hatte Tiere gerne.
Noch eine Weile spielten die zwei Kinder sie wären Kämpfer und
müssten Ipuipara besiegen gehen, doch dann wurde es Juanita
langweilig, denn Kämpfen spielen ist etwas für kleine Jungen nicht für
grosse Schwestern. „Komm Thiago, Maija hat uns Beeren Sirup
gebracht. Komm, wir gehen was trinken“, rief sie ihrem Bruder. „Mhh
fein“, antwortete der Kleine und freute sich auf das süsse Getränk.
Juanita hielt das alte Pergament ihrer Mutter vor sich und studierte
eine Zeichnung darauf. „Was ist denn das für eine Sonne auf der
Zeichnung, die das Mädchen da knieend in den Händen hält?“, wollte
Juanita wissen. „Ach die silberne Sonne, das ist eine spezielle
Geschichte. Kommt her meine zwei Kinder. Holt euch ein Glas süssen
Sirup. Dann werde ich euch die Geschichte erzählen“.
Am Nachmittag des folgenden Tages lief Panyma ihren zwei
Zauberschülerinnen im dichten Urwald voraus. Emilia sprach schon
eine ganze Weile kein einziges Wort mehr. „Ist dir mulmig, Emilia?“,
fragte Panyma. „Ja“, antwortete Emilia mit einem einzigen Laut. Mehr
sagte sie nicht, denn es war ihr nicht zumute lange Gespräche zu
führen. „So schlimm wird’s wohl nicht sein“, versuchte Iakuane ihrer
Freundin Mut zu machen, „sonst rennen wir einfach weg da drinnen,
dann können die uns alle mal“. Doch Iakunae sah, dass dies Emilia nicht
zu beruhigen vermochte.
„Ja er war gut, sehr gut sogar“, setzte Panyma ihre Erzählung fort,
„Doch einmal war ich besser wie er. Und das war ein beklemmendes
Erlebnis. Es war während einer Regenzeit. Monatelang schon prasste
eine Sintflut unaufhörlich auf das Indianerland nieder und die ganze
Gegend versank im Sumpf. Schliesslich kamen die ältesten Indianer zu
uns und fragten, ob wir mit unserem Zauber den Regen nicht beenden
könnten. - Sie sollten sich keine Sorgen machen, sagte Arukka, für ihn
sei dies ein Leichtes. So zog er los um diesen grossen Zauber zu
vollbringen. Vierzehntage blieb er draussen. Doch es regnete weiter
und weiter. Nach vierzehn Tagen kehrte er zu uns zurück und war
enttäuscht, dass sein Zauber nicht geholfen hatte. Der alte Schamane
sagte, nun sei ich an der Reihe es zu versuchen. Ich zog aus, und nach
einer halben Stunde schon schien die warme Sonne durch die Wolken“.
Emilia lächelte. „Boah, da hat Arukka wohl nicht schlecht gestaunt“,
meinte Emilia begeistert. „Nein, gestaunt hat er nicht“, erzählte
Panyma weiter, „und Freude hatte er auch keine. Er wurde böse.
Gesagt hatte er zwar nicht viel, aber ein böser Groll stand ihm im
Gesicht, wie wenn ihn jemand zutiefst beleidigt hätte. Kurz darauf
verliess er uns und wollte seine eigenen Wege gehen. Ich fühlte mich
nicht mehr sicher vor ihm. So etwas beklemmendes und
beängstigendes habe ich noch nie von einem Zauberer erlebt“.
Der Weg führte die drei zum Urwald hinaus an den Fuss eines hohen
Hügels auf dessen warmen Boden mannshohes Gras wuchs. Der
Aufstieg war steinig und streng, doch zum leichteren Aufstieg war
ein schmaler, gut begehbarer Pfad angelegt. Dieser führte in
schlängelnden Kurven höher und höher den steilen Hügel hinauf.
Iakunae fand das Laufen langsam ein wenig streng und langweilig. „Uff,
häääh, hääääh, häääh, aaah“, keuchte sie unüberhörbar laut, sodass
jeder es hören musste. Panyma lächelte und drehte sich zu dem
Mädchen. „Ja, dann lass uns eine Pause machen“, sagte Panyma zu der
Aermsten und setzt sich auf einen Stein, „kommt ihr zwei. Setzt euch.
Von diesem Berg aus könnt ihr das gesamte Land der Indianer
überblicken, und wenn ihr genau hinschaut, so seht ihr ganz zuhinterst
am Horizont das blaue Meer mit seinen Untiefen, von wo uns Ipupiara,
die Dämonin des Wasser droht“. Die drei genossen die schöne
Rundsicht und schon bald hatte sich Iakunae etwas erholt. Darauf ging
der Marsch weiter.
Der schmale Weg endete unmittelbar vor einer Felskante, die sich wie
eine hohe Steinmauer emporhob. Eine Zeit lang liefen die drei Frauen
dieser Felskante entlang. „Ist ja wie eine Burgmauer“, staunte Emilia,
„wie die Mauer einer Festung, die ihr Inneres schützt“. „Ja da hast du
Recht“, stimmte Panya bei. Schwarze Vögel kreisten über dieser
Felsenmauer und krächzten abweisend in die Tiefe. Iakunae blickte
nach oben. „wwäääh, müssen wir da drüber?“, fragte sie ungläubig.
„Ja“, antwortete Panyma und lief weiter den hohen Felsen entlang.
„Kommt hierher“, rief Panyma etwas später, „genau an dieser Stelle ist
es möglich über den Felsen zu klettern“. Schwierig war der Ausftieg
auf den Felsen nicht, denn die zwei Indianermädchen und Panyma
waren sich, wie alle Indianer, ans Klettern bestens gewöhnt.
Oben auf dem Felsen angekommen, reichte der Blick auf der anderen
Seite hinunter in die Tiefen eines rauchenden Kraters. „Ein
erloschener Vulkan“, staunte Emilia, „von solchen habe ich in den
Büchern in Porto gelesen“. Panyma nickte. „Früher soll der Berg
angeblich Feuer ausgespuckt haben“, erzählte sie, „ein feuerspeiender
Dämon habe hier gewohnt. Aber solange ich den Berg kenne hat er
höchstens mal ein wenig Rauch aufsteigen lassen“.
Gegen Mitte des Kraters hin wurde der Boden flacher. Mehr und mehr
wuchsen Gräser, Bäume und Büsche aus dem kargen Grund und
verdeckten schon bald die Sicht nach allen Seiten hin. In diesem
Dickicht machte sich zudem ein dunkler Nebel breit, der fürchterlich
nach brennendem Bergesinnern stank, nach Pech und Schwefel. Doch
sicheren Schrittes lief Panyma den zwei Mädchen voraus. Schweigend
folgten Emilia und Iakunae. Sie wussten, dass es jetzt nicht mehr weit
war, und wagten nicht mehr zu schwatzen oder sonst was zu sagen. Bis
jetzt war keines der Mädchen sicher gewesen, ob sie es schlussendlich
wirklich wagen würde, da in das Tor des Todes hineinzugehen. Doch
jetzt, so nahe, das wussten sie genau, gab es kein zurück mehr. Und da
war ihnen doch etwas mulmig zumute.
Der silbrige Nebel wurde dichter, je näher die drei kamen und die
Steinsäule erhob sich zum hohen Turm in dessen Mitte ein schwarzes
dunkles Tor offenstand. „Da hinein?“, fragte Emilia mit zweifelnder
Stimme. „Muss wohl sein“, antwortete Iakunae mit so mutiger
Stimmne wie es ihr in einer solchen Situation irgendwie möglich war.
Im dumpfen Licht des Nebels bewegten sich die steinernen Fratzen
und die Figuren an der hohen Steinsäule in langsamen, gleichmässigen
Zügen, Meeresalgen gleich, die sich in den Wellen des Wassers
mitbewegen. Aus tausend Mündern schrieen und wehklagten die
dämlichen Steinwesen. „ääh“, „ehhh“, „eoohh“, ,“eee“, drangen die
schmerzerfüllten, ewig gleichbleibenden, seelenlosen Töne an die
Ohren der Ankömmlinge, „uuuu, ööööö, iiiiii, nianianianina, jeee“.
Ueber dem Tor starrt eine teuflische Fratze mit zackiger Nase und
spitzem Bart auf die Zauberinnen hinunter. Das Gesicht stiess Rauch
aus Mund, Nase und Ohren. Emilia versuchte in dieses Gesicht hinein
zu schauen, doch war es ihr nicht möglich, das Gesicht mit ihrem Blick
zu fixieren. Sobald sie auf das Gesicht schaute grinsten ihr aus allen
Richtungen eine Vielzahl hämischer Gesichter mit dutzenden, ja
tausenden von Augen entgegen. „Hä, hä hä“, „hö hö hö“, „hi hi hi“, „i i, i
i“, kreischen die teuflichen Gesichter von allen Seiten her auf Emilia
ein.
„Komm jetzt rein“, rief Panyma, die mit Iakuane Hand in Hand das Tor
bereits betreten hatte. „Grdtsch grdtsch“, zischten und heulten die
vielen steinernen Schlangen an der Mauer und versuchten Emilia am
betreten des Tores zu hindern. Sie krallten sich um Emilias Arme und
Beine. „Lasst mich los ihr blöden Viecher“, schimpfte Emlia, „ich will
jetzt da rein“. Emilia riss sich los und folgte Panyma und Iakunae.
Gleich hinter dem Tor führte eine steile Steinstiege mit runden
abgewetzten Titten an den Wänden eines breiten Schachtes in die
Tiefe. Die Stiege war schmal, kaum breiter wie ein Fuss. „Uups“,
erschrak Emilia, wie sie einen Blick in die Tiefe wagt. Heisse
aufsteigende Luft blies den drei Zauberinnen ins Gesicht. „Haltet
euch gut an den Felszacken der Wände fest“, mahnte Panyma. Endlos
lange dauerte der Abstieg in den turmhohen Schacht. Der runde
Schacht wurde breiter, je tiefer die drei abstiegen. Schliesslich
endete die schmale Stiege auf einen lehmigen feuchten Boden. Die
drei standen in einer grossen Halle, so hoch und breit wie das innere
einer Kirche, nur düster und schwarz. Das spärliche Licht flackernder
Kerzen schimmerte aus einer Ecke den dreien entgegen. „Gehen wir
da hin“, sprach Panyma zu ihren zwei Schülerinnen.
Beim Kerzenlicht sass eine alte dicke Frau mit einem lieblichen
Gesicht hinter einem Steinaltar. Emilia glaubte im Gesicht der alten
Frau die teuflische, spitzige Fratze ob dem Eingangstor wieder zu
erkennen. „Eine Hexe“, flüsterte Emilia zu Iakunae. Dutzende von
Armen schwebten am Körper der Alten und schlängelten über dem
steinernen Altar den Zauberinnen entgegen. Der Altar war über und
über mit den leckersten Süssigkeiten bedeckt, die sich Kinder nur
vorstellen können. „Nehmt Süssigkeiten. Nehmt von den feinen
Süssigkeiten auf meinem Tisch“, krächzte die Alte, „die sind fein, sehr
fein, nehmt, nehmt, sie sein euch geschenkt...“. „Nein“, stiess Panyma
aus. Doch es war zu spät. Bereits hielt Iakunae in beiden Händen zwei
Faustgrosse Schleckereien. „Nimm nur liebes Kind“, wandte sich die
alte Frau liebevoll an Iakunae, „wie heisst du denn, du liebes?“. „Ich,
ich - ich heisse Iakunae“, stammelte Iakunae leise. „Oh Iakunae, das
ist ein schöner Name“, schmeichelte die alte mit warmer Stimme,
„komm nur näher mein Kind. Ich tu dir nichts“. „Nein“, stiess Panyma
nochmals schnell aus, „nein, Iakunae“. Nun bekam es Iakunae mit der
Angst zu tun. Doch sie war ein Indianermädchen, und die geben nicht
so schnell auf. „Willst du die Süssigkeiten nicht selber essen?“, fragte
Iakunae mit kecker Mine, „wenn sie so fein sind, hhmmmmm“. Einen
kurzen Augenblick schreckte die Hexe zusammen, denn so eine
Antwort hatte sie bestimmt nicht erwartet. Doch schnell hatte sich
die alte wieder gefasst. „Nein, nein“, schmeichelte sie mit einem
hämischen Lächeln, „die sind nur für euch liebe, lieber Kinder“. Das
genügte Iakunae. Jetzt hatte sie die Schnauze voll von der alten.
„Friss doch deine Scheisse selbst“, schrie Iakunae und blitzschnell
zog sie ihre Hand auf und warf eine der Süssigkeiten der alten Hexe
mitten ins Gesicht. „AAArrrrr“, schrie die Alte. Lauter Donner
krachte, die ganze Höhle zitterte und der Kopf der Hexe wurde zum
Drachenkopf. Emilia erkannte sofort wieder das Gesicht der
Teufelsfratze ob dem Tor. „AAAArrrrgg, tschsch“, zischte der
Drache und spie heisses Feuer und Rauch aus dem Mund.
Vorsichtig nahm Iakunae die andere Süssigkeit von der linken Hand in
die Rechte. Mit der blitzschnellen Bewegung einer kämpfenden
Indianerin warf Iakunae den süssen Klumpen in Arukkas Mund.
„üüühgg“, erschrak Arukka und hörte auf sich auf Panyma zu fixieren.
Arukka spitzte seinen Mund und blickte schmollend rüber zu Iakunae.
„Mhhh, fein“, schmunzelte er, „mh, fein, Süssigkeiten, mmmh, mehr...
mehr.... Das gibt uns die alte Hexe nur einmal im Jahr, mmmmhh“. Die
Drachenhexe aber schaute wütend zu Arukka hinunter. „Halts maul, du
dämlicher Dummkopf“, schrie die Hexe, dass es krachte und donnerte
in der Höhle. „Schnell“, befahl Panyma, „hier haben wir nichts mehr
verloren“. Sie nahm Iakunae und Emilia an je eine Hand und rannte in
die Mitte der Halle.
Der Weg in der Höhle fiel mehr und mehr ab. „Pass auf Emilia, da
vorne wird es steil“, warnte Panyma. Doch Panymas Warnung kam zu
spät. Emilia war auf dem lehmigen, nassen Boden bereits ins rutschen
gekommen. „Ich rutsche. Hilfe, ich rutsche“, rief Emilia und versuchte
sich mit ihren Händen im weichen Lehm festzuhalten, doch vergebens.
Sie konnte sich festhalten wo sie wollte, sie griff stets in die selbe
Knete, die keinen halt bot, sondern sogleich mitrutschte. „Ich rutsche,
ich rutsche in die Tiefe“, schrie Emilia während unter ihr ein grelles
Licht erschien. Ein Boden, so hell wie die Sonne, ein leuchtender
Teppich machte sich unter Emilia breit. Einen Augenblick noch konnten
Panyma und Iakunae Emilia sehen. Dann fiel sie durch das blendende
Licht und war verschwand.
„Siehst du das helle Licht da vorne?“, fragte Panyma nach einer Weile,
„ich glaube das ist das Licht der Sonne. Da geht’s nach draussen“. „Ich
will aber nicht raus“, heulte Iakunae mit weinender Stimme, „nie und
nimmer will ich raus ohne Emilia. Ich will hier bleiben, Emilia helfen
und die alte Hexe, die kann was erleben von mir. Meine liebste
Freundin Emilia - und jetzt ist sie nicht mehr bei uns“. Iakunae lief
drei Schritte zurück. Doch dort stand sie bereits an einer Wand. „Die
Höhle, sie schliesst sich hinter uns“, entsetzte sich Iakunae, „mit
jedem Schritt den wir gehen, geht sie mehr zu. Ich will hier bleiben
Panyma und auf meine Freundin warten. Ich will nicht ohne Emilia die
Höhle verlassen, nie und nimmer.“. Die zwei Frauen setzen sich auf
einem Stein nieder und warteten in der Höhle. Sie wussten zwar nicht
worauf sie warten sollten, aber ohne Emilia wollten sie nicht weiter
gehen. „Wir brauchen gar nicht rauszulaufen“, stellte Panyma fest,
„siehst du, die Höhle verschwindet auch vom Ausgang her, der da auf
uns zukommt“. Ein Steinbogen flitzte über die zwei Frauen hinweg und
die Höhle war verschwunden. Eine Wolke aus dichtem Nebel und
Schwefelgestank ragte hinter Panyma und Iakunde zum Himmel, da wo
soeben noch der Gang der Höhle entlangführte.
Ein leichter Wind kam auf und allmählich verzog sich der dichte Nebel.
Doch Panyma und Iakunae konnten um sich spähen solange wie sie
wollten, das Tor des Todes konnten sie nirgends mehr sehen. Doch
dann plötzlich, nicht weit von ihnen entfernt, erschien langsam eine
menschliche Gestalt im Nebel, ein Wesen das am Boden kniete. „Das
ist doch, das ist doch....“, stammelte Iakunae. Dann brachte sie kein
Wort mehr hervor. Emilia kniete dort vor ihr, da, wo zuvor das Tor
des Todes stand, von dem nun nichts mehr zu sehen war. „Hallo ihr
zwei“, grüsste Emilia und grinste, „seid ihr auch hier unten?“. Iakunae
und Panyma blickten sich gegenseiteig verdutzt an und lächelten.
Emilia hielt eine Sonne aus Silberblech auf ihren Knieen, eine Sonne so
gross, dass Emilia diese gerade noch in ihren Armen tragen konnte.
„Emilia, Emilia“, feute sich Iakunae und rannte hin zu Emilia, „du, meine
liebste Freundin. Wo warst du denn die ganze Zeit“. „Die ganze Zeit?“,
wunderte sich Emilia, „ich bin doch nur ausgerutscht und wie ich mich
im Lehm festgehalten habe, erfasste ich in meinen Händen diese
Sonne aus Silber. Dann wurds ganz hell und ich kniete mich nieder, da
wo ich jetzt noch bin, grad soeben“.
Plötzlich stand ein Mann stand neben den drei Zauberinnen. Es war der
alte Schamane. Er lächelte fröhlich, faltet seine Hände und sprach:
„Du hast den magischen Spiegel, Emilia. Du hast ihn in deinen Händen“.
Der alte Schamane kauerte sich nieder neben Emilia und hielt seine
Hände über den Spiegeln. „Brooonnngg“, dröhnte die silberne Sonne in
tiefen Tönen. Der alte Schamane nickte. „Der Spiegel, Emilia, er
gehört nun dir“, fuhr er fort, „er wurde dir geschenkt im Tor des
Todes. Nur du wirst den hohen Zaubern, den richtigen Zauber, den wir
brauchen, vollbringen können“. „Nur ich?“, wunderte sich Emilia, „aber
ich bin doch noch eine Zauberschülerin, sozusagen ohne Erfahrung“.
„Mach dir keine Sorgen, Emilia“, erklärte der alte Schamane weiter,
„Panyma und Iakunae werden dich beim Zaubern mit dem magischen
Spiegel tatkräftig unterstützen und dir helfen, so der Geist des
Urwaldes es zulässt, zum entscheidenen Zauber hin zu gelangen. Zu
gegebener Zeit wird der Spiegel den Weg hierhin, zum Tor des Todes,
zurückfinden“. Der alte Schamane stand auf. Ein blauer heller Schein
leuchtete auf seiner Haut. Er stieg ein in seine Lichtkugel, die immer
kleiner wurde und mit samt dem alten Schamanen verschwand.
Voll Freude hielt Emilia den magischen Spiegel in ihren Händen und
drei Frauen waren überglücklich, dass sie sich wieder gefunden hatten.
„Lasst uns ein Lied singen“, schlug Panyma vor, wie sich die drei auf
den schönen Heimweg begaben.
Kapitel 8 Avara
Juanita sass daneben und liess gemütlich ihre Beine über den Rand der
Veranda hinunterbaumeln. „Na du grosser Zauberer?, sprach sie zu
Thiago und steckte ihm eine spitze Papiertüte auf den Kopf, „schau,
hier habe ich noch einen spitzen Zaubererhut gebastelt, für mein
zauberhaftes kleines Brüderchen“. „Oh, danke, danke“, freute sich der
kleine Junge. Darauf schaute Juanita bittend zu ihrem Bruder.
„Thiago, Grosser Zauberer, kannst mir dafür was vorzaubern?“,
wünschte sie sich.
Das braucht sie keine zwei mal zu sagen. „Hocus Bocus, Bummm
Bummm“, kreischte der kleine Bub und spielte den Zauberdonner
gleich selber mit. Juanita aber griff in ihre Rocktasche und zog einen
kleinen Kieselstein hervor. Diesen spickte sie zwischen ihren Fingern
an die schwere Holztüre, wo er laut aufknallte. „Oh donnel donnel“,
staunte Thiago, der glaubt er habe diesen Donner hingezaubert.
„Thiago donnel zaubeln“, sagt er nochmals und drehte sich zur Tür.
Nun griff Junita schnell ein zweites mal in ihre Rocktasche, holte eine
Hand voll Honigbonbons hervor und legte diese auf Thiagos Zauber
Serviertablett.
Emilia sass neben ihren Kindern. „Ja, ja“, begann sie zu erzählen ,
„zaubern ist leider nicht immer so einfach. Wir hatten damals unsere
liebe Mühe, mit dem magischen Spiegel etwas zu zaubern. Wir haben
es auf die unterschiedlichsten Weisen vergeblich versucht“. Emilia
ergriff das alte Pergament, suchte eine Weile drauf und sprach
„Schaut her Kinder, hier hab ich was darüber geschrieben“.
Emilia sass in der Materialhütte neben Panyma und sah gar nicht
zufrieden aus. „Mist, jetzt versuchen wir es bestimmt schon zum
zwanzigsten mal“, seufzte sie, „bisher gar nichts. Woran kann das
liegen Panyma?“. Panyma sass daneben und zuckt die Achseln. „Tja
Emilia“, antwortete sie, „das habe ich mir zuvor auch einfacher
vorgestellt. Hie und da braucht Zaubern Geduld und viel mehr
schöpferische Einfälle wie wir es bis jetzt hatten“. „Es ist zum
Heulen“, jammerte Emilia weiter,“heute früh gingen wir violette
Zauberkräuter sammeln. Dann als wir es versuchten – nichts. Wieder
zogen wir los, diesmal gelbe Kräuter – wieder nichts, dann grüne, das
nächste mal holten wir rote, als nächstes suchten wir weisse, nichts,
nichts und wieder nichts. Den ganzen Tag gingen wir noch und noch
Kräuter sammeln und versuchten einen Zauber nach dem andern – ohne
Erfolg“. Iakunae hockte gelangweilt daneben und gähnte laut. „Ja und
ich musste jedesmal mitkommen“, stänkerte Iakunae zu ihrer
Freundin. „Mmh. Hör mal auf zu motzen. Das geht uns allen so“,
knurrte Emilia zu Iakuane bevor sie sich weiter an Panyma wandte,
„Ich frage mich wieso? Bis jetzt hat der magische Spiegel bloss
zwischendurch mal etwas geleuchtet. Oder einen dumpfen Ton von sich
gegeben, mehr nicht. Und dabei sollte er uns doch helfen die böse
Ipupiara zu besiegen. Was sollen wir noch versuchen?“.
Iakunae schaute den beiden zu. Schon eine Weile sagte sie kein Wort
mehr. Ihr dauerte das ganze schon viel zu lange. In ihrer eigenen Art
kniete sie am Boden und hielt sich auf den Händen gestützt. Die Füsse
hebte sie hinten hoch, dann hob sie die Arme nach oben und versuchte
so auf den Knieen zu balancieren. Dazu war ihr noch ein Reim
eingefallen. „Nitt verstehn, nitt gehn, nitt verstehn, nitt gehn“, sang
sie leise. Das machte Emilia erst recht gereizt. „Und du bist uns auch
nicht gerade eine grosse Hilfe, Iakunae“, beklagte sich Emilia, die sich
über die sorglose Art ihrer Freundin nicht gerade freute. „Tä, tä, tä,
tä, tä“, anwortete Iakunae und pustete etwas Luft durch ihre
zusammengepressten Lippen. Emilia verzog ärgerlich eine schräge
Grimasse zu Iakunae doch Panyma lächelte nur freundlich zu ihrer
jüngsten Zauberschülerin: „Ja unsere Iakunae, unser Lausemädchen,
ich glaube für dich wärs Zeit, draussen etwas herumzurennen. Was
meint ihr? Sollen wir eine Pause machen, meine zwei Lieben?“. Emilia
seuftzte und sagte kein Wort.
Doch Iakunae wollte nichts von einer Pause wissen. „Na gut, dann werd
ich den Zauber mal versuchen“, antwortete sie keck, „und zwar ganz
anders wie ihr. Eure Kräuter könnt ihr mal wieder einstecken. Ich hole
jetzt unsere böse Ritualmaske, zieh die über, stelle mir vor, was zu
geschehen hat und dann soll dieser magische Spiegel das gefälligst
tun. Jetzt werde ich dem magischen Spiegel mal den leibhaftigen
Teufel vorspielen wie damals dem Paygi, damit er so richtig Angst
bekommt. Dann wird er alles machen was wir wollen“. Emilia fand
keinen Gefallen an Iakunaes Vorhaben und verlor langsam die letzte
Geduld mit ihrer Freundin. „Ach, du gehst mir wirklich langsam auf den
Kecks“, stöhnte sie, „hör doch endlich auf so blödsinn zu verzapfen“.
Doch Iakunae kicherte nur. „Lass sie doch“, beruhigte Panyma Emilia,
„soll sie es doch versuchen, dann haben wir wenigstens unsere Ruhe....“.
Panyma drehte sich zur Seite. griff in ihre Tasche und sprach leise zu
Emilia. „Da hab ich noch was Junipappceywa Frucht. Die rösten wir
jetzt auf dem Feuer. Das sollte doch möglich sein .... “. „Tä dä dä dä“,
antwortete Iakunae leise, da sie sich nun von ihren Freundinnen doch
etwas ignoriert fühlte. Sie stand auf und lief in die vordere Ecke der
Materialhütte.
Eine Weile studiert Iakunae und stand unter ihrer Maske da, ohne
sich zu bewegen. Panyma und Emila warteten, doch bei Iakunae unter
der Maske geschah nichts. Iakunae atmete schwer ein und stösste
pustend Luft aus. „Was ist denn los mit dir?“, fragte Panyma
schliesslich, „hast du ein Problem, Iakuane?“. Iakunae stöhnte. „Ein
menschliches Wesen?“, fragte sie schliesslich, „meinst du ein Mann
oder eine Frau?“. Emilia und Panyma grinsten. „Spielt keine grosse
Rolle“, antwortete Panyma mit einem Lächeln, „aber sagen wir mal, stell
dir einen Mann vor. Das ist glaub einfacher“. So fing Iakunae erneut an
um den magischen Spiegel zu tanzen. „Graaaah, graaaah, humba,
bumba, graaah, graaaah“, sang sie dazu. Emilia und Panyma sangen leise
mit. Panyma nahm ein Tammaraka in ihre Hände und rasselte im
Rhythmus des Gesanges. Von weit her hörten die drei Frauen draussen
die Indianer trommeln und ihr Gesang passte bestens, um ihn mit dem
Ipuvae Maracatu der Indianer im Rythmus mitzusingen.
Die drei brauchten nicht lange zu warten und der magische Spiegel
schepperte von neuem. Er glänzte und eine Lichtsäule tauchte in ihm
auf in der langsam die Umrisse eines Mannes erschienen. In gebückter
Haltung stand der Mann nackt da und hielt eine hölzerne Keule in
seiner Hand. Der Mann war splitternackt doch von seiner Haut war nur
im Gesicht ganz wenig zu erkennen. Am ganzen Körper wuchs ihm ein
dichtes Fell aus langen zottigen Haaren. „uuuö uuuöö“, grunzte der
Mann zum Grusse und schaute sich um. „was hast du denn jetzt wieder
hergezaubert?“, entsetzte sich Emilia. „Oohhh“, riss der fremde Mann
Augen und Mund auf, wie er Emilia, das junge Mädchen neben sich
entdeckte. „uhh uhh uhhh“, schrie er freudig und rannte auf Emilia los.
Wie der Blitz stand Emilia auf und sprang aus der Hütte hinaus. In
schwerem Schritt stampfte der fremde hinterher.
Draussen brach ein lautes Gekreische unter den Frauen los. Iakuane
und Panyma standen auf und rannten eilends nach draussen. Zu ihrem
Schrecken sahen sie den wilden Mann hinter den Frauen herspringen.
Seinen Mund hielt er zugespitzt, wie wenn er die Frauen küssen wollte.
„Aahhh Aaahh Ahh“, schrie er den Frauen hinterher. „Wart nur du
Lustmolch“, drohte Iakunae, die immer noch unter ihrer Maske
steckte, „von mir kannst du was erleben, jetzt gibt eine geklebt“.
Iakuane ergriff, was ihr gerade am nächsten war und sich als
Schlagstock eignete, und das war zufällig ein grilliertes Leopardenbein
aus der Feuerstelle. So rannte sie dem Mann hinterher. Der Urweltler
hatte inzwischen eine Frau an der Hand gefangen und wollte sie
gerade abküssen. „Wart nur du Strolch“, schrie Iakunae so laut sie
kann, „jetzt kriegst du eins aufs Dach“.
„Wir wissen jetzt wie der Zauber geht“, freute sich Panyma, „du
kannst es schon ganz gut, Iakunae. Aber Hilfe können wir von diesen
Wesen der Vergangenheit keine erwarten. Nein, da müssen wir uns was
anderes einfallen lassen“. Iakunae hatte sichtlich Freude ob ihrem
Erfolg und lächelte bis hinter die Ohren. „Soll ich versuchen, einen
Drachen aus der Urzeit herzuzaubern?“, fragte sie, „der ist vielleicht
stärker wie Ipupiara“. „Nein, nein, von Urtieren und Urmenschen haben
wir jetzt genug gesehen“, winkte Panyma mit einem Lächeln ab, „die
können ja nicht verstehen um was es hier geht. Nein wir müssen uns
etwas besseres einfallen lassen“. Emilia rümpfte die Nase und
überlegte einen Moment. „Die Menschen auf der anderen Seite des
Grossen Wassers haben viel bessere Waffen wie die Indianer“, gab sie
zu verstehen, „da könnten wir doch eine ganze Rittertruppe herholen“.
„Glaube ich nicht das das ausreicht um Ipupiara zu besiegen“, gab
Panyma zu bedenken, „du darfst nicht vergessen, sie ist eine Dämonin
und mit den Kräften der Unterwelt ausgestattet. Dagegen sind
Waffen aus Eisen machtlos, wenn nicht der nötige Zauber mitspielt“.
„Nein, nein, meine zwei Lieben“, seuftzte Panyma nach einer Weile,
„ich glaube wir brauchen die Hilfe der drei weisen Wahrsagerinnen,
die ich kenne. Mit ihrer Hilfe können wir am besten erfahren, wen wir
mit dem magischen Spiegel um Hilfe bitten sollen. Die drei wohnen
zurückgezogen im Urwald, ganz hier in der Nähe. Ich werde heute
noch losziehen, sie zu holen“. „Sollen wir mitkommen?“, fragten die
zwei Mädchen. „Bleibt hier“, bat Panyma, „jemand sollte den magischen
Spiegel bewachen. Schaut, dass dem Spiegel nichts geschieht“.
Iakunae machte ein langes Gesicht. „Meinst du dass jemand den
Spiegel stehlen könnte?“, wundert sie sich. „Nein, das glaube ich
nicht“, antwortete Panyma, „Indianer stehlen nichts, aber sie sind
neugierig. Und Neugierde könnte unseren Zauber stören. Wenn ihr
Hilfe braucht, so wendet euch an Häuptling Avanene. Er weiss
bescheid. Ich werde morgen Nachmittag zurück sein“. Panyma stand
auf, verabschiedete sich und verliess die Materialhütte.
Beim Spielen ging die Zeit schnell vorbei. Schon bald gab es
Abendessen und nach Einbruch der Dunkelheit legten sich die Indianer
zeitig schlafen. Seit sie Zauberschülerinnen waren, schliefen Emilia
und Iakunae in der Materialhütte. Diese Nacht das erste mal ohne
Panyma. Doch die Mädchen kannten den Platz inzwischen und wurden
gut bewacht. Neben Emilias Hängematte hatte es sich Nico der Hund
in einem Nest aus Stroh bequem gemacht. Er war ein guter Wachhund.
Sollte sich ein Fremder der Materialhütte nähern, würde er sofort
laut bellen und Alarm schlagen. Filippo der Kater schlief gleich
daneben, bereit, Nico bei jeder Gefahr kräftig zu unterstützen. Oben
auf dem Balken sass Abare und döste vor sich hin. Hie und da öffnete
er die Augen und schaute um sich um zu sehen, ob in der
Materialhütte auch alles in Ordnung war. Abare war ein Papageienvogel
und hatte selbst in der dunklen Nacht gute Augen. Und wenn es den
Mädchen einmal etwas langweilig war, dann warf bestimmt Otsaro
früher oder später eine Ladung Stroh vom Dach hinunter. Hinter der
Materialhütte lag Emilias Stute Rosabranca unter einem Strohdach im
Heu. Manchmal wieherte sie und dann spürt Emilia im Schlaf, dass ihre
Pferdefreundin ganz in der Nähe war. Jede Stunde kam einer der
Indianer, die draussen auf dem Dorfplatz Nachtwache hielten in die
Materialhütte und legte den Mädchen neues Holz aufs Feuer, sodass
die rote Glut die ganze Nacht ein heimeliges Licht spendete.
So hatten sich die zwei Mädchen schlafen gelegt und genossen die
ruhige Stimmung vor dem Einschlafen. „Ach dieser Ojang Utan“,
reklamierte Emilia, „konnte wieder einmal die Maske nicht richtig
aufhängen. Jetzt schaut sie mich so böse an im Licht des Feuers“.
„Mh, was solls?“, brummelte Iakunae im Halbschlaf, „ist ja nur aus
Holz das olle Ding“. „Trotzdem, mich störts“, meinte Emilia etwas
später, „gehst du sie für mich anders aufhängen?“. Doch Iakunae war
nach dem strengen Tag bereits eingeschlafen und schnarchte bereits
in ihrer Hängematte. So stand Emilia selber auf. „Komm mit Nico“, bat
Emilia ihren Hund, „mit dir zusammen habe ich keine Angst“. „Wuff,
wuff“, und schon war der kleine Helfer treu zur Stelle. „miau, miau“,
folgte auch Filippo den zweien und Abare guckte hinterher. „chrahhh,
chrahhh“, krächzte er leise vor sich hin. Zurück in ihrer Hängematte
liess sich Emilia ins weiche Baumwolltuch fallen. „Ah so gefällt es mir
schon viel besser“, sprach sie leise vor sich hin und schloss ihre Augen.
7-1
Bis zum späten Nachmittag hatten sich die Frauen bestens ausgeruht.
Die Mädchen hatten viel Holz gesammelt und die Kräuter in der
Materialhütte bereitgelegt. So konnte der Zauber zeitig beginnen.
Panyma sass zuoberst am Feuer. Rechts neben ihr sassen Emilia und
Iakunae um den magischen Spiegel. Iakunae hielt die Ritualmaske in
ihren Händen, bereit, sie anzuziehen wenn nötig, während Emilia tief in
den magischen Spiegel hineinschaute. Zu Panymas linker Seite knieten
die drei weisen Frauen am Boden. „Hey ho ho, hey ho ho“, sang Panyma,
legte trockenes Holz auf die Glut und wühlte mit einem Stecken im
Feuer herum.
Die rote Glut des Feuers liess die Gesichter der drei weisen Frauen
noch dunkler erscheinen wie sie sonst schon waren. Die drei trugen
schwarze Federn im Haar und lange Gürtel aus dunkelbraunem Leder
um Hüfte und Schultern. Vereinzelt hatten sie in ihren Haaren dünne
Bänder aus farbigen Baumwollfäden eingeknüpft. Die drei waren von
kräftiger Statur, schlanke, hohe Frauen. „Lasst uns anfangen“, meinte
eine von ihnen und erhob sich.
Panyma nahm ein Tammaraka in ihre Hände und rasselte langsam. Dazu
sprach sie: „Geister des Tages und Geister der Nacht. Geister der
Lebenden und Geister der Toten. Kommt hervor. Kommt hervor im
magischen Spiegel, den die Indianer zum ersten mal in ihrer
Geschichte aus dem Tor des Todes holen konnten. Geister des Tages
und Geister der Nacht. Geister der Lebenden, Geister der Toten“. Die
drei Frauen standen auf zum Tanz. In ihren Händen hielten sie
Musikinstrumente und spielten zum Rhythmus, den Panyma anschlug.
Eine der Frauen spielte auf einer schamanischen Rahmentrommel, die
nächste auf einer einsaitigen Urwaldgeige und die letzte spielte eine
liebliche Melodie auf einer Bambusflöte. So tanzten sie ums Feuer auf
das Panyma die ersten wohlduftenden Kräuter legte. Emilia und
Iakunae ergriffen ihre Schlaghölzer und spielten mit.
Eine Weile schaute Iakunae dem Tanze zu. Dann hielt sie es nicht
mehr aus im Sitzen. Sie stand auf, zog ihre Ritualmaske und ihren
Federschmuck über und tanzte mit. Panyma gab ihr mit einem Wink zu
verstehen, dass sie dies ruhig tun soll. Emilia sass konzentriert neben
Panyma hinter ihrem magischen Spiegel, denn sie wusste, dass ihr
Mitwirken bei dieser Zaubersitzung von entscheidender Bedeutung
sein würde. Lange tanzten die drei weisen Frauen im Kreis. Panyma
legte noch und noch Kräuter aufs glühende Feuer und begann mit ihren
Fingern farbige Leuchtstreifen und wunderbare Musiktöne aus den
Flammen hervor zu zaubern, bunte Leuchtstreifen, die bis zum Dach
der Materialhütte hinauf reichten.
Erneut legte Panyma einige Kräuter auf die Glut. Darauf breitete sie
ihre Arme aus, „Hey ho hey ho“, sang sie langsam. Noch während sie
sang sprach sie gleichzeitig mit Emilia. „Emilia, schau dich um im Raum.
Siehst du die vielen schwarzen Flecken die im Raum schweben. Sie
geben Schwingungen von sich, wie die Felle von Trommeln. Es sind
diese Schwingungen, die Schwingungen des Geistes, die uns mit Avara
verbinden“. Emilia hob ihren Kopf. „Ja, ich seh sie vor mir“, gab sie zur
Antwort. „Der entscheidende Zauber aber“, erklärte Panyma weiter,
„der Zauber, der es unser ermöglicht mit dem Wesen der Zukunft in
Verbindung zu treten, geschieht im Magischen Spiegel. Schau jetzt
auf ihn Emilia und stell dir Avaras Gesicht und Avaras Wesen vor“.
Darauf gab Panyma Iakunae das Zeichen anzufangen. „Graaah, graahh,
humba bumba, grahh, graaaah“, sang und tanzte Iakunae um den
Spiegel, wie sie es am Tag zuvor schon getan hatte. Wieder hielt sie
zwei Speere in ihrer Hand.
„Psst, ruhig“, zischte Panyma aus ihrem Mund, „psst, es tut sich was“.
Muxmäuschenstill knieten Emilia, Panyma und Iakuane vor dem Spiegel.
Die drei weisen Frauen, die sich von ihrer Wahrsagungstortur erholt
hatten, standen schweigend daneben und schauten zu. „Ich hör was“,
flüsterte Emilia und hielt ihren Kopf näher an den magischen Spiegel,
„es klirrt und knistert ... aber ich glaube da drin spricht wer“. Panyma
schaute sich mit ernster Mine um. „Verflixt, wo hab ichs nur?“,
flüsterte sie kaum hörbar vor sich her. Emilia hielt ihr Ohr an den
magischen Spiegel. „Ich hör so was wie ‚köi köikö’ oder so“, staunte
Emilia, „mehr kann ich nicht verstehen“. „köi köikö“, grinste Iakune,
„die haben aber eine lustige Sprache in der Zukunft, köi köikö, hi hi“.
Eine Männerstimme sprach aus dem magischen Spiegel. „Was ist denn
mit dem Bildschirm los? Gopferteli “, stöhnte die Stimme, „ Dieser
graue Fleck da, mist. Ist der Bildschirm schon wieder kapput?“.
Panyma verzog ein langes Gesicht. „Wovon redet er denn?“, wandte sie
sich an Emilia, „Emilia du kennst die Welt auf der anderen Seite des
Grossen Wassers. Weißt du was das ist, ein Bildschirm?“. „Mh“,
knurrte Emilia, „ein Schirm, ein Schirm, das weiss ich was es ist. Die
noblen Damen am Hof des Königs in Porto haben sowas. Das ist sowas
wie ein Spazierstock und daran ist ein Tuch befestigt, das an eisernen
Stäbchen aufgespannt wird. Dann schützt das gespannte Tuch das ♫
feine Häutchen der noblen Damen vor der Sonne oder auch ♫ vor dem
schlimmen bösen Regen. Vermutlich hat Avara so ein Schirm, auf den
ein Bild draufgemalt ist“. Panyma schüttelte den Kopf. Sie verstand
nicht so recht, was Emilia erklären wollte. Iakune verzog ein schräges
Maul. „Scheint ein nobler Mann zu sein, unser Avara, ♫ ein feines
Pflänzchen“, wunderte sie sich, „ausgestattet wie die ♫
hochgepuderten Damen des Königs, mit Schirm und Bild drauf“. Emilia
grinste vergnügt zu ihrer Freundin.
In ihrem Eifer und in ihrer Freude bemerkten die Frauen nicht, dass
dunkle Schatten an der Eingangstüre der Materialhütte die Umrisse
eines Mannes abzeichneten. Es war Paygi der sich angeschlichen hatte
und das Geschehnis schon eine ganze Weile belauscht. „Mh, gebratene
Hühnchen“, kicherte Paygi auf seinen Stockzähnen, „das ist es also,
was sie mit ihrem geheimen Spiegel herzaubern können. Gebratene
Hühnchen, mhh, leck leck, feine Hühnchen. Hi hi hi, ich glaube der
Spiegel wäre woanders besser aufgehoben wie bie diesen drei Hexen.
Hi, hi hi.....“. Eilends schlich Paygi weiter, um auf keinen Fall entdeckt
zu werden.
„Jetzt hör ich wieder nichts mehr“, seufzte Emilia enttäuscht, „nichts
mehr ausser Rauschen“. „Ich hab nur noch ganz wenig
Zauberpfefferkraut“, antwortete Panyma, „es ist das allerletzte.
Versuche einen Gegenstand von ihm zu bekommen. Dann können wir
später wieder mit ihm in Kontakt treten. Sonst kann es sein, dass die
Spur für immer verloren ist“.
„Hier“, sprach Avaras Stimme aus dem Spiegel, „eine Holzkette, die
ich immer um den Hals trage. Es ist eine Gebetskette aus Tibet“. Dann
brach die Verbindung ab. Es zischte kurz und der ganze Zauber war
verschwunden.
Panyma nahm die Holzkette und legte sie Emilia um den Hals. Sie
passte gut zum Amulett, das Emilia vom alten Schamanen geschenkt
bekam. „Eine Gebetskette“, staunte Iakunae, „ist die schön, ohhh“.
„Ja“, freute sich Panyma, „ eine schöne Kette. Und schaut mal die
farbigen Bänder daran. Die Holzkette wird es uns ermöglichen mit
Avara wieder in Kontakt zu treten“. „Meinst du dass wir das nochmals
können?“, wollte Iakunae wissen. Panyma nickte. „Es ist mir vieles
aufgefallen während dem Zaubern“, erklärte sie, „und ich habe
gesehen, was wir da noch alles verbessern können. Aber für heute
haben wir genug getan. Jetzt machen wir Schluss. Lasst uns morgen
Kräuter sammeln gehen und dann versuchen wir es wieder“.
Trotz dem schönen Erfolg waren das Holzsammeln und die Zauberei
für die Mädchen streng gewesen. Bis zum abend waren die zwei total
geschafft und gingen todmüde, aber zufrieden in ihren Hängematten
schlafen.
7-2
Seit den frühen Morgenstunden des nächsten Tages sassen Emilia und
Iakuane auf dem Dorfplatz und knöpften schwarze Vogelfedern an
Lederbänder und an bunte Baumwollschnüre. Der Haarschmuck der
drei weisen Frauen, die gestern zu Besuch waren, hatte es den zwei
Freundinnen vollends angetan und sie wollten sich selber einen solch
schönen Schmuck basteln. „Oh diese glitzernde schwarze Feder. Ist
die schön“, schwärmte Iakune, „die bind ich mir zuunterst in meinen
Haarband“. „und schau mal diese dunkelviolette Feder“, freute sich
Emilia, „die gibt Farbton in Farbton erst richtig Leben in meine
schwarzen Haare. Schön, nicht wahr“. Emilia stand auf und steckte
sich den halbfertigen Schmuck in ihre Haare. Sie stellte sich auf ihre
Zehenspitzen, hob ihre Arme empor und drehte sich dazu tanzend im
Kreis. „Jippii“, kreischte Emilia vor Freude, denn sie fühlte in ihrem
Herzen die Freiheit junger Indianermädchen.
„Na ihr zwei“, grüsste Panyma ihre Zauberschülerinnen, „ seid ihr von
Uebermut gepackt?“. Weder Emilia noch Iakunae liessen sich ablenken.
„Hallo Panyma“, grüssten sie und bastelten am Schmuck weiter. „Ich
geh schon mal Kräuter sammeln“, rief Panyma den zweien zu, “bleibt
ihr zwei hier und geniesst den schönen Morgen“. „Sollen wir nicht
mitkommen?“, fragte Emilia eilends, doch Panyma winkte ab. „Arme
Panyma“, meinte Iakunae, „musst du ganz alleine gehen nur will wir hier
so übermütig am Haarschmuck basteln sind“. „Nein, nein“, antwortete
Panyma, „bleibt hier. Ich freue mich, wieder einmal ganz alleine im
Urwald zu sein, wie schon so oft, und die Ruhe der Natur zu geniessen.
Bis zum Nachmittag werde ich zurück sein und dann geht unser Zauber
weiter“. Panyma lächelte, winkte mit einer Hand ihren
Zauberschülerinnen zu und verschwand in den Urwald hinaus. „Noch
diese eine Feder“, freute sich Iakunae, „dann bin ich fertig mit
meinem Haarschmuck“. Ein wenig später stolzierten Emilia und Iakunae
voll Freude mit ihrem neuen Haarschmuck Hand in Hand in
tänzerischem Schritt durchs Indianerdorf.
Schon bald war das Holz gesammelt. Emilia und Iakunae trafen in der
Materialhütte auf Panyma, die am Feuer sass, in der Glut stocherte
und dazu ein Lied sang. Vorsichtig holte Emilia ihren magischen
Zauberspiegel vom Bambusgestell hervor, wo sie ihn hinter ihrer
Hängematte sorgfältig aufbewahrt hatte. „Oh ist der schön“,
schwärmte Iakunae, „ich staune jedesmal aufs neue“. „Ja“, stimmte
Panyma mit ein, „er ist wundervoll. Ein Symbol der Sonne in
glitzerndem Silber“. Dann nach einer Weile erklärte Panyma: „Der
Zufall wollte es, dass ich vorhin im Wald etwas gelbes Schlangenkraut
gefunden habe. Dieses Kraut ist bekannt dafür, dass es am heiligen
Ort der hohen Steinkreise titanische Kräfte verleihen kann. Nun die
hohen Steinkreise liegen viele Tagesreisen weit weg von unserem Dorf.
Bevor wir nun versuchen zu Avara Kontakt herzustellen, lasst uns mal
versuchen, ob wir an diese Kräfte mit Hilfe des magischen Spiegels
auch gelangen können“.
„Höi, ha ho, höi ha“, begann Panyma ihren Zauber. Emilia rasselte mit
einem Tammaraka dazu und Iakunae spielte mit den Klanghölzern. „Höi
ha ho, höi ha“, stimmten die zwei Mädchen in Panymas Zaubergesang
ein. Schliesslich legte Panyma ein Hand voll des gelben
Schlangenkrauts mitten auf den magischen Spiegel. „Hai da hombada,
hai da homba“, beschwörte Panyma mit tiefer Stimme und streckte
ihre Hände hin zum magischen Spiegel. Rauch stieg aus den Blättern
auf, grüner Rauch, der sich zur hohen Graspflanze formt. „Ohh“,
staunte Emilia, „schön die grüne Pflanze“. „Schon“, meinte Panyma,
„aber verstehen kann ich es nicht ganz“. Umso mehr verstehen konnte
Panyma dafür die Klänge die aus der grünen Pflanze ertönten. „Quak,
quak, quak“, hüpfte ein Frosch hervor und guckte verdattert um sich.
„qua, qua, qua“, eine ganze Horde kleiner Froschbabies folgte und
zuhinterst watschelte der grösste Frosch. „Oh Frösche, wie niedlich“,
freut sich Iakunae, „Panyma, du hast eine ganze Froschenfamilie
hergezaubert. Oh wie putzig die kleinen“. Emilia und Iakunae freuten
sich und streichelten die niedlichen Frösche. Panyma kratzte sich am
Kinn. „Hm, so ganz geklappt hat das ja nicht mit den titanischen
Kräften“, lächelte sie, „aber eben. Man lernt nie aus“. Eine Weile
spielten die zwei Mädchen mit den Fröschen. Schlussendlich aber
liessen sie die putzigen grünen Wesen vor dem Dorf in die
wohlverdiente Freiheit raus. „Quak, Quak“, verabschiedeten sich die
Frösche und schwammen im Bach davon.
„Avara, Avara“, rief Emilia in den magischen Spiegel, der vor ihr hell
wie eine Sonne leuchtete, „Avara, avara, hier spricht Emilia, das
Indianermädchen“. „Hallo... hallo“, rief Avaras Stimme aus dem
Spiegel, „schön dass ihr wieder da seid. Ich habe schon lange
gewartet“. Der Spiegel klirrte und wurde dunkler. „Panyma, panyma“,
rief Emilia ungeduldig. Panyma nickte und legte neue Kräuter auf die
Glut und das half. Der Spiegel leuchtete wieder wie eine Sonne.
„Emilia?“, fragte Avara durch den Spiegel, „du hast gesagt, dass es um
das Leben der Indianer geht. Ist das wahr?“. „Ja“, antwortete Emilia,
„Eine Dömonin bedroht uns. Sie heisst Ipupiara und ist die mächtige
Dämonin des Wassers. Sie wohnt weit draussen in den Tiefen des
Meeres. Aber wenn sie genug Kraft beisammen hat, dann kommt sie
ans Ufer und will uns zugrunde richten. Avara, kannst du uns
irgendwie helfen?“. „Hm, ich weiss nicht“, antwortete Avara, „wie soll
ich euch helfen? Hast du eine Idee, wie ich euch helfen soll?“. „Avara“,
sprach Emilia, „du lebst doch in der Zeit der Zukunft die so fern ist
wie der weite Himmel. Gibt es in deiner Zeit ein Perpetuum Mobile mit
dem ihr Dämonen besiegen könnt?“, „Ein was?“, lachte eine Stimme
durch den Spiegel, „Hi hi hi, ein Perpetuum Mobile? Habe ich dich
richtig verstanden? Wie kommst du denn auf sowas?“. „Was soll daran
so besonderes sein“, wunderte sich Emilia, „als ich in Porto zur Schule
ging, da haben alle Dottores und Professores an der höfischen Schule
in ihrer Freizeit nichts anderes gemacht, als fieberhaft über diese
neueste Entwicklung, das Perpetuum Mobile diskutiert. Und der
Architekt und Planer des Königs in Sancte Vicente hat sogar eins
gebaut“.
Eine laute Stimme lachte durch den magischen Spiegel. „Hast du das
Perpetuum Mobile auch gesehen?“, fragte Avara. „Ja natürlich habe
ich das gesehen“, gab Emilia zur Antwort,“es ist sogar gelaufen,
wenigstens ganz kurz. Nur hat dieser Tölpel von Kimmy Klopf eine
Schraube nicht richtig zugedreht und dann ist es in der Mitte
auseinandergekracht“. „Ihr seid lustige Leute in der Vergangenheit“,
amüsierte sich Avara, „nein, nein, in meiner Zeit haben die
Wissenschaftler schon lange bewiesen, dass es ein Perpetuum Mobile
nicht geben kann. Dafür aber haben unsere Planer und Erfinder in der
Zwischenzeit Maschinen entwickelt. Sie sehen fast gleich aus wie eure
Perpetuum Mobile, aber sie brauchen Benzin oder Strom als Antrieb.
Sonst laufen sie nicht. Dennoch, die Menschen in meiner Zeit fiebern
mit einem so hohen Fleiss an immer besseren Maschinen herum, dass
ich glaube, dass sie zuinnerst immer noch dem brennenden Wunsch
nach einem Perpetuum Mobile hinterherrennen“.
Erneut musste Panyma Kräuter auf Feuer legen, sodass der magische
Spiegel nicht erlosch. Panyma winkte Emilia mit der Hand, sie soll
vorwärts machen. „Schwatzt nicht so herum. Ich habe nicht mehr viele
Kräuter“, mahnte sie Emilia in leisem Ton. „Die Wissenschaftler haben
inzwischen gewaltige Waffen entwickelt“, sprach Avara weiter, „Damit
können die Krieger viele Menschen aufs mal töten. Sie sind gewaltiger
wie die Musketen eurer Zeit, aber halt immer noch eiserne Waffen“.
„Nein, nein“, mischte sich nun Panyma in das Gespräch ein, „ich glaube
nicht, dass wir mit solchen Waffen alleine Ipupiara bändigen können,
lieber Avara. Da müssen wir uns was besseres einfallen lassen. Aber
jetzt können wir nicht mehr länger mit dir sprechen. Meine Kräuter
sind zu ende. Wir werden uns bald wieder melden. Bis bald Avara“. „Bis
bald Avara“, riefen auch Emilia und Iakunae begeistert. Der magische
Spiegel wurde dunkel und der Zauber war für heute vorbei.
Eine Weile noch sassen die drei Frauen in der Materialhütte ums
Feuer herum. .„Meinst du der kann uns überhaupt weiter helfen?“,
fragte Emilia ihre Zauberlehrerin. „Im moment weiss ich auch nicht
wie“, antwortete Panyma, „aber die Vorhersage der drei weisen Frauen
sagte, dass uns genau Avara helfen wird. Und darauf vertraue ich“.
Iakunae atmete tief ein. „Hoffen wir es“, sagte sie mit einem
Achselzucken, „und sonst habe ich immer noch Pfeil und Bogen und
werde mich so zur Wehr setzen“. Panyma stellte sich zwischen ihre
zwei Zauberschülerinnen und hielt beiden je einen Arm auf die
Schulter. „Ihr seid mir zwei tapfere Mädchen. Und Tapferkeit wird
siegen“.
7-3
„Wäääh, esst ihr mal eure Suppe“, entsetzte sich eine Männerstimme
in der hintersten Hütte, „Suppe, iggittt, Suppe aus Hirnfleisch,
ausgewaschene Därme, Leber, Häute, Kutteln, Blutklösse, Grick,
Zungenfleisch, Gäder, Knochenmark und Schwarte, Grrrh. Nein, nein,
ich bin so gütig und überlasse euch diese Su-wäähh-ppe, üüääh. Hi hi
hi, die könnt ihr selber essen, brrr“. Dieser Mann war Paygi, der
hochangesehene Prister des Indianerdorfes. Er war sich bessere
Mahlzeiten gewohnt.
„So eine leckere, fein knusprig gebratene Pute, das will ich jetzt“,
lechzte Paygi freudig vor sich hin, „und ich weiss auch schon genau, wie
ich zu einer Pute kommen werde. Ja, ja diese dummen Kinder und die
alte Hexe. Geheimnissschummlerei um einen Zauberspiegel. Wollen
niemandem sagen, was sie damit anstellen. Aber Paygi, der ist nicht so
dumm wie ihr glaubt“. „Hi hi hi“, fuhr Paygi in seinem Selbstgespräch
weiter und blickte in Richtung der Wohnhütte woher lautes
Geschmatze und Gemampfe an sein Ohr dringt, „hi, hi, hi. Was ihr
nicht wisst, Paygi hat euch zugehört. Puten können sie mit dem
magischen Spiegel herzaubern, gebratene Puten. ‚komm pute’ hat die
Stimme aus dem Spiegel gesprochen und die drei Zauberweiber haben
sich auf gebratene Pute gefreut. Selbst Panyma, die alte, dürre Hexe,
die sonst kaum was isst, hat sich gefreut, dass sie mit dem Spiegel
Puten herzaubern können. Ich Paygi, ich bin nicht so dumm wie ihr
glaubt. Ich habe das genau gesehen. Und jetzt wird Paygi den Puten
Spiegel benutzen und sich ein feines Abendessen hinzauber. Mhhhhh,
mnijammm. Und nachher nehm ich den Spiegel gleich mit und er gehört
mir, mir alleine, hä hä hä“. Paygi lief das Wasser im Mund zusammen.
Bei der Materialhütte angekommen drehte Paygi unauffällig seinen
Kopf und beobachtete scharf, dass auch ja kein Indianer ihn gesehen
hatte. Leise, kaum hörbar schlich sich Paygi schliesslich in die
Materialhütte. Da am Balken hing die grosse Ritualmaske. Paygi
grinste. Mit seinem Zeigefinger klopfte er auf die Maske. „Hä, hä,
doofe Maske. Ist ja bloss aus Holz, das olle Ding. Und damit wollten
mich die Kinder erschrecken. Mich, Paygi, die sind ja nicht ganz
gebacken“. Paygi lief weiter. „Da vorne“, vermutete er, „da vorne
hinter den Hängematten, da muss der Spiegel sein“.
Vorsichtig legte Paygi den Spiegel auf den Boden um seinem Zauber
die notwendige Vorbereitung zu verpassen. Da erschrak er fast zu
Tode. Neben ihm was war das? Ein Knurren? Schnell drehte sich Paygi,
bereit sich gegen jeden Eindringling zu wehren. Doch dann überkam ein
Lächeln sein Gesicht. „Ah, Nico, das kleine Hundi, hä hä hä“, grinste er
vor sich hin, „komm komm, komm zum lieben Paygi, brauchst keine
Angst haben, komm liebes Hundi“. Nichtsahnend näherte sich Nico
vertrauensvoll Paygi, den er schliesslich schon oft gesehen hatte und
vom sehen her kannte. Nico wusste sehr wohl, dass Paygi nicht Emilias
bester Freund war, aber viel schlimmes hatte er dennoch bis heute
von Paygi nicht erlebt. So vertraute der arme Nico dem hinterlistigen
Paygi.
„Komm komm liebes Hundi, komm, hier, etwas Süsses für dich“.
„hmmm, hmmm“, winselte Nico und schaute voller Erwartung in Paygis
Hand. Doch da war nichts Süsses. Paygi packte den Hund am Halsband,
drehte ihm die Gurgel zu, drückte mit aller Kraft Nicos Schnauze
zusammen, sodass er nicht um Hilfe bellen konnte und wickelte ihn
schliesslich eng zusammengeschürt in die Baumwollhängematte, die
neben dem magischen Spiegel lag. Damit er ja nicht bellen konnte,
stopfte Paygi noch einen Holzknebel in Nicos Mund. So warf er das
arme Hundi, ins Baumwolltuch eingewickelt, zur Türe hinaus hinter die
Materialhütte. Armer Nico, gefesselt und geknebelt, das tat ihm weh.
„Sagt mal Mädchen“, fragte Iakunaes Mutter nach einiger Zeit, „habt
ihr Ojang Utan irgendwo gesehen? Der Lausebengel, kommt wieder mal
nicht rechtzeitig zum Abendessen. Wenn er das nur mal lernen könnte.
Wird wohl wieder irgendeinen Streich mit Ostaro aushecken, dass wir
uns wieder vor allen Indianern schämen müssen und uns beim ganzen
Dorf entschuldigen müssen“. Iakunae lachte nur und antwortete:
„Ojang Utan, die Nervensäge. Mit so einem Bruder bist du ganz schön
bestraft. Hi hi“. Iakunae blickte zu ihrer Mutter. „Also gut“, erklärte
Iakunae sogleich, „Emilia und ich gehen mal nachschauen“. Die zwei
verliessen die Hütte und machten sich auf Richtung Dorfplatz.
Schweigend liefen sie nebeneinander. „Pssst“, zischet Iakunae
zwischen ihren Lippen hervor und hielt Emilia am Arm, „hast du das
gehört?“. Emilia spitzte die Ohren. „Ja“, flüsterte Emilia, „ein
schmerzliches Winseln. Wie von einem Tier?“. Hand in Hand machten
sich die zwei Mädchen auf in Richtung aus der das Winseln zu hören
war. „Hinter der Materialhütte“, flüsterte Iakuane, „da stimmt was
nicht“. „Nico“, erschrak Emilia wie sie die zusammengeschnürte
Hängematte vor sich sah, „mein lieber Nico, eingewickelt und
gefangen“.
Nico war schnell befreit. Emilia hielt ihren Hund eng und liebevoll in
ihren Armen, dass er auch ja keinen Laut von sich gab. Iakunae zeigte
in Richtung der Materialhütte, denn von dort drang ein Scheppern von
Blech und das Gemurmel einer tiefen Männerstimme an die Ohren der
zwei Freundinnen. Die Mädchen schlichen sich leise an „Paygi, es ist
Paygi“, flüsterte Emilia zu Iakunae.
„Komm Pute, komm pute“, beschwörte Paygi den vor ihm liegenden
magischen Spiegel, „komm pute, verflixt nochmal, komm endlich, fein
knusprig gebratene Pute ... Ach so haben sie das doch auch gemacht,
wie ich sie belauscht habe“. „Wart nur“, flüsterte Iakunae zu Emilia,
„Paygi, jetzt bekommst du von mir eine Pute, die du so schnell nicht
vergessen wirst“. Iakunae schlich sich in die Materialhütte und zog
sich die Ritualmaske, Baumwollhängematte und Federnschmuck über.
In ihren Händen hielt sie die zwei Speere und schlich sich von hinten
an Paygi ran, der immer noch fieberhaft versucht seine gebratene
Pute herzuzaubern.
„Määh määh?“, grinste Emilia fragend vor sich hin, „ich glaube das
Kücken meint, Paygi sei seine määä, seine Mama“. Iakunae lachte zu
Emilia: „Ja dann wird das liebe Kücken seine Paygi-Kückenmutter wohl
nicht grad auffressen. Da hat er nochmals Glück gehabt“.
Kapitel 9 Ankündigung des Königs
Thiago feierte einen ganz besonderen Tag, ein grosses Fest. Er hatte
Geburtstag und war drei Jahre alt geworden. Juanita hatte ihm zum
Geburtstag eine Krone aus Papier gebastelt. Dazu legte sich Thiago Emilias
goldgelben Schal über die Schultern. „Köni, Köni, König, bin König“, stolzierte
Thiago auf Emilias Schaukelstuhl. Thiago spielte, er wäre der König und
Juanita, seine Schwester, war seine Dienerin.
"Köni, König", stolzierte Thiago und hielt erhaben und begeistert seinen Kopf
hoch. Seine Mutter Emilia lächelte auf den Stockzähnen und schüttelte
verzweifelt den Kopf. "oh mein lieber Thiago", entsetzte sie sich mitleidsvoll,
"bis du gross bist, wirst auch du anders denken über Könige. Dann willst auch
du bestimmt kein König mehr sein". Thiago blickte kurz um sich, etwas
verdattert zwar, doch immer noch sehr königlich, denn er konnte die Worte
seiner Mutter nicht ganz verstehen. Thiago spitzte seinen Mund und liess
sich von seinem Spiel weiter nicht abhalten. "Tönig, tönig", war alles, was er
zu sagen hatte. Juanita lächelte liebevoll, hielt sich am Arm ihrer Mutter
fest und guckte vergnügt zu ihrem Bruder.
„Eine Zeit lang ist es mir ja egal deine Dienerin zu spielen“, lachte Juanita
heiter, „aber nachher kannst du deinen Kram gefälligst wieder selber
erledigen“. „König wolle slecki“, befahl seine Hoheit, König Thiago auf seinem
Schaukelstuhlthron, „slecki, slecki“. „Ah seine Hoheit begehrt Süssigkeiten
zu Schlecken“, sprach Juanita mit der hohen Stimme einer Dienerin und
griff nach der Süssigkeitenschale auf dem Tisch, „Die untertänigste
Dienerin Juanita bittet seine Hoheit von den dargepriesenen Süssigkeiten zu
naschen“. Das gefiel Thiago und er hatte sich alsbald beide Backen
vollgestopft.
Es war ein sonniger, heisser Tag. Doch zum Glück blieb es auf der schattigen
Veranda den ganzen Tag angenehm kühl. Emilia trug ein hauchdünnes,
strahlend weisses Kleid. In dem hellen Kleid erschienen ihre schwarzen
Haare noch viel dunkler wie sie sonst schon waren, dunkel wie die Steinkohle
aus dem tiefen Berg. Emilia sass auf der Holzbank an der Hausmauer. „Ja die
Könige“, seufzte sie, „die befehlen nicht immer nur zum Wohl und zur Freude
aller“. Sie nahm ihr Pergament zur Hand und erzählte ihren Kindern: „Damals
in Uwattibi, als die Gesandten des Indianerkönigs eines Morgens ins Dorf
kamen, freute ich mich in keiner Weise über die Botschaft die der König uns
zukommen lies“.
„Der König kommt, der König kommt“, kreischten, sangen, riefen und
frohlockten die Indianer tanzend auf dem Dorfplatz. Seit einer halben
Stunde vernahmen sie das Blasen von Kürbisposaunen aus der Ferne. Und das
konnte nur einer sein, nämlich der lange erwartete König mit seiner gesamten
Begleitschaft. Wenigstens wünschten sich dies die Indianer, vornehmlich die
Frauen, denn des Königs Sohn Konyan Bebe, der bald zum neuen König
ernannt würde, soll ausgesprochen hübsch sein, wurde überall erzählt. Und
vor allem hatte Konyan Bebe bis jetzt noch keine einzige Frau. Die
Indianerkönige waren bekannt dafür, dass sie ein tolles Liebesleben führten.
Meist hatten sie sieben Frauen oder gar deren zwölf, eine schöner wie die
andere.
Avanene stand auf dem Dorfplatz und schüttelt den Kopf: „ Ich glaube nicht,
dass dies schon der König persönlich ist. Wenn der all seine Dörfer besuchen
geht, so wird er seine Vorhut vorausschicken, sodass alles bereit ist bei
seiner Ankunft“. Doch Avanenes Warnung konnte die Freude der Indianer
nicht trüben. Sollte es nicht der König sein, sondern seine Vorhut, freuten
sie sich ebenfalls und vor allem würden sie sich nicht abhalten lassen, ein
vergnügtes Fest zu feiern.
Zurück im Dorf sah alles inzwischen schon recht aufgeräumt auf. „Und jetzt
spielt gefälligst den Ipuvae Maracatu, so rassig und so laut ihr nur könnt“,
befahl Avanene. Und das brauchte er keine zweimal zu sagen. Die Indianer
ergriffen ihre Musikinstrumente und ein gewaltiger Rhythmus ging los, so
feurig, dass er weitherum im Indianerland zu hören war.
Kurz darauf standen zwei dutzend Indianer am Eingangstor von Uwattibi. Mit
ihren Kürbisposaunen machten sie lautstark auf sich aufmerksam und
warteten darauf, offiziell empfangen zu werden. Diese Indianer waren
reichlich geschmückt mit langen hohen Federn, Lederbändchen und
Baumwolltüchern in den buntesten Farben. Der vorderste, ihr Anführer, trug
den höchsten Federschmuck. Links und rechts zu seiner Seite standen zwei
dunkel und düster bemalte Männer mit weitaus kleinererm Federschmuck. Es
waren die Berater des Anführers. Aber auch die restlichen Begleiter des
Trosses waren für Indianerverhältnisse überaus zierlich geschmückt.
Zuhinterst schliesslich folgte eine Schaar Frauen, eine hübscher geschmickt
und geschmückt wie die andere. Eine der Frauen rückte sich noch eilends mit
Farbe aus einem glitzrigen Döschen ihre Schminke zurecht. „Was sind denn
das für Tussies?“, kicherte Emilia zu Iakunae. „Psst“, reklamierte Avanene zu
den zwei Mädchen, „das ist Parwaa, der Stellvertreter des Indianerkönigs,
der drittmächtigste Mann im Indianerland. Pssst, seid jetzt ruhig ihr zwei“.
Iakunae kicherte beim Vorbeimarsch der hübschen Frauen. „Von nahe sehen
die gepuderten und geschminkten Tussies noch viel hochnäsiger aus“,
flüsterte Iakunae Emilia ins Ohr, „ist ja schrecklich so herumzulaufen“. Eine
der Frauen bemerkte, wie die zwei Mädchen sie scharf beobachteten und
grinsten. Beleidigt drehte sie schnellstens ihren Kopf und gab sich Mühe die
zwei Mädchen bewusst zu ignorieren. „Diese dummen Mädchen“, mochte sie
sich wohl denken, „die beachte ich gar nicht, dann sind sie nämlich selber
beleidigt“. Einige junge Indianermänner kamen aus dem Staunen nicht mehr
heraus. „Oh, das ist Sirapi, die schönste Frau im ganzen Indianerland“,
schwärmten sie.
Gerne verzogen sich die Gäste in eine der Stohhütten und ruhten sich aus.
Vor allem den hochgepuderten Schönheiten hatte der Marsch durch den
Urwald arg zugesetzt. Die noblen Besucher wurden bestens betreut und
umsorgt. Viele der jungen Frauen des Dorfes drängten sich geradezu darum,
dem Stellvertreter des Königs und dessen Gefolge jeden Wunsch erfüllen zu
können. So hatten sie Gelegenheit die neuesten Neuigkeiten über den Prinzen
Konyan Bebe zu erfahren, den Prinzen, von dem sich die Indianer erzählten,
er soll das hübscheste Mannsbild im ganzen Indianerland sein.
Langsam näherte sich die Sonne den spitzen Bergen, die das Dorf Uwattibi
umgaben. Die Schatten wurden länger und der aufziehende Wind blies
frische, kühle Luft ins Dorf. So war von der drückenden Mittagshitze nichts
mehr zu spüren. Dies war die Zeit der Kinder. Sie spielten auf dem Dorfplatz
und badeten im nahen Bach. Ojang Utan rannte seiner Schwester Iakunae
mit einer Kokosnusschale voll Wasser hinterher. „Splützen, splützen, wollen
splützen“, schrie er vergnügt und schliesslich gelang es ihm sogar, seine
Schwester nass zu machen. „Wart nur du kleiner Bengel“, kreischte Iakunae
vergnügt. Sie packte ihren kleinen Bruder und warf ihn kurzentschlossen in
den Bach. Die Kinder in Uwattibi hatten es schön. Sie genossen es, den
ganzen Tag spielen zu dürfen.
Allmählich machte sich der feine Duft frisch grillierter Puten breit. Immer
mehr Kinder, Männer und Frauen begaben sich mit knurrendem Magen in die
nähe des Feuers. Während die Kinder nach wie vor spielten, gab es an diesem
ereignisreichen Tag für die Erwachsenen genug zu diskutieren und alle
warteten auf das Erscheinen der fremden Gäste. Diese liessen nicht lange
auf sich warten. Begleitet von Häuptling Avanene traten sie aus der
Stohhütte des Häuptlings und blickten erwartungsvoll auf den Dorfplatz.
„Habt dank für eure Gastfreundschaft“, erhob Parwaa seine noble Stimme,
„habt dank für das feine Essen, mit dem ihr uns willkommen heisst. Uwattibi,
das schönste Dorf im Indianerland. In keinem anderen Indianerdorf werden
wir so liebevoll empfangen wie hier“. „Hurra, hurra, hoch lebe Parwaa“,
jauchzten die Indianer Beifall mit tosendem Applaus. Doch Avanene stand
still daneben. „Alter Heuchler“, brummelte er leise zu Emilia und Iakunae,
„das sagt er in jedem Dorf um sich beliebt zu machen. Und dann schlägt er
sich hemmungslos den Ranzen voll“. Nach einiger Zeit legte sich der
lautstarke Applaus. „Liebe Indianer“, fuhr Parwaa mit seiner Ansprache fort,
„die besten Grüsse überreiche ich euch von seiner Hoheit dem König Ajun
Bebe und von seinem hochwohlgeborenen Sohn Prinz Konyan Bebe. Die zwei
verweilen noch einige Zeit bei weit höheren Festivitäten in Iteronne“. Erneut
machte sich lautester Applaus breit. Wieder brummte Avanene etwas zu
Emilia und Iakunae: „habt ihr jetzt gehört, wie er sich versprochen hat? ‚bei
weit höheren Festivitäten in Iteronnne’ - der schwindelt uns einfach etwas
vor, wenn er uns schmeichelt, bei uns sei es am schönsten, der alte Heuchler.
Dabei gefällt es ihnen an anderen Orten, wo sie reichlicher bedient werden
nämlich viel besser“. Emilia und Iakunae guckten zu Avanene und kicherten.
Auf der Stelle schwieg Avanene und hob seinen Kopf, denn Parwaa war
aufgestanden und lief geradewegs in seine Richtung, ihm und den Mädchen
entgegen. Doch nun geschah etwas merkwürdiges. Parwaa ging nämlich nicht
hin zu Avanene, wie alle es erwartet hätten, nein, er zeigte auf Emilia und
wandte sich an das Mädchen. „Sei gegrüsst im Indianerdorf, fremdes Kind,
das du von der anderen Seite des Grossen Wassers zu uns gekommen bist“,
sprach Parwaa in noblen Ton zu Emilia, die mit ihren lockigen Haaren halt
schon um einiges anders ausssah wie die reinrassigen Indianer, die alle
steckengerade Haare haben. „Iteronne kennen alle Indianer“, sprach Parwaa
zu Emilia mit einem liebevollen Lächeln, „Iteronne, weißt du fremdes Kind,
das ist Rio de Jenero in eurer portugalesen Spraach, die neuste Einwanderer
Siedlung neben unserem Indianerdorf, ha ha ha ha“. Parwaa konnte ein
Lachen nicht zurückhalten und die Indianermänner kreischten laut. „Rio de
Jenerho, hi hi hi“, vergnügten sie sich und grinsten mitleidig. „Hi, hi, Rio de
Jenero“, fuhr Parwaa lachend weiter, „ho ho hoho, die zwei alten klapprigen
Hütten, hi hi hi, die nächstens zusammenkrachen, ha ha ha, wo sich ein paar
heruntergekommene Fremde vom Stamm der Franzosen in ihren Lehmhütten
verschanzt haben, ha ha ha ha, und den ganzen Tag Kokosbier trinken, ha ha
ha“. Ein Gelächter brach unter den Anwesenden los, wie Parwaa auf die
Franzosen zu sprechen kam, die Franzosen, die im Indianerland als
ausgesprochen eigenartige wie auch lustige Fremde galten und über die sich
die Indianer viele Witze erzählten.
Einzig Avanene lachte nicht. Verdutzt staunte er zu Parwaa, denn er
verstand nicht, weshalb Parwaa ausschliesslich zu Emilia gesprochen hatte.
Avanene ging auf Parwaa zu und wollte ihn darauf ansprechen. Doch Parwaa
kam ihm ausweichend zuvor. Er lief hin zum gedeckten Tisch und ergriff eine
gebratene Pute.
„Nun lasst uns alle die Mahlzeit geniessen und die wohlverdiente Stärkung zu
uns nehmen“, lenkte Parwaa die Situation ab, „die Botschaft des Königs
werde ich euch morgen in aller Ruhe mitteilen“. Parwaa hob die knusprige
Pute in seiner Hand hoch und begann schmatzend und mampfend das Gelage,
auf das sich sogleich die ganze Indianerschar wild drauflosstürzte. Den
Indianern war es recht, wenn Parwaa die Botschaft des Königs erst morgen
mitteilen würde, denn es war selten, dass eine Botschaft des Königs nach
Uwattibi kam und wenn Parwaa diese erst morgen erzählte, so konnten sie
alle noch einen ganzen Abend lang gespannt rätseln, was wohl die Botschaft
sein könnte.
Für die holden Frauen der Gesandtschaft war eigens ein Bambustisch
gedeckt. Sirapi ass nicht von Hand. Das wäre ihrer unwürdig. Nein, sie ass
aus einem Teller, als einzige Anwesende sogar mit Messer und Gabel, wie sie
es in ihrer noblen Art von den Portugiesen gelernt hatte. „Eine Dame von
Welt“, staunte ein Indianer neben Emilia. Iakunae kicherte: „Das ist aber
eine hochpolierte Frau, so richtig ein süsses Beerchen“. „Ja“, lacht Emilia,
„Iakunae, willst du nicht mit dem magischen Spiegel deinen Urzeiten Mann
wieder herzauber wie das letzte Mal? Der könnte sich doch neben Sirapi
setzen. Dann hätte sie einen würdigen Begleiter“. Die Indianer ringsum
hatten diesen Spruch gehört und lachten vergnügt. Sirapi, in ihrer
hellhörigen Art, hatte dies alles wohl bemerkt. Strafend schaute sie kurz
hinüber zu Emilia. Sogleich drehte Sirapi aber ihren Kopf und liess sich
nichts anmerken. „Doofes Kind“, sagte sie zur Frau neben ihr, „schlecht
erzogen, keine Manieren gegenüber der Gesandtschaft des Königs“.
„Mh, fein die gebratene Pute“, schwärmte Emilia und drehte sich auf der
Holzbank, denn sie wollte die überschöne Sirapi weiter auch nicht mehr
anschauen müssen. „Ja, ganz genüsslich“, lächelte Iakunae und drehte sich
ebenfalls, „die Gesandten des Königs sollen nur öfters mit ihren Tussis
vorbeikommen, dann gibts noch mehr so Festessen“. „Ah“, entsetzte sich
Sirapi erneut und warf einen strafenden, vorwurfsvollen Blick zu den
Mädchen. Doch strafen konnte sie sie nicht mehr mit ihrem Blick, denn
Emilia und Iakunae schauten inzwischen auf die andere Seite.
Zufrieden genossen die Indianer die lecker gebratenen Puten. Nur ein Mann
mochte keine Pute essen, nämlich Paygi. Er hatte sich etwas abseits
hingesetzt und knabberte an den Geräten eines aufgespiessten, grillierten
Fisches. Iakuane schubste Emilia am Arm und zeigt auf Paygi. „He Paygi, was
ist denn los mit dir?“, rief Iakunae laut, „bist du auf Diät umgestiegen, dass
du keine gebratenen Puten isst?“. Paygi war die Frage peinlich, denn jetzt
hatten sich die meisten Indianer zu ihm gedreht und staunten ob seiner
Spezialmahlzeit. „Ja was ist denn mit dir los?“, fragte Avanene
kopfschüttelnd, „sag mal Paygi, warum isst du keine Pute sondern nur Fisch?“.
„Aeh, ä“, stammelte Paygi verlegen, „weißt du, Fisch ist doch viel gesünder“.
Avanene kratzte sich am Kopf, denn so eine Antwort hätte er von Paygi nie
und nimmer erwartet. „Paygi und auf die Gesundheit achten?“, rätselte er vor
sich hin. Während die meisten Indianer veständnislos den Kopf schüttelten,
lachten Emilia und Iakunae lauthals. „Was ist denn daran so lustig?“, wollte
Avenene von den Mädchen wissen. Doch die zwei schwiegen und gaben keine
Auskunft. Sie sagten nicht, was sie von Paygi und seinem Versuch, mit dem
gestohlenen magischen Spiegel Puten hinzuzaubern wussten. Paygi vor allen
Indianern blossstellen, das wollten sie ihm nun auch nicht antun.
Ein lustiges Fest begann. Bei Süssigkeiten und feinen Getränken tanzten,
sangen und trommelten die Indianer bis weit in die Nacht hinein. Es war
üblich, dass an so einem Fest die Kinder schlafen gehen durften, wann sie
wollen. So nach und nach verschwand dann eins ums andere in die
Hängematte und zu guter letzt schlief das ganze Dorf gemütlich bis weit in
den Nachmittag des nächsten Tages hinein.
9-2
Am späten Nachmittag des nächsten Tages, wie die Sonne schon weit über
die Höhe des Mittags gewandert war, wurde es im Indianerdorf angenehm
kühl. Die Kinder spielten schon eine Weile auf dem Dorfplatz. Dort wurde ein
hoher Thron aufgestellt, mitten im Dorf Uwattibi, ein Thron, schöner wie
der von Häuptling Avanene und schöner wie der von Priester Paygi. Der
Gesandte des Königs sollte nicht einfach vor die Leute stehen und die
wichtige Botschaft ausplappern. Nein, so etwas musste andächtig und
würdevoll geschehen, und das war nur möglich, wenn der Gesandte des Königs
höher sass wie der Rest des Volkes, auf einem Thron, geziert mit den
schönsten Blumen und buntesten Federn. Vorerst aber hatte es sich noch
Ojang Utan auf dem hohen Thron bequem gemacht. Auf seinem Kopf trug er
ein Band bunter Federn. Erhaben sass er so als kleiner König auf dem hohen
Stuhl. Einige Mädchen hatten sich geschminkt und spielen hübsche Tussies.
So verging für die Kinder die Zeit des Wartens im nu. „So du kleiner König“,
mahnte Häuptling Avanene den kleinen Ojang Utan, „es ist Zeit, dass du auf
dem Thron für jemand anders Platz machst“. Tatsächlich, Parwaa erschien
mit seiner Begleitschaft vor der Strohhütte, in der sie sich alle des Nachts
erholt hatten.
„Nein, Ojang Utan Tönig, Ojang Utan Thlon bleiben“, widersprach der kleine.
„Ach nein“, seufzte Avanene und blies kräftig die Luft aus seinem Mund, „das
hat mir jetzt gerade noch gefehlt“. Er wusste wie schwierig es ist, den
Lausbub Ojang Utan zu etwas zu bewegen, wenn dieser nicht wollte. „Komm
doch jetzt runter“, bat Avanene, „Parwaa wird jeden Moment hier sein und
wir haben den Thron für ihn gemacht und nicht nur für die Kinder zum
Spielen“. „Palwaa geben Gesenkli, sonst Ojang Utan nicht gehen“. Avanene
kratzte sich am Kopf. „Scheint ja heute ein ganz schwieriger Fall zu sein,
unser kleiner Lausbub“, sprach er mit einem schrägen Lächeln zu den
Mädchen, die für Ojang Utan hübsche Tussis spielten. Doch eines der
Mädchen flüsterte Avanene etwas ins Ohr. Avanene nickte und sprach zu
dem Mädchen: „Ja, ja, natürlich dürft ihr. Ihr habt so lieb geholfen und ich
hatte es euch ja gestern schon versprochen“. „Was? was?“, fragte Ojang
Utan neugierig, „König wollen wissen“. „Ja, ja, du wirst es gleich sehen, du
kleiner Lausbuben-König“, antwortete Avanene. Die Mädchen verschwanden
in Avanenes Strohhütte und kehrten einen Moment später mit einer Schale
Honigbonbons zurück. „Honigbonbons für Kinder und Könige“, rief eines der
Mädchen, „für alle Kinder, die beim Thron aufstellen geholfen haben, kommt
und schleckt mit uns“. „Oh, oh“, staunte Ojang Utan und es dauerte keine
Sekunde, bis er vom Thron hinuntergestiegen war und den Mädchen
hinterherhumpelte. „Siehst du, Ojang Utan?“, sprach keck eines der
Mädchen, „es sind nicht immer nur die Könige, die bestimmen wos lang geht.
Oft haben die hübschen Tussis mehr zu sagen wie der König selbst“. Avanene
schüttelte den Kopf. „Nur allzu recht hast du“, staunte er ob den Worten
des Mädchens.
Parwaa liess sich Zeit, auf den Thron zu steigen und seine Botschaft zu
verkünden. Eine ganze Weile unterhielt er sich mit den hübschen Frauen
seiner Begleitschaft. Ganz zum Vergnügen der Indianer von Uwattibi.
Mehrmals ergriff Parwaa Sirapis fein gekämmtes, blondiertes Haar und
führte es an seine Nase. „Verführerisch, dein neues Duftwasser“, schwärmte
Parwaa, „Sirapi, du bist heute einfach umwerfend schön“. „Ja ich weiss, ich
weiss“, gab Sirapi in hohem Ton an, „Das Duftwasser habe ich vom Prinzen
Konyan Bebe höchstpersönlich geschenkt bekommen. Er hat es von den
Franzosen in Rio de Jenero gegen Pfeffer eingetauscht. Dazu dieses seidene
Haarband, ‚Neuste Pariser Mode’, sagen sie dem auf der anderen Seite des
Grossen Wassers“. „Oh“, ging ein Staunen durch die Reihen der anwesenden
Frauen. „Konyan Bebe hat es liebend gerne, wenn ich so richtig fein nach
Adel rieche. Dann kann er meiner Schönheit nicht widerstehen“, erklärte
Sirapi weiter, „kommt her ihr Indianerfrauen, ich gebe euch gerne einen
Tropfen Riechwasser auf eure Hand“. Das musste Sirapi keine zwei mal
sagen. Sogleich streckten ihr ein gutes dutzend junger Frauen ihre Hand
entgegen. Sirapi genoss es im Mittelpunkt der Frauen zu stehen und auf
grosszügige Weise jeder Frau einen Tropfen des geheimnisvollen Wassers
auf die Hand zu geben. „Mhhh, fein“, schwärmten die jungen Frauen des
Dorfes. Sie liefen mit ihren Händen zu den Indianermännern und gaben ihnen
auch was zum Riechen. „Uhh, wha, wha“, hustete Avanene, wie er an der Hand
einer Frau roch und meinte, „dann habe ich es doch lieber, wenn es nach fein
Grilliertem riecht“. So hielt sich die Begeisterung bei den Indianermännern
zumeist in Grenzen. Doch auch sie staunten über all das neue, das die
Botschafter des Königs mit sich brachten, über all die fremden Sachen, die
sie in ihrem Indianerleben noch nie zuvor gesehen hatten.
Häuptling Avanene schritt mit Parwaa hin zum Thron. Dicht dahinter folgten
die schönen Tussis, begleitet von einem Schwarm kichernder Indianerfrauen.
„Habt dank für den schönen Stuhl“, schmeichelte Parwaa den Indianern, „so
macht es natürlich doppelt Spass, euch die Botschaft des Königs zu
überreichen. Und ich bin sicher, ihr werdet euch über diese Botschaft
freuen“. So stieg Parwaa auf den Thron. Links und rechts von ihm begaben
sich seine zwei düster geschminkten Berater auf ihre tiefer gestellten
Stühle. Eine Weile diskutierten die drei und liessen sich Zeit. Doch dann
wurde es still auf der Bühne und es wurde still unter den Indianern. Parwaa
erhob seine Hände.
Parwaa hob das Zepter und schlug wuchtig einige male auf den Holzboden
neben dem Thron. „Liebe Indianer - - Liebe Indianer ihr wisst ja .. “, fuhr er
mit seiner Ansprache fort, „Konyan Bebe ist ein junger Mann, in den besten
Jahren, stark und bildhübsch. Die Frauen sagen, er sei das hübscheste
Mannsbild im ganzen Indianerland“. Bei diesen bewegenden Worten Parwaas
hob Sirapi sanft ihren Kopf, spitzte ihren knallrot geschminkten Mund und
küsste zärtlich und fein in die Luft. „Ahh, der schönste, der stärkste“,
stöhnte sie leidenschaftlich zu den Frauen neben ihr, deren neidige Blicke
ihr nun sicher waren. „Kennst du ihn gut?“, fragte ein junges Mädchen.
Sirapi, über diese Frage innerlich höchst erfreut, schluchzte mit weinender
Stimme: „Er ist sozusagen mein bester Freund. Oh, es ist traumhaft, in
seinen starken Armen zu liegen und seiner warmen Stimme zu lauschen“.
„Oh“, staunten die jungen Frauen um Sirapi. Nur von Parwaa fing Sirapi einen
bösen Blick ein. „Mhh“, knurrte er von oben herab.
Erneut war es Parwaa einmal mehr nicht mehr möglich wie geplant seine Rede
zu halten. Jetzt brach die Diskussion und das Gekreische unter den Frauen
los, und das war nochmals eine gewaltige Runde lauter wie vorhin, als
vorwiegend die Männer drein geredet hatten. „Mich, mich“, schrieen einige
Frauen, teils ernst gemeint, teils nur zum Spass, und rückten ihre Haare
zurecht sogut es ging. „Hast du mir noch etwas vom feinen Duftwasser,
Sirapi?“, fragte lachend eine alte Indianerfrau, die sich spasseshalber auch
noch gewisse Aussichten erhoffte. „Wir sollten einen Schönheitswettbewerb
veranstalten“, meinte ein junges Mädchen, „und die schönste geben wir dann
dem Prinzen“. „Nein die schönste bin sowieso ich“, ereiferte sich wieder eine
andere, „ich möchte Königin werden“. So ging das eine ganze Weile, ohne dass
Parwaa weiter reden konnte.
„Es ist dem König ... !!!“, versuchte Parwaa die Menge zu übertönen, „es ist
dem König und den Prinzen ein besonderes Anliegen !!“. Und jetzt wurde es
augenblicklich still, denn die Neugier der Indianer war letztlich doch stärker
wie ihr Schwatzdrang. „Hm, hm“, freute sich Parwaa über die eingekehrte
Stille, “es ist dem König und dem Prinzen ein besonderes Anliegen eine
passende Person auszuwählen. Und das ist gar nicht so einfach. Wie ihr alle
mehr wie euch vielleicht beliebt, festgestellt habt, hat sich unser
Indianerleben in den letzten Jahren grundlegend verändert. Fremde
Menschen sind in unser Land eingedrungen, von weit her, von der anderen
Seite des Grossen Wassers und haben uns einen Teil unserer Welt
weggenommen. Teils gab es Kriege mit den Eindringlingen, zum Teil aber
konnten wir uns gegenseitig in Freundschaft finden. Die Fremden Leute
haben uns einiges genommen. Sie haben uns aber auch viel gebracht. In
einigen Dörfern werdet ihr heute schon ‚Messer’ finden. Und das ist etwas
ganz gutes. Während ihr Indianer in Uwattibi eure Jagdbeute wie unsere
Vorfahren noch mit scharfen Steinen mühsam zerreist, haben wir in unserem
Dorf Iteronne bereits ein sogenanntes ‚Messer’. Mit dem können wir
schneiden und haben unsere Jagdbeute im nu zerlegt. Schaut her, ich zeige
euch eines“. Parwaa griff in seine Umhängetasche und nahm ein rostiges
Eisen mit einem Holzgriff hervor. „Ahhh“, machte ein lautes Staunen die
Runde. „Seht ihr“, erklärte Parwaa, „das Eisen ist so scharf, damit kann ich
ein Fleischstück in Nu durchtrennen“. „ohhh, iiii“, staunten die Indianer. Mit
ernster Mine fuhr Parwaa mit seiner Rede fort. „Um all diesen rasanten
Veränderungen gerecht zu werden, wünscht sich Konyan Bebe auch eine
fortschrittliche, schöne und junge Frau. Eine Frau die in sich genug Würde
trägt um einen gewissen Respekt gegenüber den Eindringlingen in unser Land
auszustrahlen. Respekt, aber auch Freundschaft, das sollte die oberste Frau
in unserem Land den Fremden Leuten zeigen können. Wir brauchen eine
moderne, fortschrittliche Frau“. Erneut gab es laute Zwischenrufe in allen
Reihen der Indianer.
Alle redeten, doch Sirapi schwieg. Ueberlegen streckte sie ihr Gesicht in die
Höhe, schmiss sich nochmals eine deftige Portion Duftwasser um den Kopf,
zückte einen portugiesischen Fächer aus ihrer Tasche und verteilte mit
raschem, vornehmen Flattern den feinen, fremden Duft auf dem ganzen
Dorfplatz. „Sirapi, Sirapi“, flüsterten die alten Indianer in den hinteren
Reihen, „ja Sirapi ist fortschrittlich und modern. Und dazu noch so schön“,
murmelten sie.
„Eine moderne, fortschrittliche Frau“, fuhr Parwaa fort, „eine Frau, die das
Neue verkörpert“. „Ahh“, stöhnte Sirapi überlegen und schaute Parwaa mit
einem schrägen Blick von unten an. Doch Parwaa blickte nicht hin zu Sirpai.
Nein, er sprach weiter: „Am liebsten wäre dem Prinzen eine Frau, die sogar
fremdes Blut in sich trägt“. Ein lautes, entsetzliches Raunen ging durch die
Runde. Sirapi verzog ein fragendes Gesicht und verstand die Welt nicht
mehr. „hmmm?“, murmelte sie, „fremdes Blut? Was soll das? Davon hat er
mir nie was erzählt...“. Doch Parwaa sprach weiter: „fremdes Blut,
portugiesisches Blut. Am liebsten wäre dem Prinzen eine Frau, halb
Indianerin, halb Portugiesin. Wenn ihr eine solche junge Frau habt in eurem
Dorf, mit einem Elternteil Indianer und dem anderen Elternteil
portugiesisch, dann hat sie die allergrössten Chancen, die auserwählte zu
werden“. Sirapi fielen fast die Augen zum Kopf raus, wie sie dies hörte, denn
auch sie, die sonst immer alles zuerst wusste, hörte dies zum ersten mal. Sie
öffnete ihren Mund und brachte ihn nicht wieder zu. So überrascht war sie
von Parwaas Worten.
Urplötzlich waren die Augen aller auf Emilia gerichtet. Emilia fuhr es eiskalt
den Rücken hinunter. Emilia wusste, dass sie das einzige Mischlingsmädchen
im ganzen Lande war, das bei den Indianern lebte und nicht in den
portugiesischen Siedlungen. Wie sie so dasass und nichts zu sagen wagte,
wurde ihr auch klar, wieso Parwaa sie gestern so überdeutlich als ‚fremdes
Kind mit portugalesischer Spraach’ bezeichnte hatte. Erschrocken schaute
sie um sich und zitterte am ganzen Körper. Aber Emilia brachte kein Wort
über ihre Lippen. Sie stand auf und rannte fort in die Materialhütte. Eilends
folgte ihr Iakunae hinterher. Verdattert guckte Parwaa auf die
verschwindende Emilia, doch dann klatschte leise in seine Hände. „Ach das
liebevolle, einfache Mädchen“, freute er sich mit rührender Stimme, „kann in
ihrer Bescheidenheit ihr Glück noch gar nicht fassen“.
Sirapi aber verzog eine saure Mine. „Dieser Schuft“, entsetzte sie sich,
„dieser Schuft von Konyan Bebe, Dabei hat er sich mir versprochen, dieser
unflätige Schuft“. Wild stampfte sie mit ihrem rechten hochhackigen
Stöcklischuh auf den Boden. Sie stampfte so fest, dass sich der hohe spitze
Absatz des Schuhes im weichen Lehmboden tief eingrub. „Rhhhhggghhh“,
ärgerte sie sich, denn sie konnte ihren Schuh nicht mehr rausziehen. Mit
beiden Händen versuchte sie ihr festsitzendes Bein zu befreien. Dabei fiel
sie aber nach vorne und zu allem Unglück ging ihr feines Gesichtchen auch
noch in einer braunen, schlammigen Pfütze baden – soo schrecklich. „Bääääh“,
schrie Sirapi, „bääääh“. Erst wie ihr zwei junge Indianermänner zu hilfe
eilten, gelang es, Sirapis eingeklemmtes Füsschen zu befreien.
Emilia lag in der Materialhütte weinend auf Panymas Knieen. „Ich will doch
das gar nicht“, schluchzte sie, “ich will doch gar nicht Königin werden und ich
will nicht die mächtigste Frau sein“. „Ist ja schon gut meine liebe Emilia“,
tröstete Panyma ihre Zauberschülerin. Iakunae kniete daneben und hielt eine
Hand auf Emilias Schulter. Inzwischen hatten auch Häuptling Avanene und
Silvia die Materialhütte betreten. Avanene schaute mit sorgenvoller Mine
auf Emilia hinunter.
Emilia weinte weiter: „ich möchte den Mann meines Herzens heiraten, der
Mann, mit dem ich am besten auskomme, mit dem ich am meisten
unternehmen kann. Mein Liebster, bei dem ich mich rundum wohl fühle, mit
dem ich stundenlang träumen kann und mit dem ich all das schöne auf dieser
Welt gemeinsam erleben kann. So wie Kevin und Kwarahi, die immer
zusammen sind und die glücklichsten Freuden miteinander teilen, die
untereinander die besten Freunde sind, so will ich das auch“. „Oh meine liebe
Tochter“, tröstete Silvia ihr Kind, „du und Königin? Das kann ich mir auch
nicht vorstellen“. „Ja“, rümpfte Emilia die Nase, um eine Träne hochzuziehen
„in einem grossen Reich, wo alle Leute dreinreden und um ihre Macht
kämpfen, gefällt es mir nicht. Da kann einer noch so hübsch sein, und noch so
mächtig oder reich“. Emilia schwieg einen Augenblick. Silvia hielt ihren Arm
um Emilia und streichte durch ihr Haar. So sprach Emilia weiter: „In meiner
eigenen kleinen Welt, die ich mit meinen liebsten Menschen zusammen selber
einrichte, will ich glücklich sein. Ich will zusammen mit einem lieben Mann
leben, bei dem ich mich in dunkler kalter Nacht warm einkuschlen kann und
mit dem zusammen, so Gott will, uns viele viele viele Kinder geschenkt
werden. So will ich leben und nicht als mächtigste Frau eines Königs, der sich
ein ganzes Harem an Frauen hält“.
„Hab keine Angst Emilia“, sprach Panyma zu Emilia, „du bist meine
Zauberschülerin und die Zauberschülerin des alten Schamanen. Bevor du so
etwas tun musst, werden wir all unsere Kräfte für dich einsetzen. Siehst du
das Amulett, das du um deinen Hals trägst? Das Amulett, das dir der alte
Schamane einmal geschenkt hat? Die Gesetze des Urwaldzaubers lassen es
nie und nimmer zu, dass jemand, der dieses Amulett trägt, gegen seinen
Willen an irgendjemand vergeben wird. Hab Mut Emilia, so etwas kann bei
allem Zauber des Urwaldes gar nicht geschehen“.
„Ich werde mal mit Parwaa sprechen“, erklärte sich Avanene bereit, „da muss
sich doch was machen lassen“. „Meint ihr?“, fragte Emilia erleichtert. „Ja“,
erklärte Avanene, „ganz bestimmt“. Avanene nickte zuversichtlich. Dann,
nach einer kurzen Pause, sprach er aber erneut zu Emila: „Doch du könntest
uns allen einen grossen Gefallen tun. Es ist Sitte, dass jetzt die schönsten
Frauen des Dorfes geschmückt werden und dem Stellvertreter des Königs
präsentiert werden, sodass dieser dem König erzählen kann, wie besonders
schön die Frauen in unserem Dorf sind. Emilia, bitte mach doch da mit, denn
sonst wird Parwaa beleidigt sein. Aber du kannst beruhigt sein. Es ist selten
der Fall, dass später der König eine von diesen Frauen auswählt. Meistens
kommt es dann doch ganz anders“.
Iakunae verzog einen spitzen Küssemund in ihrem Gesicht. „Oh komm Emilia,
denen zeigen wir es mal gehörig“, heitzte Iakunae ihre Freundin an,
„verkleiden, schminken und sich schön machen ist doch so lustig“. Begeistert
hüpfte Iakunae im Kreis herum. „Komm wir machen eine super schöne Emilia
aus dir“, freute sich Iakunae, „tausend mal schöner wie diese doofe Sirapi, hi
hi hi“. Und schon begannen die zwei Mädchen zu fantasieren, welches Kostüm
und welcher Schmuck wohl am passendsten wären. „Oh ja“, kam langsam auch
Emilia ins Schwärmen, „komm Iakunae, jetzt verkleiden wir zwei uns mal ganz
9-3
„Avara, Avara“, rief Emilia in den leuchtenden magischen Spiegel, doch nichts
tat sich. „Panyma, meinst du er hört uns?“, fragte Iakunae. Panyma kniete am
Boden und hielt die geöffneten flachen Hände an ihre Stirne. „Ja ich glaube
schon“, antwortete Panyma zögernd, „so wie ich es fühlen kann, sitzt er jetzt
in der Zukunft vor seinem Bildschirm Zauberspiegel. Aber der empfang ist
nicht gut. Emilia, gib acht, wenn ich etwas vom Zauberpfefferkraut über die
Glut schiebe um den Empfang schärfer zu machen, so musst du schnell
handeln. Ich habe nicht mehr viel Zauberpfefferkraut. Es ist mein aller-
aller-letztes, mehr war im Urwald nicht zu finden. Die Verbindung wird nur
kurz dauern“.
„Hallo, Indianer“, rief auch schon Avara durch Emilias Zauberspiegel, „schön
von euch zu hören. Bei uns ist heute Carneval. Vor meinem Haus spielen sie
den Nüsslertanz. könnt ihr das hören?“. Leise Rhythmen klangen durch die
magische Silberscheibe. „Oh ja“, schwärmte Emilia, „schön, ich kann es
hören. Das tönt ja fast gleich, wie die Trommler in Porto auch gespielt
haben“. „So ist es“, freute esich Avara, „Carneval ist eine Tradition bei uns,
die über all die Jahrhunderte fast gleich geblieben ist. Ausser was alles neu
dazukam. Du solltest das einmal sehen Emilia. Emilia, was meinst du? Kannst
du nicht mal durch den Spiegel zu mir kommen?“. Panyma schüttelte den
Kopf. „Nicht jetzt“, wandte Panyma energisch ein und winkte Emilia mit der
Hand ab, „wir wissen ja nicht einmal ob das überhaupt möglich ist. Vielleicht
später einmal. Mach vorwärts, es eilt“.
„Avara, kannst du mir nicht eine schöne Halskette aus deiner Zeit
ausleihen?“, bat Emilia, „du mussst aber schnell machen. Ich kann nicht lange
mit dir reden. Nimm was du gerade hast. Mach schnell, bitte“. Das brachte
Avara auf eine Idee, denn er war gerade damit beschäftigt, mit seinem
Mp3Player, den er um seinen Hals trug, Musik zu hören. „Ja Emilia ich hab dir
was“, sprach Avara begeistert, „es ist sogar ein kleines Perpetuum Mobile,
wie du dem sagen würdest, und du wolltest ja schon lange mal eines aus
meiner Zeit sehen. Es kann gesprochene Töne aufnehmen und dann wieder
abspielen. Wenn du den roten Knopf drückst, so kannst du drein reden und
wenn du anschliessend den silbrigen Knopf dückst, so kannst du die zwei
kleinen schwarzen Perlen in deine Ohren nehmen und du wirst die
aufgenommenen Töne wieder hören“. Emilia riss Mund und Augen auf. „Boah
was?“, staunte sie, „das glaube ich nicht. Das gibt’s doch gar nicht“. Aber
schon stiegen die eigenartigsten Schnüre, Bänder und das fremdeste
Glitzerding, das Emilia in ihrem ganzen Leben jemals gesehen hatte, aus dem
magischen Spiegel empor. „Ich bin froh, wenn du mir es zurückgeben kannst“,
hörte Emilia Avaras Stimme,“das Ding kostet nämlich viel. Versuch doch ein
paar Töne aus deiner Welt aufzunehmen und mir später zurückzuschicken“.
„Ja werde ich machen“, antwortete Emilia begeistert.
„Kosten hat er gesagt? “, fragte Iakunae in ihrer neugierigen Art, „ Habe ich
das richtig gehört? Was meint er mit ‚kosten’? Meint er ich soll von dem
Ding da kosten?“. „Hm“, stöhnte Emilia, „ich erklärs dir später einmal“.
Iakunae, das neugierige Mädchen hatte es gar nicht gerne, wenn ihr jemand
etwas erst später erklären wollte und nicht sogleich. „Kosten?“, fragte sie
nochmals, „Kosten tue ich doch sonst von der feinen Suppe die meine Mami
kocht“. Und schon hielt Iakunae den Mp3player in ihrer Hand und leckte ihn
mit ihrer Zunge ab. „Bääh“, entsetzte sich Iakunae, „schmeckt aber gar nicht
gut“. „Doch nicht so kosten“, lachte Emilia, „kosten ist halt, wenn man für
etwas Geld zahlen muss“. „Ahh?“, staunte Iakunae mit Zweifel in ihrem
Gesicht, denn Emilas Worte konnte sie nicht so ganz verstehen. Als junges
Indianermädchen war sie zeit ihres Lebens nie weit über ihr Indianerdorf
hinausgekommen und wusste natürlich nichts davon, wie die Güter in der
fernen Welt, auf der anderen Seite des Grossen Wassers gehandelt wurden.
Iakunae stand auf und ging ein paar Schritte. Sie verzog ein ausgesprochen
trauriges Gesicht. „Ich will auch etwas“, sprach sie enttäuscht vor sich hin,
„will auch etwas“. Doch Panyma und Emilia hörten ihr nicht zu. Gespannt
folgten sie den Anweisungen Avaras, wie das fremde Ding zu bedienen sei.
Emilia kam aus dem Staunen nicht heraus und Panyma schüttelte ungläubig
den Kopf über den Erfindungen aus der Welt Avaras.
Iakunae war traurig, dass nur Emilia etwas von Avara bekommen hatte und
sie nicht. „Möchte auch etwas“, murmelte Iakunae nochmals mit verzogener,
trauriger Grimasse. Doch Emilia und Panyma blickten nur ganz kurz zu ihr,
ohne sich mit Iakunae im geringsten abzugeben. Sie hielten ungeduldig den
Finger vor den Mund um Iakunae ein Zeichen zu geben gaben Iakunae, sie soll
jetzt ruhig sein und unterhielten sich weiter mit Avara. Iakunae gefiel es
gar nicht, dass niemand ihr antwortete. Da sah sie vor sich eine kleine
Schaukel, die an zwei Seilen am obersten Balken der Materialhütte befestigt
war. Iakunae wusste genau, dass Emilia es gar nicht leiden konnte, wenn sie
während dem Zaubern da drauf ging. Aber jetzt, wo sie traurig war, weil sie
nichts bekommen hatte, war es ihr grad recht, wenn sie die anderen ein
wenig ärgern konnte.
„Hör doch endlich auf zu schaukeln“, bat Emilia, „du weisst genau, dass
Kiripitti die Schaukel nur für die Babies und die ganz kleinen Kinder gemacht
hat. Nicht für so grosse Mädchen wie du. Wenn er dich sieht,kannst du was
erleben“. Doch Iakunae zeigte sich unbeeindruckt. „Tä dä dä dä“, motzte sie
und gab noch höher an.
Am schönsten war das Schaukeln doch, wenn die Füsse oben den Stoh des
Daches berührten. So konnte sich Iakunae zusätzlich abstossen und grad
noch etwas Stroh auf die anderen runterfallen lassen. „ätsch, Hi hi hi hi“,
kicherte sie vor sich hin. Das gefiel ihr. Emilia schüttelte den Kopf und
mochte nichts mehr sagen . Doch Panyma lächelte bloss ein wenig. Sie liess
sich von sowas nicht stören und hatte ihre Freude an der lebhaften Iakunae.
„Mach mit Avara vorwärts“, drängte Panyma, „das Pfefferkraut reicht nur
noch ganz kurze Zeit, dann habe ich keines mehr, mein allerletztes“.
Höher und höcher schaukelte Iakunae, so dass sie jedes mal voll in den Stroh
des Daches knallte. Die Schaukel quitschte und zischte und langsam
verdrehte es ihr die Schnüre. Emilia hatte da schon recht, als sie zu Iakunae
sagte, dass die Schaukel nur für ganz kleine Kinder gedacht sei. Doch
Iakunae kümmerte dies nichts und sie schaukelte weiter so hoch sie konnte.
Wenn sie die Beine vorne beim hochkommen fest anzog, dann konnte sie sich
nämlich am Dach so kräftig abstossen, dass beim Zurückschaukeln ihr Rücken
auf der anderen Seite weich im Stoh aufsetzte. Zwei, drei mal ging das auch
gut so, doch dann, „Kraaatsch“, riss das Seil am Sitzbalken der Schaukel und
Iakunae kam durch die Lüfte geflogen. „IIIIhhhh, Hilfe“, schrie das
fliegende Mädchen. Emilia erschrak, denn ihre Freundin kam direkt auf sie zu
geflogen. Blitzschnell hielt sie sich zum Schutz beide Arme vors Gesicht,
schloss die Augen und zog im letzten Moment kräftig den Kopf ein.
Eine ganze Weile sass Emilia so da, doch von Iakunaes aufprallen hörte sie
nichts – nicht das geringste - totenstill war es geblieben. Langsam öffnete
Emilia ihre Augen und blickte zu Panyma rüber. „Wo... wo ist sie?“, fragte
Emilia sichtlich verwirrt, „wo ist sie?“. Panyma aber brachte vorerst kein
Wort mehr über die Lippen. Mit weit geöffneten Augen zeigte sie mit dem
Zeigefinger auf den magischen Spiegel. „Da, da, da hindurch“, stammelte
Panyma flüsternd zu Emilia.
„Hilfe, hilfe, wäääh“, hörten Panyma und Emilia schliesslich Iakunae durch
den magischen Spiegel schreien. „Iakunae, wo bist du?“, fragte Panyma
besorgt. „In eine Hängematte gefallen“, kam verdattert die Antwort zurück,
„ich habe gar nicht gewusst, dass da hinter euch in der Materialhütte eine
Hängematte aufgespannt ist“. „Da ist auch keine Hängematte aufgespannt“,
antwortete Panyma, „und du bist auch nicht mehr bei uns. Du bist in den
magischen Spiegel gestürzt. Wo bist du denn jetzt, Iakunae?“. Einen Moment
lang blieb es still, dann kam die panische Antwort. „Ja, - Hilfe„, schrie
Iakunae entsetzt,“ ja, da sieht alles ganz anders aus hier. Hilfe, wo bin ich?
Panyma, ich hab Angst, ich will zurück, ich will zurück, ich will zurück“. „Zu
spät, bleib wo du bist“, befahl Panyma energisch, „das Pfefferkraut ist zu
ende. Absolut das allerletzte ist über der Glut. Wenn du nicht mehr
durchkommst und in der Mitte stecken bleibst, bist du für immer in der
unendlichen Ewigkeit der Zeit verloren. - Avara kannst du mich hören?“. „Ja“,
kam sofort Avaras Stimme zurück, „und da liegt ein kleines, fremdes
Indianermädchen neben mir in der Hängematte“. „Ah“, stammelte Emilia und
schüttelte verzweifelt den Kopf. „Krtschtschtsch“, kroste es noch kurz im
magischen Spiegel, dann verlor er sein Licht und der Empfang war zu Ende.
9-4
Am Eingang zur Hütte, in der die Gesandten des Königs zu Gast waren, stand
eine elegante junge Frau. „Wer kommt denn da?“, erschrak Silvia, „was ist
denn das für ein hochgetakeltes Weibsbild?“. „Sirapi“, staunte Emilia. Sirapi
trug ein kurzes, zartrosa kleid, das ihr nur ganz knapp unter die Hüfte fiel.
Ihre dünnen Beine waren in freche Gitterstrümpfe gehüllt, verführerisch
sexy. „Ahh“, stöhnte sie leidenschaftlich, „welch schönes Fest“. Auf noble
Weise blies sie sich mit einem blauen Fächer ihr zärtlich blondiertes Haar
aus dem Gesicht. „Oh, wie schön von euch Indianermännern uns so liebevoll
zu erwarten“, grüsste sie die Dorfgemeinschaft mit einem Zwinckern in ihren
violetten Lidschatten, „ihr jungen Männer seht aber auch ganz verlockend
aus, Kompliment, Kompliment“. Ihre Lippen hatte Sirapi knallrot geschminkt,
dazu das passende Püderchen fürs Gesicht sowie rougierte Wangen,
Lidschatten und künstliche Wimpern. Und natürlich durfen lange, rote
Fingernägel nicht fehlen, sowie hohe Hakenschuhe und unzählige
Schmuckketten.
„Oh schön“, staunten die Männer des Dorfes. Die einen von ihnen staunten,
weil sie Sirapi wirklich schön fanden, die anderen, um Sirapi in ihrem Gehabe
zusätzlich zu provozieren. „wi u wiiii“, pfiffen ihr die Männer nach, sichtlich
erfreut ob dem seltenen Anblick.
Langsam, andächtig und mit liebevollem Blick setzt sich Sirapi vor den
Männern auf die eigens nur für sie hergebrachte Holzbank. „Echt rührend
von euch“, lobte sie die Männer, die sie so sehr bedienten. Mit glücklichem
Lächeln streckte sie ihre beiden Arme aus und bewegte zärtlich ihre Hände
und klimperte mit den unzähligen Ringen an ihren Fingern. Dazu spitzte sie
ihren knallroten Mund um Anzudeuten, dass die Männer jetzt ihre Hände
küssen durften. Ungläubig staunten die Männer auf die feinen Frauenhände.
Avanene blickte skeptisch zu der besonderen Schönheit. „Feines Häutchen,
sieh an, sieh an“, stänkerte er leise, „die hat aber auch noch nicht viel
gearbeitet in ihrem Leben“. Vorsichtig, aus sicherer Distanz, hatte er in der
hintersten Männerreihe Position bezogen.
Unbeachtet von der Menge nahm Emilia auf einer Bank gegenüber Platz.
Emilia war halb portugiesisch, halb nach Indianer Art gekleidet. Die bunten
Federn und Blumen auf ihrem Kopf passten vortrefflich zum weissen
Seidenkleid. Um ihren Hals trug sie das Amulett des alten Schamanen und
darüber den Mp3player, der eingeschaltet war. „Arme Emilia“, tröstete
Panyma ihre Freundin, „alle schauen nur zur hochgeschminkten Sirapi und
dich beachtet niemand“. Doch Emilia grinste nur. „Das ist mir doch egal“,
antwortete sie, „ich bin nicht darauf angewiesen von allen begafft zu werden.
Und noch ist die Schönheitskür nicht vorüber“.
Die Trommler des Dorfes machten ihre Runde. Sie spielten ihren Ipuvae
Maracatu vor jeder der gezierten Frauen einzeln und trugen die Frau herum,
der jeweils der Rhythmus galt. Wie Emilia auf dem Dorfplatz sass und dem
Geschehen zuschaute, da plötzlich vermisste sie ihre Freundin Iakunae.
Wenn doch jetzt nur die liebe Iakunae neben ihr sitzen würde und mit ihr ein
paar lustige Sprüche wechseln könnte.... eine kleine Träne floss über Emilias
Wange hinunter und Emilia wandte sich an Panyma, die neben ihr sass. „Das
nächste mal sollten wir Iakunae auch gleich was geben, wenn ich etwas
bekomme“, erklärte Emilia, „dann kann sowas nicht wieder vorkommen“.
Panyma legte ihren Arm um Emilia. „Ja natürlich und weißt du was?“,
versuchte sie ihre Schülerin zu trösten, „sobald das Fest hier vorbei ist,
gehen wir nach dem Zauberpfefferkraut suchen. Dann wissen wir hoffentlich
schon bald wie es ihr geht. Und Avara ist ja ein lieber Mensch, da wird es ihr
hoffentlich gut gehen“. Emila nickte tapfer und versuchte ein wenig zu
lächeln.
Alle wollten Emilia und ihre geheimnisvolle Halskette bestaunen. Nur eine
Person, nämlich Sirapi, interessierte sich nicht im geringsten dafür. Sie
blickte unbeteiligt in die andere Richtung und sprach mit den wenigen
Männern, die bei ihr geblieben waren. Sirapi ignorierte Emilia und sie
ignorierte die Indianer, die um Emilia standen. „Ach dieses dumme Kind. Hat
einfach keine Manieren“, entsetzte sie sich.
„Essen, Essen ist fertig“, rief eine laute Stimme durch die Menge. Da
konnten noch so viele hübsche Frauen da sein und noch so viele
geheimnisvolle Dinge, wenn Essen angesagt war, drehten sich die Indianer
auf der Stelle und freuten sich auf die feinen Köstlichkeiten für den
hungrigen Magen. Am heutigen Festtag gab es Früchte in allen Formen und
Farben, dazu Grilladen und die feinsten Getränke. „Soll ich dir auch was
bringen?“, fragte Silvia Emilia. „Nein danke, lieb von dir“, antwortete Emilia,
„ich werde mir selber was holen. Es ist gut sich mal die Beine etwas zu
vertreten“. So stand Emilia auf und holte sich etwas. Den Mp3player liess sie
dabei für kurze Zeit auf der Bank liegen. Und das sollte verhängnisvoll sein,
wie sich schon bald zeigen wird. Während alle ihr Essen holten, schlich sich
Sirapi nämlich heimlich an und blitzschnell war das glitzrige Ding in ihre
Tasche verschwunden.
„Meine Halskette, wo ist meine Halskette?“, erschrak Emilia, die mit etwas
Essbarem in den Händen zurückkehrt, „wo ist sie? Hast du sie gesehen
Panyma?“. „Nein“, antwortete Panyma, „ich bin auch soeben erst
zurückgekehrt. Und da war sie schon nicht mehr da. Ich dachte du hättest
sie mitgenommen“. Die zwei Frauen begannen zu suchen. Ueberall suchen sie,
doch nirgends können sie die Minidisc Halskette finden. Mehr und mehr
Indianer standen bei Emilia und entsetzten sich ob dem plötzlichen
Verschwinden des Schmuckstückes, das ihnen so sehr gefallen hatte. „Wenn
du sagst, das Ding kann zaubern, dann wird es sich wohl selbst weggezaubert
haben“, gab ein Indianer zu bedenken, „sowas kann vorkommen“. „Kann schon
sein“, meinte ein anderer „zuerst ist so zeugs glitzrig, und wenn es immer
noch glitzriger und noch glitzriger wird, dann verschwindet es plötzlich“.
Emilia schüttelte verzweifelt den Kopf. Aber sie wusste, die Indianer hatten
halt ihre eigene Logik, unerklärliche Phanomene zu erklären. Die Indianer
trösteten Emilia. Doch Emilia war der Verlust nirgends recht, denn sie sollte
die Halskette ja Avara zurückgeben. Panyma versuchte Emilia zu beruhigen.
„Wir werden es Avara irgendwie erklären müssen“, meinte sie, „und wenn wir
es nicht mehr finden können, werden wir ihm halt was anderes schenken“. So
ging die Sucherei weiter. Das ganze Dorf half mit. Doch Emilias schöner
Halsschmuck blieb unauffindbar.
Dann plötzlich, „piep ... piep ... piep ... piep ... “, taucht ein fremdes Geräusch
auf, das die Indianer noch nie zuvor gehört hatten. „Ist da irgendwo ein
Kücken versteckt?“, fragte ein kleines Indianermädchen. „Komm bi bi bi,
komm bi bi bi“, rief Ojang Utan und versuchte eifrig das Kücken anzulocken.
„Nein Ojang Utan, das ist kein Kücken“, lächelte Emilia, „ein Kücken hat nicht
so eine doofe Stimme. Ein Kücken tönt ganz anders“. Die Indianer schauten
sich um. Da aus Sirapis Richtung schien das Geräusch herzukommen. „Hast du
dir etwa piepsende Unterhosen angezogen, Sirapi?“, fragte Silvia
eindringlich, denn sie hatte einen Verdacht geschöpft. „Da in der
Handtasche, hört mal“, stellte Emilia fest, „Sirapi, was hast du dort in deiner
Tasche? Zeig das mal her“. Sirapi konnte nun nicht mehr ausweichen. „Weiss
ich, was das ist, das diese Töne von sich gibt?“, sagte sie mit Unschuldsmine,
„die Tasche ist die ganze Zeit hier gelegen. Ich hab sie die ganze Zeit nie
berührt“. Bevor Sirapi den Satz fertig gesprochen hatte, zog Emilia auch
schon Avaras Mp3player aus Sirapis Tasche. Sie schaute das glitzrige Ding
genau an und erschrak. „Kapputt, jetzt ist es kaputt. Du hast es kapputt
gemacht, Sirapi“, entsetzte sich Emilia, „es geht ja gar nicht mehr und da
steht so etwas komisches drauf geschrieben - ‚battery low’, steht da drauf“.
Emilia schüttelte das eigenartige Ding und klopfte sanft drauf. „So ein
dummes Perpetuum Mobile“, seufzte sie, „das geht ja noch schlechter wie
Kimmy Klopf seins“.
Emilia gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Sie wurde wütend. „Du
doofe Tussi“, schrie Emilia Sirapi an, „du hochgetakeltes Weib. Mach doch
was du willst. Von mir aus kannst du deinen Prinzen behalten. Heirat doch
Konyan Bebe wenn du unbedingt willst. Ich will ihn nämlich nicht. Ich will
nicht die höchste Frau sein wie du, sondern glücklich und zufrieden. Aber du
weißt ja gar nicht was das ist“. „Päh, ungezogenes Kind“, entgegnete Sirapi
hochnäsig, „jetzt auch noch den hohen Prinzern beleidigen. So jemand wie
dich will der Prinz ganz bestimmt nicht. Und jetzt behauptest du noch
solchen Unsinn über mich“.
Bis zum Abend hatten die Gesandten des Königs das Dorf verlassen, denn sie
mussten dringend weiter ins Nachbardorf Mambukabe, wo sie schon
erwartet wurden. In Mambukabe werden sie mehr oder weniger das gleiche
erzählen wie in Uwattibi, und wieder werden sie aufs beste mit allen
Köstlichkeiten bedient werden.
„Ach bin ich froh ist diese Heirats Tortur vorüber“, stöhnte Emilia
erleichtert zu Panyma und Silvia, die neben ihr auf dem Dorfplatz sassen und
den schönen einnachtenden Abend genossen. Panyma und Silvia grinsten. Sie
sagen nichts, aber sie nahmen Emilia in ihre Mitte und umarmten sie.
Kapitel 10 Rückkehr nach Hause
Thiago ärgerte sich, der Aermste, nichts wie Streitereien mit seiner
Schwester. Juanita wollte ihm das schöne Murmelspiel aus Holz nicht
geben. „Du kannst mir nicht immer alles wegnehmen, wenn ich mit
etwas spiele“, versuchte Juanita zu erklären, doch ihr kleiner Bruder
verstand das nicht. „Mumel pielen, Thiago mumel pielen“, reklamierte
er, aber seine Schwester sass da, hielt das Murmelspiel fest in beiden
Händen und war vom Spiel nicht wegzubringen. „Nur noch drei
Holzstäbe, Thiago“, schwärmte sie begeistert, „dann bin ich eine Reihe
weiter. So weit bist du noch nie gekommen“.
Juanita sass auf einem Stuhl und spielte auf dem Tisch. Also wäre es
für Thiago am einfachsten, wenn er auf den Tisch hochkletterte, weil
dann könnte er seiner Schwester das Spiel wegnehmen. Doch weit
gefehlt. Kaum war Thiago auf dem Tisch oben angekommen, stand
Juanita auf, nahm den Stuhl, setzte sich zwei Meter entfernt hin und
spielte gemütlich weiter. „Jetzt, jetzt, der letzte“, kreischte Juanita,
„ich habs geschafft, juhuu“.
Thiago holte einen Stuhl und schob ihn neben seine Schwester. Doch
ein weiters mal stand Juanita bloss auf, ohne Thiago weiter
wahrzunehmen, und setzte sich rüber in den Schaukelstuhl. „Die obere
Reihe ist lässig. Buah das geht recht ab“, ereiferte sich Juanita. „Mhh,
blöde Swester“, entsetzte sich Thiago und stampfte auf den Boden.
Nun wollte er hinten auf den Schaukelstuhl steigen, denn das hatte
seine Schwester gar nicht gerne. Doch wieder stand Juanita auf, ohne
ihren Bruder zu beachten und Thiago schaukelte alleine hinten am
Stuhl. „Ich habs, ich habs geschafft, die oberste Reihe, alle weg“,
freute sich Juanita. Das riss Thiago den letzten Nerv aus. Bei einer so
blöden Schwester wollte er nicht mehr länger bleiben, sondern
fortgehen.
Er holte sich sein altes Serviertablett, mit dem er jeweils magischen
Spiegel spielte, stellte es auf den Boden vor der Veranda und machte
sich bereit, auf den Spiegel runterzuspringen. „Dumme Swestel“,
schimpfte er, „Thiago gehen folt. Avala gehen. Avala lieb, geben feine
Slecki. Tsüss, Thiago komme nicht wiedel. Nimmel wiedelsehen“.
Juanita grinste zu ihrem Bruder. Thiago sprang runter, landete auf
dem Spiegel, aber zu dumm, er verschwand nicht. „Du hast vergessen
Zauberkraut auf den Spiegel zu legen“, erinnerte ihn seine Schwester,
„und dann musst du dich auf dem magischen Spiegel zusammenkauern,
sonst geht das nicht“.
Thiago holte ein Büschel Gras und warf es auf den Spiegel. „simsala
bim, hokus bokus“, zauberte er, sprang auf den Spiegel und kauerte
sich zusammen. Juanita aber hatte inzwischen ein dickes grosses
Tischtuch in ihre Hände genommen, und das warf sie jetzt über ihren
Bruder, sodass der Kleine vollständig bedeckt dalag. „Hilfe, hilfe“,
fürchtete sich Thiago in der Dunkelheit, „wo sein, wo sein?“. Juanita
rief ihrem Bruder mit ferner Stimme: „Wo ist denn Thiago hin? Der
ist ja gar nicht mehr da“. Darauf wechselte sie die Stimme zu einer
krächzenden Männerstimme. „Hallo, hier spricht Avara“, gab sie zum
besten, „da ist ja ein Junge neben mir. Was, schon wieder jemand?
Puoh“. „hilpe, hilpe“, erschrak Thiago, „nicht wollen folt, Hilpe, hilpe“.
Blitzschnell rannte er unter dem Tuch hervor.
Emilia schaute den Kindern zu. „So schnell ist damals Iakunae nicht
zurückgekehrt. Das dauerte eine ganze Weile“, begann sie zu erzählen.
Sie suchte auf dem Pergament und las den Kindern vor.
„Dann gefällt es ihr anscheinend bei euch?“, wunderte sich Emilia. „Ja
sie hat sich gut eingelebt“, erklärte Avara, „obwohl, am Anfang war es
nicht einfach mit ihr. Zwei, dreimal mal musste ich ihr schon deutlich
erklären, was sie tun darf und was nicht. Aber dann gings gut“. Emilia
blickte mit zweifelndem Gesicht in den magischen Spiegel. „Ihr
deutlich erkären, sagst du?“, fragte sie mit skeptischer Stimme,“das
kann ich mir ja lebhaft vorstellen. Hier im Indianerdorf ist sie auf
jeden Fall bekannt als das grösste Lausemädchen weit und breit“. „Ja,
ja schon“, gab Avara zum besten, „aber ihre Erlebnisse kann sie euch
ja dann selber erzählen. Am besten ist es, wenn ihr in acht Tagen
wieder Kontakt mit uns aufnehmt. Ich werde schauen, dass sie hier
sein wird und dann kann sie auch gleich zu euch zurückkehren“. Noch
eine Weile sprachen Emilia und Panyma mit Avara, doch schon bald war
der Zauber zu ende. Emilia hatte eine riesige Freude, dass es ihrer
Freundin Iakunae in der fernen Welt so gut ging.
Draussen dunkelte langsam die Nacht ein. Idyllisch schön war dieser
Abend. Doch da plötzlich, niemand hätte es erwartet, drangen Schreie
durch den dichten Urwald ins Dorf der Indianer. „Habt ihr das
gehört?“, erschrak Avanene. Kaum hatte er die Worte zu Ende
gesprochen, rannten die ersten Indianer mit Pfeil und Bogen an den
Steckenhag um das Dorf herum, bereit, das Dorf bis aufs letzte gegen
Gefahren zu verteidigen. Immer wieder ertönten neue Rufe. „Das war
Wayganna Sprache. Weit weg im Norden reden die Indianer so. Wer
kann das nur sein?“, rätselte Avanene. „Und jetzt wieder Carios
Sprache und Karaya Sprache“, entsetzte sich Ahatukka. „Nein und
jetzt sogar noch guarani, die Sprache des Amazonas hoch oben im
Norden“, staunte Avanene und verstand die Welt nicht mehr.
So rätselten die Indianer eine Zeit lang, was für fremde Gesellen wohl
auf das Dorf zumarschiert kamen und sich einen Spass daraus
machten, in fremden Sprachen ins Dorf hinein zu schreien. Da
plötzlich stand ein junger Mann im Dorfeingang. Emilia rannte drauf
los, wie sie erkannte, wer es war. „Kevin, Kevin, Kevin“, rief Emilia
freudig, „mein lieber Bruder Kevin“.
Nach einer langen Reise durchs ganze Indianerland, nach einer Reise
die länger wie neun Monde gedauert hatte, waren die jungen Indianer
alle wohlbehalten nach Uwattibi zurückgekehrt. Lange standen Emilia,
Kevin, Silvia und Kwarahi beisammen und umarmten sich. „Kevin, mein
lieber Bruder“, freute sich Emilia mit Tränen in den Augen, „habe ich
dich vermisst. Und jetzt bist du wieder da. Ich kann es kaum fassen“.
Am anderen Morgen war Emilia schon früh auf und schlenderte auf
dem Dorfplatz umher. Die gestrigen Ereignisse wühlten in der Nacht
so stark in ihr, dass sie früh schon erwachte. Sie war aber nicht die
einzige, die schon auf dem Dorfplatz den Morgen genoss. Ojang Utan
kam des Weges und freute sich, seine liebe Emila anzutreffen. Doch
da liess Ojang Utan plötzlich seinen Kopf tief hängen. „Was hast du
denn, lieber Ojang Utan“, fragte Emilia besorgt. „Iakuane folt“,
stammelte der kleine Bube, „weit folt velswunden, Ojang Utan tlaulig,
bääääh“. Schliesslich brach der Kleine in Tränen aus. Emilia nahm ihren
Freund auf die Arme und setzte sich mit ihm auf die nahe Holzbank.
„Du brauchst nicht mehr lange warten, Ojang Utan“, tröstete sie den
kleinen Jungen zärtlich, „wie du sicher erfahren hast, konnten wir
letzte Woche mit Avara sprechen und schon übermorgen wird Iakunae
zurückkehren. Nur noch zweimal musst du schlafen, und dann wird dein
liebes Schwesterchen wieder bei uns sein“. „Twei mal?“, fragte Ojang
Utan zur Sicherheit und streckte Daumen und Zeigefinger seiner
rechten Hand in die Höhe. „Ja zwei mal schlafen“, munterte Emilia den
kleinen mit einem freudigen Lächeln auf, „dann ist sie wieder hier. Und
weil so viele Kinder nach Iakunae gefragt haben, hat Panyma
ausnahmsweise erlaubt, dass die Kinder und Iakunaes beste
erwachsene Freunde mit dabei sein dürfen, wenn sie zurückkehrt.
Schliesslich soll sie bei ihrer Ankunft als Ueberraschung freudvoll und
fröhlich von all ihren Freunden empfangen werden. Und da darfst du
natürlich auch dabei sein, mein kleiner Junge“. Ojang Utan hielt seinen
Kopf an Emilias Brust und blickte treuherzig wie ein Baby Emilia in die
Augen. Lange sassen sie so da, bis im Indianerdorf laute Stimmen die
letzten Faulpelze weckten. „Frühstück, Frühstück ist fertig“, riefen
die Indianerfrauen freudig. Da stand Ojang Utan blitzschnell auf und
machte sich auf in Richtung der fein duftenden, frischen
Maniokabrote.
Nico hatte seine heitere Freude am Meer. Es gefiel ihm, wenn die zwei
Mädchen einen Holzstecken ins Wasser werfen. Fleissig und tapfer
holte er ihn gleich zurück und genoss es, wenn er zur Belohnung
liebevoll gestreichelt wurde. „Mhhh, mmhhh“, winselte er und freute
sich, wenn das Holz ein weiters mal weit ins Meer hinaus flog. Filippo
schaute aus sicherer Distanz skeptisch zu und konnte seinen Freund
Nico nicht vestehen, dass er wirklich da in dieses nasse Wasser
hineinsprang. Zwei, dreimal streckte Filippo vorsichtig seine Pfote aus
und versuchte mit seinen Krallen das Wasser der Wellen zu fangen,
doch kaum wurde sein Pfötchen nass, suchte er das Weite. So verging
die Zeit im Flug.
Emilia stieg auf einen Stein, hielt ihre Hände an die Stirne, sodass sie
nicht von der Sonne geblendet wurde und schaute hinaus in die endlose
Ferne des Meeres. Plötzlich erschrak sie. „Kwarahi, siehst du das
gelbe Licht weit im Meer draussen?“, fragte sie ihre Freundin. Kwarahi
drehte sich und schaute hinaus, ohne ein Wort zu sagen. „Dieses Licht
kommt von Ipupiara“, erklärte Emilia, „der Dämonin des Wassers. Sie
versucht an die Meeresoberfläche zu steigen und will die Indianer
vertreiben. Lass uns umkehren. Ich möchte mir nicht den heutigen
schönen Tag von dieser Dämonin verderben lassen“. Kwarahi erschrak
und lief schweigend neben Emilia den Weg zurück. „Ja es hat sich
vieles verändert im Indianerland während wir fort waren“, schluchzte
Kwarahi mit trauriger Stimme, „euch, die ihr immer hiergeblieben seid,
ist das vielleicht gar nicht so aufgefallen, aber wenn du lange fort
warst und dann plötzlich zurückkommst, hast du das eigenartige
Gefühl in dir, alles habe sich inzwischen verändert“. Eine Weile
überlegte Emilia. Dann wandte sie sich an ihre Freundin. „Aber es gibt
auch schöne Sachen, die haben sich nicht verändert“, sprach sie im
freundlichen Ton, „du bist immer noch meine liebe Freundin Kwarahi,
der gleiche Mensch wie zuvor, den ich so gut mag. Das ist ganz schön.
Und jetzt wo du mit Kevin zusammen bist, sind wir ja sozusagen
Schwestern, Juhuu, ich habe eine Schwester“. Kwarahi freute sich
über diese Worte. Hand in Hand liefen die zwei Mädchen zurück ins
Dorf.
10-2
Dann endlich war es soweit. Ojang Utan lief schon den ganzen Morgen
im Dorf herum. „Habe zwei mal geslaafen“, sagte er freudig zu Emilia,
„zweimal slaafed, heut Iakunae zulück, juhuu“. Dazu streckte er seinen
Daumen und Zeigefinger in die Höhe. Nach dem Mittagessen
schminkten und schmückten sich die Kinder aufs bunteste auf dem
Dorfplatz. Einige der Mütter halfen ihnen dabei und schminken sich
selber auch grad ein.
Schon seit einiger Zeit sassen Panyma und Emilia in der Materialhütte
und bereiteten ihren Zauber vor. Immer wieder blickten sie hinaus und
schauten, wie weit nun die Kinder mit ihren Vorbereitungen waren.
Nachdem alle Kinder fertig geschmückt waren und alle noch ein wenig
gespielt hatten, trat Emilia ans Tor der Materialhütte. „Ihr dürft
jetzt hereinkommen“, rief sie den Kindern entgegen. Es dauerte nicht
lange und die Kinder, begleitet von Iakunaes besten erwachsenen
Freunden, hatten sich in der Materialhütte im Halbkreis um Emilia und
Panyma eingefunden. Muxmäuschenstill warteten die Kinder neugierig
ab, was jetzt wohl geschehen würde.
10-3
„Das ganze begann während ich mit Panyma und Emilia in der
Materialhütte am Zaubern war. Während meine zwei Freundinnen
fleissig an einem Zauber arbeiteten, faulenzte ich ein wenig auf
Kiripittis Schaukel. Höher und höher pendelte ich auf der Schaukel.
Das war lässig, höher und höher. Doch dann, ´Ratsch’, das Sitzbrett
riss weg und ich wusste, dass ich hart hinunterfallen würde. Schnell
hatte ich den Kopf eingezogen und hielt die Hände vors Gesicht.
´Iiiiihhh’, schrie ich und dachte, ´jetzt, ahh, der Aufprall, hart,
mmmhh’. Sowas tut doch fürchterlich weh. Aber nein, da kam kein
harter Aufprall. Ich landete weich in einer Hängematte. ´Wo denn?’,
fragt ich mich, ‚vor Emilia? hinter Panyma?’. Da hat es doch gar keine
Hängematte? Ich wusste nicht mehr wo ich war. ‚Panyma, hilfe’, flehte
ich doch Panyma erklärte mir von weit her mit leiser Stimme, ich sei
durch den magischen Spiegel gefallen. ‚Nur das nicht’, erschreckte ich
und guckte vorsichtig aus der Hängematte heraus. Ein mir unbekannter
Geruch drang an meine Nase. Schliesslich sah ich einen fremden Mann
neben mir sitzen. ‚Fortrennen?’ überlegte ich blitzschnell. Doch dann
schaute ich dem Mann in die Augen. Böse sah er nicht aus.
‚djandeko'em ava hee’, grüsste ich ihn freundlich, ‚mo pa aka iyee?’
(Hallo guter mann, wo bin ich?). Doch der Mann verstand meine Worte
nicht. ‚Liebes Mädchen’, sagte er zu mir. Ich wiederholte seine Worte,
die ich nicht verstand: ‚liebbess ??? Mäddchennn??’. Darauf machte er
ein ganz feines gesicht und sagte ‚lieb’ und dann ein fürchterliches
Gesicht und er sagte ‚bös’. Er zeigte auf mich und sagte mit hoher
Stimme ‚Mädchen’ und zeigte auf sich selbst und sagte mit tiefer
Stimme ‚Mann’. ‚Ahh’, antwortete ich und zeigte auf ihn. Dazu sagte
ich: ‚lieb mann, avara’. Dann zeigte ich auf mich und sagte: ‚lieb
mädchen, Iakunae ???? Nä nä nä..... mhhh, mmmhh, ähhh.. bös
mädchen, Iakunae.. , hi hi hi’, und lachte laut. Er lachte auch laut, wir
hatten uns verstanden. Bereits hatte ich die ersten Worte der
fremden Sprache gelernt.
Die bunte farbige Hängematte in der ich mich befand war nur wenig
über dem Boden gespannt. Langsam wagte ich es mit einem Fuss
auszusteigen und aufzustehen. Als ich schliesslich dastand
erschreckte ich fast zu Tode, denn der Boden unter mir war weich und
quietschte. ‚Hilfe’, dachte ich mir und bekam Angst. Vorsichtig
stampfte ich mit dem Fuss auf den Boden. Er tönte dumpf und die
Wände um mich herum zitterten. ‚Kein fester Boden unter mir’,
erschrak ich, und die Wände zittern‚ das fällt doch zusammen’. ’Raus
hier, nichts wie raus’, fuhr es mir durch den Kopf und ich rannte drauf
los, wo ich nur grad hinrennen konnte. Das war eine eigenartige Hütte
wo ich drin war. Die hatte soviele Türen und Zimmer, dass ich keinen
Ausgang finden konnte. Sowas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich
hatte Angst vor dem Ding und wollte raus. Avara hatte mich schnell
eingeholt, legte schützend seinen Arm um mich und schüttelte den
Kopf, den er verstand nicht, wovor ich Angst hatte. Ich zeigte auf die
Wand und das Haus, winkte mit der Hand gegen den Boden und sagte
‚wufff, pumm?’. Nun hatte er verstanden. Er zeigte auf die Wand und
formte ein Dach mit seinen Händen. ‚Haus’, sagte er dazu, schwenkte
seine Hand so wie ich zuvor und sagte ‚zusammenfallen?’, winkte mit
seiner Hand ab und sagte ‚nein’. Ich wiederholte seine Worte: ‚Haus
zusammenfallen nein?’. ‚Nein’, wiederholte er mit sicherem Lächeln,
‚Haus zusammenfallen nein, Haus gut, gut, Haus gut’. ‚Haus gut, mhh’,
sprach ich ihm nach. Wieder hatte ich vier neue Wörter aus seiner
Sprache gelernt. Auf diese Weise lernte ich schnell die wichtigsten
Wörter der fremden Sprache und hatte eigentlich nie Probleme
diesen fremden Menschen etwas mitzuteilen.
Avara aber nahm mich an der Hand, führte mich zur Türe hinaus und
zeigte mir das Haus von aussen. ‚Hää?’, staunte ich und brachte Augen
und Mund nicht mehr zu. Das Haus war hoch und hatte mehrere Böden
übereinander und auf jedem von denen konnte jemand stehen. So
konnten die Leute übereinander wohnen. Sowas hatte ich noch nie
zuvor in meinem Leben gesehen. Zuerst konnte ich es kaum glauben,
doch ich gewöhnte mich schnell daran.„
„Als wir ins Haus zurückkamen, standen zwei Kinder da und bestaunten
mich. Es waren Avaras Kinder, Christina, ein liebevolles Mädchen, etwa
ein Jahr älter wie ich und ihr kleiner Bruder, Simon, der etwas jünger
ist wie ich. Wir sollten zusammen noch viel Schönes erleben. Doch
zunächst zeigten sie mir ihre Zimmer und luden mich ein, mit ihnen zu
spielen. Wir spielten lange und ich kam nicht mehr zum Staunen
heraus, denn sie hatten viele fremde, mir unbekannte Spielsachen. So
waren wir bis spät abends zusammen.
Auf dem Schulweg sah ich viel neues, das ich noch nie gesehen hatte
und nicht verstand. Das unglaublichste aber waren die Automobile. Sie
sind etwa das gleiche wie es bei uns die Kanus sind. Die Leute sitzen
hinein und können damit fortfahren. Aber die Automobile fahren nicht
auf dem Wasser sondern auf dem Land und niemand muss rudern,
sondern unten drehen so runde Dinger und auf denen rollen sie von
alleine. Dazu knurrt und brummt das ganze fürchterlich laut.
In der Schule war es schön. Die Lehrerin war lieb und freute sich,
dass ein fremdes Mädchen auf Besuch kam. ‚Kannst du schon
schreiben?’, fragte sie mich. ‚Schreiben, was is?’, fragte ich. Da
machte sie mit der Hand eine zittrige Bewegung und ich wusste was
sie meint. Schreiben hatte ich bei Emilia gelernt, als wir in der
Materialhütte Schule spielten. Ich nickte, stand auf und ging zur
Wandtafel. Dort versuchte ich in der mir fremden Sprache zu
schreiben:
Die Lehrerin hatte riesig Freude, dass ich das konnte. Sie bestaunte
meine Schrift und meinte, vor vielen hundert Jahren hätten die Leute
bei ihnen auch so geschrieben. Ich zuckte mit den Achseln und
schüttelte den Kopf. So gut kannte ich ihre Sprache nicht, um ihr
erklären zu können woher ich komme.
Schliesslich kam die Pause und wir gingen ins Freie. Ich setzte mich
neben der Schulhausmauer. Simon war so lieb und gab mir ein feines
Brot mit frischem Fleisch dazwischen. Ich hatte einen riesigen
Kohldampf und das Brot roch so fein, dass ich alles um mich herum
vergass. Ganz nach Indianerart verschlang ich das Brot mit lautem
Geschmatze und Gemampfe. Am Schluss görpste ich laut. Das merkten
die Kinder um mich herum. Einige Lachten freundlich und lieb zu mir,
andere aber spotteten über mich. Sie kamen zu mir. „Woher kommst
du denn? Warst du schon immer so doof? Kleines Schwein“, und so
wüstes Zeugs sagten sie zu mir. Sie hänselten mich und lachten mich
aus.
Zuerst war ich so glücklich, dass ich mit Simon in die Schule gehen
durfte und dann geschah in der Pause so etwas trauriges. Ich schaute
an die Schulhauswand und in den Boden hinein und wünschte mir nichts
sehnlicher als dass ich wieder in Uwattibi auf dem Platz sein könnte,
wo wir Kinder immer spielten. Ich schloss die Augen und sah vor mir
den Platz mit seinen Bäumen und Lianen, an denen wir immer bis
zoberst hochkletterten und ich wünschte mir, eine solche Liane wäre
hier auf Simons Schulhausplatz und ich könnte vor diesen bösen
Kindern davonklettern. Dann öffnete ich meine Augen und was sah ich
vor mir, so etwas wie eine Liane, das der Hauswand hochging. ‚Jipiii’,
schrie ich und es verging kaum eine Sekunde und ich war schon weit in
der Hauswand oben. Klettern können wir Indianerkinder gut. Das
braucht uns niemand beizubringen. Die Liane war kalt und hart und
irgendwie innen hohl und sie war an Haken an der Wand fest gemacht.
Aber das störte mich nicht. Ich wollte nur noch höher hinauf, weg von
diesen bösen Kindern. Schliesslich war ich zuoberst am Haus und mit
einem leichten Schwung befand ich mich oben auf dem Dach. Oh war
die Aussicht schön. Freudig winkte ich zu den Kindern hinunter, die
lebhaft zu mir hochwinkten und laut zu mir raufschrieen, aber ich
kannte die Wörter nicht, die sie schrieen.
Ich begab mich zuoberst auf das Dach. Dort hörte ich niemanden
mehr und nichts auf der Welt konnte mich mehr stören. Ich war
wieder mit mir zufrieden und schliesslich hatte ich sogar den bösen
Kinder da unten verziehen. So Kinder gibt es halt, dachte ich mir, die
werden es sicher auch noch lernen.
Die Aussicht gefiel mir und ich staunte wieviele von diesen
eigenartigen Automobil-Kanus im Dorf unterwegs waren. Ich sah kaum
einen Menschen zu Fuss gehen, die meisten waren mit diesen
eigenartigen Kanus unterwegs. Die Berge ringsum waren wunderschön.
Oben waren sie weiss oder endeten in nacktem Fels. Nach unten kam
mehr und mehr Wald und zuunterst sah ich einen schönen See. Dann
aber entdeckte ich etwas, das mich staunen liess. Ich sah plötzlich
viele blaue Blitze im Dorf unten. ‚Was ist das?’, überlegte ich mir,
‚Blaue Blitze wie bei Panyma im Zauberunterricht? Das kann doch nicht
sein, dass sie hier mitten im Dorf zaubern. Das machen sie doch
bestimmt auch irgendwo in einer ruhigen Hütte. Doch was sonst sollte
so blitzen?’. Die Blitze kamen näher und heulten ungeheurlich. „Tüüü,
daaa, tüüü, daaa, tüüü, daa“, tönte es von allen seiten und ich sah, dass
es Automoblie waren, die so eigenartig blitzten und heulten. Die
blauen Blitze kamen so aus Fakeln heraus, die sie auf den Dächern
ihrer Landkanus mit sich trugen.
Der Mann lachte wie wir unten ankamen und klopfte mir freundlich auf
die Schultern. Der andere Mann aber, der dicke Mann, der mit dem
grossen Kuhhorn mit mir gesprochen hatte war gar nicht freundlich zu
mir. Ich verstand zwar kaum etwas von dem was er sagte, aber so
Wörter wie böse und frech verstand ich. Das war vielleicht ein ekliger
Typ. ‚Wenn der sich nicht mühe gibt und mit mir langsam spricht’, so
überlegte ich mir, ‚dann geb ich mir halt auch keine Mühe’. So begann
ich in Tupi Sprache zu sprechen, und laut schreien, und das kann ich.
Doch der dicke Mann wurde nur noch böser und zuletzt kamen vier
dieser Männer auf mich zugelaufen und packten mich ohne zu fragen.
‚Räuber, Urwaldräuber’, dachte ich mir, ‚die gleichen Räuber, von
denen mir Emilia so oft erzählt hatte’. Jetzt wusste ich, dass mein
Kampf bösen Räubern gilt und ich alles einsetzen musste um diese zu
besiegen und ihnen zu entkommen. Sie zerrten mich in eines ihrer
Automobil Kanus hinein und fuhren drauf los. Bei einem Haus stiegen
sie aus und zerrten mich raus. Es ergab sich, dass der dicke Mann
einen moment lang alleine war mit mir. Er hielt mich am Arm fest mit
seiner Hand, so fest, dass meine Gelenke nur so schmerzten. Der
würde sicher nicht gut rennen können, dachte ich mir. Ich biss ihn in
seinen Arm sodass er vor Schmerz jaulte und einen Moment locker
liess. Das genügte mir um mich loszureissen und fort war ich. Jipii,
rennen kann ich schnell. Da mag so ein Fettsack nie und nimmer
hinterher.
Schon bald traf ich auf Simon und wir gingen nach hause. Simon
meinte etwas von ‚Lausemädchen’ zu mir aber er lächelte freundlich.
‚dicker Mann bös, Iakunae Dickmann beissen, Iakunae fortrenn’, sagte
ich ihm und er begann noch lauter zu lachen. Während wir zuhause
etwas assen, kam beiAvara ein Automobil-Kanu vorbei, auch eins mit so
farbigen Streifen drauf. Lange redete Avara mit den Männern. Dann
kam er zurück, kratzte sich am Kopf und meinte zu Simon, es wäre
wohl besser, wenn ich am Nachmittag nicht mehr mit zur Schule ginge.
Das war nicht so schlimm, denn sie hatten nur noch an dem Tag und am
nächsten Tag Schule, nachher hatten sie frei, ‚Carneval Ferien’, sagten
sie dem“.
Wieder legte Iakunae ein Pause beim Erzählen ein. Kwarahi schaute
mit erleichtertem Blick zu Iakunae. „Da hattest du aber nochmal Glück
gehabt, dass du den Räubern entkommen konntest“, sprach sie.
Iakunae kicherte. „Mh ganz so war es nicht“, erklärte sie, „erst später
habe ich erfahren, dass dies Polizisten seien. Die müssen aufpassen,
dass niemand etwas verbotenes tut. Und auf Dächer klettern ist halt
in Avaras Land nicht erlaubt. Das hat mir Avara nachher gesagt“.
„Was, nicht auf Dächer klettern?“, wunderte sich Avanene, der
gespannt zuhörte, „wie kommen die auf so etwas. Und auf Bäume
klettern? Dürfen sie das oder ist das etwa auch verboten?“. „Das sind
komische Leute“, meinte Iakunae, „je nach dem wo du auf einen Baum
kletterst kann es durchaus sein, dass es auch da einen grossen Tumult
gibt“. „Haben sie sich wenigstens bei dir entschuldigt, dass sie so
unfreundlich waren?“, wollte Avanene weiter wissen. Iakunae
schüttelte den Kopf. „Nein, das machen die nicht“, antwortete sie, „es
gibt in Avaras Welt viele freundliche Leute, aber die, die nicht
freundlich sind, sind ausgesprochen unfreundlich, wie du es bei uns
höchsten bei den kranken, ganz verrückten Indianern erlebst“.
10-4
„Am nächsten Morgen war ich alleine unterwegs. Es gab viel neues für
mich zu bestaunen in der fremden Welt aber immer wieder war ich zu
tiefst erschrocken, denn von Zeit zu Zeit tönte etwas ganz laut
durchs Dorf hindurch. „dinnggg, dännngggg – dinnnggg, dännngggg-
bumm- bumm –bumm“. Zuerst dachte ich ein Dämon überfalle das
Dorf, Doch dann mit der Zeit erschrak ich weniger, denn das Geräusch
schien tatsächlich irgendeine Bedeutung zu haben. Aber es war mir
nicht mögich zu sagen woher es kommt. So lief ich lange im Dorf
umher und versuchte immer wieder herauszufinden woher die lauten
Töne wohl kommen mochten. Näher und näher kam ich an den Ort bis
ich ein grosses weisses Haus sah. Von dort musste es kommen.
Eine Zeit lang stand ich vor dem grossen weissen Haus. Da plötzlich:
„dannggg, danngggg, dannnggg“, fing das ganze wieder an. Ich sah, dass
das grosse Haus auf der Seite ein schmales noch grösseres Haus
hatte mit einem spitzen Dach und da von zuoberst, von dort kam der
Lärm. Ich ging näher zum Haus und stand schliesslich vor hohen Toren.
Nur das Tor alleine schon war höher wie die Hütten in Uwattibi.
Trotzdem wagte ich es hinein zu gehen, denn ich hatte kurz vorher
eine alte Frau gesehen, die da raus kam. Also ging ich einfach rein.
Da drin war es gross, riesengross. Noch nie zuvor war ich in einem so
grossen Haus. Wie sie das nur bauen konnten? Es hatte viele, viele
Bänke und vorne einen grossen Platz. Ein paar alte Leute sassen da,
aber sie sagten nichts zu mir. Oben an der Decke waren Menschen
hingemalen. Menschen mit Flügeln, in Tücher gehüllt. Zuhinterst
führte ein Treppe auf eine Anhöhe hinauf. Da ging ich hoch. Viel gab
es nicht zu sehen da oben. Da war eine Wand mit vielen eisernen
Rohren und in der Mitte sowas wie ein Tisch. Ich ging dahin und sah
viele schwarze und weisse Stäbchen daliegen. Ich berührte eines.
„Piiiiiii“, tönte es aus der Wand der Metallröhren. „Ohhh“, staunte ich.
Das kam mir vor wie ein Wunder. Ich drückte auf ein Stäbchen auf
der anderen Seite. „Buuuuuuuu“, tönte es diesmal ganz tief. „Hi, hi“,
das war lustig und ich drückte eine Taste um die andere. Was wohl
geschieht, wenn ich da alle zusammen runterdrücke? Ich legte beide
Arme auf die weissen Stäbchen der oberen Seite und ein Bein auf die
weissen Stäbchen der unteren Seite. So konnte ich fast alle Stäbchen
miteinander drücken und das gab ein Höllenkrach. Ich musste laut
lachen.
„Hähähähamm“, hustete eine der alten Frauen unten laut. Ich ging
vorne an die Abschrankung und schaute hinunter. Dann huste ich halt
auch mal, dachte ich mir. ‚hä hämmmm’, machte ich laut. Die alte Frau
drehte sich und hielt ihren Finger vor den Mund. ‚ppsssssttt’, zischte
sie durch ihre Lippen und guckte verärgert zu mir hoch. Zum Glück
konnte sie von so weit weg nicht sehen, dass ich kicherte und mir
Mühe geben musste, nicht laut heraus zu lachen. Eine Weile schaute
ich da hinunter und dann ging zum Glück die Frau raus, denn inzwischen
hatte ich vorne eine Türe entdeckt und diese, glaubte ich, müsste
eigentlich zu dem hohen schmalen Haus hinführen.
Als die Frau draussen war, ging ich runter, nach vorne und verschwand
in die Türe hinein. Tatsächlich, da ging eine schmale Treppe im Kreis
nach oben. Ich versuchte die Stufen zu zählen, doch waren es mehr
wie ich bei Emilia Zahlen gelernt hatte, einfach über hundert waren
es. Ich vermutete nichts böses wie ich da hochging aber dann.
„Bonnnngggg bonnngggg“, erschlug es mir fast das Gehör. Ob mir
waren grosse metallene Dinger, sie sahen aus wie riesige Töpfe, nur
umgekehrt aufgehängt. In der Mitte hing bei jedem ein Metallstab
hinunter und dieser schlug an den Rand. Das war es, was so laut tönte.
Zum Glück hörte der Lärm schon bald auf und ich ging näher. Ich nahm
den Metallstab und schlug damit an das Eisen am Rand. Das war laut.
‚buah’, staunte ich. Aber da waren noch mehr so dinger. Wie die wohl
tönen würden. Ich probierte alle aus und konnte kaum mehr aufhören,
da Töne rausklingen zu lassen. Ich versuchte es so laut ich konnte und
so schnell ich konnte. Das war ein lustiges Spiel. Sowas müssten wir
auf dem Kinderplatz in Uwattibi haben, dachte ich mir. Nach einiger
Zeit hörte ich Schritte die Stiege hochkommen. Ich erschrak. Ob nun
schon wieder jemand wütend geworden war? Die Schritte kamen
näher. Es war ein grosser starker Mann mit blonden Haaren und Bart.
Er trug farbiges Gewand wie die Männer, die gestern auf den
Schulhausplatz kamen. Nur nicht schon wieder dachte ich mir, doch
der Mann stand schon vor mir. Es war derselbe Mann, der gestern auf
der Leiter zu mir ins Dach hochkam. Ich erkannte ihn sofort wieder.
„Hallo“, sagte der Mann, „du schon wieder?“. Dann lächelte er mich
aber freundlich an und winkte mir, ich solle mit ihm runterkommen. Na
ja, so lief ich hinter ihm her. Ich hatte Angst ,dass der dicke Mann,
dem ich gestern fortgerannt war, auch draussen ist. „Ander Mann bös
auch hier? Ander Mann - bös, dick, - dädädädä wü wü wü“, fragte ich
und ahmte so gut es ging das Schimpfen des Mannes von gestern nach.
Da drehte sich der Mann vor mir und lachte laut. „Nein, nein, nicht
hier, ich alleine“, sagte er und mir fiel ein Stein vom Herzen.
Vor dem grossen Haus setzten wir uns auf eine Mauer. Der Mann
schaute mich an. „Du Name?“, fragte er mich. „Mein Nam Iakunae“,
sagte ich, „dein Nam?“. „Ich heisse Germann“, antwortete er mir und
fragte weiter, „von wo kommst du? Von wo du?“. „Brasil“, sagte ich,
„Urwald, Indian“. „Oh“, staunte er, „schön. Amazonas?“. Amazon kenne
ich. Die Indianer erzählten uns von diesem Land, aber es liegt weit weg
vom Indianerland wo ich herkomme. „Nein, nein“, antwortete ich,
„Uwattibi“. Doch das verstand er nicht. Einen Moment überlegte ich.
„Iteronne“, sagte ich schliesslich zu ihm, denn das ist der grösste und
bekannteste Ort im Indianerland. Aber auch den kannte er nicht.
Langsam wusste ich nicht mehr weiter. Vielleicht kennt er die
Indianernamen nicht, kam mir in den Sinn. Also wählte ich den Namen
einer fremden Siedlung. „Rio de Jenero“, sagte ich ihm schliesslich und
ganz zu meinem erstauenen schien er ein gewisses Rio de Janeiro zu
kennen, aber glaub nicht das selbe wie ich. Denn Germann staunte
neben mir „Ohhh, Rio de Janeiro. Rio de Janeiro gross, schön, Rio
schön, ohh, aber grooooss“, sagte er und hielt seine Hände weit
auseinander. „Nein, nein“, sagte ich ,“Rio de Jenero klein. Iteronne
gross. Iteronne, zehn Haus, hundert, hundert Indianer. Rio de Jenero
klein, zwei haus, zehn, zehn Franzos“. Dazu versuchte ich ihm mit
Zeichen zu erklären, dass Iteronne und Rio de Jenero nebeinander in
einer Bucht am Meer liegen. Er schüttelte aber nur ratlos den Kopf
und grinste. Irgendwie konnte er mich nicht verstehen. Von Brasilien
werde ich wohl mehr verstehen wie jemand aus Avaras Land, dachte
ich mir. Doch zum Glück wechselte Germann das Gesprächsthema. „du
ferien hier? wo du wohnen?“, fragte er. „Avara“, antwortete ich ihm
und zeigte in Richtung von Avaras haus. Aber Avara verstand er
natürlich nicht, da nur wir Indianer Avara so nannten. Er hatte bei
ihnen einen anderen Namen, den ich aber nicht kannte. Also sagte ich
noch: „Simon, Christina“, und nun wusste er, wen ich meine.
„Ich muss gehen“, sagte Germann und stand auf. Er blickte mich ernst
an, zeigte auf die Kirche und sprach mit strenger Stimme zu mir: „Da
rauf, du nicht mehr gehen, klar?“. „Ja, ja, klar“, antwortete ich ihm.
Darauf schaute er mich wieder freundlich an und griff in seine
Tasche. Dort zog er einen kleinen Beutel raus. „Fischermen“, sagte er
zu mir, gab mir ein Bonbon und nahm selber auch grad eins.
„buahhhhh“, erschrak ich, denn die Bonbons waren scharf, „buaaahhh“.
Da lachte er und ich sagte ihm: „gut gut, bonbon“, und er gab mir noch
zwei. Er winkte mir, stieg in sein grosses rotes Automobil-Kanu ein und
ging fort. Ich winkte ihm nach, bis ich ihn nicht mehr sah. Dann ging
ich langsam nach Hause. Ich hatte Freude, dass Germann so freundlich
war zu mir und nicht so schimpfig und böse wie viele andere in dieser
fremden Welt“.
10-5
„Am Nachmittag des selben Tages war ich alleine zuhause. Avara
musste fortgehen und verabschiedete sich von mir. Ich solle schön
brav sein, sagte er mir freundlich, und ja alles richtig machen.
Nachdem ich in der Wohnung all die vielen fremden Sachen angeguckt
hatte, ging ich nach draussen. Im schönen Garten blühten die ersten
kleinen Gänseblümchen, doch es war kalt und ich zog mir dicke Kleider
an. Unter einem Dach sah ich Avaras Automobil-Kanu stehen und das
zog unweigerlich mein ganzes Interesse an. Ich ging hinein. Da hat es
viele Knöpfe, die man drücken kann, Hebel und Räder. „Boah“, staunte
ich. Einige male zuvor war ich schon mit Avara in diesem Automobil-
Kanu mitgefahren. Wie Avara das nur machen konnte, das sich das
Ding bewegte? Ah ja, da unten die Pedale drückte er zuerst und dann
drehte er an diesem kleinen flachen Eisen, das da rein gesteckt war,
erinnerte ich mich. Und dann am einen Hebel rumzerren und am Rad
drehen. Ja genau so, wurde es mir jetzt ganz klar vor Augen. So hatte
er es gemacht und es schien mir plötzlich gar nicht mehr kompliziert
zu sein. Also setzt ich mich kurz entschlossen hinter das grosse Rad
mit dem man die Richtung einstellen kann wo es dann hinfährt, drückte
das Pedal runter und drehte am kleine flachen Eisen.
„RRRuuuunnnnnGGGGG“, tönte und knurrte es, genau gleich wie bei
Avara. Die Automobil-Kanus müssen so knurren, sonst können sie sich
nicht bewegen. Da plötzlich erinnerte ich mich an Avaras Worte, ich
solle schön brav sein und alles richtig machen. ‚brav? na ja’, dachte ich
mir, ‚aber richtig ist das jetzt ganz bestimmt so wie ich das hier
mache. Genau so hat Avara das auch gemacht’. Kurzerhand zerrte ich
am Hebel und wechselte unten das Pedal, wie ich es bei Avara gesehen
hatte. Das Kanu nahm einen riesigen Sprung und flog weit nach vorne.
Schlagartig wurde ich in den Sitz hineingedrückt. Dann aber fuhr es
langsam mit mir los. Juhui, freute ich mich, ich kann es, juhui. Und da
hatte es doch mitten in dem grossen Rad vor mir so etwas zum
Reindrücken und dann tönte es draussen laut. Das benutzte ich
fleissig. ‚tü, tü, tü, tü’, fuhr ich drauf los.
Der Weg wurde allmählich breiter und hatte einen weissen Strich in
der mitte. Das war gut so, denn es ist doch nicht so einfach mit dem
Kanu ans richtige ort zu kommen. So konnte ich mitten auf dem
weissen Strich fahren und hatte links und rechts genug Platz, denn
manchmal kam ich plötzlich an den Rand links oder rechts und musste
schnell am Rad vor mir drehen, damit das Kanu nicht gegen eine Wand
knallte.
Schliesslich kam ich auf dem Dorfplatz an und dort stellte ich das
Automobil-Kanu auf einen Platz, den sie da extra gemacht haben um
ihre Automobil-kanus hinzustellen. Ich stieg aus, denn ich wollte eine
Pause machen und die Aussicht geniessen. Doch wie ich draussen war,
erschreckte ich zu tiefst. Wieder sah ich von weit her die blauen
Blitze und hörte die lauten „düüü daaa“ Töne. Einen moment erschrak
ich, doch dann fasste ich Mut. Wenn die wieder zu mir kommen, dann
hau ich ab so schnell es geht, nahm ich mir vor. Nur nicht wieder von
denen fangen lassen.
Und da waren sie auch schon auf der einen Seite des Dorfplatzes.
Auch der dicke von gestern stieg aus und zeigte sofort auf mich. „Die
da, festnehmen“, schrie er laut. Ich machte ihm mit beiden Händen
eine lange Nase vor meinem Gesicht und rannte davon. Rennen kann
ich. Da kommt mir so schnell keiner nach. Doch ich hörte, dass sie mir
weit hinten folgten, denn sie haben viele Eisendinger um sich herum,
die laut klirren. Ich rannte so schnell ich konnte, doch um die nächste
Ecke stiess ich mit einem Mann zusammen. Ich konnte gerade noch
bremsen doch dann stand ich vor ihm. Es war Germann. „Bös Mann,
Polizeimann, mir nachrenn“, sagte ich ihm. Germann begriff sofort was
los war. Er packte mich an meiner Jacke und zog mich in ein Haus
hinein.
Im Haus drin hatte es viele Tische. Wir setzten uns, Germann sagte
etwas zu einer Frau und dann bekamen wir etwas zu trinken. Das war
fein, so ein brandschwarzes Getränk mit feinen Blasen drin, die
aufstiegen. Ich streckte meine Nase in den Becher und es spritze
mich an und roch süss. Das fand ich lustig und musste laut lachen.
„Was hast du denn nun schon wieder angestellt?“, fragte mich
Germann. „Iakunae Automobil-Kanu farn“, antwortete ich. „Was?“,
staunte Germann mit leiser Stimme, „du bist Auto gefahren?“. „Ja“,
antwortete ich ihm mit einem einzigen Wort. „Bist du verrückt?“,
fragte er mich, „Avaras Auto? und wo steht es jetzt?“. „Avara Auto
Dorfplatz“, sagte ich ihm. Er kratzte sich am Kopf und überlegte eine
Weile, doch dann schaute er mich entschlossen an und nickte.
Germann stand auf und winkte mir. Wir gingen an einen Tisch der
etwas abseits Stand. Das war ein lustiger Tisch. Er hatte Eisenstäbe
auf zwei Seiten reingesteckt und da waren kleine Holzmännchen
befestigt. Germann hatte vier solcher Stäbe auf der einen Seite und
ich vier auf der anderen Seite. In der Mitte warf Germann eine Kugel
hinein und nun musste jeder von uns versuchen, dem anderen die Kugel
in sein Loch rein zu knallen. Wer mehr treffer hatte, hatte gewonnen.
Jedesmal wenn Germann bei mir traf, schrie er: „goool“. So schrie
auch ich „goool“, wenn ich bei ihm traf. So spielten wir einige Zeit und
hatten es schön.
„Ich komme mit rein“, sagte er zu mir und wir gingen ins Haus hinein.
Avara war bereits da und kochte das Abendessen. Lange redeten
Germann und Avara miteinander. Dann plötzlich kamen sie zu mir und
erklärten mir, dass ich nicht Autofahren darf und das es ganz
gefährlich ist, was ich gemacht habe. „Sowas darfst du nicht wieder
tun“, sagte Avara so streng zu mir, wie er noch nie mit mir gesprochen
hatte. Das machte mich so traurig, dass ich weinen musste. Avara
erklärte mir, dass Simon und Christina nächste Woche Ferien hätten
und ich solle doch dann immer mit seinen zwei Kindern unterwegs sein
und nicht mehr alleine fort gehen. Ich nickte mit einem weinenden
Lächeln, denn ich freute mich inständig auf das Zusammensein mit den
zweien. „Simon lieb, Christina lieb“, gab ich zur Antwort. Nun wurden
Germann und Avara wieder freundlich. Sie setzten sich neben mich an
den Tisch, tranken etwas rotes aus einer grünen hohen Flasche,
erzählten fleissig und lachten viel. Schliesslich kamen Simon und
Christina nach hause und wir gingen in ihr Zimmer spielen.
Am nächsten Morgen erlebte ich etwas ganz schönes. Simon und
Christina waren schon früh wach und wir spielten in ihrem Zimmer.
Nach dem Frühstück zogen wir uns an und fuhren mit Avaras
Automobil-Kanu ins Dorf hinunter. Dort hatte es ein Haus und in dem
Haus konnten die Leute Karnevalskleider ausleihen. Wir gingen hinein.
Simon und Christina wussten schon vorher was sie wollten. Simon
wollte einen Alten Herrn und Christina ein Bajazzomädchen. Als ich
Christina in ihrem Bajazzomädchenkleid sah, wusste ich auch was ich
wollte. So ein schönes Gewand hatte ich in meinem ganzen Leben noch
nie zuvor gesehen. Es ist schwarz und dazwischen leuchtend gelb. Dazu
hat es einen schönen Hut, einen Rock und gelbe Strümpfe. Das
schönste am Gewand aber waren hundert-hundert kleine runde Eisen.
Die waren innen hohl und hatten Kieselsteine drin. Beim Herumrennen
rasselten sie laut und war ist ein schönes Gefühl. Mit jedem Schritt
tönte es laut. Die Leute nannten diese Eisen Glocken und schon wieder
hatte ich ein neues Wort der fremden Sprache gelernt.
Wenn ich mich irgendwann bei Avara so richtig zuhause fühlte, dann
war es während der Karnevalszeit. Wie im Indianerdorf schminkten
wir uns lange. Wir schminkten uns gegenseitig und das macht riesig
Spass. Dazu hörten wir Musik, erzählten, lachten, assen süsse Speisen
und tranken feinen Sirup. Als wir endlich fertig waren, spazierten wir
mit Avara in den Dorfplatz hinunter. Dort hatte es schon hundert-
hundert-hundert Kinder und alle trugen Karnevalsgewänder. Die
Erwachsenen spielten Musik. Immer wieder kam eine neue Musik und
wir tanzten dazu. Es gab Musik, die sei neu, sagte mir Christina und
dazu tanzten wir, wie es uns gerade in den Sinn kam. Wir gaben uns die
Hände und tanzten gemeinsam in einer grossen Schar Kinder. Und dann
gab es die uralte Musik. Das waren nur Trommler und der Tanz war
genau vorgeschrieben. So eine Art Hüpftanz. Aber das machte auch
grossen Spass.
10-6
Etwas von schönsten aber das wir bei Avara machten war das
Skifahren. Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, liebe Indianer. Ich
konnte zuerst selber kaum glauben, was da geschah. Wir gingen in
einen Berg hinauf, einen sehr hohen Hügel. Die haben Hügel wie bei uns
im Indianerland, in Ubatuba. Aber ihre sind noch viel höher wie unsere,
doppelt oder gar dreimal so hoch. Bequem wie immer sind wir nicht
etwa gelaufen, wie wir Indianer es tun würden. Nein, wir haben uns in
Avaras Automobil-Kanu gesetzt und sind da rauf gefahren. Avara
selbst war nicht mitgekommen. Er hat unterdessen etwas gearbeitet.
Simons und Christinas Mutter kam mit, denn sie hat Skifahren auch
sehr gerne.
Wir hätten auch gar nicht alles, was wir mitnehmen mussten, soweit
tragen können. Lange flache Eisen nahmen wir mit uns. Die waren mit
dicker Farbe angemalt und vorne nach oben gerundet. Die haben wir
am Platz wo wir das Automobil-Kanu hinstellten an unseren Schuhen
mit speziellen Schnallen angemacht. Aber ich verstand noch nicht,
was das soll. Ich stand da und konnte kaum richtig laufen. Doch Simon
drückte mir zwei lange dünne Eisenstäbe in die Hände und mit denen
konnte ich mich links und rechts abstossen.
Rings um mich herum lag diese weisse Zeugs, das ich von unten schon
einige male beobachtet hatte und nicht wusste was das ist. Der ganze
Hügel, der ganze Berg war über und über voll bedeckt mit diesem
weissen Zeugs. Wenn ich dies auch das erste mal sah in meinem Leben
und es nicht kannte, eines spürte ich, wie ich daneben stand, das
Zeugs ist kalt, so kalt wie ich in meinem ganzen Leben noch nie zuvor
etwas kaltes gesehen hatte. Ich nahm es in meine Hände. ‚buaah’,
erschrak ich, ‚kalt’. Du musst dir die Handschuhe anziehen“, sagte mir
Christina. Als ob ich nicht schon sonst am ganzen Körper überaus dick
angezogen gewesen wäre, nein, selbst an meinen Händen zog ich noch
etwas über, sie nennen es Handschuhe. In der Kälte war ich aber froh
darum.
‚Was ist?’, fragte ich Christina und zeigte auf das weisse Zeugs.
‚Schnee’, antwortete sie, ‚das ist Schnee’. ‚Schnee?’, fragte ich, denn
ich kannte das Wort nicht. ‚Schnee besteht aus Wasser’, erklärte mir
Simon, ‚wenn wasser ganz kalt wird, so wird es hart, es wird Eis. Und
wenn das Wasser in den Wolken zu Eis wird und hinunterfällt, dann
gibt es eben diesen Schnee’. Ich kam zum Staunen nicht mehr heraus.
‚Schön, oh schön’, schwärmte ich begeistert, denn die ganze
Landschaft, die im Schnee vor mir lag, sah bezaubernd schön aus“.
„Simon, Christina und ihre Mutter begannen mit den eisernen Dingern
zu einem Haus zu laufen. Solange wir noch auf dem Platz liefen und es
keinen Schnee hatte, war es mühsam und streng. Doch dann wie wir
das erste mal auf den Schnee kamen, erschrak ich, denn plötzlich fuhr
ich ganz von alleine, ganz schnell. ‚Plumps’, machte es und ich landete
mit meinem Hintern auf dem Schnee. Simon lachte und half mir beim
Aufstehen. Er gab mir die Hand und begleitete mich liebevoll die erste
Strecke, die ich mit den komischen Dingern fuhr. ‚Ski’, sagte Simon
und zeigte auf die Eisen an meinen Füssen. ‚Ski’, sprach ich ihm nach.
Weit mussten wir nicht gehen und wir kamen beim Haus an. Dort
standen die Leute in einer Kolonne, die sich langsam nach vorne
bewegte. ‚Wo gehen hin?’, fragte ich Simon. ‚Skilift’, sagte er. Da sah
ich es. Ein langes Seil war den ganzen Berg hoch gespannt. Irgend
jemand zog oben am Seil und die Leute konnten sich zu zweit am Seil
anhängen. So musste niemand nach oben laufen, was sicher streng
gewesen wäre. Nur wer war so lieb und hat oben gezogen? Das nahm
mich Wunder.
Eine Weile ging das halbwegs gut, doch dann wurde die Abfahrt steiler
und steiler. Die Luft zischte mir um die Ohren. Ich wusste, dass die
anderen Leute es verstanden, Kurven zu fahren und dann kamen sie
nicht in so ein Höllentempo hinein, wie ich jetzt hinunterzischte. Nur
ich wusste nicht, wie ich das hätte tun sollen. Neben mir schrieen
Frauen, Kinder und Männer. Doch ich verstand nicht, was sie mir
zuschrieen. Ich schrie ebenfalls, dass sie mir früh genug ausweichen
konnten. Hoffentlich wird es bald wieder weniger steil, hoffte ich.
Doch was ich dann sah, liess mein Blut in den Adern stocken. Vor mir
lag bereits das Haus, wo die Leute auf den Skilift gingen. Da
hineindonnern, in die Hütte? ‚Nein’, erschrak ich, ‚auf keinen Fall’. Ich
erinnerte mich gesehen zu haben, dass die ganz kleinen Kinder vorne
die Skieer kreuzten um zu bremsen. Das war meine letzte Hoffnung
und sonst würde etwas ganz schlimmes geschehen. Ich hielt die Beine
auseinander und versuchte die Füsse ganz wenig gegeneinader zu
kreuzen. Aber dann, ‚Krabatsch’, knallte es laut und meine Skier waren
weg, irgendwo, aber an meinen Schuhen waren keine Skier mehr
befestigt. In hohem Bogen flog ich weit durch die Luft und landete im
weichen Schnee.
Meine Kleider waren voll Schnee, mein Gesicht war voll Schnee, mein
Hals, meine Arme, meine Hosen, alles war voll Schnee und ich lag da
wie ein Schneemann, aber ich war überglücklich, dass es mir gelungen
war, die Fahrt noch rechtzeitig zu stoppen. Nun kamen all die Leute an
mir vorbeigefahren, die mir vorher zugeschrieen hatten. Einige von
ihnen lachten und riefen mir lustiges Zeugs zu, aber andere schauten
ausgeprochen böse aus ihrer Wäsche. Eine Frau begann sogar arg mit
mir zu schimpfen und ich streckte ihr die Zunge raus. Darauf wurde
sie noch wütender, aber sie war zum Glück zu faul, zu mir neben die
Piste hinunter zu kommen, denn sie hätte wieder weit rauflaufen
müssen. Dann endlich kamen Simon und Christina. Sie waren
überglücklich, dass mir nichts schlimmes passiert war. Simon brachte
mir sogar meine Skier runter und so brauchte ich nicht mal die ganze
Strecke wieder hochzulatschen.
Simon zeigte mir anschliessend geduldig und liebevoll wie das richtig
geht mit Skifahren. Ich begriff es schnell, denn alles, was mit
herumrennen, hüpfen und springen zu tun hat, gefällt mir und es passt
so richtig zu meiner Natur, die in mir drin steckt“.
„Jetzt kannst du die erste Strophe schon ganz gut singen, Thiago“,
munterte Juanita ihren Bruder auf. „Liebe Juanita, lerne singen
Thiago“, freute sich der Kleine, „liebe Swesterlein“. Wie jeden Abend
warteten die zwei Kinder gespannt und voller Freude auf ihren Vater
Ronaldo, der schon bald von der täglichen Arbeit auf den Feldern und
beim Vieh zurükkehren würde.
Die zwei waren nicht die einzigen die auf ihren Vater warteten. Hinter
ihnen sass im Schaukelstuhl die liebe Mutter Emilia. Emilia hielt Nadel,
Faden und Stoff in den Händen, denn sie nähte ein paar Hosen für
Thiago. Der kleine Lausbub wuchs und wuchs und brauchte ständig
neue Kleider. „Thiago , Komm mal die neuen Hosen anprobieren“, bat
Emilia. „Oh neue Hose, neue Hose“, freute sich Thiago und eilte eifrig
zu seiner Mama.
„Mama sag mal?“, fragte Juanita etwas später, „wenn du damals den
Prinzen Konyan Bebe geheiratet hättest, dann wären wir ja jetzt gar
nicht hier?“. Emilia lächelte. „Ja, irgendwie wäre es wohl anders mit
uns“, meinte sie , „das habe ich mir auch schon überlegt. Dann wäret
ihr jetzt Königskinder, wär doch schön Königskinder, nicht wahr?“.
„Ja, aber unseren Papa, unseren lieben Papa Ronaldo, den hätten wir ja
dann gar nicht“, erschrak Juanita, „oder irgend ein fremder König
wäre jetzt unser Vater, irgend so ein herrschsüchtiger, dicker Mann.
Und dann erst unser Papa? - armer Papa, er wäre ganz alleine, ohne
uns“. „Ja das wär wirklich schade“, seufzte Emilia, „aber weißt du was,
Juanita? Es lohnt sich glaub nicht, sich sowas zu überlegen. Nie und
nimmer wäre ich Königsfrau geworden. Das schwöre ich dir. Und ich
habe ja heute genau die Familie, wie ich es als Kind immer wollte und
von der ich mein ganzes Leben lang geträumt habe. Ich habe euren
Vater, meine lieben Kinder, und all die Freunde die um uns wohnen. Das
ist mein Himmelreich auf Erden“. Kaum hatte Emilia den Satz fertig
gesprochen sass Juanita neben ihr auf dem Stuhl. „Ich bin ja so froh
dass ich dich habe, liebe Mama“, freute sich das Mädchen und
schmiegte sich eng an Emilias Seite.
„Ach war das schön heute“, schwärmte Ronaldo, „ein neues Feld haben
wir fertig bestellt. Mal schauen, wie gut die neue Weizensorte aus
Portugal gedeihen wird“. „Weizen, mh fein“, schwärmte Juanita, „ ...
Weizennudeln, meine Lieblingsspeise“. Emilia lachte auf den
Stockzähnen. Sie kannte die lieben Essgewohnheiten ihrer Kinder nur
zu gut. „Weizennudeln gibt es heute zum Abendessen“, verkündete sie
ihrer Familie, „mit scharfer Tomatensosse. Aber ihr zwei Lausekinder
lasst euch sagen, dass ihr vom Gemüse auch essen müsst. Sonst gibt’s
keine süsse Nachspeise“.
Juanita rümpfte kräftig die Nase. „Bäh nur kein Blumenkohl und kein
Broccoli“, entsetzte sie sich. „Und wohl auch keinen Kohl?“, schimpfte
Emilia, „keinen Spinat? keine Spargeln? Keine Auberginen und keine
Zuccheti? nein, nein, Kinder, es wird von allem gegessen. Nicht nur von
den Nudeln“. Ja so war Emilia als Mutter. Sie konnte auch streng sein,
wenn dies nötig war. Die Kinder sagten nicht mehr viel, denn sie
wussten genau, dass sie ein wenig Gemüse essen mussten. Ronaldo hielt
seine zwei Kinder fest im Arm. „Sagt mal ihr zwei“, wunderte er sich,
„habt ihr Gemüse dermassen nicht gerne?“. „Bäh Müse, bäh müse“,
schimpfte Thiago, „bäh müse, bäh müse“. „Ach wisst ihr“, gestand
Juanita ein, „eigentlich ist Gemüse ja gar nicht so schlecht. Aber die
Nudeln, die sind halt viel viel besser“. Emilia hielt ihren Arm um
Juanitas Schultern. „Ja, ja ihr zwei lieben“, lächelte Emilia.
Schweigend sassen sie so eine Weile beisammen und genossen den
schönen Abend.
„Sie ist grün, blau und gelb im Gesicht“, sprach mit entsetzter Stimme
ein Indianer, der soeben aus einem entlegenen Dorf angerannt kam,
„Panyma, du bist die einzige die noch helfen kann“. Panyma sass mit
Emilia und Iakunae in der Materialhütte. Die drei wollten soeben mit
einer Zauberlektion beginnen. Aber jetzt war etwas dringendes
dazwischengekommen. „Und das Kind im Bauch der Frau, lebt es
noch?“, fragte Panyma mit besorgter Stimme. „Ja“, antwortete der
Indianer, „beide leben noch. Aber die Frau hat eine Krankheit, die wir
noch nie gesehen haben. Sie kann kaum mehr sprechen und aufstehen
kann sie auch nicht mehr. Es eilt. Wir sollten heute noch aufbrechen,
dass wir bis morgen Nachmittag bei ihr sind. Dann ist es vielleicht
noch nicht zu spät“.
„Emilia und Iakunae, es sieht so aus als ob ich euch für einige Zeit
verlassen muss“, erklärte Panyma ihren Zauberschülerinnen, „wenn
eine schwangere Frau krank ist, so will ich sogleich hingehen und
versuchen ihr zu helfen“. „Sollen wir nicht mitkommen und dir
beistehen?“, fragte Emilia. „Nein, nein, lieb von euch, aber das ist
nicht nötig“, antwortete Panyma, „Passt ihr zwei nur gut auf, dass hier
nichts schief geht. Und sammelt fleissig Zauberkäuter“. Kaum hatte
Panyma den Satz fertig gesprochen war sie auch schon aufgestanden.
„Gehen wir“, sagte sie zum Indianer und die zwei waren aus der
Materialhütte verschwunden.
Wenn auch die Indianer hie und da über Kiripitti lachten, so hatten sie
ihn sonst ausgesprochen gern. Er war zwar nicht so tapfer und so
mutig, wie es die meisten Indianermänner waren, aber Kiripitti war
ausgesprochen hilfsbereit und wenn es dann sein musste, so hatte er
schon überraschend in der Not dennoch erstaunliches geleistet. Aber
meistens träumte er in seiner Phantasie etwas in den Tag hinein und
dafür war er bekannt.
Es kam bei den Indianern häufig vor, dass einer dem Teufel
begegnete. Hinter allem, was sie sich nicht erklären konnten, steckte
letztlich irgendwie Jngange, der leibhaftige Teufel. So störte sich
niemand ob Kiripittis Auftritt und selbst Emilia und Iakunae grinsten
anfänglich über den lieben Mann, doch dann erzählte Kiripitti weiter.
„Im Meer unten“, erklärte er der ungläubigen Menge, „in einem gelb
leuchtenden Meer, ist Jngange als Drache, halb Fisch halb Mensch ans
Ufer gekommen. Grad vorhin, ich habs selber gesehen“. „Im Meer
unten?“, fragte Emilia besorgt. „Ja, ja, geh nur selber schauen, Emilia“,
antwortete Kiripitti der sich freute, dass wenigsten jemand ihn ernst
nahm. Emilia schüttelte leise den Kopf und sagt lange nichts. Gebannt
schauten die Indianer zu Emilia hin. Allmählich hörten sie auf zu
lachen und schwiegen. Schliesslich nickte Emilia und wandte sich an die
Indianer. „Ihr kennt ja die Voraussagen der weisen Indianer!“, war das
einzige, das sie sagte, doch dies bleibt bei den Indianern nicht
ungehörte. Einige von ihnen blickten fragend zu Emilia und keiner
wagte es, weiterhin über Kiripitti zu grinsen. Wie in den nächsten
Tagen aber kein Jngange mehr gesichtet wurde, ging das Leben in
Uwattibi weiter seinen friedlichen Lauf.
An einem schönen Nachmittag trat Iakunae zu Emilia in die
Materialhütte ein. „Hast du gesehen, Iakuane, wir haben gar nicht
mehr viele Kräuter“, sorgte sich Emilia, „wir haben kein Tarantelkraut
mehr und die grüne Kratzwurzel ist auch ausgegangen“. Eine Zeit lang
schwieg Iakunae. Dann witzelte sie mit spitzem Lächeln und hoher
Stimme: „Ja ich weiss, ich weiss, keine Kräuter mehr, Zeit für
Zauberferien, Zeit für süsses Nichtstun“. „Zauberferien?“, staunte
Emilia, „süsses Nichtstun? Willst du etwa auf der faulen Haut
herumhocken, du Faulpelzchen? Das könnte dir so passen, Nichtstun
und das Leben geniessen. Nein, nein. Jetzt heisst es losmarschieren
und Kräuter sammeln“. Emilia nahm einen Staudenbesen und rannte
ihrer Freundin hinterher. Schlussendlich aber lachten sie beide. Sie
packten ihre Sachen und verliessen das Indianerdorf.
Der Weg führte die Mädchen auf einen der steilen Hügel, die das
Indianerdorf umgaben, denn die grüne Kratzwurzel konnten sie nur da
oben finden. „Bald haben wir es geschafft“, freute sich Emilia, „lass
uns eine Pause einlegen“. So sassen Emilia und Iakunae auf einer
Waldlichtung und genossen die Aussicht. Auf der einen Seite sahen sie
in die hügelige Landschaft des Indianerlandes und auf der anderen
Seite blickten sie auf das weite Meer hinaus, auf das Grosse Wasser,
das in seiner Ausdehnung unendlich erschien.
„Da, weit, weit hinter dem Grossen Wasser liegt Porto, wo ich
herkomme“, begann Emilia zu erzählen, „das Haus in dem ich viele
Jahre gewohnt habe und der Palast des Königs, wo ich zu Schule ging.
Wenn du viele Monde lang segelst, mehr wie sechs oder sieben Monde,
dann kommst du dahin“, „Hast du Heimweh?“, fragte Iakunae,
„möchtest du wieder zurückgehen, wo du herkommst, Emilia?“. „Nein,
auf keinen Fall“, antwortete Emilia, „ich finde es hier in eurem Land, in
der ‚Newen Welt America’ viel schöner. Bei euch, da dürfen die Leute
wenigsten denken und sagen was sie wollen. Das ist in Porto anders“.
„Dem Paygi darfst du aber auch nicht sagen, was du willst“, entgegnete
Iakunae, „sonst rennt er dir hinterher und will dich zu verhauen“.
Emilia lachte. „Ach Paygi“, grinste sie, „der ist doch keine Gefahr. So
Leute gibt es überall. Aber da drüben in Porto, wenn da die Leute
etwas gegen den Papst und seine Lehren sagen, dann werden sie
gefangen, bestraft oder gar getötet“. „Was? Wirklich?“, ensetzte sich
Iakunae, „Das kann ich ja kaum glauben. Da sagen sie doch immer, wie
fortschrittlich alles ist auf der anderen Seite des Grossen Wasser
und wie wir Indianer noch viel zu lernen hätten“. „Das ist auch so eine
blöde Ansicht“, erklärte Emilia, „in Wirklichkeit ist es ganz anders.
Auch wenn die Gelehrten in Porto noch so komplizierte Dinge erfinden,
von Mensch zu Mensch finde ich die Indianer offener und lieber“.
„Finde ich auch“, lächelte Iakunae erleichtert, „drum lass uns für
immer zusammen im Indianerland bleiben“. So sassen die zwei
Freundinnen nebeneinander und genossen den schönen Rundblick, ohne
auch nur im geringsten etwas Schlechtes oder Böses zu ahnen.
Nach einer Weile stand Emilia auf. „Wollen wir langsam weiter
gehen?“, fragte sie. „Ja“, antwortete Iakunae, doch noch bevor
Iakunae aufstehen konnte wurde es plötzlich finster um sie herum. Ein
kalter Wind blies Iakuane ins Gesicht. „Hilfe“, schrie Iakunae, „was ist
los?“. Aengstlich schauten sich die Mädchen um, doch schon donnerte,
krachte und blitzte es den beiden um die Ohren. „Hast du das
gesehen?“, erschrak Iakunae, „der Sturm? der Donner? das gelbe
Licht im Meer draussen?“. „Ja“, hauchte Emilia gebannt, „Ipupiara. Sie
kommt zurück. Sie greift uns an“.
Das Unglück traf Emilia und Iakunae erschreckend schnell. Noch bevor
sie genauer sehen konnten, was da los war, überzog sich der Himmel
brandschwarz. Die Mädchen hielten einander fest. Weit draussen im
Meer sahen sie das gespenstische Leuchten gelber Blitze.
Soweit das Auge reichte zuckten die gelben Blitze durch das Wasser.
Einem riesigen Spinnennetz gleich, das die ganze Meeresoberfläche
bedeckte, stiegen die Blitze aus den Gründen der Tiefe empor. In der
Mitte bäumte sich das Meer zu einem hohen Turm auf. Ipupiara, die
Dämonin, halb Fisch, halb Mensch sass oben auf diesem Thron von
donnerndem Wasser und schlug mit ihren kralligen Fäusten wild um
sich. „Nun habe ich euch“, krächzte sie mit wütender Stime, „nun
werde ich euch alle erwischen, ha, ha, ha“.
Wie wenn die eine Bedrohung nicht schon genug wäre, schlich noch
eine weitere Gefahr heran. Hinter dem Hügel, auf dem die Mädchen
standen, stiegen nämlich schwarze Wolken auf und verdeckten das
letzte Sonnenlicht. „Ein Gewitter?“, erschrak Iakuane. Emilia
schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nein“, antwortet sie, „ das ist kein
Gewitter. Das sind auch keine Wolken. Das ist brennender Rauch,
pechschwarzer brennender Rauch“. Es verging keine Minute und die
zwei Mädchen sind waren der unausweichlichen Bedrohung ausgesetzt.
Lange brauchten die zwei Mädchen nicht zu warten. Eine riesige Schar
kurrliger kräftiger Gestalten, menschliche Wesen mit Köpfen von
Fischen kamen ihnen entgegen. Die Wesen hatten eine Haut aus
Fischschuppen und mächtige Krallen an ihren Fingern. Sie waren nur
halb so gross wie die Mädchen, aber es waren unzählig viele. Mit ihren
roten und grünen Fischaugen glotzten sie wütend um sich. Hungrig
fletschten sie durch ihre scharfen Fischzähnen. „Die Piranabas“,
stöhnte Emilia zum Himmel, „die Verbündeten, Untertanen und Diener
Ipupiaras überfallen das Indianerland“.
Die Piranabas schlugen fürchterlich zu. Emilia und Iakunae sahen, wie
die Wüstlinge alles kleinfressen, Bäume, Büsche, Gräser und Pflanzen,
alles rissen sie aus, zermalmten es mit ihren Zähnen und Krallen und
machten den Urwald dem Erdboden gleich. Emilia und Iakunae
versteckten sich hinter einem dichten Busch. „Diese bösen Biester“,
entsetzte sich Iakunae, „die machen das ganze Indianerland kapputt“.
„Schnell“, entschied Emilia, „lass uns ins Dorf zurückkehren und
unsere Leute warnen“. „Blöde Prianabas“, stöhnte Iakunae und helt
ihren Holzstecken in die Höhe, „wartet nur, von mir könnt ihr was
erleben“. „Die sind stärker wie du“, entgegnete Emilia, „wenn wir gegen
die etwas ausrichten wollen so geht das nur mit List und Köpfchen.
Aber jetzt komm, zurück ins Dorf, so schnell es geht“. So rannten die
zwei Mädchen drauflos.
Der einzige Fluchtweg, der den Mädchen offen blieb, und wo die
Piranabas nicht bereits lauerten, führte steil den Abhang hinunter.
Die Mädchen rannten so schnell es irgendwie ging, doch immer wieder
rutschten sie auf den kantigen Steinen im Geröll aus. Emilia und
Iakunae bluteten an Armen und Beinen aus brennenden Schrammen
und Schürfwunden. Aber es war jetzt keine Zeit diese Verletzungen
zu pflegen. Tapfer flohen sie um Leben und Tod. Doch da, plötzlich,
rutschte Emilia aus und kam ins Fallen. „Halte dich, Emilia“, schrie
Iakunae verzweifelt, „Halte dich, pass auf, hinter dir, sonst fällst du
in die Tiefe“. „Hilfe“, schrie Emilia, „ich kann nicht mehr bremsen“.
Das steile Geröll schob sich vor Emilia in die Tiefe und Emilia fiel
hinterher, haltlos, immer weiter den Abhang hinunter, immer näher
hinaus auf die Felswand, die senkrecht weit in die Tiefe abfiel. Doch
da, zum Glück, im letzten Moment konnte Emilia den Ast eines jungen,
starken Baumes ergreifen und mit aller Kraft gelang es ihr, sich vor
dem sicheren Absturz durch die Felswand zu retten. Emilia blieb
liegen und bewegt sich nicht mehr. Sofort versuchte Iakunae zu ihrer
Freundin zu gelangen. „Wart Emilia, einen moment“, rief Iakunae, „ich
komme Dir zu Hilfe„ . Schliesslich gelang es Iakunae, mühsam zu Emilia
runter zu steigen. „Mein Knie, mein Knie“, klagte Emilia mit leiser
Stimme, „es schmerzt. Ich habe es auf den grossen Stein da
aufgeschlagen. Ich kann es nicht mehr bewegen“. „Komm ich helf dir.
Leg deinen Arm um meine Schultern. Wir müssen weiter“. Mit
Iakunaes Hilfe gelang es Emilia weiterzukommen. Doch sie kamen nur
langsam voran, denn auf das Bein mit dem verletzten Knie konnte Emila
nicht mehr aufstehen, ohne dass es fürchterlich stechend schmerzte.
Zum Glück aber schaute sich Iakunae genau um, bevor sie hinter der
Ecke mit Emilia weiterrannte. „Huch“, staunte Iakunae, „da geht’s
hinunter“. Keine zwei Schritte weiter vorne gähnte den Mädchen ein
steil abfallender Abhang entgegen. Vorsichtig blickte Iakunae zurück
zu den angreiffenden Piranabas. „Drei, es sind bloss drei“, stellte
Iakuane erleichtert fest, „das ist zum Glück nur einer ihrer
Spähtrupps, aber wir sollten sie aufhalten können und zum schweigen
bringen, denn wenn sie den anderen rufen, wird uns sofort die ganze
Meute hinterherrennen“.
Emilia traute Iakunaes Plan nicht so ganz. „Lass mal, vielleicht haben
sie uns ja gar noch nicht gesehen und ziehen weiter“, hoffte Emilia.
„Von wegen“, antwortete Iakunae, „die sollen uns jetzt bloss mal
sehen“. Iakunae rannte um die Ecke und streckte den Prianabas die
Zunge raus. Ihre Daumen steckte sie in ihre Ohren und wackelte mit
den Fingern. „Bäh, bäh , bäh, blöde Piranabas“, neckte sie die drei
Prinanabas. Emilia grinste, denn sie hatte Iakunes Plan sehr wohl
durchschaut. Obwohl Emilia kaum gehen konnte, ergriff sie einen
schweren Holzstock der neben ihr lag.
Aus der Tiefe drang böses Fluchen ans Ohr der Mädchen. „Graaaah,
verfluchte Gören, euch werden wir fressen“, schimpften die gründlich
vermöbelten Prianabas, die einiges an Schuppen und Zähnen beim
Sturz verloren hatten. Iakunae streckte die Zunge raus. „Bäääh, bullä
bulllä, bäääh“, neckte sie die drei arg gebeutelten Fischungeheuer.
„Lass uns weiter gehen“, sprach Emilia, „meinem Knie geht’s inzwischen
etwas besser“. So setzten die Mädchen ihre Flucht fort und
erreichten nach kurzer Zeit das Indianerdorf.
11-2
Ausser Atem stürzten die Mädchen durch das Tor hinein mitten auf
den Dorfplatz. „Rettet euch, rettet euch“, schrieen die zwei , „die
Piranabas überfallen uns. Zu hunderten, zu tausenden kommen Sie.
Rettet euch, rettet euch“.
Nur wenige Indianer befanden sich auf dem Dorfplatz. Paygi, der hohe
Priester, sass auf seinem Thron und erzählte seinen Verehrerinnen
schöne Geschichten. Die anderern Dorfbewohner hatten sich in die
Strohhütten zurückgezogen und ruhten sich aus.
Paygi hatte es gar nicht gerne, wenn ihn jemand beim Erzählen seiner
Heldengeschichten unterbrach. „Sagt mal, ihr zwei dummen Gören,
könnt ihr nicht woanders spielen?“, stänkerte Paygi zu Emilia und
Iakunae, „müsst ihr mit euren Kindereien wirklich das ganze Dorf
erschrecken?“. „Es ist aber wahr, die Piranabas, sie kommen“, keuchte
Emilia ausser Atem“, „schnell rettet euch, sonst ist es zu spät“.
„Meilenweit enfernt sage ich euch“, fügte Paygi ich hohem gelehrten
Ton fort, „in ihren tiefen Erdlöchern und wagen sich nicht mehr
heraus. Seit wir sie vor zwei Jahren mit den von mir persönlich
gesegneten Tammarakas in die Flucht geschlagen haben, wagen sie sich
nicht mehr in unsere Nähe“.
Häuptlling Avanene stand vor den Mädchen und vor Paygi. Er schwieg
und sagte nichts. Er schaute Paygi und den Mädchen in die Augen und
wandte darauf seinen Blick in der Urwald hinein. „Paygi“, sprach
Avanene trocken, „dann dreh dich mal um“. Dazu streckte Avanene
seine Hand in Richtung Urwald. Vor dem Dorf spielte sich eine Szene
ab, wie niemand sie jemals für möglich gehalten hätte. Ein hoher Baum,
ein sogennanter ‚Urwaldriese’ , zitterte, neigte sich langsam zur Seite
und krachte in sich selbst zusammen. Offenen Mundes schauten die
Indianer dem unglaublichen Spektakel zu. „Grääh, grääh, grääh“,
drangen die neckischen Schreie der Piranabas ins Indianerdorf,
begleitet vom Gekrache und Getöse unzähliger umfallender Bäume und
Sträucher.
Von den Piranabas selber war nicht viel zu sehen. Sie versteckten sich
hinter Stauden und umgefallenen Baumstämmen. Nur hie und da
blinzelte eines schäbig zwischen den Blättern hervor. Die Indianer
standen mit Pfeil und Bogen am Steckenhag ums Dorf. „Nichts zu
machen“, entsetzte sich Avanene, „sie schlagen uns alles klein, aber
wir sehen sie nicht. Spart eure Pfeile, bis wir sie zu Gesicht
bekommen“. Die Indianer schauten Avanene fragend an. „Meinst du
sollen wir nicht raus gehen und sie angreifen, mit ihnen kämpfen?“,
wollte ein junger Indianer wissen. „Damit wir das Dorf alleine lassen?“,
entgegnete Avanene, „ und sie dann ins Dorf eindringen können und
auch hier alles klein schlagen? Du weißt ja wie zahlreich sie sind“. Der
junge Indianer nickte und schwieg, denn er sah ein, dass Avanene
recht hatte.
Die Indianer waren sich die Gefahren des Urwaldes gewohnt und so
behielten sie nach dem ersten Schrecken des Ueberfalls rasch wieder
kühle Nerven, bereit zum weiteren Kampf. Dann aber plötzlich, wer
hätte es gedacht, nach der fünften Umrundung des Dorfes wurde es
totenstill im Urwald draussen. Die Indianer schwiegen und lauschten.
Einige machten lange Gesichter, andere freuten sich. Der Angriff der
Prianabas schien aufs erste gestoppt.
„Hurra, hurra, hurra, Sieg“, schrie Paygi und streckte mit beiden
Händen sein Priesterzepter in die Höhe. „Sieg, Sieg, Sieg“, kreischten
seine engsten Anhänger und Anhängerinnen und trugen ihren Liebling
im Dorf herum.
Trotz aller Not und Bedrohung freuten sich Emilia, Kevin , Iakunae und
Kwarahi über das Zusammensein nach der langen Zeit der Trennung,
als Kevin und Kwarahi auf der Reise waren. Sie sassen am späten
Nachmittag am Tor des Dorfes Uwattibi und schauten in den arg
verwüsteten Urwald hinaus. „Na ja, die Natur ist stark“, meinte
Kwarahi zuversichtlich, „die Bäume werden schnell wieder
nachwachsen, die Büsche auch, und die Maniokabäume schiessen ja
besonders schnell in die Höhe. Bis dahin werden wir uns schon
irgendwie zu helfen wissen“. „Recht hast du“, meinte Kevin, „und wenn
wir die Portugiesen fragen, werden uns in der Not bestimmt auch
helfen“.
Wieder schwiegen die Kinder und schauten in die Tiefe der Wildnis
hinaus. Doch da durchbrach urplötzlich lautes Kreischen und Schreien
die Stille. „Die Prianabas kommen zurück“, entsetzte sich Emilia, „die
Piranabas, sie greifen wieder an“. Schritte raschelten in der Wildnis
draussen und die Indianer rannten mit Pfeil und Bogen an den Hag ums
Dorf.
Paygi aber grinste fröhlich und wandte sich vergnügt an die Männer,
die um ihn herum standen. Kühl lächelnd ergriff Paygi sein Tammaraka,
und gab den Männern das Zeichen zum loslegen. Doch noch bevor die
Männer ihre Rasseln zur Hand hatten, erlebten sie eine
Ueberraschung, wie sie es nie erwartet hätten.
Wie schon beim ersten mal griffen die Piranabas das Dorf nicht direkt
an. Sie warfen aber auch keine Bäume mehr um. Nein, sie taten etwas
ganz anderes. Sie begannen zu rasseln. Sie kreischten und lachten
schadenfreudig und rasselten dazu wild mit hohlen Kokosnüssen, die
sie mit Steinen gefüllt hatten. Einige von ihnen hatten sich
Vogelfedern in ihre Fischschuppen gesteckt um die Indianer
nachzuahmen. Einer, der ganz besonders auffiel, trug hohe Federn auf
dem Kopf und hielt einen Holzstock als Zepter in der Hand.
Offensichtlich äffte er Paygi, den angesehenen Priester nach. „u, hu,
hu, hu“, grunzten die Piranabas dazu. Paygi guckte entsetzt mit
hochrotem Kopf in den Urwald hinaus. Neben ihm stiess Avanene
zutiefst enttäuscht kräftig Luft aus seinem Mund. „Jetzt kannst du
sehen, was sie von deinen Tammarakas halten“, meinte Häuptling
Avanene trocken zu Paygi. Paygi aber versank vor Wut beinahe in den
Boden. Er wurde hochrot im Gesicht und rasend wie noch nie zuvor in
seinem ganzen Leben.
Die Indianer reagierten verärgert. „Das dürfen wir uns nicht bieten
lassen“, schimpfte einer von ihnen, „los, greifen wie sie an“. „Halt,
halt“, mahnte Avanene, „lass sie uns erst mal genau beobachten. Am
Ende wollen sie uns bloss in eine Falle locken. Und dann ist der Kampf
nur verlustreich für uns und bringt uns überhaupt nichts“.
11-3
Wenn auch kein Indianer von den Piranabas verletzt wurde, so mussten
die Indianer in den kommenden Tagen dennoch feststellen, dass die
Tiere des Waldes geflohen waren, die Äcker und die Maniokabäume
zerstört waren und sie kaum mehr wilde Tiere jagen konnten, keine
Früchte mehr fanden und keine Fische mehr fiengen. Der Urwald gab
kaum mehr etwas essbares her. Es war düster und traurig und mit
jedem Tag stieg der Hunger der Indianer. Gross war schlussendlich
die Not, aussichtslos die Lage.
Emilia und Iakunae sassen in der Materialhütte und berieten, was sie
noch tun könnten. „Kräuter werden wir so auch keine mehr finden“,
meinte Emilia. „Kräuter? Nein wohl kaum“, stimmte Iakunae mit ein,
„vielleicht noch weit weg oder zuoberst auf den Hügeln“. Emilia zuckte
die Schultern. „Wie willst du dahin kommen, wenn überall die
grässlichen Piranabas lauern?“, fragte sie, „und schliesslich sollten wir
mit Avara Kontakt aufnehmen. Und dazu brauchen wir
Zauberpfefferkraut, und das ist besonders schwierig zu finden“. „Ob
uns Avara überhaupt irgendwie helfen kann?“ ,fragte Iakunae. „Hm, es
ist die Vorhersage“, antwortete Emilia, „Ich vertraue darauf. Aber wie
das genau gehen soll, weiss ich auch nicht“.
Ein kleiner Junge betrat die Materialhütte. Es war Ojang Utan. Sein
Gesicht war kreidebleich und blass. Mit leerem Blick starrte er
teilnamslos vor sich in den Boden . Seine Arme und Hände hingen
schlaff hinunter ohne dass er mit etwas gespielt hätte. „Hunger“,
klagte der kleine Junge mit leiser Stimme, „ich habe Hunger“. „Ach du
armer Bruder, bist noch so klein und musst schon Hunger leiden“,
tröstete ihn seine Schwster Iakunae und legte einen Arm um ihren
Bruder. Emilia starrte derweil ins Feuer. Doch nun blickte sie auf und
sprach zu den zweien. „Wisst ihr was? Ob wir hier im Dorf drin
verhungern oder raus gehen um etwas essbares zu suchen und dabei
vielleicht von den Piranabas gefressen werden, was solls? Kommt,
gehen wir raus, vielleicht finden wir ja irgend etwas“. „Ja“, stimmmte
Iakune mit ein, „und wenn diese blöden Piranabas kommen. So leicht
kriegen sie uns nicht“. Die zwei Mädchen nahmen Ojang Utan in ihre
Mitte und gaben ihm beide je eine Hand. Mutig verliessen die drei das
Indianerdorf.
Eine Weile schon waren die Kinder unterwegs. „Nichts, nichts und
wieder nichts“, seuftzte Emilia, „die haben ratze putze kahl alles
weggefressen“. „böse Prianabas, böse Teufel“, schimpfte Ojang Utan.
So weit das Auge reichte, lag das Indianerland in Schlamm und Dreck
vor den Augen der Kinder, nichts wie umgefallene Bäume,
abgefressene Büsche, tote Aecker und zerstörte Maniakobäume.
„Lasst uns trotzdem weiter gehen“, meinte Iakunae, „denn
zurückkehren nützt uns nichts“. Von den Piranabas konnten die Kinder
nichts sehen und nichts hören. Doch die Kinder wussten, dass
Piranabas im Urwald lautlos schleichen können. Hie und da knirschte es
denn auch in den Büschen, doch die Kinder liessen sich nicht abhalten.
„Lass es uns weiter im Landesinnern versuchen“, schlug Emilia vor, „da
in den steilen Schluchten zwischen den Hügeln. Vielleicht waren sie ja
dort noch nicht“.
„Dass wir von denen nichts bemerken?“, wunderte sich Iakuane etwas
später. Doch Emilia zuckte bloss mit den Schultern und meinte: „passt
mal auf, ich glaube ich kann sie förmlich riechen“. Auch in den
Schluchten liess sich nichts essbares finden, und auf Piranabas
stiessen die drei auch nicht. So setzten die Mädchen und Ojang Utan
entschlossen ihren Schritt fort Richtung Urwald. Je weiter die Kinder
sich vom Indianerdorf entfernten umso eher trafen sie hie und da auf
einen Baum oder einen Busch, den die Piranabas nicht abgefressen
hatten.
„Pssst“, zischte Emilia durch ihre Lippen und die Kinder duckten sich.
Im Busch vor ihnen raschelte etwas. Dann aber, von hinten, „grrrschh“,
kreischte ein Piranaba zum Angriff. Mit seinen funkelnden roten
Fischaugen begaffte es die Kinder und sperrte sein Maul weit auf.
„Grsschh“, streckte es seine kralligen Hände auf Ojang Utan los.
„Blöde Piranaba“, schrie Ojang Utan und warf einen Faustgrossen
Stein dem Prianaba mitten ins Gesicht. „Gut gemacht“, schrie Iakunae
und gab dem Prianaba einen kräftigen Hieb mit einem schweren Stock.
„Kämpfe, kömpfe“, schrie Ojang Utan und warf nochmals ein paar
Steine hinterher. „Achtung Ojang Utan, hinter dir“, warnte Iakuane
ihren Bruder so laut sie konnte, „schnell Ojang Utan“. Blitzschnell
drehte sich Ojang Utan. Hinter ihm stand ein Piranaba, aber kein
gewöhnliches Piranaba, denn dieses war über und über mit goldenen
Knöpfen und Kreuzen aus Diamanten verziert. Dazu trug es einen
hohen spitzen Hut mit dem Zeichen eines hungrigen Adlers drauf.
„Gibs ihm, schnell Ojang Utan“, feuerte Iaknune, die selber mit einem
anderen Piranaba kämpfte, ihren Bruder an. Ojang Utan zog seinen
Stock auf und knallte dem Piranaba einen Hieb, dass dieses weit ins
Gebüsch flog. „üüüü, rrrgg“, tönte es schmerzhaft von dort. Emilia
lächelte. „Das war kein gewöhnliches Piranaba“, jauchzte sie dem
Jungen entgegen, „du hast soeben ihren Heeresführer besiegt , hi hi
hi, starker Ojang Utan“. Staunend, mit offenem Mund, traten die
Piranabas, die soeben noch angreifen wollten, langsam zurück.
„OOOhhhh“, entsetzten sie sich furchtvoll, denn vor jemandem, der
ihren Anführer besiegen konnte, vor dem hatten sie Angst.
Ojang Utan und Iakunae bereiteten sich vor, erneut mit vollen Kräften
zu kämpfen. Ojang Utan legte sich einen Haufen Steine bereit und
Iakunae hatte einen noch besseren Stock gefunden. Emilia aber
bereitete sich nicht zum Kampf vor. Sie hatte eine andere Idee. Sie
streckte den Piranabas ihr Amulett entgegen, das sie vom alten
Schamanen geschenkt bekommen hatte. Dieses Amulett kannten die
Piranabas und fürchteten es wie der Teufel das Kreuz, denn der alte
Schamane war ihr grösster Widersacher. Ohne ihn hätten sie das
Indianerland schon längst erobert und dem Erdboden gleichgemacht.
Die Piranabas wussten zwar, dass der alte Schamane zur Zeit
geschwächt war weil er im Kampf gegen die Dämonin Ipupiara und die
Piranabas viel von seiner Lichteskraft verloren hatte. Aber es könnte
ja sein, dass er jetzt, wo jemand sein Amulett zeigte, trotzdem
erscheinen würde. Und das fürchteten sie. So verschwanden die
Piranabas. Sie zogen sich zurück, aber nicht weit weg. In sicherem
Abstand, ein , zwei Büsche entfernt, schlichen sie den Kinder
hinterher.
„Seht ihr den Jungwald da vorne?“, fragte Emilia, „den haben sie bis
jetzt verschont. Lasst uns da hinein gehen“. Schweigend folgten
Iakunae und Ojang Utan. Der Jungwuchs war niedrig und dicht. Die
zahlreichen Dornen und Nadeln stachen und kratzten auf Schritt und
Tritt. Sowas hatten die Piranabas gar nicht gerne. Wie Emilia
zurückblickte, sah sie, dass die Piranabas aufgegeben hatten, sie
weiter zu verfolgen. Statt dessen begannen sie den Jungwuchs nach
und nach zu zerstören und der beleidigte Heeresführer machte sich
laut bemerkbar. „Wald Auffressen, zerstören, Kleinholz hauen, sofort,
ganze Kompanie, dalli, dalli“, hörten sie ihn wütend schreien.
Emilia schaute sich um im Wald und entdeckte etwas. „Seht ihr was
ich auch sehe?“, fragte Emilia freudig, „ein alter Manioka Baum mit
vielen dicken Wurzeln“. Die Freude war gross. Schnell breiteten die
Kinder die mitgebrachten Baumwolltücher aus, ernteten die
Maniokawurzeln und schleppten die schwere Last ins Indianerdorf.
Dort wurden sie freudig empfangen. Endlich, endlich, nach langer Zeit
gab es wieder einmal reichlich Manioka Brote zu futtern für die
Kinder. Einmal nach vielen Tagen konnten sie ohne knurrenden Magen
in Ruhe des Nachts in ihren Hängematten einschlafen. Der kleine
Ojang Utan aber galt fortan als mutiger Kämpfer, und das nicht nur
bei den Indianern.
Am nächsten Tag blieb es ruhig im Urwald, nur zu ruhig. „Da tut sich
was“, warnte Avanene, „die Ruhe, die gefällt mir gar nicht“. Paygi stand
daneben und blickte in den Urwald hinaus. „Vielleicht haben sie auch
die Hosen voll bekommen“, meinte er,“. „Ja, ja ganz bestimmt die
Hosen voll“, grinste Avanene, „und zwar von deinen mächtigen
Tammarakas - nein, nein, die hecken etwas aus gegen uns“. „Oder sie
warten bis wir verhungert sind“, entgegnete ein anderer Indianer
daneben. „Da müssen sie leider nicht mehr lange warten“, gab Avanene
zu bedenken, „aber den Gefallen werden wir ihnen nicht machen. Wir
warten noch zwei Tage, und wenn bis dahin nichts entscheidendes
geschieht, werden wir angreifen“. So spähten die Männer in den
trostlos kleingehauenen Urwald hinaus, in banger Sorge um ihre
Zukunft.
Die Kinder sassen still auf dem Dorfplatz. Spielen mochten sie nicht.
Sie drehten ihre Spielsachen in den Händen und sprachen leise
miteinander. Die Mütter sassen dazwischen und versuchten ihre
Kinder zu trösten, so gut es ging. Es gab eine dünne Suppe zum
Mittagessen, eine Wurzelsuppe, angereichert mit ausgekochten
Schnecken, Würmern und dicken Käfern. Ja, ja, sowas assen die
Indianer, wenn ihnen die Natur sonst nichts mehr hergab. Immerhin
gab es wenigstens etwas kleines zum Mittagessen, wenn auch nicht
genug um davon satt zu werden.
Emilia, Kevin, Kwarahi und Iakunae sassen im Kreise und versuchen ihre
Freundschaft zu geniessen so gut es ging. „Warum müssen die immer
Krieg führen?„ ,fragte sich Emilia verzweifelt. „Ach das sind doch die
blödesten“, entsetzte sich Iakunae, „die wollen die ganze Welt für
sich alleine haben und niemand darf anders sein wie sie“. „Hirnkrank
würde ich sagen“, doppelte Kevin hinterher. „“Recht habt ihr schon“,
meinte schliesslich Kwarahi, „aber es hat keinen Zweck, allzu lange
dem Krieg nachzudenken, auch wenn wir dagegen sind. Meine Gedanken
kommen zu keinem Ende, wenn ich versuche, diesen Blödsinn zu
verstehen. Lasst uns wenigsten in uns selbst und unter uns den Frieden
bewahren. Und wenn wir uns zuletzt dennoch mit Waffen wehren
müssen, so tun wir es. Dann aber ohne die geringste Hemmung“.
Die grässlichen Unwesen standen da vor den Müttern und Kindern auf
dem Dorfplatz, während die Indianerkrieger verzweifelt versuchten,
das Eindringen weiterer Piranabas zu verhindern. „Häääh“, kreischten
die Piranabas, drohten mit ihren Aexten und Keulen und begannen
sogleich auf alles und jedes loszuschlagen. Eilends flohen die Frauen
und Kinder in eine der Hütten. Ein Piranaba stand zuvorderst. Dieses
Piranaba war reichlich mit Goldknöpfen verziehrt und trug einen
spitzen Hut mit dem Zeichen des hungrigen Adlers drauf. Ojang Utan
erkannte sofort, wen er vor sich hatte. Der General war
höchstpersönlich gekommen, um sich zu raächen. Doch Ojang Utan
floh nicht, sondern blieb zusammen mit Kevin, Kwarahi, Emilia und
Iakunae stehen, denn die Kinder hatten sich schon lange entschieden,
zu kämpfen und nicht zu fliehen. „Ojang Utan, ääääh“, schrie der
Heeresführer der Piranabas, „jetzt hab ich dich“. Zu fünft kamen die
Piranabas mit dicken Keulen in ihren Händen langsam auf Ojang Utan
zugelaufen. „Lasst ihn mirr“, zischte der Heeresführer aus seinem
zähnigen Mund, „ich will ihn selber verhauen“.
Ojang Utan liefen die Tränen die Wangen hinunter. „flieht“, sagte er
zu den anderen Kindern, „Ojang Utan bleibe hier, kämpfen, werde
kämpfen“. Und schon stand der stolze General vor ihm. „Mich hast du
beleidigt“, zischte der Heeresführer zwischen seinen Fischzähnen
hervor, „aber nun wirst du dafür büssen“. Er zückte seine Peitsche aus
seinem Generalsmantel hervor und knallte in die Luft. Unausweichlich
schritt er auf Ojang Utan zu. „Andere haben mich auch schon
beleidigt“, drohte der hohe General, „nur fragen brauchst du die nicht
mehr, wie es jemandem ergeht, der mich beleidigt hat. Von denen lebt
keiner mehr. Ho ho ho ho“. Der schreckliche Heeresführer kam näher
und näher doch Ojang Utan hatte nichts in der Hand womit er sich
hätte wehren können. „Hä hä hä“, grinste dafür umso hämischer der
überlegene Heeresführer.
Ojang Utan war ein Indianerjunge und und Indianer kämpfen bis zum
letzten mit allem was ihnen in die Finger kommt. Verzweifelt schaute
sich Ojang Utan um und sah neben sich die Feuerstelle. Da lag ein
rauchender, angebrannter Holzstock drin, nicht gross zwar, aber
immerhin. Da es nichts anderes in seiner Nähe hatte, nahm Ojang Utan
diesen rauchenden Stock aus dem Feuer. „Kämpfe, du dumme Biest“,
schrie Ojang Utan und schlug blitzschnell dem verdutzten
Heeresgeneral mit dem brennenden Stock auf die Brust. Mit dem
glühenden Stecken stach Ojang Utan drauf los, bis schliesslich der
vordere Teil des Stockes mitsamt der Glut zwischen den
Fischschuppen des Genreales eingeklemmt blieb. Der getroffene
Heeresgeneral riss seine Augen weit auf. „Uhhhh, uhhhh“, schrie er
wehklagend, „heiss, brennt, uhhhhh, heiss, weh, weh, bääh, bäääh“. Der
Heeresführer wölbte und reckte sich schmerzerfüllt. „öööh, ööööh“,
klönte er. Darauf gaffte er Ojang Utan mit grossen Augen an. Er hob
kurz seine geballte Faust in die Höhe, drehte sich dann aber weg und
rannte so schnell es ging aus dem Dorf hinaus. „Aua, Feuer, Feuer,
heisses Feuer, brennt, Aua“, schrie er auf seiner Flucht. „Feuer,
Feuer“ stammelten die Prinabas auf dem Dorfplatz in panischer Angst,
„Feuer, heiss, bäääh“.
Kevin kämpfte daneben mit einem anderen Piranaba. Doch Kevin hatte
Ojang Utans Kampf genau beobachtet. „Sie scheuen das Feuer“, schrie
Kevin so laut er konnte, „sie scheuen das Feuer, Schnell nehmt
brennende Stöcke und vertreibt sie“. Kevin nahm einen Busch dürres
Stroh vom Dach einer Hütte, klemmte den Busch zwischen Saite und
Holz seines Bogens, hielt den Stroh kurz ins Feuer und rannte auf die
Piranabas los. „Uuh, uuhh, uhhh“, fürchteten sich die Piranabas vor
dem Feuer und rannten vor Kevin fort. Die Indianer begriffen sofort.
Einer nach dem andern holte einen brennenden Stock aus dem Feuer
oder machte es Kevin gleich mit Stroh vom Dach. „Feuer, Feuer, nehmt
Feuer und wehrt euch“, schrieen die Indianer freudig, ob der neuen
Wunderwaffe, die Ojang Utan entdeckt hatte. Im Nu waren die
Piranabas aus dem Dorf verdrängt und flohen in den Urwald hinaus.
11-4
Ein paar Tage später zogen Emilia und Iakunae mit Fakeln und Stroh in
ihren Händen los. Sie wollten endlich wieder mal Zauberkräuter im
Urwald finden. Sollten die Piranabas sie angreifen, wollten sich die
Mädchen mit brennendem Stroh wehren.
Schon bald fanden die Mädchen das violette Kratzkraut. Daran hatte
Emilia besonders Freude. „Damit kann ich Panyma um Hilfe rufen“,
erklärte Emila ihrer Freundin, „auch wenn sie noch so weit entfernt
ist, wird sie mich hören können. Dann werden wir Panyma zu uns bitten
und mit Panymas Hilfe können wir bestimmt mehr gegen die Piranabas
und Ipupiara ausrichten“. „Dann tu das jetzt gleich“, wünschte sich
Iakunae. „Hier draussen im Urwald?“, wunderte sich Emilia, „hier geht
das nicht. Ich brauche ein grosses Feuer dazu und viel Zeit. Komm lass
uns noch das Zauberpfefferkraut suchen. Ganz in der Nähe liegt eine
Stelle, an der mir Panyma dieses Kraut einmal gezeigt hat“. So liefen
die Mädchen weiter.
Kurz darauf waren sie an der Stelle angekommen. Der Ort im Wald, an
dem das Zauberpfefferkraut zu finden war, lag düster und dunkel vor
den Mädchen. Ein kalter Wind blies den beiden ins Gesicht. „ Das
gefällt mir gar nicht“, fürchtete sich Iakunae, „meinst du nicht wir
sollten umkehren? Sollen wir nicht erst mal Panyma rufen und dann das
Zauberpfefferkraut mir ihr zusammen suchen gehen?“. „Ach wo“,
winkte Emilia ab, „komm lass es uns hier suchen“. „Aber es ist so
dunkel und gespenstig hier“, fuhr Iakunae fort, „siehst du die dunklen
Schatten, die überall lauern“. Emilia schaute sich um und blickte
nachdenklich zu ihrer Freundin. „Ja du hast recht“, stimmte nun Emilia
mit ein, „der Ort ist ungeheurlich. Du hast recht, Iakunae. Es ist
besser, wenn wir umkehren“. So drehten sich die Mädchen um und
wollten ins Indianerdorf zurückkehren. Doch genau in dem Moment,
mitten auf dem dunklen Waldboden, vor den Mädchen, da glitzerte
eine schwarze Pflanze mit drei grossen schwarzen Blüten. „Das
Zauberpfefferkraut“, staunte Emilia, „die seltenste aller
Zauberpflanzen. Ohh, schön. Siehst du das wunderbare Kraut“. „Mh, ja
schon“, gab Iakunae zu, „trotzdem, das ganze gefällt mir nicht.
Überleg dir mal, seit Wochen schon machen die Piranabas den Urwald
kaputt, hacken alles klein und wir, wir finden ganz in der Nähe des
Dorfes ein Zauberpfefferkraut? Eigenartig“. „Schon eigenartig, da
hast du recht“, gestand Emilia ein, „aber schau mal, wie es so schön
vor uns liegt... schau wie wunderschön es ist“. „Ja schön ist es“,
staunte nun auch Iakunae, „und schau mal wie es geheimnisvoll
glitzert“. Eine Weile bewunderten die Mädchen das schöne Kraut.
„Meinst du, ist es auch wirklich das Zauberpfefferkraut?“, fragte
Iakunae, „sieht das wirklich so aus?“, „Ja, Panyma hat es mir einmal
gezeigt“, versicherte Emilia, „und das sah genau so aus. Obwohl, die
Blätter waren damals, glaub ich, ein wenig runder und die Blüten nicht
ganz so gross“. Dann nach einer Weile entschloss sich Emilia: „Ach
komm, was soll die lange Diskussion, stecken wir es ein und kehren wir
zurück. Wir werden ja dann sehen, ob es das richtige ist, entweder
der Zauber gelingt oder sonst halt eben nicht“. Kurzerhand pflückten
die Mädchen das Kraut und machetn sich auf den Weg zurück ins
Indianerdorf.
„Schön, die warme Glut“, staunte Iakunae begeistert, „ich glaube wir
können beginnen“. „Ja“, antwortete Emilia mit grossen Augen, „setz
dich mir gegenüber, lass uns versuchen, aus der Ferne Panyma zu
erreichen“. Emilias Tierfreunde hatten es sich in der Materialhütte
bequem gemacht und schauten den zwei Mädchen zu. Filippo und Nico
lagen im Stroh und guckten neugierig zu den Mädchen. Abare sass auf
einem Balken und schaute zufrieden dem Spektakel zu, während
Rosabranca hinter der Materialhütte angebunden war und durchs Tor
hineinschaute. „u, u, u, u, u“, jauchzte Otsaro vom obersten Dachgibel
hinunter. Den Tieren ging es zu Hungerszeiten besser wie den
Menschen. Ihre Nahrung war einfacher wie die der Menschen und so
fanden sie auch viel leichter etwas. Doch auch die Indianer hatten
sich inzwischen an die Aenderungen auf dem Menuplan gewöhnt. Mit
beispielloser Selbstverständlichkeit assen sie täglich ihre
Wurzelsuppe die angereichert war mit Würmern, Schnecken und
dicken Käfern, ohne auch nur im geringsten darüber zu klagen.
„Panyma, Panyma“, murmelten die Mädchen mit tiefer Stime und legten
vorsichtig etwas vom violetten Kratzkraut auf die Glut. Abare nickte
kräftig auf seinem Balken oben und stampfte von einem Bein aufs
andere. „Kraaah, kraaah, Panyma, Panyma“, krächzte er. Die zwei
Mädchen grintsen einander an. „Ja, ja, lieber Abare, hilf du uns auch
ein bisschen“, lächelte Emilia ihrem Papageienfreund zu. Schliesslich
stieg violetter Rauch aus der Glut auf und in der Materiahütte wurde
es stockdunkel. Emlia und Iakunae streckten ihre Hände zum Rand der
Glut hin, worauf ein grelles violettes Licht über der Feuerstelle die
zwei Mäcchen blendete. „Panyma, Panyma“, flehte Emilia, „wir sind in
Not, komm schnell und hilf uns“. „Die Piranabas überfallen uns“, rief
Iakunae hinterher.
„Gruhu, gruhu“, hörten die zwei Mächen über sich die Stimme der
Urwaldeule. „Kruhu, kruhu“, grüsste freudig Abare seinen Freund und
einen kurzen Moment später sassen die beiden Vögel nebeneinenader.
„Urwaldeule, du bist es? hallo liebe Urwaldeule“, grüsste Emilia
freudig. Dies brachte Emilia auf eine Idee. „Macht euch auf ihr zwei“,
bat sie die Vögel, „fliegt Panyma entgegen. Zeigt ihr den besten Weg
und versucht, sie an den wilden Horden der Piranabas sicher vorbei zu
führen“. Einen Moment hielten die zwei Vögel ihre Köpfe zusammen
und flogen dann los, hinaus in den verwüsteten Urwald.
Zaubern ist gar nicht so einfach, wie sich das viele vorstellen und es
ist vor allem für Zauberschüler ziemlich anstrengend. So ruhten sich
Emilia und Iakunae in ihren Hängematten aus, zufrieden, dass ihnen
der erste Zauber so gut gelungen war.
11-5
Nach einer Weile stand Emilia auf und holte ihren magischen Spiegel
neben die Feuerstelle. Iakunae folgte ihr und legte nochmals etwas
Holz ins Feuer, sodass die Hütte in hellem Licht erleuchtete.
Schliesslich kniete Emilia neben dem magischen Spiegel. „Nachdem uns
der Zauber vorhin so gut gelungen ist, lass uns versuchen mit Avara
Kontakt aufzunehmen und ihn um Hilfe zu bitten“, sprach Emilia. „Ja
lass uns anfangen“, stimmte Iakunae ein, „der erste Zauber ist ja so
gut gelungen, was soll da noch schief gehen?“. Emilia lächelte.
„Vielleicht kann uns ja Avara sogar noch eine gebratenen Pute
rüberschicken“, witzelte sie vergnügt, „ein feines Festessen anstatt
der ewigen Würmer- und Schneckensuppe“. So bereiteten sich die
Mädchen erneut zum Zaubern vor, während draussen die einbrechende
Nacht die Welt mehr und mehr in Finsternis versinken liess. Und, – -
da es schon fast dunkel war, - - konnte niemand - die schwarzen
Gestalten sehen, die um die Materialhütte lautlos sich anschlichen.
Nur einem gefiel es nicht, was geschah. Nico der Hund streckt
schnuppernd seine Nase in die Höhe. „Grrrh“, knurrte er leise. „Hast
du was, Nico?“, fragte Emilia, „brauchst keine Angst zu haben. Iakunae
und ich werden jetzt ein wenig zaubern. Das haben wir ja schon oft
gemacht. Brauchst keine Angst zu haben“.
Iakunae liess das schwerelose Kraut in der Luft schweben. „Wie schön
es glitzert“, staunte Iaknunae übermütig, „so schön hat nicht mal
Panymas Zauberpfefferkraut geglitzert. So schön, so wundervoll, da
wird der Zauber bestimmt gut gelingen“. Sachte schob Iakunae das
seltsame, schwerelos schwebende Kraut über die sengende Glut. Das
Kraut glühte auf und ein glitzriger schwarzer Rauch stieg aus ihm
emport. „Booaaah“, staunte Emilia und starrte in die mächtige Glut.
Doch lange staunte Emilia nicht, denn da plötzlich sah sie etwas, das
sie zutiefst erschrecken liess. Das Blut blieb Emilia in den Adern
stecken, denn im glitzernden schwarzen Rauch erschien Ipupiara, die
Dämonin des Wassers. Zuerst nur klein und unscheinbar, doch schnell
wurde Ipupiara gross und grösser, bis schliesslich die leibhaftige
Dämonin vor den Mädchen stand. „Huo, hua, hua, seid ihr darauf
reingefallen, hua, huo huo“, lachte Ipupiara immer fort. Dazu drohte
sie den Mädchen mit ihrem Stab, der aus dem Schwert eines
Sägezahnfisches geschmiedet war.
„Flieh Avara“, rief Panyma, „flieh weg von deinem Bilderschirm Spiegel
soweit du kannst“. „Ich kann nicht, ich kann nicht“, kam die Antwort
zurück, „ich kann mich nirgends halten, Hilfe, es zieht mich hinein“.
„Eine arrogante Hexe sagst du?“, stammelte Iakunae, „die Königin der
Piranabas, hm“. „Genau, eine Königin will sie sein“, dämmerte es Emila
langsam, „Arrogant? Eitel? und eine Königin, was braucht sie?
Schmuck? Etwas Wertvolles? Was tragen die Könige im Indianerland
heutzutage?“ „Na was schon, was schon, was weiss ich, vieles ?„,
stammelte Iakuane. Emilia blickte tief in Ipupiaras rote Augen. Dann
aber schloss sie ihre Augen. Plötzlich fuhr es Emilia wie ein Blitz durch
den Kopf. „Eine noble Halskette aus rostigen Nägeln“, entglitten ihr
schlagartig leise die Worte. Nochmals schaute Emilia Ipupiara in die
Augen. „Eine noble Halskette - aus rostigen Nägeln“, schrie Emilia laut
raus.
„Eine noble Halskette aus rostigen Nägeln?“, fragte Panyma und zeigte
sich auch gleich überzeugt. „Klar, das ist es“, rief Panyma laut,
„Ipupiara, du willst eine Halskette aus rostigen Nägeln“. Ipupiara
blickte Panyma wütend ins Gesicht, dann aber lacht sie: „hua, hua, hua.
Diesen Wunsch, hua hua hua, erraten habt ihr in zwar, aber wie wollt
ihr ihn erfüllen? Hä hä hä, Im ganzen Indianerland, hua hua hua, hat
einzig euer Könige eine solche Halskette. Und euer König ist weit weg,
über alle Berge, an einem anderen Ort, hua hua hua hua“.
„Recht hat sie, verflixt und zugenäht“, zeigte sich Emilia enttäuscht.
„Ja ihr zwei“, seuftzte Panyma, „ich weiss auch niemanden ausser der
Indianerkönig und die portugiesischen Siedler, die überhaupt Eisen
besitzen, und es eilt“.
„Schade“, seuftzte Emilia. Doch Iakunae zwinkerte mit den Augen. Sie
hatte eine Idee. „Avara“, rief sie laut in den magischen Spiegel hinein,
„Avara, ihr habt doch so viele Sachen aus Eisen in eurer Welt. Hast du
rostige Nägel bei dir zuhause?“. „Rostige Nägel?“, wunderte sich
Avara, „was sollte ich mit rostigen Nägeln? Nicht dass ich wüsste,
wären hier irgendwo welche“. „Schade“, seufzte Iakunae und stampfte
enttäuscht in den Boden. „Das wär zu schön“, flüsterte Panyma,
während Ipupiara freudig lachte: „ Jetzt fress ich euch alle auf. Hua
hua hua, alle, denn ihr mikrigen Indianer habt doch kein Eisen, hä hä
hä. Habt ihr keine würdige Halskette für mich? Für mich, die Königin,
die Königin der Piranabas? hua hua ! “. Stärker denn je zuvor saugte
Ipupiara kräftig Luft durch den magischen Spiegel und streckte ihre
spitzige Zunge und ihre kralligen Finger dem silbrigen Spiegel
entgegen. „Komm schon, komm schon , du Zauberspiegelmann. Ipupiara
hat Hunger , ha ha“.
Wütend hustete Ipupiara. „Wer war das?“, erboste sie sich, „dieser
fremde Mann da drin? Wart nur, dir werd ichs zeigen. Jetzt kannst du
was erleben“. Und schon saugt Ipupiara wieder Luft durch den
magischen Spiegel ein, nochmals stärker denn je zuvor. Einem Meeres-
Wirbelsturm gleich. Dennoch, die kurze Pause hatte Avara geholfen,
bis zu seiner Haustür zu kommen.
„Die Türe, ich bring das Ding nicht auf“, schrie Avara so laut, dass es
Emila, Iakunae und Panyma bis ins Indianerland hören konnten. „Mach
schon, mach schnell“, rief Iakunae. Da erinnerte sich Iakunae an
etwas. „Vergiss nicht, Avara“, schrie sie laut, „die Türklinke geht
anders rum bei eurer Haustüre“ . Ipupiara wurde ungeduldig und
wütend. Nun streckte sie ihre braunen Krallen den drei Frauen
entgegen. „Dann fress ich halt zuerst euch als Vorspeise huahua“,
freute sie sich.
„Jetzt, jetzt, ich bin draussen“, frohlockte Avara, der es mit letzter
Kraft geschafft hatte, dem tödlichen Sog entgegen vor die Türe zu
kommen. Kurzerhand ergriff Avara den schweren Tontopf mit dem
rostigen Eisen und warf ihn mit einem kräftigen Hieb dem saugenden
Loch auf seinem Bildschirm entgegen. „So, das sollte aufs erste
reichen“, freute er sich mit einem lauten Lachen.
„Das sollte auf erste reichen?“, staunte Emilia, „was meint er damit?“.
Der magsiche Spiegel schepperte und zitterte wild. „Ich glaube da
kommt was“, kicherte Iakuane. „Pong“, donnerte und krachte, zischte
und knallte Emilias magischer Spiegel laut und lauter. Einem Blitz
gleich, der aus einer Wolke zuckt, flog der Topf aus dem silbernen
Spiegel Ipupiara zwischen Augen und Nase an den Dämonenkopf.
„Auuuuuu, johoh“, heulte Ipupiara, „wehh, bebe, uuh“.
Doch damit nicht genug. „Rrrsch“, rasselte und rauschte der magische
Spiegel bedrohlich, wie wenn er jeden Moment selber explodieren
würde. Ipupira flehte und schrie. „Aua, aua, aua“, jammerte sie mit
einer grossen Beule am Kopf. „Jipiiiiee, da kommt noch mehr“,
frohlockte und tanzte Iakunae. „Ja, es ist...“, kreischte Emilia drauf
los doch sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, da hagelte es
Nägel und Eisen aus dem magischen Spiegel . Im heulenden Sog, mit
dem Ipupiara Avara auffressen wollte, kamen nun rostige Nägel,
Harscheisen, Hämmer, Haken, rostige Klingen, Sägeblätter,
Schrauben, Armiereisen und tausende Stücke zermalmtes Eisen wie
Hagelschlag geschossen, flogen pfeifend durch den Spiegeln in
Richtung Ipupiara und knallten der Dämonin tief in ihre schuppige
Fischhaut. „Uuuuh“, heulte und sprang Ipupiara durchlöchert in die
Lüfte, „hüä, hüä, wäääh“, schrie sie und rannte los in Richtung des
endlosen weiten Meeres. Darauf wurde es still, totenstill.
„Die sind wir los“, freute sich Emilia. „Endgültig los“, doppelte Iakunae
hinterher. „Ja, ich denke auch“, meinte erleichtert Panyma, „die lässt
sich so schnell nicht wieder blicken“. Erschöpft doch zufrieden sassen
die drei Frauen eine Weile still nebeneinander.
„Meinst du die Nägel tun ihr fest weh?“, fragte Iakunae nach einiger
Zeit, „meinst du, stirbt sie daran?“. „Wegen diesen paar Nägeln?“,
grinste Panyma, „nein, nein, da stirbt sie nie und nimmer daran. Auch
das Stechen der Nägel ist nicht mal so schmerzhaft und im
Salzwasser des Meeres werden sich die Nägel im Nu in Rost aufgelöst
haben. Das alles ist nicht so schlimm für Ipupiara“. Dann nach einer
kurzen Pause fuhr Panyma fort: „Was für sie viel schlimmer ist, Emilia,
wir haben sie gleich drei mal in ihrem Stolz getroffen. Zuerst, als du
ihren grössten Wunsch durchschaut hast. Dann ein zweites mal, wie
sie behauptete, wir könnten ihr den Wunsch nicht erfüllen, doch es
mit Avaras Hilfe möglich war, ihr das rostige Eisen zu besorgen, und
dann zum dritten mal wie wir ihr das schöne Geschenk auch noch auf
die direkteste und deftigste Art überreicht haben. Dass wir sie so in
ihrem Stolz getroffen haben, ist das schlimmste für sie, viel
schmerzhafter wie die paar Nägel selbst“.
Juanita und Thiago spielten auf der Veranda neben Emilia. Sie sassen auf
einem Holzpferd, das ihnen ihr Vater geschenkt hatte. Juanita sass hinten
und Thiago hielt vorne die Zügel des Pferdes fest in seinen Händen. So
schauckelten sie quitschend auf und ab.
Schliesslich wandte sich Juanita an Emilia und sprach: „Das ist aber schön,
Maija, dass es euch gelungen ist, Ipupiara zu besiegen“. „tumme Ipupiala“,
entsetzte sich Thiago. Emilia blickte zu ihren Kindern mit einem Lächeln im
Gesicht. „Ja, ja ihr zwei“, freute sie sich, „wir haben es damals genossen,
wieder ohne Angst und Sorgen leben zu können und haben manch
ausgelassenes Fest gefeiert. Jeden Tag ist uns etwas eingefallen um fröhlich
und lustig zu sein“. „Ach Maija“, meinte Juanita etwas wehmütig zu Emilia,
„jetzt, nachdem du uns das alles erzählt hast, und wir es sozusagen nun auch
miterlebt haben, da möchte ich auch gleich vor Freude feiern“. „Ja das
sollten wir tun“, stimmte Emilia bei und nickte ihren Kindern zu, „wartet hier
einen moment“. Sie stand auf und begab sich ins Haus. „Ach haben wir eine
liebe Mama“, freute sich Juanita und hielt sich auf dem schaukelnden Pferd
fest an ihrem Bruder, „jetzt holt sie uns bestimmt etwas ganz feines“.
„swielig, swielig kämpfe“, entsetzte sich Thiago, „Ipupiala kämpfe mit Swelt,
Ipupiala stalk“. „Ach wo, das ist doch gar nicht so schwierig“, entgegnete
Juanita, „Ipupiara mit ihrem Sägezahn-Schwert, der zeigen wir jetzt mal
wer hier der stärkere ist“. „ja, ja ja“, doppelte Thiago hinterher. „Thiago,
weißt du was? Wir fliegen ja so hoch, nun setzen wir mal unsere
Geheimwaffe ein“. „Geheimwaffe? hmmm?“, fragte Thiago neugierg, „Ja,
flieg mal genau über Ipupiara“, gab Juanita das Kommando. „pegasso, hüa hüa
ho“, lenkte Thiago das fliegende Pferd bis sie hoch über Ipupiara
hinwegschwebten. „So und jetzt unsere Geheimwaffe, ich hebe Pegassos
Schwanz hoch und dann kann er ein paar Pferdebohlen auf Ipupiara runter
fallen lassen“. „Ja, ja, hi hi hi“, kreischte Thiago ausser sich vor Freude,
„pegasso seissen, los Ipupiala lunter seissen“. „Pfrrrrrr“, zischte Juanita laut
mit ihrer Stimme. Thiago kugelte sich vor Lachen. „Pass aber auf, mein
kleiner Bruder, dass du nicht vor lauter lachen noch hinunter in die Tiefe
fällst“, mahnte Juanita amüsiert ihren Bruder und umarmte den kleinen
Jungen von hinten.
Inzwischen kehrte Emilia auf die Veranda zurück. In ihren Händen hielt sie
eine grosse Schüssel voller Erdbeeren und einen Krug eiskalten Tee. „So ihr
zwei tapferen Kämpfer“, lächelte sie freundlich zu ihren Kindern, „jetzt
könnt ihr bei einem feinen Erdbeerschmaus und süssem Minzentee euren
Sieg feiern“. „Mhhh“, lechzte Thiago und begab sich eilends zu Tisch.
„Damals haben wir Kinder unseren Sieg auch mit Erdbeeren gefeiert.“,
erinnerte sich Emilia, „An einem Tag, ich weiss es noch , wie wenn es gestern
gewesen wäre. Das war ein besonders schöner Tag, an dem aber auch
Trauriges geschehen ist. Es war ein Tag, an dem sich vieles in meinem Leben
damals änderte“. Emilia hielt das alte Pergament in ihren Händen. Erdbeeren
schmatzend schmiegten sich Juanita und Thiago von beiden Seiten eng an
ihre Mutter. Emilia wusste genau, was die Kinder von ihr wünschten. Eine
Weile suchte sie auf dem grossen, vollgeschriebenen Pergament. Dann
begann sie zu erzählen.
Mit dem Sieg über die Dämonin Ipupiara war Friede ins Indianerland
zurückgekehrt. Der arg verwüstete Urwald erholte sich rasch, denn im
warmen Klima Brasiliens wuchsen die Pflanzen schnell wieder nach. Gräser,
Blumen, Stauden und Jungbäume, im Nu spriessten sie aus dem fruchtbaren
Boden in die Höhe. So fanden die Indianer schon bald wieder genügend
Nahrung. Die Hungerszeit war vorbei.
Die Bewohner genossen die sorglosen Tage nach der langen Zeit der
Ungewissheit. Jeden Tag kam ihnen etwas neues in den Sinn um irgendein
kleineres Fest zu feiern. Aber heute, da war ein ganz besonderer Tag,
wenigstens für Iakunae, denn sie hatte Geburtstag. Neun Jahre alt wurde
sie heute.
So bereiteten sich die Kinder des Dorfes auf den Ausflug vor. Alle Kinder
ausser die ganz kleinen Babies kamen mit. Die Kinder schminkten ihre
Gesichter in bunten Farben und schmückten sich mit ihren schönsten Federn.
Viele nahmen zudem Trommeln Flöten oder Kürbisposaunen mit, denn da oben
auf dem Erdbeerügel, da wollten sie gehörig loslegen. Das wird ein tolles
Kinderfest und darauf freuten sie sich. Kevin, Kwarahi und ein paar junge
Indianer gingen zum Schutz der Kinder mit.
Der Weg führte vorbei am Bach, wo die Enten auf dem Wasser mit
fröhlichem Gequake grüssten und die Fische im Übermut gewagte Sprünge in
die Luft vorführten. Bunte Blumen zierten den Weg, dicke Bienen summten in
den Blüten der Pflanzen und Bäume und fleissige Ameisen krabbelten mit
Holzspänen und trockenen Blättern am Boden, um sich ihre Nester zu bauen.
In ihrer Freude sangen die Kinder auf dem Weg ein Lied.
„Ja, ja, die Kinder haben was vor“, freuten sich die erwachsenen Indianer im
Dorf und guckten neugierig zum Erdbeerhügel hinauf. Sie hatten es gerne,
wenn ihre Kinder gemeinsam spielten und alle zusammen etwas unternahmen.
Und schliesslich genossen sie es auch mal ohne Kinder im Dorf zu sein, denn
dann war es viel ruhiger und das lud zu einem Mittagsschläfchen ein. Die
meisten Indianer dösten in ihren Hängematten gemütlich vor sich hin.
Nur zwei Frauen, denen war gar nicht nach Ausruhen zumute, nämlich Silvia
und Panyma. Zu zweit trugen sie eine grosse Schüssel Honigbonbons und
liefen durch den Urwald, weit hinter den Kindern, dem Erdbeerhügel
entgegen. „Unsere Kinder waren so lieb während der schweren Zeit“, meinte
Silvia zu Panyma, „und sie haben uns so viel geholfen. Da wollen wir ihnen
doch zum Dank etwas Süsses auf ihr Fest bringen“. „Und tapfer gekämpft
haben sie auch“, stimmte Panyma überein, „ohne unsere Kinder wäre es uns
nie gelungen, Ipupiara zu besiegen“.
Das letzte Stück des Weges führte die Kinder steil den Hügel hinauf. Die
Kinder genossen die Schönheit der Natur, das Zwitschern der Vögel, das
Kreischen der Affen, das Immergrün des Waldes und die hohen Bäume mit
ihren Hängepflanzen in allen schillernden Farben. All das liess die Kinder die
Gefahren des Urwaldes vollständig vergessen. Doch da, plötzlich, raschelte
es in einem Gebüsch.
„Was ist das?“, erschrak ein Mädchen, „im Gebüsch da vorne, da bewegt sich
was“. „Halt, stillstehen“, befahl Kwarahi, die als eine der ältesten zuvorderst
lief. „rschh, rrrsch, hss, hsss“, raschelte es in den dichten Stauden direkt
vor den Kinder. Kevin hielt Kwarahi fest in seinen Armen. „Zu dumm, haben
wir Pfeil und Bogen nicht dabei“, stöhnte Kevin. Doch dann liess er Kwarahi
los und ergriff einen Holzstock der neben ihm lag. Schon längst hatte er von
den Indianern gelernt, dass ein Holzstock als Waffe im Urwald besser ist
wie nichts.
Darauf wurde es still im Gebüsch, wie wenn da drinnen jemand gespürt hätte,
dass ein junger Mann die Waffe ergriffen hatte. Die Kinder sagten kein
Wort. Alle starrten sie gebannt auf das Gebüsch und auf Kevin. Kevin schritt
langsam voran, dem unbekannten Wesen entgegen, entschlossen zum
sofortigen, erbarmungslosen Kampf gegen alle möglichen Gefahren. Es gab
für die Indianer kein Zögern, wenn sie bedroht waren, denn alles andere wie
ein blitzschneller Kampf konnte den sofortigen Verlust des eigenen Lebens
bedeuten.
„Nichts, nichts und wieder nichts“, flüsterte Kevin nach einiger Zeit, „aber da war doch
was. Da war was im Gebüsch“. Kevin klopfte vorsichtig einge mal leicht auf den Boden.
Dann stachelte er mit dem Stock im Gebüsch, schob die Aeste auf die Seite. Doch
nirgends war etwas zu sehen
Kwarahi schüttelte leise den Kopf. „Ich hätte wetten können dass da was
war“, ereiferte sie sich, „hast du nicht auch gesehen, Kevin, die kleinen
braunen Schatten, die hinter die Bäume verschwunden sind und die runden
kugeligen Köpfe, wie wenn sie Hüte getragen hätten?“. Doch Kevin verzog ein
fragliches Gesicht und schüttelt den Kopf. „Irgendein Stinktier? Na ja, lass
uns weitergehen“, meinte er schliesslich, „wenigstens sind wir viele, da
werden wir uns wehren können“. Einige Kinder fürchteten sich dennoch
etwas. „Es war vielleicht doch nicht so schlau von uns, dass wir alleine
losgezogen sind“, meinte ein kleiner Junge. Kevin legte dem Jungen seinen
Arm um die Schultern und tröstet ihn: „Im Urwald wird es dir noch oft
geschehen, dass du von einem Tier überrascht wirst und es vor dir flieht
bevor du es überhaupt siehst, da brauchst du nicht gleich erschrecken“.
Schon bald hatten die Kinder die Anhöhe des Erbeerhügels erreicht. Schön
war die Aussicht von da oben. „Seht ihr das Dorf?“, fragte ein Mädchen.
„Das Dorf sehe ich schon“, kicherte Emilia, „bloss keine Indianer. Die sind
wohl froh, wenn sie uns mal los sind und in Ruhe in ihren Hängematten
faulenzen können“. „Ja, die faulen Männer“, lachte Iakunae, „haben sich
sicher heisshungrig ihre Bäuche mit Grilliertem vollgeschlagen und dösen nun
ihr Verdauungsschläfchen“. „Auf hohe Hügel steigen gibt auch Hunger“,
klagte Emilia schliesslich zum Spass, „lass uns Erdbeeren suchen gehen“.
Die Kinder suchten lange Zeit nach Beeren, doch leider vergebens. Sie
suchten in der Waldlichtung und tief im dunklen Wald, auf den obersten
Anhöhen und dem Bach entlang, auf den hohen Steinen und unter den Aesten
der immergrünen Bäume. Nirgends fanden sie auch nur eine einzige Beere.
Während die einen Kinder immer noch eifrig suchten, hatten die anderen den
Ehrgeiz aufgegeben und begonnen, mit ihren Instrumenten lautstark Musik
zu spielen.
„Lass uns noch hinten suchen gehen“, meinte schliesslich Emilia, „in der
Waldlichtung auf der anderen Seite des Hügels“. Iakunae seufzte
enttäuscht. „Also gut, aber wirklich als letztes“, gab Iakune ihr
Einverständnis, „nachher geb ich es auch auf. Dann werd ich auch lieber
Musik spielen“. „Ja“, stimmte Emilia mit ein, „dann können uns die Beeren mal
so lang wie breit sein“. „Beere suche, beere suche“, jauchzte Ojang Utan
voller Begeisterung und hüpfte den Mädchen eifrig hinterher.
Doch auch in der Waldlichtung auf der Rückseite des Hügels fanden die
Kinder keine Beeren. „So ein Mist“, schimpfte Iakunae und stampfte auf den
Boden „auch hier keine Beeren“. Auf den Boden stampfen und schimpfen, das
tat auch Ojang Utan liebend gerne. Mit beiden Beinen hüpfte auch er in die
Höhe und landete mit vollem Gewicht auf dem weichen Waldboden. „Seisse“,
brüllte er wütend, „so eine Seisse“. Emilia und Kwarahi grinsten zu den zwei
Geschwistern.
Doch dann geschah etwas womit die Kinder nie und nimmer gerechnet hatten.
Es raschelte heftig im Wald unter dem Laub, überall, im ganzen Waldboden
rings um die Kinder herum. „Was wollt ihr hier?“, rief eine erzürnte Stimme
von da unten, „Macht dass ihr wegkommt -, sofort“. Die Kinder schauten sich
erschrocken an. Jetzt, nachdem sie die Piranabas und die böse Ipupiara
besiegt hatten, wer konnte das sein? „Macht dass ihr wegkommt“, schimpfte
eine andere Stimme aus dem Gebüsch neben Emilia, „schert euch zum
Teufel“. Emilia erschrak und hielt den Atem an. „Wer – wer ist da? Wer bist
du?“, wunderte sich Emilia. Doch sie konnte ins Gebüsch gucken soviel sie
wollte, sie sah niemanden. „Ist das ein unsichtbares Wesen?“, flüsterte
Iakunae zu Emilia. „Weiss nicht“, antwortete Emilia. Aber schliesslich war
Emilias treuer Freund Nico auch zur Stelle. „Nico komm suchen“, rief Emilia.
„Wollen wir nicht lieber verduften?“, fragte Iakuane weiter, „ist vielleicht
besser, wie sich auf einen Kampf einzulassen“. „hm“, überlegte sich Emilia
laut, doch dann hörte sie eine vertraute Stimme aus der Luft: „Gruhu,
Gruhuu“. Die Urwaldeule und Abara flogen über die Kinder hinweg und das
gab Emilia neuen Mut. Die Urwaldeule landete auf dem Platz zwischen den
Kindern und hüpfte wild auf dem Boden herum. Abare landet neben ihm,
stampft ebenfalls kräftig und kreischte laut: „Kraaah, kraah. Beeren, wollen
Beeren, schert ihr kraaah kraaah schert ihr Teufel, krahh, kraahh, Teufel“.
Nico kam und schnupperte am Boden. „Wuff, wuff“, bellte er drauf los.
„Was soll der Radau“, schimpfte wieder eine hohe knurrlige Stimme im Laub,
„wenn das nicht sofort aufhört, so könnt ihr was erleben“. Es raschelte im
Laub und diesmal flog das Laub weit fort. Ein winziges Pilzmännchen stand
vor den Kindern. Der kleine trug ein rundes spitzes Pilzköpfchen als Hut.
Darunter guckten zwei Auglein hervor, eine spitze Nase und ein
unfreundlicher schimpfender Mund. Der Körper des Pilzmännchen aber war
spindeldürr, mit zwei dünnen Aermchen und zwei dünnen, langen Beinen.
„Pilztrolle, Piltztrolle“, kicherte Emilia vergnügt, „jipiii Pilztrolle, wir haben
Pilztrolle gefunden“.
„Musst gar nicht so blöd lachen“, schimpfte der kleine zur Begrüssung, „was
fällt euch eigentlich ein, ihr dummen Gören, hierher zu kommen und uns zu
stören?“. Nico ging hin zum kleinen Pilztroll und leckte ihn ab. „Bäh“,
wetterte der kleine drauf los, „dummer Köter, lass mich in Ruhe“. „Komm
hierher, Nico“, befahl Emilia, „lass die Trolle in Ruhe“. Nico knurrte
fürchterlich, aber er war ein braver Hund und gehorchte Emilia.
Überall raschelte es in den Büschen und unter dem Laub. Einen moment
später standen gut zwei dutzend Pilztrolle vor den Kindern. Da hatte es
welche die waren dick und rund mit grossen braunen Hüten. Dann aber wieder
dünne mit spitzen glockenförmigen Hüten oder gar bunte Trolle mit rot-
weiss getupftem Fliegenpilzdach. Doch ein freundliches Wort hatten sie
nicht übrig für die Kinder. „Verprügeln sollte mans sie alle“, schimpfte ein
brauner dicker, „kommen hierher ohne uns zu fragen, machen Krach -
fürchterlichen Radau, und stören uns im Schlaf. Brrrr, dumme Kinder“.
Ojang Utan fürchtete sich überhaupt nicht vor den Pilztrollen. Er streckte
ihnen die Zunge raus und wackelte mit den Fingern vor seiner Nase. „Dumme
Pilzttloll“, neckte er die Kleinen, „Ojang Utan keine Angst, blä, blä blä“. „Sagt
mal ihr Pilztrolle“, fragte Iakunae keck ,„habt ihr uns etwa all die Beeren im
Wald weggefresssen?“. „Wääääghi, Beeren“, entsetzte sich ein
Fliegenpilzttroll, „Beeren, wäh, zum Kotzen. So etwas scheusssliches essen
wir nicht“. Eine Welle der Empörung ging durch die Reihen der Pilztrolle:
„Wähh Beeren“, „igggittt“, „bäh, kotz“, „stink Beeren , wuah“, „beeren wüüh,
lieber noch gäggi“, „brrrr“.
Inzwischen näherten sich Silvia und Panyma mit ihrer grossen Schüssel
Honigbonbons. „Uff ganz schön schwer zu tragen“, lächelte Silvia freundlich
zur Begrüssung, „habt ihr schon viele Beeren gefunden?“. „Ach wo, keine
einzige“, antwortete Iakunae enttäuscht, bevor sich die Pilztrolle
schadenfreudig und lautstark bemerkbar machten. „Kinder kriegen keine
Beeren, keine Beeren, keine Beeren“, setzte der vielstimmige Chor der
Pilztrolle ein“. „Keine Beeren, keine Beeren, Kinder keine Beeren, böse böse
Kinder“. Panyma lächelte auf den Stockzähen, wie sie die Pilztrolle bemerkte.
Leise schüttelte sie den Kopf und kicherte vergnügt. „Wenn sie euch keine
Beeren übrig gelassen haben, dann schaut mal was wir euch feines gebracht
haben“, sprach Panyma zu den Kindern, „etwas ganz feines, das ihr gerne
habt. Augenblicklich kamen die Kinder und blickten voll Freude auf die
Honigbonbons. Die Schüssel mit den Honigbonbons zog aber nicht nur die
Aufmerksamkeit der Kinder auf sich. Auch die Pilztrolle standen da und
brachten vor lauter Staunen die weit aufgerissenen Augen und Münder nicht
mehr zu. „Oh, Honigbonbons, mmh Honigbonbons, lecker Honigbonbons“,
schwärmten die kleinen Trolle gierig. Iakunae schüttelte den Kopf und
drehte sich zu den Trollen hin. „Sagt mal, ihr glaubt aber nicht etwa im
Ernst, dass ihr von uns Honigbonbons bekommen werdet? Oder glaubt ihr das
etwa?... Nein, ihr bekommt nichts, ganz bestimmt nicht“, schimpfte sie mit
fürchterlicher Grimasse so energisch, dass die Pilztrolle ängstlich einen
Schritt zurückflohen. „üng, üng, bonbon, bonbon, üng üng“, stöhnten die
Pilztrolle weinerlich. Emilia kicherte leise vor sich hin. „Dann sagt uns
wenigsten zuerst, wo wir Beeren finden können“, erbarmte sich Emilia der
kleinen Wichtlinge. „Beeren, Beeren, wissen wir nicht“, antwortete frech der
grösste und dickste Pilztroll, „fragt doch die Erdbeerfee, Erdbeerfee weiss
wo“. Mit weit aufgerissenen Augen guckten die Trolle auf Emilia.
„Erdbeerfee, Erdbeerfee, ja, ja Erdbeerfee“, stimmten sie alle im Chor bei.
Emilia nahm ein Honigbonbon in ihre Hand und streckte es dem Troll vor ihr
mit der flachen Hand entgegen. Blitzschnell klumste es der Kleine aus ihrer
Hand. „Und wo finden wir diese Erdbeerfee?“, fragte Emilia. „Da hinten im
Wald, da hinten“, antwortete der Pilztroll und schmatzte gierig das
Honigbonbon, „ihr braucht bloss ihr Lied singen, dann kommt sie“. „Wie geht
denn ihr Lied?“, möchte Emilia wissen. „Weiss nicht mehr, weiss nicht mehr,
ha ha ha „, antworteten die Trolle wild durcheinander und lachen, „Wissen
nicht mehr, ha ha ha, wissen nicht mehr, wissen nicht mehr, ha ha ha“.
Panyma lächelte vergnügt. „Allzu viel darfst du von den Pilztrollen nicht
erwarten“, tröstete Panyma Emilia, „böse sind sie nicht aber sie ärgern all
die anderen Wesen, wo sie nur können“. „Dumme Trolle“, entsetzte sich
Iakunae. „Ja, ja, dumm sind sie“, lächelte Emila, „aber böse sind sie zum
Glück nicht“. So gab sie den kleinen Wesen noch eine Hand voll Honigbonbons.
„Panyma, kennst du das Lied der Erdbeerfee?“, fragte Emilia. Panyma nickt.
„Also die Melodie geht so“, beginnt Panyma, „’lai la lila leila li, lalalala lila leila
li’. Aber Text gibt es keinen. Da könnt ihr ja selbst was erfinden. Wenn ihr
einen guten Text habt, so könnt ihr die Melodie viel leichter singen“.
Eine Weile überlegte Iakunae. Zwei drei mal summte sie leise die Melodie
und sang dann schliesslich laut:
„Ja genau, so singen wir es“, freuten sich die Kinder und lachten. Alle
zusammen sangen sie: „tief im dunklen Wald ich geh, such dich kleine
Erdbeerfee...“. So liefen sie durch den Wald zur Stelle, wo die Erdbeerfee
wohnte. Panyma und Silvia folgten den Kindern, und auch die Pilztrolle
humpelten eifrig hinterher.
Hinten bei der Waldlichtung kam den Kindern ein klitzekleines Wesen
entgegengeflogen. „Hallo liebe Kinder, ich bin die Erdbeerfee“, sprach das
wunderbare Wesen. Die Erdbeerfee war klein, etwas grösser wie die Hand
eines Kindes, aber viel mehr nicht. Sie trug eine rote Erdbeere als rundes,
spitzes Hütchen. Unter dem Rand des Hutes, der aus einem Kranz spitzer
grüner Blätter geflochten war, lächelte ein liebliches, rundes
Mädchengesicht. Die Fee trug ein Kleid aus grünen Erdbeerblättern. In ihrer
rechten Hand hielt sie einen glitzernden Sternenzauberstab. Flatternd flog
sie mit ihren duchsichtigen, glänzenden Flügeln weite Kreise um die Kinder,
und die Kinder kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Oh, schön, wie niedlich“, freuten sie sich. „Bist du die liebe Erdbeerfee?“,
fragte ein kleines Mädchen. „Ja die bin ich“, antwortete die Fee, „ich bin die
Erdbeerfee und ich freue mich, dass ihr meine Lieblingsmelodie so schön
singen könnt. Sagt mal, ist es wahr, dass ihr so hungrig seid?“. Emilia
lächelte. „Ja so fest hungrig nun auch wieder nicht“, gestand Emilia ein,
„aber wir haben halt schon die ganze Zeit Erdbeeren gesucht und keine
gefunden“. „Pilztlolle alle stohlen, böse pilztlolle“, erklärte eifrig Ojang Utan.
„Ach die Pilztrolle, hi hi hi hi“, lächelte die Erdbeerfee, „hi hi hi, haben sie
euch geärgert“. Mehr sagte die Erdbeerfee nicht. Sie lächelte nur. „Sollen
wir sie aus dem Wald vertreiben?“, fragte Iakunae. „Nein, nein“, antwortete
die Erdbeerfee, „lasst sie nur. Sie ärgern zwar alle andern im Wald. Aber
etwas zuleide tun sie niemandem. Hört nicht auf sie und sie werden euch in
Ruhe lassen“. „Bääääh“, drehte sie Ojang Utan und streckte den Pilztrollen
hinter ihm die Zunge raus. „Hi hi hi hi“, lächtelte die Erdbeerfee zu Ojang
Utan, „du bist ein lustiger Junge, ein richtiger Lausbub, hi hi hi. Kommt
Kinder. Ich zeige euch, wo ihr leckere Beeren finden könnt. Kommt mit, jetzt
gibt es etwas feines“. So flog die Erdbeerfee voraus. „Ahhh, mmmmhhhh,
mäm, mäm“, leckzten die Pilztrolle und humpelten eifrig in sicherem Abstand
hinter den Kindern her.
Eine Weile zog die bunte Schar durch den Wald. Die Erdbeerfee flog voraus
und summte zufrieden ihre Lieblingsmelodie. Die Kinder folgten dicht
dahinter und hörten der Erdbeerfee zu. „hi hi hi hi,Singst du nochmals das
schöne Lied von vorhin?“, fragte lächelnd die Erdbeerfee zu Iakunae, „das du
zu meiner Melodie gesungen hast, liebes Mädchen? Hi hi, ich möchte den
Text auch lernen“. „Ja natürlich“, antwortete Iakunae begeistert, „ er geht
so: ‚tief im dunklen Wald ich geh, such dich, kleine Erdbeerfee...“. Die Kinder
sangen eifrig mit und die Erdbeerfee kicherte unentwegt vergnügt. „So
lustig, so schön, hi hi“, schwärmte sie. Einzig die Pilztrolle zuhinterst sangen
nicht mit. Sie klagten und schimpften. „ein hungrig Kind ?.... hä, die sind nicht
die einzigen die Hunger haben“, jammerte ihr Anführer, ein dicker
Fliegenpilztroll.
Schon bald standen sie alle vor einer Senke mitten im Wald. Ein steiler
Abhang führte haushoch hinunter auf eine steinige Wiese. Und da unten
sahen die Kinder eine grosse Ueberraschung. Die ganze steinige Wiese war
über und über voll von Beeren. Beeeren in allen Farben, rote, rosa, violette,
schwarze , blaue, gelbe und grüne. „Oh, schön“, staunte Emilia. „Lecker,
lecker“, schwärmte Iakunae. „Mh, fein“, freute sich die ganze Schar Kinder.
Doch dann, urplötzlich, donnerte und krachte es im Wald. Die Pilztrolle
kamen von hinten vorbeigedonnert und stürzten sich den Abhang hinunter.
„Unsere Beeren, unsere Beeren“, kicherten und lachten sie schadenfreudig,
„unsere Beeren, gehören jetzt uns, gehören nur uns“.
„diese Bösewichte“, entsetzte sich Emilia, „nehmen uns die Beeren weg“.
„Blöde Trolle“, doppelte Iakune hinterher. „Tlolle, ooh tlolle“, stöhnte Ojang
Utan, „Tlolle, zelplüglen“. „Ach Ojang Utan“, tröstete Kevin den kleinen
Jungen, „verprügeln darfst du die Trolle deswegen nicht. Schliesslich gehört
der Wald allen Wesen, so auch den Trollen“. Die Erdbeerfee aber kicherte
nur und flog vor die Kinder. Mit der rechten Hand hielt sie sich den
Zeigerfinger vor den Mund ihres freundlichen Mädchengesichtes und gab
den Kindern zu verstehen, sie sollen ganz ruhig sein. „hi, hi hi hi“, kicherte sie
vergnügt, „da unten sind doch die ganz sauren Beeren, hi hi hi. Versteckt
euch da hinter diesem Gebüsch und folgt mir. Ich werde euch einen Platz mit
süssen Beeren zeigen“. Schweigend folgten die Kinder der Erdbeerfee einem
versteckten Weg entlang den Hügel hinauf. Ein Stück weiter oben kamen sie
an eine steinige flache Stelle mit weniger Beeren wie unten in der Senke,
aber die Beeren schmeckten ausgezeichnet süss und ihr fruchtiger
Geschmack lud ein zum Träumen.
„Mh fein, wie in einer anderen Welt“, schwärmte Iakunae. „Ja so gute Beeren
habe ich auch noch nie gegessen“, gestand Emilia ein. „fein, fein, mpf, mpf“,
mampfte Ojang Utan vor sich hin. Auch Kwarahi pflückte vorsichtig ein paar
Beeren. „Gibst du immer den Kindern so feine Beeeren?“, fragte Kwarahi die
kleine Fee. „Ja, ja, den Kindern gebe ich gerne meine Beeren“, erklärte die
Erdbeerfee freundlich, „Beeren haben ein feines Aroma und sind gesund, viel
gesünder wie all die Schleckereien aus Zucker, die die Kinder nur allzu oft
essen“. „Aber so richtige Bonbons sind halt schon auch gut“, schwärmte
Emilia. „Ja, ja“, lächelte die Erdbeerfee, „aber wenn ihr fertig geschleckt
habt, was müsset ihr dann machen?“. „noch mehl slecken“, ereiferte sich
Ojang Utan, „noch mehl slecken“. „Du bist mir ein lustiger kleiner Bruder“,
schüttelte Iakunae ihren Kopf, „würdest dir den Bauch mit Süssigkeiten
vollschlagen bis um Umfallen. Ojang Utan, sag mal, was musst du jeweils nach
dem Schlecken machen?“, „Tschändä butschn, Tschända butschn“,
antwortete freudig Ojang Utan. „Ja genau“, freute sich Iakuane über die
richtigen Antwort ihres Bruders, „jetzt weißt du es. Die Zähne musst du dir
gründlich putzen“. „Ja, ja, hi hi“, kicherte die Erdbeerfee, „ wenn ihr mal
schleckt, dann müsst ihr anschliessend eure Zähne gründlich putzen, merkt
euch das. Aber noch besser ist es, wenn ihr Beeren geniesst, denn die sind
gesund, haben viel Vitamine und stärken gar die Zähne“. So ging die
Beerenschlemmerei weiter.
Ein Stück weiter vorne reichte der Blick hinunter in die Senke des Waldes.
Emilia, Iakunae und Ojang Utan hatten sich heimlich angeschlichen und
beobachteten von da oben die Pilztrolle.
„Brrrr, sauer, sauer“, schimpfte ein Troll. „www, brrrr“, räusperte sich ein
weiterer. „Pft, pft pft“, spukte wieder ein anderer die Beeren im Wald
herum. „Saure Beeren, so ein Beschiss“, wetterte der Anführer der Trolle
unter seinem Fliegenpilzhut, „sauer nichts wie sauer. Und wo sind die Kinder
wo, wo sind sie, wo? Erdbeerfee, wo, wo?“. Dazu stampfte der Trollenführer
wild umher und schimpfte, und schimpfte. Er tat dies so laut, dass die Kinder
in ihrem Versteck jedes Wort verstehen konnnten. „reingelegt haben sie uns,
reingelegt, die Kinder, die Erdbeerfee, böse, böse, haben uns reingelegt. Wo
sind sie wo, wo sind sie?“. „Gehen wir sie suchen“, schlug schliesslich ein
dünner Pilztroll vor, „gehen wir sie suchen, gehen wir sie verhauen, schlagen,
strafen. Brrr, sauer, sauer, sauer, nichts als saure Beeren“.
Iakunae kicherte gut versteckt hinter den Büschen. Auch Emila lächelte und
die Erdbeerfee, die inzwischen angeflogen war, hatte ihre ganz besondere
Freude. „hi hi hi hi“, witzelte sie leise, „die Pilztrolle essen saure Beeren, hi
hi hi“. Nur Ojang Utan lachte nicht. In seiner rechten Hand hielt er eine
süsse Erdebeere, schaute sie an und warf sie in seiner Hand rauf und runter.
Dann wieder blickte er zum Anführer der Pilztrolle runter. „Suchen wir die
Kinder“, befahl der Pilztrollführer mit scharfer Stimme, „dann verhauen wir
sie und stehlen ihre Beeren. Will auch süsse Beeren, will auch süsse Beeren,
will süsse Beeren“. „Ach Ojan Utan“, sprach die Erdbeerfee mitleidig, „sei
doch so gut und gib ihm mal eine süsse Beere“. Das brauchte die Erdbeerfee
kein zweites mal zu sagen. Ojang Utan lächelte auf den Stockzähnen und
„patsch“, war die weiche, süsse Erdbeere auf dem Fliegenpilzhut des
Trollenführers zerplatzt .
Ueberrascht schaute sich der Trollenführer wütend um. „Wer hat das
gewagt, wer?“, erboste sich der Trollenführer, „wer hat mir eine Beere
angeworfen, wer, wer, wer von euch? Ich bin euer Anführer und wer mir eine
Beere anwirft, wird bestraft“. „Ich war es nicht“, „ich auch nicht“, „niemand
von uns“, wehrten sich die eingeschüchterten Pilztrolle, denn ihr Anführer,
der Fliegenpilztroll war der stärkste unter ihnen, stärker wie die anderen
Pilztrolle alle zusammen. „niemand von uns, glaub es uns, ehrenwerter
Trollenführer, niemand von uns“, versicherten die Pilztrolle ängstlich. Böse
schaute der Trollenführer durch die Reihen seiner Untertanen, doch dann
lief ihm langsam der Erdbeersaft über den Hutrand hinunter mitten ins
Gesicht. Er hob den Finger, wischte sich die klebrige Sosse ab und hielt den
Finger in den Mund. „Süss, süss“, staunte er, „wunderbar, herrlich süss. Von
wo kommt die Beere her?“. Erschrocken spähten die Trolle in die Höhe. Zu
trollig schaute das aus und die Kinder konnten ihr Lachen nicht mehr
zurückhalten. Laut lachten sie alle zusammen.
„Kinder, kinder, böse Kinder haben uns beworfen“, schimpften die Pilztrolle
im Chor, „wartet nur Kinder, jetzt verhauen wir euch“. Ojang Utan, Iakunae
und Emila schauten nun doch etwas ängstlich aus ihren Augen. „Hi hi hihi“,
lächelte die Erdbeerfee zu den Kinder, „vor denen braucht ihr euch nicht
fürchten, die werden euch nichts antun“.
Schliesslich kamen die Trolle den Hügel hinaufgehumpelt. Wütend hielten sie
Aeste in ihren Händen, bereit die Kinder erbarmungslos zu schlagen.
„Grrhhh“, knurrten sie. Doch noch bevor sie loslegen konnten, schwang die
kleine Erdbeerfee ihren Sternenzauberstab und ein Meer buntester Beeren
breitete sich vor den Pilztrollen aus. „Beeren, mhh, Beeren“, staunten die
Trolle. „Süsse Beeren, süsse Beeren“, leckten sie sich die Münder und hatten
den Aerger mit den Kindern auf der Stelle vergessen. „Beeren, beeren“,
schwärmten sie und stopfen sich die Mäuler voll.
12-2
„Sag mal Erdbeerfee“, fragte Emilia etwas nachdenklich, „du bist so lieb zu
uns, schenkst uns die ganze Beerenpracht. Wie sollen wir dir nur danken?“.
„Ach das ist doch schon gut“, freute sich die Erdbeerfee, „Beeren gibt es
umsonst. Aber ihr habt doch so schöne Musikinstrumente mitgenommen. Ich
höre so gerne Musik. Wollt ihr mir etwas vorspielen?“. „Oh ja“, stimmte
Emilia mit ein, „lasst uns der Erdbeerfee ein schönes Ständchen spielen“.
Emilia brauchte dies keine zweimal zu sagen. Eifrig holten die Kinder ihre
Trommeln, Flöten, Kürbisposaunen und Saiteninstrumente und legten los.
„Jipii“, jauchzte die Erdbeerfee und tanzte in der Luft. Die Kinder, Silvia
und Panyma konnten sich nicht zurückhalten und tanzten ebenfalls auf dem
schönen Platz im Wald. Doch nicht nur die Indianer und die Erdbeerfee
tanzten, nein, sogar die knurrligen Pilztrolle hatten Freude an der Musik,
gaben einander die Hände und tanzten mit. „Ja, ja, die wilden Pilztrolle“,
kicherte die Erdbeerfee, „wenn die nur Musik hören und tanzen können, dann
vergessen sie ihren ewigen Aerger und sind die liebsten Wesen“. „Lu, lu hullu
hullu hu“, sangen die urigen Pilztrolle im Chor und lächelten zum Tanz, „lu hu
hullu hullu hu“.
Die Freude der Kinder war gross ob dem spontanen Tanzfest. Panyma, Emilia und Iakunae
standen ums Feuer herum und liessen immer wieder Zauberblätter ins Feuer fallen.
Jedesmal stiegen neue Farben auf, das bunteste Feuerwerk, und immer wieder staunten die
Kinder ob den Künsten der Zauberinnen. Neben dem Feuer spielten die einen Kinder auf den
Musikinstrumenten die wildesten Indianerrhythmen und Lieder. Die restlichen Kinder
tanzten im weiten Kreis aussen herum. Zuvorderst flog die Erdbeerfee mit ihrem
Sternenzauberstab. Einen langen Schweif glitzernder Sterne liess sie hinter sich
schwebend langsam zu Boden fallen. Die Kinder folgten ihr und tanzten Hand in Hand. Ganz
zuhinterst schliesslich humpelten freudig die Pilztrolle im Takt der Musik. Für einmal
zeigten sie sich von ihrer freundlichen Seite.
„Hallo Emilia“, grüsste im hellen Licht der alte Schamane, „hallo Iakunae,
Panyma, Silvia, hallo all ihr lieben Kinder, Erdbeerfee, und hallo all ihr
Pilzwesen des Waldes“. In violetter Lichtgestalt schwebte der alte
Schamane mitten ob dem Feuer. In seinen Händen hielt er eine silbrige
Scheibe. Mit freundlicher Stimme wendet er sich zu Emilia: „Ich habe mir
erlaubt, deinen magischen Spiegel auszuleihen“. „Schon gut“, antwortete
Emilia , „ich hab ihn ja ohnehin niemand anders wie dir zu verdanken. Da
darfst du ihn gerne ein wenig ausleihen“. Der alte Schamane nickte
freundlich und fuhr mit seiner Ansprach fort: „Die besten Grüsse überreiche
ich euch von Avara, dem Mann der fernen Zukunft. Es freut ihn, dass es uns
gelungen ist, die böse Dämonin Ipupiara zu besiegen. Unser aller Leben und
sein Leben hingen von diesem Sieg ab, hingen ab vom mutigen Einsatz der
Zauberinnen eures Dorfes, liebe Kinder. Seinen besten Dank überweist er
uns. Allen voran einer Person möchte er höchsten Dank überbringen, nämlich
an Emilia. Einzig Emilia wurde der Magische Spiegel im Tor des Todes
übergeben. Der magische Spiegeln, den sie zusammen mit ihren Freundinnen
aus der Unterwelt geholt hat, er hat unseren Sieg erst ermöglicht“. Kurz
wurde der alte Schamane von lautem Applaus unterbrochen, doch dann fuhr
er fort: „Avara möchte uns zum Dank seine musikalischen Grüsse
überreichen, Musik aus der fernen Zukunft. Freut euch Kinder, freut euch
und tanzt“.
Die Hände des alten Schamanen begannen zu leuchten. Er liess den Spiegel
los, doch dieser fiel nicht hinunter sondern schwebte im Licht, das aus
seinen Händen austrat. So liess der alte Schamane den Spiegel höher und
höher schweben. Er liess ihn schweben auf einer Pyramide des Lichts, das
aus seinem Körper austrat. Dann schliesslich verliess der alte Schamane das
violette Licht, das den Spiegel inzwischen alleine trug, auch ohne dass er
mithalf. Langsam wich der helle Schein vom Körper des alten Schamanen, bis
dieser schliesslich in der Gestalt eines gewöhnlichen Menschen neben den
Kindern stand. Wie üblich trug der alte Schamane nur wenige Kleider, ein
paar dunkle Lederbänder, einige farbige Federn in seinem dünnen Haar und
etwas silbrige Farbe im Gesicht.
„Musik aus der fernen Zukunft“, rief mit freudiger Stimme der alte
Schamane und zeigte auf den schwebenden Spiegel, der sogleich satte
farbige Töne aus sich erklingen liess: „Däggn, däggn, däggn, däggn .... nz nz nz
nz.... bumm bumm bumm bumm“.
„Oh schön“, schwärmten die Kinder. „Ah so tönt nun Musik aus der fernen
Zukunft“, staunte Emilia. Sie konnte nicht mehr still stehen, in wilder Freude
fetzt es sie über den Tanzboden im Wald hinweg. „Jippieee“, kreischten die
Kinder vor Freude, hielten ihre Arme in die Höhe und bewegten sich im
Rhythmus der fremden, noch nie gehörten Musik. „Das tönt ja wie aus einer
anderen Welt, wie von einem fremden Stern“, staunte Kevin, der neben Silvia
und dem alten Schamanen tanzte. Der alte Schamane nickte zu Kevin und
erklärt: „Elektronische Goa Musik hat Avara diese Musik genannt. Die
machen sie mit Instrumenten, Werkzeugen und Gerätschaften, die wir
Indianer nicht kennen“.
„Goa, davon habe ich schon gehört“, kam Emilia ins Schwärmen, „in den
Büchern der königlichen Bibliothek in Porto habe ich von Goa gelesen. Es liegt
in einem fernen Land das den Portugalesern angehört, grenzt an ein seltsam
Land, das sie ‚Indiam’ nennen. Was ich von diesem Land gelesen habe, so
wundert es mich nicht, wenn sie dort solche Musik machen. Sogar Feuer
essen sie in diesem fernen Land, pures Feuer, uns sie werden sogar richtig
satt davon. Fakire nennen sich diese feuerspeisenden Leute und die gelten
als Zauberer und Künstler. Ich habe es in den Büchern des Königs selber
gesehen“. Kwarahi hielt Kevin beide Arme um den Hals und schmiegte ihren
Kopf an Kevins Brust. „Feuer? Die essen Feuer? Die sind ja verrückt“,
wunderte sich Kwarahi. „Pures Feuer, bäh“, stöhnte ein Fliegenpilztroll, „bäh,
pures Feuer essen? igit igit igititititititttt. Dann doch lieber saure Beeren, hi
hi hi hi hi“.
Den Kindern gefiel die fremde Musik, denn sie war schnell und riss mit zum
Tanz. Jedes weitere Musikstück liess die Kinder auf neue erstaunen, denn
die Vielfalt an Farben und Formen, die in den bunten Klängen steckte, schien
endlos zu sein.
Iakunae tanzte neben Emilia mitten zwischen den Kindern. Hie und da
schielte sie rüber zu Kevin und Kwarahi, die in enger Umarmung miteinander
tanzten. „Dein Bruder ist ja mal mächtig verliebt“, kicherte sie zu Emilia.
„sind ja so richtig Schatz und Schätzeli“. „Schatz und Schätzli, hi hi hi“,
grinste Emilia zurück, „du sagst es, aber schön haben sie es zusammen. So
schön und innig möchte ich auch mal mit einem Mann zusammen sein“. Mit
grossen Augen starrte Iakunae ihre beste Freundin Emilia etwas ängstlich
und eifersüchtig an. Emilia grinste. „Irgendwann später einmal, irgendwann“,
fügt Emilia hinzu, „irgend - irgendwann, viel später“. Die zwei Freundinnen
lächelten sich an.
Kevin und Kwarahi aber tanzen nicht die ganze Zeit nur zusammen. Kwarahi
löste sich von Kevin , zog ihre eleganten Pirouetten über die Tanzfläche und
kam rüber zu Emilia und Iakune. Zu dritt gaben sie sich die Hände und
tanzten im Kreise.
Tanzen machte müde, vor allem die ganz kleinen Kinder. Ein Mädchen hatte
es sich auf Kevins Arme bequem gemacht und war in den starken Armen des
grossen Jungen sogleich eingeschlafen. Der ärmste Kevin, hatte mal wieder
ein schönes Geschenk bekommen. „Dann lass uns mal eine Pause einlegen“,
meinte schliesslich der alte Schamane. Mit einem Wink liess er das violette
Licht erlöschen und die Musik im magischen Spiegel entschwand langsam.
„Ach ist das schön, wieder mal ruhig“, freute sich Kwarahi, „eine Zeit lang
Musik hören ist ja ganz schön, aber es geht doch nichts über die Stille. Den
warmen Klängen der Natur könnte ich ewig lauschen“.
So sassen die Kinder eine Zeit lang da und schwiegen. Die Pilztrolle standen
daneben und schauten die Kinder mit grossen Augen ungläubig an. Doch
Iakunae war ein lebhaftes Mädchen und mochte nicht ewig so ruhig dasitzen.
Sie hatte eine Idee. Sie stand auf und mit freudiger Stimme verkündete sie:
„Ach ist das schön hier, die Aussicht so weit in den Urwald hinaus, ich könnte
vor Freude schreien. So laut könnte ich schreien, dass jeder im ganzen
Indianerland es hören kann“. Die Erdbeerfee neben ihr kicherte: „hi hi hi hi,
dann schrei so laut du kannst, ein Schreifest soll es sein“. „Ja lass uns alle
Schreien“, stimmten die Kinder fröhlich mit ein, „lasst uns schreien so laut
wir können. Das ganze Indianerland, ganz Ubatuba soll aufwachen, jipiii“.
„Aiiiaiiaii iiiiii“, schrie Iakunae als erste aus voller Kehle. Doch dauerte es nur
einen Augenblick und die anderen Kinder war ebenfalls aufgestanden und
schrieen voll drauf los. Einzig Kwarahi, Silvia und Panyma hielten sich mit den
Händen beide Ohren zu, denn es kroste und kratzte in den Ohren dass es
schmerzt. Doch auch sie lächelten und hatten Freude an Iakunaes spontaner
Aktion.
Die Pilztrolle aber guckten gar nicht mehr freundlich drein. „Nicht schreien,
nicht schreien, halt, halt, nicht schreien, halt“, entsetzten sich die Pilztrolle.
„Böse Kinder, böse Kinder, verprügeln, verprügeln sollten wir sie“, schimpfte
der Fliegenpilztroll, ihr Anführer, „rettet euch, Pilztrolle, weg hier“. Der
Fliegenpilztroll knurrte ein letztes mal wütend, darauf waren die Pilztrolle
spurlos verschwunden.
„Seht ihr den Berg da drüben“, fragte Iakunae, „ob es uns gelingt, so laut zu
schreien, dass wir ein Echo hören können?“. „iiiiii“, schrie der kleine Ojang
Utan drauf los. Dann lauschten die Kinder – doch es kam kein Echo zurück.
„Wir müssen es alle zusammen versuchen“, ereiferte sich Iakuane, „aber nur
ganz kurz, dann ist das Echo viel schöner. Also los: eins, zwei, drei, giiiiiii“,
gab Iakunae das Kommando und alle Kinder schrieen miteinander ganz kurz.
Dann lauschten sie gespannt, ob da nun ein Echo zurückkommen würde.
Eine Weile lauschten sie und dann hörten sie etwas eigenartiges, ein Echo?
Sonst was? Auf jeden Fall ein Klang, wie sie es nicht erwartet hätten. Leise
hörten sie vom Hügel her fremde Geräusche. „Ist das unser Echo?“,
wunderte sich Emilia, “das tönt ja ganz anders“. „Mh das ist kein Echo“,
stellte Kevin fest, „das muss was anderes sein. Aber was?“. Wieder lauschten
die Kinder den fremden Tönen. „Kürbisposaunen“, staunte Kwarahi, „das sind
Kürbisposaunen, viele Kürbisposaunen. Wer kann das bloss sein?“. Doch die
Kinder wussten genau, wer das als einziger sein konnte. „Der König, der
König“, freuten sie sich im Chor, „der König kommt“.
In aller Eile wurde das Fest auf dem Erbeerhügel zusammengeräumt. „Danke
vielmals, liebe Erdbeerfee“, riefen die Kinder der freundlich winkenden
kleinen Fee zum Abschied entgegen und rannten so rasch es ging zurück ins
Indianerdorf. Nur zwei Leute blieben zurück, Panyma und der alte Schamane.
Sie setzten sich unter einen Baum und vertieften sich in ein Gespräch.
12-3
Die Kinder gaben sich die Hände und sprangen reihenweise fröhlich
jauchzend und schreiend dem Indianerdorf Uwattibi entgegen. Dort
herrschte emsiges Treiben. „Der König kommt, der König kommt“, rief
Häuptling Avanene den Kindern entgegen, „die Vorhut ist schon im Dorf und
der König wird in kürze auch da sein. Wascht euch schön sauber. Schminkt
euch und ziert euch mit den schönsten Federn und dem feinsten Schmuck
den ihr habt. Kommt dann so schnell es geht zum Dorfeingang“. Das brauchte
Avanene keine zwei mal zu sagen. Die Kinder rannten eilends in den Bach
neben dem Dorf um sich im erfrischenden Bad zu waschen. Auch Emilia und
Iakunae vergnügten sich im herrlichen Nass. „Ganz gut, dass wir vorhin fort
waren, hi hi hi“, kicherte Iakunae spitzbübisch, „jetzt haben die
Erwachsenen ohne uns schon das ganze Dorf aufgeräumt und wir brauchen
bloss noch uns schmücken und ans Fest gehen“. „Benimm dich Iakunae, du
faule Tasche“, schimpfte Emilia lächelnd mit ihrer Freundin, „aber du hast ja
recht, hi hi hi, mir ist es auch recht so, hi hi“.
Eine Weile wühlten die zwei Mädchen im Reisesack und schon nach kurzer
Suche standen sie schliesslich beide da in schicken weissen Kleidern. Emila
stand neben Iakunae und rückte ihrer Freundin das Kleid zurecht, das sie für
Iakunae gefunden hatte. „Deines ist zwar nur ein Nachthemd, Iakunae“,
lächelte Emilia, „aber hier im Urwald draussen spielt das keine Rolle“. „Ja“,
kicherte Iakunae mit nobler Stimme, „♫ und reich mir gleich mal die
Schminke da. Jetzt will ich auch mal eine schöne Tussi sein. Farbige
Augenlieder und knallige Lippen, dazu geschminkte Nägel und gepuderte
Wangen, ganz hübsch will ich sein, oh, oh ♫“. Mit siptzem Mund und hoher
Lange brauchten Emilia und Iakunae nicht zu warten. Kaum hatten sie
begonnen mit den anderen Kindern im Takt der Trommeln zu tanzen, näherte
sich eine Gruppe bunt gezierter fremder Indianer dem Dorf Uwattibi. Der
vorderste trug einen Federschmuck, der zweimal so gross war wie er selbst.
Es war der Indianerkönig Ajun Bebe höchstpersönlich. Ein Schreien und
Kreischen ging durch die Reihen der Bewohner von Uwattibi. „Willkommen,
willkommen“, wurden die Fremdlinge begrüsst.
Neben dem König stand sein Sohn, der bildhübsche Konyan Bebe sowie eine
stattliche Anzahl wohlgekleideter, nobler Frauen. Berater, Diener, Helfer
und Träger folgten dahinter. Die Träger schleppten den Herrschaften kreuz
und quer durch den ganzen Urwald alles hinterher, was sie auf ihrer Reise
benötigten und die untertänigsten Diener fächerten den durchlauchten
Hoheiten mit Palmwedeln kühle Luft ins Gesicht.
Da stand der lange erwartete König Ajun Bebe nun endlich am Tor von
Uwattibi, in all seinem Glanz und in seiner Herrlichkeit. Geschmückt mit
mannshohem Federnschmuck, Lederbändern, Halsketten und natürlich mit
seiner Kette aus rostigen Schiffsnägeln, die er sich gerne zuoberst um den
Hals legte , da er der einzige Indianer war, der eine solche Kette besass,
gänzlich aus diesem glitzrigen fremden Material gemacht, das erst die
portugiesischen Einwanderer ins Indianerland gebracht hatten. In seiner
Hand hielt der stolze Indianerkönig ein hohes Zepter, an dem heilige
Tierknochen mit Lederbändern angeknotet waren als Zeichen der ihm
zugesprochenen Verbundenheit mit der Unterwelt der Geister und Dämonen.
Der junge Prinz Konyan Bebe war nicht so reichlich geschmückt wie sein
Vater. Doch sein holdes, hübsches Mannsbild liess das Herzen manch einer
Indianerfrau höher schlagen. Hinter den beiden folgten die vielen Frauen
und Kinder der Königsfamilie. Die Frauen waren allesamt hübsch fein
gekleidet und geziert. Doch eine der Frauen fiel ganz besonders auf, denn
sie war die einzige Indianerfrau mit strohweiss blondiertem Haar auf dem
Kopf. Powackelnd, mit verführerischem Lächeln, schlängelte sie sich an den
Reihen der aufgeregt wartenden Männer vorbei. Jeder kannte sie, die
berühmte Sirapi, unverkennbare Schönheit, von Frauen gleich wie von
Männern bewundert, bestaunt und allzu oft nur beneidet. Durch die Lippen
ihres knallig geschminkten Schmollmündchens liess sie Küschen links und
Küsschen rechts in die Lüfte gleiten, hin zu der staunenden Menge um sie
herum. Gar mancher hielt die Augen weit offen und begaffte Sirapis
Miniröckchen, das die zwei kuschelig süssen Pobäckchen nur dürftig
bedeckte. Netzstrümpfe und Hackenschuhe vollendeten den Reiz und die
Schönheit Sirapis langer schlanker Beine. Durch einen eleganten noblen
Zigarettenhalter rauchqualmend streifte sie durch die Menge, liess ihre
geschminkten Wimpern klimpern und schenkte grosszügig den Männern
verliebte Blicke nach allen Seiten hin.
Ganz zu ihrem Schrecken musste Sirapi aber feststellen dass sie für dieses
mal nicht die einzige portugiesisch gekleidete hochpolierte und strohblonde
Tussi im Indianerdorf war. Emilia und Iakunae, beide weiss gekleidet und
geschminkt, watschelten eifrig hinter ihr her. Die beiden Mädchen kicherten
einander an. Das passte Sirapi ganz und gar nicht.
Nur zu gut erinnerte sie sich an die zwei Mädchen, die ihr noch bei jedem
ihrer Besuche in Uwattibi soviel Aerger beschert hatten. „Seid ihr immer
noch hier, ihr Lausemädchen?“, erzürnte sich Sirapi, „haben sie euch noch
nicht endlich zum Teufel gejagt?“. „♫ Nein , nein, nur keine Angst“,
antwortete Emilia, „♫ wir bleiben noch eine ganze Weile hier. Aber an deiner
Stelle, da würde ich gut aufpassen. Seit du das letzte mal so sehr mit Koamis
allerliebstem Freund herumgeflirtet hast, ist Koami stocksauer auf dich ♫“.
Kurz blickte sich Sirapi um. Tatsächlich, Koami stand da hinten in der Ecke
und schaute in keiner Weise freundlich zu ihr hin. Beide Fäuste hielt sie an
ihrem Hüftgürtel geballt. Es hatte ihr gar nicht gut getan, als Sirapi neulich
mit ihrem allerverehrtesten Freund herumgeflirtet hatte und er ihr zum
Schluss gar die Fingerspitzen küsste.
Doch all das liess Sirapi völlig kalt. „Pfähh“, antwortete Sirapi hochnäsig und
laut, so dass es alle weit herum hören können, „pfähhh, Koami, das Weichei !“.
Erschrocken hielt Iakunae einen Augenblick den Atem an ob Sirapis
gewagtem Ausspruch. Doch dann grinste Iakunae. „Pass bloss auf“, warnte
Iakunae Sirapi, „Koami ist viel stärker wie du“. Doch Iakunaes Warnung
bewirkte bei Sirapi nicht viel. Ein weiteres „Pfähhh“ stöhnte sie aus, „so ein
Landei mit Körperkraft, hi hi hi, und will einen Zickenkrieg gegen mich
gewinnen. Die hat aber die Rechnung ohne die kluge Sirapi gemacht, hi hi hi„.
Darauf wandte sich Sirapi einem der jungen Hübschlinge zu, die am Wegrand
auf die Ankömmlinge warteten. Doch einen Moment später erblickte Sirapi
Koamis allerverehrtester Freund auf der anderen Seite des Dorfplatzes und
diese Gelegenheit liess sie sich nicht entgehen. Einen kurzen Blick hin zu
Koami werfend, dass sie auch ganz sicher zuschaute, schlenderte Sirapi
langsam auf Koamis hübschen Freund zu.
Iakunae verdrehte grosse Augen. „Sirapi ist ja nicht mehr ganz bei Trost“,
entstzte sich Iakunae, „Koami ist die stärkste Frau im ganzen Dorf und
Sirapi will sich tatsächlich mit ihr einlassen? “. Emilia daneben zuckte die
Achseln. „Abwarten“, antwortete Emilia, „wenn auch Sirapi eine
hochgetakelte Tussi ist, ganz so dumm ist sie wohl auch wieder nicht. Ganz
bestimmt aber hat sie mit ihren ständigen Zickenkriegen einiges an
Erfahrung in so Sachen“. Die zwei Mädchen guckten einander in die Augen
und kicherten vergnügt.
„Sirapi, du dumme Schachtel“, schrie Koami drauf los, “lass gefälligst deine
dreckigen Finger von meinem Freund“. Koamis Freund guckte wehmütig aus
der Wäsche. „Aber ich wollte doch nur, zur Begrüssung, so quasi als Anstand
den Besuchern gegenüber, das war schon immer so Sitte .. .....“, stotterte
Koamis Allerliebster. „Schweig“, befahl Koami in forschem Ton, „du bist
jetzt nicht gefragt. Diese dumme Tussi muss gar nicht in unser Dorf kommen
und allen Männern den Kopf verdrehen“. Sirapi blickte kühl und überaus
mitleidig zu Koami. „Oh du armes Wesen“, entgegnete Sirapi mit wehleidiger
Stimme, „du ärmste, pfähhh, bist halt nicht so schön wie ich. Dafür musst du
mit deiner Kraft prahlen“. „Ohhh“, fauchte Koami und ballte die Fäuste. Aber
schon standen ein gutes Dutzend Verehrer von Sirapi da, ihre
Schönheitskönigin notfalls zu verteidigen. „Hääh“, neckte Sirapi Koami,
„schlag doch los, wenn du noch mumm hast. Dann kannst du was erleben von
meinen lieben, treuen Freunden hier in eurem Dorf“.
„Siehst du, die ist schlau“, flüsterte Emilia Iakunae ins Ohr, „die weiss
genau, wie so ein Zickenkrieg abgeht“. Nun, ob sie das so genau wusste? Noch
mehr Männer standen auf und gingen hin zu dieser spontanen
Auseinandersetzung. „Ganz recht hat Koami“, murmelte einer der Männer,
„diese Sirapi geht mir auch langsam auf den Wecker“, erbosten sich andere,
„der müssten wir mal eine Lektion erteilen“, .
Koami und Sirapi starrten sich böse in die Augen. „Diese Weichlinge?“,
spottete Koami, „diese bockigen Schürzenjäger wollen dir helfen? Diese
Bubis, Pantoffelhelden, die an jede aufgetakelte, blöde Tussi ihr Herz
verlieren? Vor denen habe ich keine Angst“. „Aaah, das sagst du kein zweites
mal“, fauchte Sirapi wütend. Und nun ging alles schnell. Bevor Sirapi ein
weiteres Wort sprechen konnte, schwang Koami ihre Hängetasche im Kreis
herum und knallte sie mit voller Wucht an Sirapis Köpfchen. „Ohhh“,
erzürnten sich Sirapis Anhänger, „stürzt euch auf Koami“. Doch auch Koamis
Helfer waren schon zur Stelle und ein ungebremster Kampf, eine wilde
Balgerei, brach zwischen den Männern auf dem Dorfplatz los. Immer mehr
Männer und Frauen eilten herbei, ihren jeweiligen besten Freunden
beizustehen. In kürzester Zeit waren alle Bewohner des Indianerdorfes
ausser die alten Frauen und die Kinder in den wilden Kampf verwickelt.
Häuptling Avanene stand der Verzweiflung nahe. „Nein, nein“, flehte er seine
Männern an, „habt ihr vergessen, wer zu uns auf Besuch weilt. Bitte, bitte,
hört auf. Der König wird sich auf alle Zeiten entsetzen ab unserem Dorf“.
Aengstlich schaute Avanene hoch zur Tribüne, auf der Ajun Bebe, der König
der Indianer sass. Dieser aber nahm es gelassen. In einer Seelenruhe sass er
da oben, schüttelte den Kopf und schaute schmollig lächelnd auf seine
Untertanen hinunter.
Nur um Sirapi stand es nicht gut. Sie konntee zwar nach dem deftigen
Schlag, den ihr Koami auf den Kopf versetzt hatte, wieder aufstehen, doch
dummerweise stellte sie sich nun, verwirrt ob des harten Schlages direkt vor
ihre Widersacherin hin. Und die zögerte nicht lange. Nochmals schwang
Koami ihre Umhängetasche und knallte sie ein zweites mal auf Sirapis Kopf.
Und nun stand Sirapi nicht mehr auf. Verletzt lag sie ohnmächtig am Boden,
zappelte noch etwas, aber aufstehen konnte nicht sie nicht mehr. Das war
zuviel für sie. Dem Prinzen Konyan Bebe fielen fast die Augen aus dem Kopf
wie er sah, was Sirapi alles einstecken musste. „Das gibt es doch nicht“,
entsetzte er sich, „was erlaubt sich diese freche Indianerfrau. Immerhin ist
Sirapi meine vierte Frau. Wart nur, jetzt kannst du was erleben“. „Ja mein
Sohn“, ereiferte sich Ajun Bebe, „das darfst du dir nicht gefallen lassen.
Geh runter, kämpfe und verteidige deine Ehre. Los mein Junge, zeigs ihr,
schlag zu, volle Pulle, jetzt geht was ab hier, ha ha ha ha“.
„Nein, nein, aufhören, hört auf“, schrie Avanene entsetzt und versuchte
vergebens die Menge zu bremsen. Schliesslich wandte sich Avanene an den
hohen König. „Du musst entschuldigen, verehrter König Ajun Bebe“,
versuchte er den König zu besänftigen, „die Leute sind sonst nicht so. Deine
Ankunft, die Warterei, das warme Wetter heute, all die fremden Leute, das
war glaub einfach alles zu viel für sie“. Doch König Ajun Bebe hörte dem
Häuptling nicht zu. Er war von seinem Stuhl aufgestanden und warf
begeistert die Hände in die Luft. „Ja, ja, gebt es ihnen. Los Leute, verklopft
die Weicheier“, schrie der König begeistert, wie wenn er einem Fussballspiel
zuschauen würde.
Iakunae und Emilia hatten sich auf eine Holzbank gesetzt und schauten
vergnügt zu. „Ich glaube die Erwachsenen brauchen dringend mal eine
Abkühlung“, kicherte Iakunae zu Emilia und den Kindern, die neben ihr
sassen. Und das braucht sie keine zwei mal zu sagen. „Ja, ja“, kreischten die
Kinder vor Freude, „lasst uns Wasser holen am Bach unten“. So waren die
vielen Kinder des Dorfes schon bald mit etlichen Krügen und Eimern voll
Wasser zurück und begannen die überhitzten Indianer anzuspritzen.
Emilia flüsterte Iakune etwas ins Ohr und zeigte auf den König, der auf der
Tribüne steht. „Ja genau“, kicherte Iakunae vergnügt und darauf bestiegen
die zwei Mädchen eilends des Königs Tribüne. „Lieber König Ajun Bebe“,
sprach Emilia höfisch, „begehrt euch etwa danach, mitzuhelfen eure
Untertanen abzukühlen?“, „Ja, Jippiii“, freute sich der König, „ja bitte, gebt
mir die Krüge. Ohh, schön“. So hatte der König seine grösste Freude, dass er
jetzt auch etwas mitkämpfen konnte, und wenn es auch nur das
Herunterspritzen von Wasser aus der sicheren Höhe der Tribüne war. Noch
und noch brachten ihm die Kinder des Dorfes krugweise Wasser.
Nur Sirapi lag noch ohnmächtig mitten auf dem Dorfplatz. Prinz Konyan Bebe
ging auf sie zu, hob seine vierte Frau vom Boden auf und hielt sie fest in
seinen Armen. Langsam öffnete Sirapi ihre Augen. „Ahhhh“, stöhnte sie
weinerlich. „Hast du dir weh getan?“, fragte Konyan Bebe vorsichtig und
liebevoll. „Ahhh, ahhh“, stöhnte Sirapi weiter, hielt mit gespitztem Mund
ihre Augen vollends offen und schaute Konyan Bebe zärtlich ins Gesicht.
„Meine Sirapi“, flehte Konyan Bebe mit weicher Stimme und küsste sanft
seine Liebste auf ihr Schmollmündchen, „dir wird doch nichts schlimmes
passiert sein? meine Allerliebste, meine Schönste“. „ohhhh“, stöhnte Sirapi
tief gerührt, „mein Süsser“. Darauf fielen ihr die Augen erneut zu und sie
liess ihren Kopf auf die andere Seite gleiten. Sogleich fiel sie in die nächste
Ohnmacht, denn diese sanften Worte waren einfach zuviel für sie.
„Danke, danke, danke“, schwärmte der König auf seiner Tribüne, „endlich mal
ein anderer Empfang wie sonst immer. Immer dieses noble Getue um ‚eure
Hoheit’, das kann ich schon gar nicht mehr mit anhören. Aber ihr habt euch
was einfallen lassen. Hier bei euch in Uwattibi, da ist endlich mal was los, da
lebt es. Jipiii, das war der schönste und lustigste Empfang, den ich je erlebt
habe“. Häuptling Avanene seufzte daneben und schüttelte den Kopf. Er
konnte die verrückte Welt an diesem schönen Tag nicht mehr verstehen.
12-4
Kämpfen macht hungrig und so begann schon bald das königliche Festmahl an
dem das ganze Dorf, alle Indianer, alle Frauen und alle Kinder teilnahmen.
Nur die besten Grilladen, Maniokabrote, Früchte, Süssigkeiten, Sirup und
kalter Früchtetee wurden aufgetragen und für die Männer gab es
Maniokabier. Musik wurde gespielt und die Indianer tanzten endlos. So gefiel
es allen, bis weit in die Nacht hinein.
Einen Augenblick später kehrte Emilia zurück. In ihrer Hand hielt sie einen
kleinen bunten Lederbeutel. Emilia blieb vor Iakunae stehen, die überrascht
zu ihr hochblickte. „Viel Glück zum Geburtstag, Iakunae“, wünschte Emilia
laut und freudig. Iakunae verzog ein breites Lachen über ihr Gesicht, stand
auf und fiel Emilia um den Hals. „Wenigstens jemand weiss noch, dass heute
mein Geburtstag ist und dass wir heute abend eigentlich meinen Geburtstag
feiern wollten“, freute sie sich.
Neugierig blickte Kwarahi auf den Lederbeutel in Iakunaes Hand. „Was hast
du denn nun schönes von Emilia geschenkt bekommen?“, fragte Kwarahi mit
neugierigem, leuchtenden Augen. Behutsam öffnete Iakunae den Beutel, aber
hinein guckte sie noch nicht. „Es ist etwas schweres“, rätselte sie, bevor sie
mit ihrer Hand ins Innere des Beutels griff. „Etwas kaltes, schweres“,
staunte sie eine Weile und zog kurz darauf einen runden, leuchtend weissen
Stein aus dem Beutel. „Oh schön“, staunte Iakunae.
Mit grossen Augen schaute Kevin Emilia an. „Was ? Du verschenkst deinen
Glitzerstein?“, wunderte er sich. „Ja“, antwortete Emlia, „ihr seid meine
besten Freunde und mit Iakunae bin ich am meisten zusammen. So will ich
Iakunae etwas schenken, das mir selber viel bedeutet, meinen Glitzerstein,
den ich aus Porto mitgebracht habe. Schon als kleines Kind habe ich immer
mit ihm gespielt. Er hat viele Kräfte in sich und ist mein schönster Stein.
Doch nun will ich ihn dir schenken, Iakunae“. Ungläubig blickte Iakuane Emilia
ins Gesicht. „Meinst du, darf ich das wirklich annehmen?“, fragte sie. Kevin
legte seine Hand auf Iakunaes Schulter. „Ach meine Schwester„, seufzte
Kevin, „wenn sie dir was schenken will, so nimm es. Das ist schon richtig so“.
Ein fröhliches Lächeln erstrahlte auf Iakuanes Gesicht. „Oh schön der Stein,
danke vielmals“, freute sie sich und umarmte ihre Freundin.
Kevin stand auf, ging zur Feuerstelle und kehrte mit einem Holzbrett voll
Grilladen und feinen Früchten zurück. „ So, nun lasst uns was futtern“,
forderte er die Mädchen freundlich auf und eine gemütliche Mahlzeit
begann. Alle essen sie hungrig ausser Emilia. Sie mochte nicht essen. „Hast
du keinen Hunger?„, wunderte sich Kevin. Doch Emilia gab keine Antwort und
schüttelte leise den Kopf. „Stimmt etwas nicht?“, fragte Kwarahi besorgt.
„Doch schon“, gab Emilia zur Antwort, „bloss ich hab so ein komisches
Gefühl. Irgendwas stimmt nicht“. Verwundert schaute Kevin zu seiner
Schwester. Doch er wusste, dass wenn Emilia so drein schaut und dieses
Gefühl hat, dass da meistens was ernstes dahinter steckte.
Und da geschah es auch schon. Zwei Kinder kamen angerannt. „Hilfe, hilfe“,
schrieen sie ausser Atem, „Emilia, Iakuane, schnell kommt, in der
Materialhütte – eure Freundin Panyma“ . Erschrocken blickten die zwei
Mädchen hoch. Ohne ein Wort zu verlieren standen sie auf und eilten zur
Materialhütte. Kevin und Kwarhi folgten hinterher.
In der Materialhütte war es düster und dunkel. Nur ein kleines Feuer
erhellte den Raum ein wenig und liess drohende, dunkle Schatten an die
Wände fallen. „Panyma Panyma“, rief Emilia ängstlich wie sie Panyma neben
dem Feuer am Boden liegen sah. „Panyma, Panyma was ist los?“, fragte Iakune
mit besorgter Stimme. Die zwei Mädchen knieten links und rechts von
Panyma auf dem Boden. Kevin und Kwarahi standen daneben und blicken voll
Sorge zu Panyma.
Emilia bückte sich über Panyma und schaute in ihr Gesicht. Langsam öffnete
Panyma einen kleinen Spalt weit ihre Augen. „Emilia, Iakunae“, flüsterte sie.
Darauf schloss sie ihre Augen und sank in sich zusammen. Emilia hielt
Panymas Hand und liess keinen Blick ab von ihrer Zauberlehrerin, die da am
Boden lag. „Was ist geschehen?“, fragte Emilia, „bist du krank? Sag, wie
können wir dir helfen?“. Doch Panyma gab keine Antwort. Reglos lag sie da.
„Sollen wir dir ein paar Heilkräuter sammeln?“, fragt eIakunae. Leise
schüttelte Panyma den Kopf. „Der alte Schamane“, flüsterte sie, „was er mir
gezeigt hat. Ich komm nicht mehr los“. Panyma atmete schwer aber dennoch
zierte ein feines Lächeln ihren Mund, während sie die Hände der zwei
Mädchen fest gedrückt hielt.
„Ich komm nicht mehr los?“, rätselte Iakunae, „was meint sie damit?“. „Ich
weiss es auch nicht“, antwortete Emilia, „aber wenn es mit dem alten
Schamanen zu tun hat, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den alten
Schamanen zu rufen. Wenn jemand Panyma helfen kann, so ist er es“. „Nur
wo finden wir ihn?“, entgegnete Iakunae. Emilia zuckte die Schultern und
schwieg. Erleichtert sah sie, wie auch ihre Mutter Silvia die Materialhütte
betrat. „Silvia, Silvia, Maija, hilf uns“, rief Emilia leise. Silvia begab sich
neben Emilia und schaut hinunter auf Panymas Körper.
Allmählich entwichen sämtliche Kräfte aus Panymas Körper. Sie liess die
Hände der Mädchen los und schloss ihre Augen und ihren Mund. „Panyma,
bitte bleib bei uns“, flüsterte erschrocken Iakunae, „bleib bei uns“. „Ich
glaube nicht, dass wir da noch viel tun können“, erklärte Silvia mit ruhiger
Stimme, „es ist Panymas Natur, Panymas Seele, Körper und Geist. Wir sind
nicht Herr über Leben und Tod“. „Meinst du sie stirbt?“, fragte ängstlich
Emilia. „Ich weiss es nicht“, antwortete Silvia, „aber ich glaube, ihr braucht
euch keine Sorgen machen. Panymas Geist ist liebevoll und hilfsbereit. Was
auch geschehen wird, einem so lieben Menschen kann gar nicht viel schlimmes
widerfahren“. Emilia nickte. „Ich glaube du hast recht, Maija“, sprach sie
sichtlich erleichtert mit leiser Stimme, „wo sie jetzt auch hingeht, viel
schlimmes wird ihr nicht geschehen. Das glaube ich auch“.
Panyma lag da, reglos, und allmählich entwich alle Farbe aus ihrem feinen,
schlanken Körper. Die ohnehin schon faltige und runzlige Haut ihres
Gesichtes liess sie jetzt, wo sie ohne Farbe grau dalag, noch viel älter
erscheinen, als sie es sonst schon war. Doch immer noch trug Panyma einen
erhabenen und liebevollen Ausdruck in ihrem Gesicht. Emilia streifte in
feiner, ruhiger Bewegung mit ihrer Hand über Panymas Stirn. „Sie ist kalt“,
stellte Emilia fest, „das Leben ist aus ihr gewichen“.
Nun brach Iakunae in Tränen aus und auch Emilias Augenwinkel wurden
feucht. Silvia legte ihre Arme um die zwei Mädchen und versuchte sie zu
trösten, so gut es ging. „Jeder von uns wird einmal gehen“, sprach sie, „das
ist so. Der menschliche Körper ist begrenzt, doch sein Geist ist endlos und
ewig im Universum des allmächtigen Gottes“. Kevin stand dahinter und
machte ein trauriges Gesicht. Kwarahi hatte sich fest an ihn geklammert und
versuchte ihren Freund zu trösten.
Doch Iakunae war ein Indianermädchen, ein kleines Lausemädchen und sie
trug die Freude des Lebens tief in ihrem Herzen. So stand sie als erstes auf.
„Ja, das ist so“, sprach sie mit hoffungsvollem Lächeln im Gesicht, „das
können wir nicht ändern, aber bestimmt wird es Panyma gut ergehen, wo
immer sie auch sein wird“. Sie lief ums Feuer herum und legte einige
wohlriechende Kräuter auf Feuer. Dann plötzlich hielt sie ihren Atem an,
denn sie hatte etwas gesehen, dass sie zutiefst erschrecken liess.
„Sie wird aus Stein, schaut mal“, erschrak Iakunae. Zaghaft berührte sie
Panymas Körper. „Stein, purer Stein“, staunte Iakunae mit aufgesperrten
Augen und offenem Mund. Emilia blickte auf zu ihrer Freundin. „Aus Stein
sagst du?“. „Ja, grauer Stein, schau mal“. Ungläubig schauten die
Anwesenden auf Panymas toten Körper.
Nach einer Weile wurde der graue Stein langsam hell, hell und heller. In
weissem Antlitz strahlte Panymas Körper am Boden und schliesslich begann
gar ein violettes Licht aus Panymas Herzen zu strahlen. „Sie leuchtet“,
staunte Emilia. Ein Licht stieg aus Panymas Körper in die Höhe. Emilia hielt
sich eine Hand vors Gesicht um weniger geblendet zu werden. Nun konnte sie
mehr erkennen. Dieses geheimnisvolle Licht bedeckte Panyma von Kopf bis
Fuss. Vollkommen in dieses Licht eingetaucht lag Panyma da.
Während nun Panymas Körper langsam verschwand stieg das violette Licht
weiter empor und formte sich zu einer runden hellen Kugel. Eine Zeit lang
schwebte dieses Licht über der Stelle wo vorhin Panymas Körper lag und
jetzt nichts mehr war. Und dann geschieht das wunderbare. Panymas
Umrisse werden im Innern der Lichtkugel sichtbar, mehr und mehr, bis
Panyma schliesslich hell leuchtend in der Mitte der Kugel stand. Erstaunt und
ohne ein Wort hervorbringen zu können, schauten Emilia und Iakune dem
Geschehen zu.
Dann schliesslich begann Panyma gar zu sprechen. „Jetzt weiss ich wie der
Zauber geht“, eröffnete sie das Wort, „den Zauber, den ich so lange
vergebens gesucht. Der alte Schamane gab mir einen Hinweis und den Rest
habe ich schnell gefunden. Es braucht kein Zauberkraut, keinen Zauberstab
und keinen Zauberspruch um hin zum Lichtwesen zu gelangen. Es genügt die
Wärme und das Licht des Herzens.
Es war später Abend. Thiago sass auf dem Schaukelstuhl und konnte die
Augen kaum mehr offenhalten. Mit liebevollem Blick schaute Emilia zu dem
Jungen hin. „Willst du nicht schlafen gehen, Thiago?“, fragte sie. Thiago
nickte und Emilia nahm ihren Sohn auf den Arm. „Pappa slafen gehen, Pappa
slafen gehen“, wünschte er sich. „Ja ja, ich leg dich gleich neben deinen Papa
ins Bett. So wie ich deinen Papa kenne, ist er nämlich auch schon
eingeschlafen“. Emilia ging mit ihrem Jungen ins Haus und vom Lausbub
Thiago war für diesen Abend nichts mehr zu hören.
Kurz darauf kehrte Emilia zu Juanita auf die Veranda zurück. Die beiden
genossen in vollen Zügen das Licht der schönen Vollmondnacht. Juanita
schaut ihre Mutter mit grossen Augen an. „Ich möchte auch mal zaubern
lernen“, wünschte sich Juanita. „Vielleicht kannst du das einmal“, antwortete
Emilia, „du musst vor allem einen Zauberlehrer oder eine Zauberlehrerin
finden. Es muss jemand sein, der das gut kann. Ich habe es nach der Zeit im
Indianerdorf nie mehr gemacht und ich glaube nicht, dass mir heute noch
etwas gelingen würde, denn Zaubern braucht viel Uebung und du musst über
lange Zeit voll dabei sein, sonst wird dir nichts gelingen“. „Am liebsten
möchte ich es bei Panyma lernen“, meinte Juanita begeistert. „Dann warte
nur ab“, machte ihr Emilia Mut, „wenn du dir das genügend lange wünschst, so
wirst du Panyma bestimmt mal begegnen. Aber jetzt ist es Zeit zum
Schlafengehen“.