FRAUEN SCHREIBEN
EROTISCHE GESCHICHTEN
Herausgegeben von
INGRID GRIMM
MÜNCHEN
Rahel Hutmacher
ANGELA CARTER
Blaubarts Zimmer
Ich erinnere mich noch an jene Nacht: Ich lag wach im Schla f
wagen in einer leichten köstlichen Ekstase der Erregung, die
brennenden Wangen an das makellose Linnen des Kopfkissens
gepreßt, während das Pochen meines Herzens die Stöße der
großen Kolben nachahmte, die den Zug unablässig vorwärts
stießen – den Zug, der mich durch die Nacht trug, fort von Paris,
fort aus meiner Mädchenzeit, fort aus der weißen, eingefriedeten
Stille der Wohnung meiner Mutter, hinein in die unüberschaub a
ren Gefilde der Ehe.
Und ich erinnere mich daran, daß ich mir zärtlich ausmalte, wie
meine Mutter in eben diesem Augenblick langsam in dem engen
Schlafzimmer herumging, das ich für immer verlassen hatte, und
alle meine kleinen Habseligkeiten zusammenfaltete u nd fortlegte,
die hingeworfenen Kleider, die ich nicht mehr brauchen würde,
die Partituren, für die kein Platz mehr in meinen Koffern gew e
sen war, die Konzertprogramme, die ich zurückgelassen hatte; ich
malte mir aus, wie sie über diesem zerrissenen Seiden band und
jener verblaßten Fotografie verharrte mit all den halb freudigen,
halb besorgten Gefühlen einer Frau am Hochzeitstag ihrer Toc h
ter. Inmitten meines bräutlichen Triumphes empfand ich den
Schmerz eines Verlustes, so als hätte ich, als er mir den gol denen
Reif auf den Finger steckte, aufgehört, ihr Kind zu sein, indem
ich seine Frau wurde.
Bist du sicher, hatte sie gesagt, als die riesenhafte Schachtel
abgeliefert wurde, in der das Hochzeitskleid
lag, das er mir gekauft hatte, eingepackt in Geschenkpa pier mit
roten Schleifen wie kandierte Früchte zu Weihnachten. Bist du
sicher, daß du ihn liebst? Es war auch ein Kleid für sie dabei,
schwarze Seide, die matt schimmerte wie Öl auf Wasser, kostb a
rer als alles, was sie seit ihrer abenteuerreichen Kindheit in Indo
china als Tochter eines reichen Teeplantagenbesitzers getragen
hatte. Meine adlergesichtige , unzähmbare Mutter; welche andere
Schülerin am Konservatorium konnte sich einer Mutter rühmen,
die einer Dschunke voller chinesischer Piraten die Stirn gebot en,
ein Dorf von der Pest geheilt und eigenhändig einen reißenden
Tiger erlegt hatte, und das alles, ehe sie so alt war wie ich jetzt?
»Bist du sicher, daß du ihn liebst?«
»Ich bin sicher, daß ich ihn heiraten will«, erwiderte ich.
Mehr wollte ich nicht sa gen. Sie seufzte, als ob es ihr wide r
strebte, daß sie nun endlich das Gespenst der Armut von seinem
vertrauten Platz an unserer mageren Tafel verscheuchen konnte.
Denn meine Mutter selbst hatte sich mit Freuden, Skandalen und
Trotz um der Liebe willen an den Bettelstab gebracht; und eines
schönen Tages blieb ihr galanter Soldat für immer im Krieg und
hinterließ Weib und Kind ein Vermögen aus Tränen, die niemals
völlig trockneten, samt einer Zigarrenschachtel voller Orden und
einem alten Dienstrevolver, den meine Mutter – wegen all der
Mühsal herrlich exzentrisch geworden – stets in ihrem Beutel bei
sich trug, falls sie – wie ich immer neckend sagte – auf dem
Heimweg vom Krämer von einem heimlichen Verfolger übe r
rascht werden sollte.
Von Zeit zu Zeit huschten Lichter wie Sternschnuppen durch
die heruntergelassenen Jalousien, als hätte die Eisenbahngesel l
schaft alle Bahnhöfe, durch die wir fuhren, zur Feier der Braut
festlich erleuchtet. Mein seidenes Nachthemd war gerade erst aus
der Verpackung genommen worden und über meine spitzen
Jungmädchenbrüste und meine Schultern geglitten, geschmeidig
wie ein Gewand aus schwerem Wasser; es neckte und streichelte
mich jetzt, und haarsträubend einschmeichelnd schob es sich
zwischen meine Schenkel, als ich mich auf der sch malen Liege
ruhelos hin- und herwälzte. Sein Kuß, sein Kuß mit Zunge und
Zähnen und das Kratzen des Barts gaben mir – wenn auch nur
ebenso zartfühlend wie dieses Nachtgewand von ihm – eine
Vorahnung auf unsere Hochzeitsnacht, voll Wollust auf den
Moment au fgeschoben, in dem wir im großen Bett seiner Vo r
fahren liegen würden, in dem meerumschlungenen und zinne n
stolzen Herrenhaus, das noch jenseits meiner Vorstellung lag…
Zauberort, Feenschloß mit Mauern nur aus Meeresgischt, die
sagenumsponnene Stätte, an der er geboren war und der ich,
eines Tages, vielleicht den Erben bringen würde. Unsere Be
stimmung, mein Schicksal.
Über dem unregelmäßigen Rattern des Zuges konnte ich seinen
gleichmäßigen stetigen Atem hören. Nur die Verbindungstür
trennte mich von meinem Gemahl, und sie stand offen. Wenn
ich mich auf den Ellbogen stützte, erkannte ich seinen dunklen
Löwenkopf und fing einen Hauch jenes üppigen männlichen
Dufts aus Leder und Gewürz auf, der ihn immer umgab und der
allein manchmal, in der Zeit der Werbung, an gedeutet hatte, daß
er in meiner Mutter Salon getreten war, denn obgleich er ein
großer Mann war, bewegte er sich so sanft wie auf Samtsohlen,
als verwandelte sein Schritt die Teppiche in Schnee.
Er hatte mich gern überrascht in meiner selbstversunkenen
Einsamkeit am Flügel. Er bat, daß man ihn nicht ankündigen
möchte, öffnete dann lautlos die Tür und glitt leise hinter mich,
mit einem Strauß Treibhausblumen oder einer Schachtel marrons
glacés, legte seine Gabe auf die Tasten und deckte seine Hände
über meine Augen, während ich noch in ein Prélude von Debu s
sy versunken war. Doch der Duft von würzigem Leder hat ihn
stets verraten; nach meinem ersten Schreck war ich immer wieder
gezwungen, Überraschung zu heucheln, um ihn nicht zu enttä u
schen.
Er war älter als ich. Er war sehr viel älter als ich; seine dunkle
Mähne durchzogen Silberfäden. Aber sein seltsames, schweres
und fast wächsernes Gesicht war nicht zerfurcht von der Erfa h
rung. Ganz im Gegenteil, Erfahrung schien es vollkommen
glattgewaschen zu haben, wie einen Stein am Ufer, dessen Fu r
chen die immer wiederkehrenden Gezeiten abgeschliffen haben.
Und manchmal, wenn er mir still beim Spielen zuhörte, die
schweren Lider über die Augen gesenkt, die so völlig glanzlos
waren, daß es mich jedesmal verstörte, dann kam mir sein Antlitz
wie eine Maske vor, als ob sein wahres Gesicht, das Gesicht,
welches das ganze Leben spiegelt, das er geführt hatte, bevor wir
uns kennenlernten, ja: bevor ich überhaupt geboren war, als ob
dieses Gesicht hinter der Maske läge. Oder irgendwo sonst. Als
ob er das Gesicht, mit dem er so lange gelebt hatte, beiseite
gelegt hätte, um meiner Jugend ein Gesicht zu bieten, das noch
nicht von den Jahren gezeichnet war.
Vielleicht konnte ich ihn irgendwo unverstellt sehen. Irgendwo.
Aber wo?
Vielleicht in jenem Schloß, zu dem uns der Zug jetzt trug, das
wunderbare Schloß, in dem er einst geboren war.
Selbst als er mich gefragt hatte, ob ich ihn heiraten wollte, und
ich mit »Ja!« geantwortet hatte, zeigte er die schwerfällige Ge
faßtheit. Ich weiß, einen Mann mit einer Blume zu vergleichen ist
merkwürdig, aber manchmal kam er mir wie eine Lilie vor. Ja,
eine Lilie. Ganz erfüllt von der fremdartigen, unheilvollen Ruhe
einer empfindsamen Pflanze, wie die Friedhofslilien mit ihren
Kobraköpfen, deren weiße Blätter sich aus einem Fleisch gerollt
haben, das der Berührung so fest und selbstbewußt begegnet wie
Pergament. Als ich ihm sagte, daß ich ihn heiraten wollte, rührte
sich kein einziger Muskel dieses Gesichts. Er stieß nur einen
langen und erschöpfte n Seufzer aus. Ich dachte: ›Oh! Wie sehr
muß er mich wollen!‹ Und es war, als hätte das unwägbare Ge
wicht seines Begehrens eine Macht, der ich nicht widerstehen
konnte, nicht weil sie gewalttätig gewesen wäre, sondern weil sie
so anziehend war.
Er hatte de n Ring in einem mit rotem Samt gefütterten Lede r
etui bei sich, einen Feueropal, so groß wie ein Taubenei, in einem
kunstvollen Krei s aus altem dunklem Gold. Meine alte Kinde r
frau, die immer noch bei meiner Mutter und mir lebte, fuhr
entsetzt vor diesem Rin g zurück: ›Opale bringen Unglück‹, sagte
sie. Dieser Opalring aber hatte seiner Mutter gehört, davor seiner
Großmutter und deren Mutter, einer seiner Ahnen hatte ihn einst
von Katharina von Medici geschenkt bekomme n… Seit unden k
lichen Zeiten trug ihn jede Braut, die in das Schloß zog. »Hat er
ihn dann auch seinen anderen Frauen geschenkt und ihn sich
später zurückgeben lassen?« fragte die alte Frau barsch. Doch sie
war eingebildet und verbarg nur ihre unbeschreibliche Freude
über meine gute Partie – ihre kle ine Marquise – hinter einer
Fassade aus ständiger Nörgelei. Mit dieser Bemerkung freilich
hatte sie mich getroffen. Ich zuckte die Schultern und wandte ihr
trotzig den Rücken. Ich wollte nicht daran denken, wie er vor mir
andere Frauen geliebt hatte, aber der Gedanke daran quälte mich
oft in den nächtlichen Stunden, in denen das Selbstbewußtsein so
fadenscheinig ist.
Ich war siebzehn Jahre alt und wußte nichts von der We lt; mein
Marquis war verheiratet gewesen, mehr als einmal, und ich war
immer noch etwas verwundert, daß er nach all den anderen jetzt
mich ausgewählt hatte. Trauerte er denn gar nicht mehr um seine
letzte Frau? Tz, tz, machte meine alte Kinderfrau. Und selbst
meine Mutter hatte gezögert, ihre Tochter durch einen Mann von
ihrer Seite reißen zu lassen, der erst jüngst verwitwet war. Eine
rumänische Gräfin, eine Dame der großen We lt. Als ich ihn
kennenlernte, war sie erst drei Monate tot, ein Bootsunfall, in
seiner Heimat in der Bretagne. Man hat ihre Leiche nie gefunden,
aber ich durchstöberte alle alten Gesellschaftsmagazine, die
meine Kinderfrau in einem Koffer unter ihrem Bett aufbewahrte,
bis ich ihre Fotografie entdeckt hatte. Scharfe Züge eines hü b
schen, witzigen und verzogenen Äf fchens, ausdrucksvoller und
bizarrer Charme wie von einem dun klen, strahlend schönen,
wilden, aber weltgewandten Wesen, dessen natürliche Umgebung
der Dschungel eines luxuriösen Inneneinrichters gewesen sein
muß, mit Zimmerpalmen und zahmen kreischenden Papageien.
Und die Frau vor ihr? Ihr Gesicht war öffentliches Eigentum,
alle haben sie gemalt, aber der Kupferstich von Redon gefiel mir
am besten – ›Abendstern am Saum der Nacht‹. Wer ihre knoch i
ge, rätselhafte Anmut sah, hätte nie vermutet, daß sie Barfrau in
einem Café am Montmartre gewesen war, bis Puvis de Chava n
nes sie entdeckt und dazu gebracht hatte, ihre flachen Brüste und
ihre schmalen Hüften für seinen Pinsel zu enthüllen . Und doch
hatte der Absinth sie hingerafft, so hatte man wenigstens gemu n
kelt.
Und die erste von allen seinen Damen? Die Luxusdiva – ich
hatte sie als Kind die Isolde singen hören, früh musikalisch wie
ich war, als ich an meinem Geburtstag in die Oper gehen durfte.
Meine erste Oper – ich hatte sie die Isolde singen hören. Mit
welch lodernder Leidenschaft hatte sie von der Bühne gestrahlt!
Es war schon zu ahnen, daß sie jung sterben würde. Wir saßen
ganz oben im Rang, halbwegs im Himmel der Götter, trotzdem
war ich fast geblendet von ihr. Und mein Vater, der damals noch
lebte (ach, wie ist das lange her), griff nach meiner klebrigen
kleinen Ha nd, um mich beim letzten Akt zu trösten, aber alles,
was ich hörte, war die Glorie ihrer Stimme.
Dreimal war er verheiratet gewesen, während meiner eigenen
kurzen Lebenszeit, mit drei verschiedenen Grazien, und nun
hatte er, wie um seinen wählerischen Gesc hmack zu demonstri e
ren, mich gebeten, in diese Galerie schöner Frauen einzutreten,
mich, einer armen Witwe Kind mit mausfarbenen Haaren, die
immer noch die Knicke von den Zöpfen zeigten, von denen ich
erst vor kurzem erlöst worden war, mit knochigen Hüften und
nervösen Pianistenfingern.
Er war reich wie Krösus. Am Abend vor unserer Trauung –
eine schlichte Angelegenheit, nur auf dem Standesamt, denn
seine Gräfin war erst jüngst verblichen – hatte er meine Mutter
und mich – seltsamer Zufall – zu ›Tristan und Isolde‹ eingeladen.
Und wahrhaftig, mein Herz schwoll und schmerzte so beim
›Liebestod‹, daß ich dachte, ich müßte ihn wirklich lieben. Ja. Das
tat ich. Ich war an seiner Seite, und alle Augen lagen auf mir. Die
flüsternde Menge im Foyer teilte sich wie d as Rote Meer, um uns
hindurchzulassen. Meine Haut knisterte, wenn er mich berührte.
Wie sehr sich meine Lebensumstände verändert hatten, seit ich
zum erstenmal diese wollüstigen Wohlklänge hörte, die so viel
tödliche Leidenschaft in sich tragen! Jetzt saße n wir in einer Loge
in rotsamtenen Armsesseln, und in der Pause brachte uns ein
Lakai mit Tressen und Perücke einen silbernen Kübel mit eisg e
kühltem Champagner. Der Schaum perlte über den Rand meines
Glases und benetzte meine Hände, und ich dachte: mein Ke lch
läuft über. Ich trug ein Kleid von Poiret. Er hatte meine wide r
strebende Mutter bedrängt, daß er mir die Ausstattung kaufen
durfte. Wie sonst hätte ich zu ihm kommen sollen? In doppelt
gestopfter Unterwäsche, fadenscheinigen Schürzen, Sergeröcken,
abgetragenen Sachen von der Stange. So trug ich an diesem
Opernabend ein geschlungenes, gleitendes Etwas aus weißem
Musselin, unter der Brust mit einer seidenen Kordel gebunden.
Und alle starrten auf mich. Und auf sein Hochzeitsgeschenk.
Sein Hochzeitsgeschenk, es schlang sich um meinen Hals. Eine
enge Kette aus Rubinen, zwei Daumen breit, wie eine außerg e
wöhnlich kostbare, aufgeschlitzte Kehle.
Nach der Schreckensherrschaft in den ersten Tagen des Dire k
toriums kam unter den Aristokraten, die der Guillotine ent ron
nen waren, die spöttische Mode auf, sich ein totes Band um den
Hals zu schlingen, gerade an der Stelle, wo das Beil ihn durc h
trennt hätte, ein rotes Band als Erinnerung an die Wunde. Und
seine Großmutter, die davon begeistert war, hatte sich das Band
mit Rubinen besetzen lassen. Eine Geste luxuriöser Verachtung!
Diese Nacht in der Oper fällt mir gerade jetzt wieder ei n… Das
weiße Kleid; das zerbrechliche Kind darin und die blitzenden
feuerroten Juwelen um den Hals, hell wie das Blut in Arterien.
Ich sah, wie er mich in den goldgefaßten Spiegeln musterte mit
dem abschätzenden Auge des Kenners, der ein Pferd begutac h
tet, oder einer Hausfrau, die auf dem Markt die Schlachtstücke
auf dem Hackklotz betrachtet. Ich hatte diesen Ausdruck noch
nie an ihm gesehen, ich wußte gar nicht, daß es das gibt, diese
unverhüllte fleischliche Gier; sie wurde merkwürdig riesenhaft
durch das Monokel, das in seinem linken Auge klemmte. Als ich
bemerkte, wie er mich so lüstern ansah, senkte ich die Augen,
aber indem ich von ihm fortblickte, erhaschte ich mein eigenes
Bild im Spiegel. Und plötzlich sah ich mich wie er, mein blasses
Gesicht, die Art, wie meine Muskeln wie dünner Draht aus dem
Hals ragten. Ich sah, wie gut mir dieses grausame Halsband
stand. Und ich spürte zum ersten mal in meinem unschuldigen
und behüteten Leben in mir selbst Potenzen der Verworfenheit,
die mir den Atem nahmen.
Am nächsten Tag wurden wir vermählt.
Der Zug wurde langsamer und hielt ruckelnd an. Lichter, metall i
sches Klirren, eine Stimme, die den Name n eines unbekannten
Ortes ausruft, den keiner je besuchen will, das Schweigen der
Nacht, der Rhythmus seines Atems, mit dem ich von nun an
mein Leben lang schlafen sollte. Und ich konnte nicht schlafen.
Ich richtete mich heimlich auf, zog die Jalousie etwa s hoch und
lehnte mich an das kalte Fenster, das sofort beschlug durch die
Wärme meines Atems; ich schaute hinaus auf den dunklen Bah n
steig zu diesen Rechtecken au s heimeligem Laternenlicht, das
nach Wärme, Gesellschaft und einem Abendessen mit Bratwü r
sten aussah, die schon für den Stationsvorsteher in einer Pfanne
auf dem Ofen zischelten, und seine Kinder lagen schon fest
eingestopft und schlafend in ihrem Bett in dem Backsteinhaus
mit den gestrichenen Fensterläde n… All die Kleinigkeiten des
Alltagslebens, aus dem ich durch meine glänzende Heirat ausg e
wandert war.
In die Ehe, ins Exil; ich spürte es, ich wußte es; daß ich von
nun an immer allein sein würde. Aber das hatte schon zu dem
inzwischen vertrauten Gewicht des Feueropals gehört, der wie
die Zauberkugel einer Zigeunerin glühte, so daß ich meine Augen
nicht von ihm lösen konnte, wenn ich auf dem Flügel spielte.
Dieser Ring, das Blutband der Rubine, der Schrank voller Kleider
von Poiret und Worth, sein Duft nach Russisch Leder – all das
war miteinander im Bunde, um mich so gänzlich zu verführen,
daß ich nicht behaupten könnte, es hätte mir auch nur einen
Moment lang leid getan, daß mir die We lt aus Butterbroten und
Maman entwich wie von einer Schnur gezogen, wie ein Kinde r
spielzeug, als jetzt der Zug wie der zu schnauben begann, freudig
ahnend, in welche Ferne er mich führte.
Die ersten grauen Streifen der Morgendämmerung huschten
über den Himmel, und ein geisterhaftes Halblicht sickerte in den
Schlafwagen. Ich hörte keine Veränderung in seinem Atem, aber
meine geschärften, erregten Sinne sagten mir, daß er jetzt wach
war und mich ansah. Ein riesiger Mann, ein enormer Mann, und
seine Augen, dunkel und reglos wie die Augen, die die alten
Ägypter auf ihre Sarkophage gemalt haben, waren auf mich
gerichtet. Ich fühlte eine bestimmte Spannung mitten im Magen,
weil ich so beobachtet wurde, in einer solchen Stille. Ein Streic h
holz flackerte auf. Er zündete sich eine Zigarre an, ›Romeo y
Julieta‹, dick wie ein Kinderarm.
›Bald‹, sagte er mit seiner nachhallenden Sti mme, die wie eine
Glocke tönte, und ich verspürte ganz plötzlich ein e klare Vora h
nung von Grauen, die nur so lange währte, wie das Streichholz
flackerte und ich sein breites weißes Gesicht so sah, als ob es
körperlos über dem Laken schwebte, von unten ange strahlt wie
eine groteske Karnevalsmaske. Dann verlosch die Flamme, die
Zigarre glomm und füllte das Abteil mit einem wohlbekannten
Duft, der mich an meinen Vater denken ließ, wie er mich als
kleines Mädchen in eine warme Wolke von seiner Havanna
hüllte, bevor er mich küßte und verließ und starb.
Als mein Gemahl mir die Hand reichte und mir die steilen Stu
fen vom Zug herabhalf, roch ich sofort den Duft von Jod und
Salz des Ozeans. Es war November; die Bäume waren verkü m
mert unter den atlantischen Stürmen un d kahl, und der einsame
Bahnsteig war menschenleer, nur sein in Leder gekleideter
Chauffeur wartete untertänig neben dem glänzenden schwarzen
Auto. Es war kalt; ich zog meinen Pelz fest um mich, eine Hülle
aus Schwarz und Weiß, Hermelin und Zobel in breite n Streifen,
mit einem Kragen, aus dem mein Kopf hervorkam wie der Kelch
einer wilden Blüte. Ich schwöre es, bevor ich ihn kennenlernte,
war ich nie eitel. Die Glocke schlug, der Zug riß sich wieder los
und ließ uns an diesem einsamen Ort zurück, wo nur er und ich
ausgestiegen waren. Oh, was für ein Wunder: dieses ganze mäc h
tige Gebilde aus Stahl und Dampf hatte einzig und allein ihm
zuliebe angehalten. Der reichste Mann in Frankreich.
»Madame.«
Der Chauffeur beäugte mich; verglich er mich jetzt insgeheim
mit der Gräfin, dem Malermodell und der Opernsängerin? Ich
versteckte mich in den Pelzen, als ob sie eine Anordnung von
weichen Schilden wären. Mein Gemahl wollte, daß ich meinen
Opal über dem Glacéhandschuh trug, eine angeberische, theatr a
lische Geste – abe r in dem Augenblick, in dem der spöttische
Chauffeur seinen schimmernden Glanz erblickte, lächelte er, als
wäre das der Beweis dafür, daß ich die Frau seines Herrn war.
Und wir fuhren in den erwachenden Morgen, der jetzt den ha l
ben Himmel mit einem winterl ichen Bukett überzog, rosa wie
Rosen, orangefarben wie Tigerlilien, als hätte mein Gemahl einen
ganzen Himmel beim Blumenhändler für mich bestellt. Der Tag
brach rings um mich an wie ein kühler Traum.
Meer, Sand, ein Himmel, der ins Meer schmilzt – eine La nd
schaft aus dunstigen Pastelltönen, die aussehen, als ob sie ständig
schmelzen. Eine Landschaft mit all den ineinanderfließenden
Harmonien von Debussy, wie die Etüden, die ich für ihn spielte,
die Träume, die ich an jenem Nachmittag im Salon der Prinzessin
gespielt habe, wo ich ihn zum ersten Male traf, zwischen Teeta s
sen und kleinen Kuchen, ich, eine Waise, aus Wohltätigkeit
gemietet, um ihnen ihre Verdauungsmusik zu servieren.
Ach, und sein Schloß! Die märchenhafte Einsamkeit des Ortes;
dazu die dunstig -blauen Türmchen, der Hof, das Tor mit den
Spießen, sein Schloß, das direkt an der Meeresbucht lag, Seevögel
kreischen um die Dächer, die Kellergewölbe gehen auf den
grünen und purpurnen unbeständigen Ozean, der ganze Ort ist
durch die Flut einen halben Tag lang vom Land abgeschnitte n…
Dieses Schloß, weder auf d em Festland zu Hause noch im Meer,
ein geheimnisvoller, amphibischer Ort, der der Stattlichkeit der
Erde und der Wellen gleichermaßen widerstrebte, besaß die
Melancholie einer Meerjungfrau, die auf ih rem Felsen hockt und
endlos auf einen Liebsten wartet, der längst in der Ferne ertru n
ken ist. Dieser Ort war eine so liebliche, traurige Meeressirene.
Es war Ebbe; zu dieser frühen Morgenstunde ragte die Zufahrt
aus dem Wasser. Als der Wagen auf die feucht en Steine zwischen
dem tiefstehenden Wasser fuhr, griff er nach meiner Hand mit
dem prunkenden Hexenring, preßte meine Finger und küßte
mich außerordentlich zärtlich auf die Handfläche. Sein Gesicht
war so ruhig, wie ich es kannte, so ruhig wie ein dick zu gefrore
ner Teich, doch seine Lippen, die zwischen den schwarzen Rä n
dern seines Bartes immer so merkwürdig rot und nackt aussahen,
verzogen sich jetzt leicht. Er lächelte; er hieß seine Braut bei sic h
daheim willkommen.
Kein Raum, kein Flur, in dem die See nicht rauschte, und alle
Decken, alle Wände, an denen in strenger Reihenfolge die Bilder
seiner Ahnen mit ihren dunklen Augen und ihren bleichen Ge
sichtern hingen, hatten Streifen aus dem gebrochenen Licht der
Wellen, die unaufhörlich in Bewegung waren; di eses lichterfüllte,
murmelnde Schloß, in dem ich die Herrin war, ich, die kleine
Musikstudentin, deren Mutter all ihren Schmuck verkauft hatte,
selbst ihren Ehering, um die Gebühren für das Konservatorium
bezahlen zu können.
Am Anfang stand eine Feuerprobe – meine erste Unterredung
mit der Haushälterin, die diese außerordentliche Maschinerie
lautlos in Gang hielt, diese n vor Anker liegenden schloßförmigen
Ozeanriesen, gleichgültig, wer au f der Kommandobrücke stand;
wie unbedeutend, dachte ich, wäre hier mei ne Autorität! Sie hatte
ein freundliches, blasses, teilnahmsloses und unangenehmes
Gesicht unter der makellos gestärkten weißen Leinenhaube, der
Tracht dieser Gegend. Ihre Begrüßung war korrekt, aber leblos
und machte mich frösteln, tagträumerisch wagte ic h, mir kraft
meiner Stellung etwas herauszunehme n… überlegte flüchtig, wie
ich meine alte Kinderfrau, die so heißgeliebte, aber auf die
gemütlichste Art und Weise untüchtige Person, an ihre Stelle
setzen könnte. Was für falsche Vorstellungen! Er erklärte mir,
daß diese Frau seine Ziehmutter gewesen und seiner Familie in
feudaler Komplizenschaft verbunden war. »Sie gehört so sehr
Komplizenschaft verbunden war. »Sie gehört so sehr zum Haus
wie ich selbst, meine Liebe.« Jetzt boten mir ihre schmalen Li p
pen ein stolzes kleines Lächeln. Sie würde meine Verbündet e
sein, solange ich seine war. Und damit mußte ich mich zu frie
dengeben.
Aber hier würde es leicht sein, zufrieden zu sein. In der Tur m
suite, die er mir zugedacht hatte, konnte ich weit über den aufg e
brachten Atlantik blicken und mir vorstellen, ich wäre di e Me e
reskönigin. Im Musikzimmer stand ein Bechstein -Flügel für
mich, und an der Wand hing, auch das ein Hochzeitsgeschenk,
ein mittelalterliches flämisches Tafelbild der heiligen Cäcilia an
ihrer Himmelsorgel. In dem etwas steifen Charme der Heiligen
mit ihren fahlen Pausbacken und den gekräuselten braunen
Haaren sah ich mich so, wie ich vielleicht gern gewesen wäre.
Eine liebevolle Feinfühligkeit, die ich bisher nicht in ihm verm u
tet hatte, wärmte mich. Dann führte er mich über eine zierliche
Wendeltreppe in mein Schlafgemach; bevor die Haushälterin
diskret verschwand, versah sie ihn kichernd und in ihrer breton i
schen Muttersprache mit vermutlich drastischen Segenswünschen
für Frischvermählte. Die ich nicht verstand. Die er, schmu n
zelnd, sich weigerte zu übersetzen.
Und da stand das großartige, vererbte Ehebett, fast so groß wie
meine kleine Stube daheim, mit eingelegten Dämonenfratzen aus
Ebenholz, Emaillack, Blattgold; und dann die weißen Tüllvo r
hänge, die sich blähten von der Meeresbrise. Unser Bett. Und
von so vielen Spiegeln umgeben! Spiegel an allen Wänden, in
stattlichen Rahmen aus verschnörkeltem Gold, die mehr weiße
Lilien zurückwarfen, als ich je im Leben gesehen hatte. Er hatte
den ganzen Raum mit Lilien füllen lassen, um die Braut zu gr ü
ßen, seine junge Braut. Die junge Braut, die sich in eine Vielzahl
von Mädchen verwandelt hatte, die ich in den Spiegeln sah, alle
gleich in ihren eleganten marineblauen Kostümen, für die Reise,
Madame, oder zum Spazierengehen. Eine Zofe hatte sich schon
um den Pelz gekümmert. Von nun an würde sich immer eine
Zofe um alles kümmern.
»Sieh nur«, sagte er mit einer Geste auf all die eleganten Mä d
chen, »ich habe einen ganzen Harem erworben!«
Ich merkte, daß ich zitterte. Das Atmen fiel mir schwer. Ich
konnte ihm nicht in die Augen sehen und wandte den Kopf ab,
aus Stolz, aus Schüchternheit, und beobachtete ein Dutzend
Ehemänner, wie sie sich mir in ebenso vielen Spiegeln näherten
und mir langsam, sorgfältig und neckend meine Jacke aufknöp f
ten und von meinen Schultern gleiten ließen. Genug! Nein: mehr!
Fort mit dem Rock; und als nächstes die aprikosenfarbene Le i
nenbluse, die mehr gekostet hatte als das Kleid für meine erste
Kommunion. Das Spiel der Wellen draußen in der kalten Sonne
glitzerte auf seinem Monokel, seine Beweg ungen erschienen mir
gewollt roh, vulgär. Das Blut schoß mir wieder ins Gesicht und
blieb dort.
Und dennoch, ich hatte es mir so vorgestellt – es würde eine
formelle Entkleidung der Braut geben, ein Ritual aus dem Bo r
dell. So behütet mein Leben auch gewese n war, selbst in der
ordentlichen Bohème, in der ich lebte, konnten mir Hinweise auf
seine Welt nicht entgehen.
Er entkleidete mich wie ein Feinschmecker, als ob er die Blätter
von Artischocken löste, aber besondere Finesse darf man sich
nicht vorstellen; diese Artischocke war kein besonderer Schmaus
für den Esser, noch verspürte er eine gierige Hast. Er machte
sich mit überdrüssigem Appetit an eine wohlbekannte Speise.
Und als nichts mehr da war als mein scharlachroter, zitternder
Kern, sah ich im Spiegel das lebendige Abbild eines Stichs von
Rops aus seiner Sammlung, die er mir gezeigt hatte, als es uns
unsere Verlobung gestattete, miteinander allein zu sei n… das
Kind mit den dürren Gliedern, bloß bis auf Knöpfstiefeletten
und Handschuhe, das mit der Hand das Gesicht verdeckte, als
wäre das Gesicht die letzte Zuflucht seiner Sittsamkeit; und der
alte Lüstling mit dem Monokel, der sie untersuchte, Glied für
Glied. Er in seinem englischen Schneideranzug; sie nackt wie ein
geschlachtetes Lamm. Pornografischste aller Gegenüberstellu n
gen. Genauso enthüllte mein Käufer seinen Kauf. Und genau wie
in der Oper, als ich mein Fleisch zum erstenmal mit seinen Au
gen gesehen hatte, fühlte ich entsetzt, daß ich erregt war.
Sofort schloß er mir die Beine wie ein Buch, und i ch sah wieder
die eigentümliche Bewegung seiner Lippen, die andeutete, daß er
lächelte.
Nicht jetzt. Später. Vorfreude ist das Größte am Vergnügen,
meine kleine Liebe.
Und ich begann zu beben wie ein Rennpferd vor dem Rennen,
aber auch aus einer Art Furcht , denn ich fühlte beides, eine
fremde, unpersönliche Aufgewühltheit beim Gedanken an die
Liebe und gleichzeitig einen Widerwillen, den ich nicht unte r
drücken konnte, vor seinem weißen, schweren Fleisch, das viel
zuviel gemein hatte mit diesen großen Lilien sträußen in den
riesigen Glaskrügen, die meinen Schlafraum füllten, Lilien von
Beerdigungsunternehmern mit den schweren Staubgefäßen, die
einem die Finger gelb färben, als hätte man sie in Kurkuma
getaucht. Die Lilien, die ich imme r mit ihm verbinde, die weiß
sind. Und die einen beflecken.
Diese Szene aus dem Leben eines Lüstlings war plötzlich
abrupt beendet. Es stellt sich heraus, daß er Geschäfte zu erled i
gen hat; sein Grundbesitz, seine Unternehmen – auch in deinen
Flitterwochen? Auch jetzt, sagten die roten Lippen, die mich
küßten, ehe er mich mit meinen verwirrten Sinnen allein ließ –
ein feuchtes, seidenes Bürsten von seinem Bart; eine Andeutung
seiner Zungenspitze. Verstimmt wickelte ich mich in ein Négligé
aus alter Spitze und schlürfte die heiße Sc hokolade, die mir die
Zofe als Frühstück gebracht hat; danach, weil es meine zweite
Natur war, konnte ich nicht anders, als ins Musikzimmer zu
gehen und mich gleich an meinen Flügel zu setzen.
Meine Finger brachten jedoch nur ein paar schrille Mißklänge
hervor: nicht gestimm t… nicht ganz richtig gestimmt; aber ich
war mit dem absoluten Gehör gesegnet und konnte nicht weiter
spielen. Seeluft ist schlecht für Flügel; wir werden einen Klavie r
stimmer brauchen, wenn ich meine Studien fortsetzen soll, und
er muß hier wohnen! Ich klappte den Deckel zu, leich t wütend
vor Enttäuschung; was soll ich jetzt tun, wie soll ich die langen,
meereshellen Stunden vertreiben, bis mein Gemahl mich zu Bett
legt?
Ich bebte, als ich daran dachte.
Seine Bibliothek war offenbar die Quelle seines typischen Dufts
von Russisch Leder. Reihen über Reihen brauner und olivfarb e
ner Bücher mit Ledereinband und goldgeprägtem Rücken, die
Oktavbände in leuchtendrotem Saffianleder. Ein weichgepolste r
tes Ledersofa zum Hineinfallen. Ein Lesepult, wie ein Adler mit
ausgebreiteten Schwingen geschnitzt, mit einer aufgeschlagenen
Ausgabe von Huysmans’ ›Làbas‹ darauf, aus einem ganz exquis i
ten Privatdruck, gebunden wie ein Meßbuch, metallbeschlagen,
mit Schmucksteinen aus buntem Glas. Die dicken Teppiche auf
dem Boden, im pulsierenden Blau des Himmels und dem Rot des
kostbarsten Herzbluts, stammten aus Isfahan und Buchara; das
dunkle Parkett glänzte; dazu die einschläfernde Musik des Meeres
und ein Feuer aus Apfelholz. Die Flammen tanzten über Buc h
rücken in einem Glasschrank, der noch steife, neue Ausgaben
enthielt. Eliphas Levy, der Name sagte mir nichts. Ich warf einen
flüchtigen Blick auf einen oder zwei Titel: ›Die Initiation‹, ›Der
Schlüssel zum Geheimnis‹, ›Das Geheimnis der Büchse der
Pandora‹, und gähnte. Nichts war hier, was ein siebzehn jähriges
Mädchen hätte fesseln können, das auf die erste Umarmung
wartet. Ich hätte am liebsten einen Schmöker mit billigem Papier
gehabt; ich hätte mich gern auf dem Teppich vor dem knister n
den Feuer zusammengerollt, in einen Schundroman versenkt und
klebrige Likörpralinen gelutscht. Wenn ich danach läutete, würde
mir sicher eine Zofe Pralinen bringen.
Trotzdem öffnete ich die Türen dieses Bücherschrankes und
stöberte müßig darin herum. Ich glaube, ich wußte es, ich wußte
durch ein gewisses Prickeln in den Fingerspitzen, schon bevor
ich den schmalen Band ohne Titel aufgeschlagen hatte, was ich
darin finden würde. Als er mir den Rops zeigte, den er gerade
frisch erworben hatte und liebevoll pries, hatte er sich da nic ht
schon als Kenner auf diesem Gebiet zu erkennen gegeben? Doch
hiermit hatte ich nicht gerechnet, mit diesem Mädchen, dem die
Tränen auf den Wangen hingen wie angeklebte Perlen, ihr Ge
schlecht eine gespaltene Feige unter den großen Kugeln ihres
Hinterns, auf den gleich eine geknotete neunschwänzige Katze
niedersausen soll, während ein schwarz maskierter Mann mit der
freien Hand an seinem Glied herumfingert, das sich so steil nach
oben richtet wie das Krummschwert, das er hält. Das Bild hatte
einen Titel: ›Bestrafte Neugier‹. Meine Mutter hatte mir mit der
ganzen Genauigkeit ihres exzentrischen Wesens erklärt, was
zwischen Liebenden passiert; ich war unschuldig, aber nicht naiv.
›Eulaliens Abenteuer im Harem des Großtürken‹ war dem Im
pressum zufolge 1748 in Amsterdam gedruckt, ein seltenes
Sammlerstück. Hatte es irgendein Ahnherr aus dieser Stadt im
Norden selbst mitgebracht? Oder hatte mein Gemahl es für sich
gekauft, in einem dieser staubigen kleinen Buchläden, links der
Seine, wo einen immer ein alter Mann durch seine zentimeterdik
ken Brillengläser anstarrt, ob man es etwa wagt, seine Schätze in
die Hand zu nehme n… Ich blätterte die Seiten um in einem
Vorgefühl von Furcht, der Druck war verblichen. Noch ein
Stahlstich: ›Die Opferung der Frauen des Sultans‹. Ich wußte
genug, denn was ich in diesem Buch sah, ließ mir den Atem
stocken.
Plötzlich wurde der Ledergeruch, mit dem die Bibliothek ge
tränkt war, stechend intensiv; ein Schatten fiel auf das Massaker.
»Meine kleine Nonne hat die Gebetbücher gefunden, nic ht
wahr?« fragte er mit einer sonderbaren Mischung aus Spott und
Appetit; dann, als er meine qualvolle und wütende Verstörung
wahrnahm, lachte er mich laut an, zog mir das Buch aus den
Händen und legte es aufs Sofa.
»Haben die schmutzigen Bilder mein Kindc hen erschreckt? Ein
kleines Mädchen darf nicht mit den Spielsachen der Erwachs e
nen spielen, bis es gelernt hat, wie man damit umgeht, nicht
wahr?«
Dann küßte er mich. Und diesmal ohne Zurückhaltung. Er
küßte mich und legte seine Hand befehlerisch auf meine Brust,
unter die alte Spitze. Ich stolperte auf der Wendeltreppe , die zum
Schlafraum führte, zu dem geschnitzten, vergoldeten Bett, auf
dem er gezeugt worden war. Ich stammelte töricht: »Wir haben
noch nicht zu Mittag gegessen; und außerdem, es ist hellic hter
Tag…«
Damit ich dich besser sehen kann.
Er befahl mir, mein Halsband anzulegen, das Familienerbstück
einer Frau, die dem Fallbeil entkommen war. Mit zitternden
Fingern schloß ich das Ding um meinen Hals. Es war eiskalt und
ließ mich frösteln. Er wand mir die Haare zu einem Seil und hob
sie mir von den Schultern, damit er die flaumige Mulde unter
meinen Ohren besser küssen konnte; es machte mich schaudern.
Und er küßte auch die flammenden Rubine. Er küßte sie, bevor
er meinen Mund küßte. Er summte entzü ckt: »Und alles, was ihr
blieb, war nur der Wohlklang ihrer Perlenschnur.«
Ein Dutzend Ehemänner durchbohrte ein Dutzend Bräute,
während sich draußen im leeren Himmel die kreischenden Mö
wen auf unsichtbaren Trapezen schaukelten.
Wir führen ein ruhiges Leben, zu dritt. Ich habe natürlich une r
meßliche Reichtümer geerbt, aber das meiste haben wir an woh l
tätige Stiftungen verschenkt. Das Schloß ist jetzt eine Schule für
Blinde, und ich bete, daß die Kinder, die hier wohnen, nicht von
irgendwelchen trübseligen Gespenstern erschreckt werden, die
den Gemahl suchen und nach ihm weinen, den Gemahl, der
niemals mehr in die Blutkammer zurückkehren wird, denn ihr
Inhalt ist verbrannt oder begraben, die Tür versiegelt.
Ich fand, ich hatte ein Recht dazu, ein ausreichendes Vermögen
zurückzulegen, damit ich hier, am Rande von Paris, eine kleine
Musikschule aufbauen konnte, und wir kommen gut zurecht.
Manchmal können wir es uns sogar leisten, in die opéra zu gehen,
obgleich wir natürlich nie in einer Loge sitzen können. Wir wi s
sen, daß wir die Quelle von allerlei Gerüchten und sehr viel
Klatsch sind, aber wir drei kennen die Wahrheit, und bloßes
Geschwätz kann uns nichts anhaben. Ich kann nur die – wie soll
ich es nennen? – die mütterliche Telepathie preisen, die meine
Mutter in jener Nacht nach meinem Anruf direkt vom Telefon
zum Bahnhof getrieben hat. Ich habe dich nie vorher weinen
hören, sagte sie, wie zur Erklärung. Nicht, wenn du glücklich
warst. Und wer hat je über goldene Badehähne geweint?
Der Nachtzug, der gleiche, den ich genommen hatte; sie lag in
ihrem Bett, genauso schlaflos, wie ich war. Als sie vor der verla s
senen Bahnstation kein Taxi fand, lieh sie sich den alten Dobbin
von einem verwirrten Bauern, denn irgendeine innere Stimme
sagte ihr, sie müßte mich erreichen, ehe die aufsteigende Flut uns
für ewig trennte. Meine arme alte Kinderfrau war schimpfend zu
Hause geblieben – Was? Mylords Flitterwochen unterbrechen?
Sie starb kurz darauf. Es hatte ihr so viel verstohlene Freude
gemacht, daß ihr kleines Mädchen eine Marquise geworden war,
und nun war ich wieder da und kaum einen Penny reicher, mit
siebzehn unter den verdächtigsten Umständen verwitwet und
schon emsig damit beschäftigt, mir ein Haus mit einem Klavie r
stimmer einzurichten. Arme Alte, sie verschied in einem betrübl i
chen Zustand der Enttäuschung! Aber ich glaube wirklich, meine
Mutter liebt ihn genauso wie ich.
Keine Schminke und kein Puder, wie dick ich sie auch auftrage ,
kann das rote Mal auf meiner Stirn verbergen; ich bin froh, daß
er es nicht sehen kann – nicht, weil ich fürchte, daß er mich nicht
mehr mag, denn ich weiß, er sieht mich mit dem Herzen; aber: es
erspart mir die Scham.
DORIS LESSING
Zwischen Männern
Der Sessel gegenüber der Tür hatte einen kaffeebraunen Satin be
zug. Maureen Jeffries trug ein dunkelbraunes Seidentrikot, dazu
eine weiße Rüschenbluse. In dem großen Ohrensessel würde sie
zum Vernaschen aussehen. Kaum hatte sie sich darin zurechtg e
setzt, als sie auch schon wieder aufstand (mit einem traurigen
Lächeln, dessen sie sich bestimmt nicht bewußt war) und sich
weniger dramatisch in die Ecke des gelben Sofas plazierte. Hier
blieb sie minutenlang sitzen und überlegte, daß es immerhin in
ihrer schriftlichen Einladung, wenn auch scherzhaft, geheißen
hatte (es wa r ihr klar, daß die Wendung etwas Kokettes an sich
hatte, was sie überhaupt nicht mochte): »Komm her und lern
mein neues Ich kennen!« Neu an ihr waren: ihre Frisur, weiter,
daß sie über sechs Kilo abgenommen hatte und daß sie von der
Natur (ein Lieblings wort von ihr) wieder mit einem zarten Teint
ausgestattet worden war. Zweifellos käme dies alles in dem gr o
ßen braunen Sessel besser zur Geltung: Sie nahm wieder ihren
früheren Platz ein.
Daß sie sich zum zweitenmal auf das gelbe Sofa zurückbegab,
geschah au s purer Anständigkeit, einer rein freundschaftlichen
Überlegung. Peggy Bayley überhaupt zu sich einzuladen, das war
bereits mutig von ihr, sie hatte ihren Stolz herunterschlucken
müssen. Doch Peggy wäre nicht in der Lage, mit dieser seidenen
Rüschenbluse und all dem, was sie so vorteilhaf t unterstrich,
mitzuhalten; und wenn dies auch gerade wegen Peggys Vorteilen
geschähe – sie war sorgenfrei mit einem Professor Bayley verhe i
ratet (dessen Geliebte, sie, Maureen, vier Jahre lang gewesen war)
–, so brauchte sie ihr dennoch nicht ihre eigene, Maureens, wi e
dergewonnene und tatsächlich unglaubliche Attraktivität unter
die Nase zu reiben, auch wenn sie es mit den Worten ›mein neues
Ich‹ angekündigt hatte.
Überdies war ihre Attraktivität alles, was sie, Maureen, be saß,
um der Welt wieder entgegentreten zu können; und warum diese
nicht gegenüber der Frau des Professors Bayley zur Schau stellen,
der nicht sie, sondern statt dessen Peggy geheiratet hatte? Ob
wohl (flüsterte sie heftig und bitter vor sich hin), wenn sie Tom
Bayley dazu verführt, ein bißchen nachgeholfen hätte, wäre sie
nun zweifellos Mrs. Bayle y… Sie würde zu dem braunen Sessel
zurückgehen.
Aber hätte sie Tom dazu verführt, dann wäre ihr nur recht ge
schehen – so wie Peggy gewiß zu Recht –: Tom Bayley hatte von
Anfang der Ehe an auf einem zweiten Junggesellen -Apartment
bestanden, das sie, Maureen, niemals betreten durfte, genaus o
wenig wie Peggy. Unter solchen Bedingungen hätte sie, Maureen,
sich geweigert zu heiraten, das mußte sie sich schon hoch an
rechnen; ja, daß sie auf Toms Treue bestanden hatte – der von
Natur aus ein Schürzenjäger war –, war zweifellos der Grund,
weshalb er sie Peggys wegen verlassen hatte.
Im ganzen beneidete sie also Peggy nicht ernsthaft, die es zur
Heirat mit dem herausragenden un d attraktiven Professor ge
bracht hatte, als sie schon fast vierzig war, und zwar um den
Preis, daß ihr von Anfang an klar war, sie würde nicht die einzige
Frau in seinem Leben sein; und wenn man bedachte, daß die
Heirat mit dem ältesten Trick der We lt zust ande gebracht wo r
den war…
Bei diesem Gedanken verließ Maureen zum drittenmal den
braunen Sessel, und da sie das gelbe Sof a zu demonstrativ fand,
setzte sie sich in einem Anfall von Selbstekel auf den Boden. Sie
unterzog den Verfallsprozeß ihres Charakters einer Prüfung,
während sie doch unfähig war, dem Strom bitterer Gedanken
über Peggy Einhalt zu gebieten. Dieses Sich -selbstkritisch-einer
Prüfung-Unterziehen, ja, damit hatte sie sich während der let zten
sechs Monate ihres halben Rückzugs ebenso beschäftig t wie mit
der Gewichtsabnahme von sechs Kilo und dem Wiedererla ngen
ihrer Schönheit.
Und die hatte sie wieder: Sie war neununddreißig und hatte sich
noch nie so attraktiv gefühlt. Der Wildfang, der sein Zuhause in
Iowa aufgegeben hatte für die Ungebundenhe it in New York,
war reizend gewesen – so wie jedes junge Mädchen, das einige r
maßen ausgestattet ist, reizend ist –, doch was sie jetzt darstellte,
war das Ergebnis zwanzigjährige r Arbeit an sich. Und auch das
anderer… Sie war eine kleine, rundliche Schönhe it mit weißer
Haut, großen braunen Augen und schwarzen Haaren; ihre Fähi g
keit, Anteil zu nehmen, ihre Sanftheit, ihre Anziehungskraft
dagegen waren das Werk der Liebesbeziehungen zu einem Du t
zend intelligenter Männer. Nein, sie verspürte nicht den gerin g
sten Neid auf ihr Ich von achtzehn Jahren. Neidisch war sie
wohl, und zwar jeden Tag stärker, auf die ursprüngliche Una b
hängigkeit, Großzügigkeit, den geistigen Horizont und den Mut
des jungen Mädchens von damals.
Vor sechs Monaten hatte ihr letzter – und si e hatte gehofft, ihr
endgültig letzter – Liebhaber, Jack Boles, sie verlassen; ze r
schmettert blieb sie zurück, und es ging ihr durch den Sinn, daß
noch vor zwanzig Jahren – eigentlich nur zehn Jahren – sie die
Liebhaber abgelegt hatte; sie war es gewesen, die gesagt hatte –
wie Jack nun, verlegen und schuldbewußt, doch nicht mehr als
unbedingt nötig –: »Es tut mir leid, verzeih mir, ich geh e.« Und –
und das war das Entscheidende – sie hatte nie die Folgen für sich
bedacht, hatte von keinem Mann Geld genommen, ausgeno m
men das, was sie als ihren Verdienst ansah; sie war immer sie
selbst geblieben. (In ihrer Zeit mit Jack hatte sie Meinungen
vertreten, die nicht die ihren waren, nur um ihm zu gefallen: Er
war ein Mann, der es nicht mochte, wenn Frauen ihm nicht
zustimmten.) Vor allem hatte es sie keinen Augenblick gekü m
mert, was die Leute dachten. Als Jack sie aber sitzenließ, nach
einer Liebschaft, die monatelang durch die Presse gegangen war
(›Berühmter Filmregisseur teilt in Cannes Apartment mit der
Malerin Mau reen Jeffries‹), war ihr allererster Gedanke: Ausl a
chen wird man mich. Sie hatte jedem – mit guten Gründen –
erzählt, er werde sie heiraten. Dann hatte sie gedacht: Er war ja
weniger als ein Jahr mit mir zusammen; keiner vorher ist meiner
so schnell überdr üssig geworden. Danach: Die Frau, wegen der
er mich hat sitzenlassen, kann mir doch nicht das Wasser reichen,
kann nicht einmal kochen. Und wieder zum Anfang ihrer Übe r
legungen: Bestimmt lacht man über mich. Selbstverachtung
wirkte in ihr wie ein Gift, bes onders da sie unfähig war, Jack
gehen zu lassen, ihn mit Anrufen, Briefen, Vorwürfen, Mahnu n
gen, er habe ihr die Ehe versprochen, verfolgte. Sie sprach von
dem, was sie ihm gegeben hatte; ja, tat genau das, was sie an
Frauen aufs tiefste verachtete. Vor al lem hatte sie noch nicht
dieses Apartment verlassen, dessen Miete er gerade kürzlich für
fünf Jahre bezahlt hatte. Worauf das hinauslief, war, er wollte sie
mit dem kostenlosen Überlassen des Apartments abfinden.
Und statt schnurstracks mit ihren Kleidern wegzugehen (auf die
hatte sie doch wohl ein Recht, oder?), war sie immer noch hier,
machte sich schön und kämpfte gegen die schreckliche Angst an.
Als sie mit achtzehn ihr Vaterhaus (er war Postbeamter) verließ,
besaß sie Sex und Mut. Nicht Schönheit. Denn wie viele profe s
sionelle Schönheiten, Frauen, die ihr Leben mit Männern
verbringen, war sie überhaupt nicht schön. Was sie hatte, war
ausgeprägter Sex, dessen sie sich bewußt und von dem sie ganz
durchdrungen war und der sie schön erscheinen ließ. Jetzt, zwan
zig Jahre später, nachdem sie die Geliebte von elf Männern
gewesen war, die alle außergewöhnlich waren, zumindest potent i
ell außergewöhnlich, hatte sie ihren Sex und ihren Mut. Aber da
sie nie ihr eigenes Talent, ihre Malerei, an erste Stelle gesetzt
hatte, sondern immer die Karriere desjenigen Mannes, mit dem
sie gerade zusammenlebte, und das aus einem Instinkt der Gro ß
zügigkeit, der wahrscheinlich das Beste an ihr war, konnte sie sich
nun nicht den Lebensunterhalt verdienen. Zumindest nicht in
dem Stil, den sie gewohnt war.
Seit sie ihr Zuhause verlassen hatte, hatte sie ihre Talente, ihre
Warmherzigkeit, ihre Fantasie einem Kunstlehrer gewidmet
(ihrem ersten Liebhaber), zwei Schauspielern (damals unbekannt,
heute weltberühmt), einem Choreographen; ein em Schriftsteller;
einem zweiten Schriftsteller; dann jenseits des Atlantik in Europa
einem Filmregisseur (Italien); einem Schauspieler (Frankreich);
einem Schriftsteller (London); Professor Tom Bayley (London);
Jack Boles, einem Filmregisseur (London). We r konnte sagen,
wieviel von ihrem Ich, das sie großzügig angeboten hatte, von
ihrer ständig sich verströmenden Ergebenheit an die Arbeit
dieser Männer verantwortlich für deren Erfolg war? (Wie sie es
sich in den dunklen Stunden heftig weinend fragte.)
Geblieben waren: ihr Mitgefühl, ihr Charme, ihr Talent für
Kleidung und Dekor, ein bescheideneres für Malen (was nicht
hieß, daß sie nicht ein scharfsinniger Kritiker anderer Leute
Werke war), die Tatsache, daß sie eine perfekte Köchi n war, und
ihre Fähigkeiten im Bett, von denen sie wußte, daß sie außerg e
wöhnlich waren.
In dem Augenblick, wo sie aus diesem Apartment träte, würde
sie auch aus der We lt des internationalen Geldes und Prestiges
treten. Wohin? Zu ihrem Vater, der jetzt in einer Pension in
Chicago wohnte? Nein, ihre einzige Hoffnung war, wieder einen
Mann zu treffen, der ebenso hervorragend und strahlend wie die
anderen war, denn die unbekannten Genies, die bloß potentiellen
Künstler konnte sie sich nicht mehr leisten. Darauf wartete sie,
und darum blieb sie in dem luxuriösen Apartment, das als Au s
gangsbasis dienen mußte; darum verachtete sie sich selbst auf so
quälerische Weise; darum hatte sie Peggy Bayley eingeladen, sie
zu besuchen. Zum einen: sie mußte sich selbst aufrichten, indem
sie diese Frau sah, deren Karriere (als die Geliebte berühmter
Männer) ähnlich wie die ihre verlaufen war und die jetzt gut
verheiratet war. Zum anderen: sie wollte sie um Hilfe bitten. Sie
war sorgfältig die Liste ihrer Ex -Liebhaber durchgegangen, hatte
dreien geschrie ben und drei freundliche, doch wenig hilfreiche
Briefe bekommen. Sie war offiziell eine ›Freundin‹ von Tom
Bayley geblieben; doch war sie nicht so dumm, seine Frau zu
beleidigen, indem sie sich an ihn heranmachte, es sei denn, die
war damit einverstanden. Sie würde Peggy bitten, Tom zu bitten,
seinen Einfluß auszuüben, um ihr eine Arbeit zu beschaffen, die
sie in die Lage versetzte, die richtige Sorte von Männern kenne n
zulernen.
Als es geläutet und sie auf den Knopf gedrückt hatte, ging sie
hastig zu dem gr oßen braunen Sessel, diesmal geschah es als
Herausforderung, entsprang auch ihrer Ehrlichkeit. Sie appellie r
te an die Frau des Mannes, dessen öffentlich bekannte Geliebte
sie gewesen war; und sie wollte nicht die Schwierigkeiten verri n
gern, indem sie wenig er attraktiv aussah, als es ihr möglich war;
auch wenn Peggy ohne eine Spur ihrer früheren Schönheit he
reinkäme; denn drei Ehejahre mit Professor Bayley hatten sie zu
einer vernünftigen, gutaussehenden Frau gemacht; das geschme i
dig Katzenhafte, das sie als unbedeutende Schauspielerin von
Kapstadt nach Europa geführt hatte, war verschwunden; die
Schauspielkarriere hatte sie ganz zu Recht aufgegeben für das
eine, wozu sie geboren war.
Doch als Peggy Bayley hereinkam, war es wie vor vier Jahren:
war Maureen zierlich, zerbrechlich, delikat, so war Peggys Art die
einer Sirene: Maureen setzte sich mit einem Ruck auf, sah, wie
Peggy mit beringter weißer Hand blondes Haar von der braunen
Wange strich und sie mit einem spöttischen Lächeln aus grünen
Augen bedachte. Unwillkürlich rief sie: »Tom hat dich sitzeng e
lassen!«
Peggy lachte – ihre Stimme hatte wie die Maureens den rauch i
gen Klang einer verführerischen Frau – und sagte: »Wie hast du
das bloß rausgekriegt?« Hierbei machte sie eine Drehung, die
Hüften in Mannequinpose herausgedrückt, ließ das goldene Haar
übers Gesicht fallen und führte ein enges grünes Leinenkleid vor,
das seine Wirkung dem von neuem aufreizenden Körper ve r
dankte. Keine Spur mehr von der vernünftigen gesunden Hau s
frau der letzten drei Jahre: ganz wie bei Maureen war die Sexual i
tät wieder ihr Brennpunkt, ihr ruhender Pol, ihr Lebensnerv.
Sie sagte: »Dafür, daß man uns hat sitzenlassen, sehen wir beide
aber sehr gut aus!«
Dann, in vollem Bewußtsein ihres Aussehens und ihrer Wei b
lichkeit nun ganz hin gegeben, nahm sie das gelbe Sofa in Besitz
und sagte: »Gib mir was zu trinken und kuck nicht so überrascht.
Schließlich hätte ich das ja wohl auch voraussehen können,
nicht?« Das war eine Frage an – an eine Mitverschwörerin? Nein.
An ein Opfer? Nein. An ei nen Künstlerkollegen – ja. Maureen
bemerkte, daß die hauchdünn unter der Oberfläche versteckte
Feindseligkeit, die ihre Begegnungen gezeichnet hatte, als Peggy
noch mit Tom Bayley zusammen war, nun völlig verschwunden
war. Doch sie war noch nicht ganz glüc klich über diesen Au s
bruch von Kameradschaftlichkeit. Mit einem Stirnrunzeln erhob
sie sich aus dem braunen Satinsessel, die Zigarette ungeschickt im
Mundwinkel. Sie erinnert e sich, daß das Stirnrunzeln und die
hängende Zigarette sich eigentlich für die La ge einer Frau gehö r
ten, die sich eines Mannes sicher ist; ihr Instinkt war also, Peggy
anzulügen, und das gerade deshalb, weil sie selbst jetzt noch nicht
lange nach dem Ereignis zugeben wollte, wie schlecht sie das
Alleinsein verkraftete? Sie goß reichlic h Brandy ein und fragte:
»Wegen wem hat er dich denn verlassen?«
Peggy sagte: »Ich habe ihn verlassen« und hielt ihre grünen Au
gen fest auf Maureens Gesicht gerichtet, damit sie das hinnähme,
trotz der ungläubigen Miene.
»Nein, wirklich, es ist wahr – natürlich gab’s da die ganze Zeit
andere Frauen, deshalb hat er ja auf seinem Schlupfloch in Che l
sea bestanden…« Maureen lächelte nun ganz bestimmt, um sie
daran zu erinnern, wie oft sie den Grund für das Schlupfloch
nicht anerkannt hatte. Es sei ›Bills Arbeit szimmer, in das er au s
allzu langweiliger Häuslichkeit entweichen kann‹. Peggy nahm
den Wink mit einem offenen Lächeln hin, das dennoch Ungeduld
zeigte: Natürlich habe ich gelogen und meine Spielchen gespielt,
so wie wir wohl alle, nicht? – besagte das Lächeln; und Maureens
Abneigung gegen sich selbst ließ sie laut sagen, so als wollte sie
ihrer heimlichen, boshaften Kritik an Peggy ein Ende setzen:
»Schon gut, aber gezwungen hast du ihn wohl, dich zu heiraten.«
Sie hatte drei große Schluck Brandy genommen. Hatte sie in den
Monaten, nachdem Jack sie verlassen hatte, viel zu viel getru n
ken, so verbot die Diät der letzten Wochen ihr Alkohol, und
deshalb war sie jetzt aus der Übung. Sie fühlte, daß sie scho n
beschwipst wurde, und sagte: »Wenn ich langsam beschw ipst
werde, dann mußt du dich aber auch ranhalten.«
»Ich war zwei Monate lang jeden Tag und jede Nacht betru n
ken«, sagte Peggy, wieder mit dem steten Blick ihrer grünen
Augen. »Aber wenn du weiter hübsch bleiben willst, darfst du
nicht trinken.«
Maureen ging zu dem braunen Sessel zurück, blickte durch den
sich kräuselnden blauen Zigarettenrauch auf Peggy und sagte:
»Ich habe mich damals ständig betrunken – eine Ewigkeit. Eke l
haft. Ich konnte nicht aufhören.«
Peggy sagte: »Nun gut, damit haben wir Schluß gem acht. Aber,
weißt du, nicht die anderen Frauen – wir haben uns ausgiebigst
über seinen Charakter unterhalten, als wir geheiratet haben
und…« Hier machte sie eine Pause, um Maureens recht säuerl i
ches Lächeln mit den Worten zu quittieren: »Das gehört doch zu
unserer Rolle, nicht wahr, uns ausführlichst über ihren Charakter
auszulassen?« Und beiden Frauen kamen in diesem Augenblick
Tränen in die Augen, die sie beide fortblinzelten. Eine weitere
Barriere war gefallen.
Peggy sagte: »Ich wollte mich produzieren, deswegen bin ich
hergekommen; wegen deines angeberischen Briefchens – ich
habe doch beobachtet, wie du mich seit meiner Heirat mit Tom
von oben herab behandelt hast, langweilig und gewöhnlich wie
ich war – ich wollte, daß du das neue Ich siehst!… Weiß der
Teufel, warum man seine sexuelle Anziehungskraft verliert, wenn
man unter der Haube ist.«
Plötzlich kicherten die beiden, wälzten sich zur Seite: Peggy auf
ihrem gelben Leinensofa, Maureen auf ihrem glänzenden bra u
nen Sessel. Dann mußten sie im selben Auge nblick gegen die
Tränen ankämpfen.
»Nein«, sagte Maureen und setzte sich auf, »ich werde jetzt
nicht weinen, oh, nein! Mit dem Weinen habe ich aufgehört, es
gibt nicht den geringsten Anlaß.«
»Dann laß uns noch was trinken«, und Peggy reichte ihr das
Glas.
Sie waren beide schon beschwipst, da sie beide bis au fs Äußer
ste mit ihrem Fasten gegangen waren.
Maureen füllte die beiden Gläser zur Hälfte mit Brandy und
fragte: »Hast du ihn wirklich verlassen?«
»Ja.«
»Dann hast du mehr Grund, mit dir zufrieden zu sein als ich.
Ich habe gekämpft und Szenen gemacht, und wenn ich jetzt
daran denke…« Sie nahm einen Schluck Brandy, schaute in dem
teuren Zimmer umher und sagte: »Ich leb ’ noch immer auf seine
Kosten, und das ist ja das Schlimme.«
»Nun, meine Liebe, wein nicht«, sagte Peggy. Der Brandy ben e
belte sie, machte sie träge. Das ›meine Liebe‹ ließ Maureen zu
sammenzucken. Es war das nichtssagende Wort der Theater- und
Filmleute, das richtig, sogar recht angenehm bei den Theater -
und Filmleuten war, aber von da war es nur ein Schritt bis…
»Nicht«, sagte Maureen scharf. Peggy weitete ihre länglichen
grünen Augen à la charmante, verengte sie dann, bis es wieder
ihre natürlichen Augen waren und lachte.
»Ich versteh ’ dich«, sagte sie. »Besser, wir sind ehrlich, nicht?
Wir sind doch gar nicht so weit davon, oder?«
»Ja«, sagte Maureen. »Ich hab’s mal zu Ende gedacht. Wenn wir
sie geheiratet hätten, Heiratsurkunde und alles, du weißt ja, also
dann hätten wir es ganz in Ordnung gefunden, Geld zu nehmen
als Gegenleistung für alles , für alles und alles!« Sie senkte das
Gesicht und schluchzte.
»Halt den Mund«, sagte Peggy. Doch klang es wegen ihrer
Trunkenheit wie ›Halnmund‹.
»Nein«, sagte Maureen, wobei sie geräuschvoll die Luft einzog
und sich aufsetzte. »Kannst mir glauben. Ich ha b’ nie Geld ge
nommen – ich meine, ich hab’ nie was anderes als Haushaltsgeld
und Kleidergeschenke genommen – du etwa?« Peggy schaute sie
nicht an, darum fuhr sie fort: »Schon gut, aber laß mich raten.
Tom Bayley ist der erste Mann, von dem du eine feste Su mme,
sprich Alimente, bekommst – ist das nicht so? Und das nur, weil
du mit ihm verheiratet warst.«
»Vermutlich. Ich hatte mir geschworen, ich würde es nicht tun,
aber ich hab’s doch.«
»Und du hast auch kein ungutes Gefühl dabei, und das bloß
wegen dieser Heiratsurkunde, nicht?«
Peggy drehte ihr Glas unablässig zwischen ihren langen, ge
schmeidigen Fingern und nickte schließlich: Vermutlich.
»Ja. Ist doch klar. Und was haben wir uns beide zu unserer Zeit
lustig gemacht über die Heiratsurkunde. Aber komisch, Geld
anzunehmen, wenn man verheiratet ist, gibt einem nicht das
Gefühl, eine Hure zu sein. Bei all den Männern, mit denen ich
zusammen war, mußte ich ständig mit mir zanken und rechten;
ich hab’ gesagt: überleg mal, wieviel müßte er für das zahlen, was
ich alles für ihn tue – kochen, den Haushalt führen, die Zimmer
wohnlich gestalten, ihn beraten. Ein Vermögen! Also gibt es für
mich überhaupt keinen Grund, mich unwohl zu fühlen, wenn ich
in seinem Apartment wohne und mir Kleider kaufe. Aber trot z
dem, ich hab’ mich immer unwohl dabei gefühlt. Hätte Jack mich
aber geheiratet, dann würde ich mich nicht wie die letzte Hure
fühlen, nur weil ich in seinem blöden Apartment wohne!« Sie
brach in haltloses Weinen aus, bezwang sich, atmete tief, saß
dann schweigend da, tief atmend. Danach stand sie auf, füllte ihr
Glas und Peggys von neuem und setzte sich. Die beiden Frauen
saßen schweigend, bis Maureen endlich sagte: »Warum hast du
ihn verlassen?«
»Als er mich heiratete, dachten wir beide, ich sei schwange r…
Nein, wirklich, das stimmt. Ich weiß, was du und die anderen alle
gesagt haben, aber es war wirklich so. Ich hatte drei Monate lang
nicht meine Periode, und danach war ich sehr krank; es hieß, ich
hätte eine Fehlgeburt.«
»Will er Kinder?«
»Wollte er mit dir denn keine?«
»Nein.«
»Dann hat er sich geändert. Und wie er die will.«
»Jack wollte nichts von Kindern wissen, absolut nicht, aber das
kleine Luder, wegen dem er mich hat sitzenlassen… wie ich höre,
bist du dick mi t ihnen befreundet?« Sie meinte Jack und das
Mädchen, für das er sie verlassen hatte.
Peggy sagte: »Jack ist ein guter Freund von Tom.« Das klang
kühl, und Maureen sagte: »Ja. Ja. All die Freunde von Jack – ich
habe für sie gekocht, sie unterhalten, aber stell dir vor, nicht ein
einziger von denen hat mic h auch nur einmal angerufen, seit er
mich verlassen hat! Es waren seine Freunde, nicht meine.«
»Genau. Seit ich Tom verlassen habe, habe ich weder Jack noch
sein neues Mädchen gesehen. Sie besuchen Tom.«
»Vermutlich ist eins von Toms Mädchen schwanger?«
»Ja. Er hat mich besucht und davon erzählt. Ich wußte, was er
von mir erwartete, und ich tat es. Ich habe gesagt: Gut, du kannst
deine Scheidung haben.«
»So hast du doch wenigstens deine Selbstachtung behalten.«
Peggy drehte das Glas und blickte hinein; sie verschüttete Brandy
auf das gelbe Leinensofa. Beide Frauen beobachteten, ohne sich
zu rühren, mit ästhetischem Interesse, wie sich der orangefarbene
Fleck verbreitete.
»Nein, habe ich nicht«, sagte Peggy. »Ich habe nämlich gesagt:
›Du kannst deine Scheidun g haben, aber du mußt mir eine sch ö
ne Summe zahlen, oder ich verklage dich wegen Untreue – ich
hab’ den Beweis für über tausend Fälle.‹«
»Wieviel?«
Peggy errötete, nahm einen Schuß Brandy und sagte: »Ich we r
de jeden Monat vierzig Pfund als Unterhalt bekomm en. Das ist
eine Menge Geld für ihn – schließlich ist er Professor, nicht
Filmregisseur.«
»Kann er es sich nicht leisten?«
»Nein. Er hat mir gesagt, er müsse sein Schlupfloch aufgeben.
Ich darauf: ›Pech für dich.‹«
»Was ist sie denn für eine?«
»Siebenundzwanzig. Kunststudentin. Sie ist hübsch, süß und
doof.«
»Aber sie ist schwanger.«
»Ja.«
»Hast du nie ein Kind gehabt?«
»Nein. Aber ich hatte einige Abtreibungen und Fehlgeburten.«
Die zwei Frauen schauten sich ganz offen an, ihr Gesichtsau s
druck war bitter.
»Ja«, sagte Maureen. »Ich habe fünf Abtreibungen gehabt, eine
davon bei so einer alten Frau. Ich nehm ’ gar nichts und werde
auch nicht schwange r… Wie mochtest du denn Jacks neues
Mädchen?«
»Nett«, sagte Peggy abwehrend.
»Eine Intellektuelle ist sie«, sagte Maureen: es klang wie ›Inte l
lektelle‹.
»Ja.«
»Ist ja soo helle und so gut informiert.« Maureen kämpfte eine
Weile mit ihrem besseren Ich, gewann den Kampf und sagte:
»Aber warum? Sie ist attraktiv, aber doch nichts als ein Schulmä d
chen; ein nettes, clever es, kleines Schulmädchen mit netten,
hübschen Kleidchen.«
Peggy sagte: »Hör auf. Hör sofort auf.«
»Ja«, sagte Maureen. Doch aus gequälter Seele fügte sie hinzu:
»Und sie kann nicht einmal kochen.«
Und jetzt lachte Peggy, warf sich zurück und verschüttete n och
mehr Brandy mit ihrer vom Trinken unsicher gewordenen Hand.
Nach einer Weile lachte auch Maureen.
Peggy sagte: »Ich habe gerade gedacht, wie oft haben Ehefrauen
und Geliebte über uns gesagt: Peggy, die ist doch so langweilig,
Maureen ist so leicht zu durchschauen.«
»Ich kann sie hören: Natürlich, sie sind sehr hübsch, und natü r
lich ziehen sie sich gut an, und sie können ganz to ll kochen, und
vermutlich sind sie auch gut im Bett, aber was ist an ihnen dran?«
»Hör auf«, sagte Peggy.
Beide Frauen waren nun richtig betrunken. Es wurde spät. Das
Zimmer füllte sich mit Schatten, die weißen Wände verschwa n
den in blaue Fernen, von den glänzenden Sesseln, Tischen und
Teppichen kam ein intensives Schimmern.
»Soll ich Licht machen?«
»Noch nicht.« Peggy stand jetzt selbst auf, um sich nachz u
schenken. Sie sagte: »Hoffentlich ist sie so vernünftig und gibt
ihren Job nicht auf.«
»Wer? Jacks rothaariges Luder?«
»Wer denn sonst? Toms Mädchen ist in Ordnung, die ist ja
schwanger.«
»Du hast recht. Aber ich wette, sie tut’s; ich wette, Jack ve r
sucht, sie dazu zu bringen.«
»Ich weiß. Kurz bevor ich Tom verlassen habe – bevor er mich
abgespeist hat –, kamen dein Jack und sie zum Abendessen
rüber. Jack griff sie dauernd wegen ihrer Kolumne an, nörgelte
den ganzen Abend an ihr he rum – er sagte, sie zeige die polit i
sche Sicht einer linken Gesellschaftsdame. Eine linke Sicht von
schön weit oben, hat er gesagt.«
»Er haßte es, wenn ich gemalt habe«, sagte Maureen, »Jedesmal,
wenn ich gesagt habe, ich will den Vormittag über malen, spo tte
te er über die Sonntagsmaler. Ich hab ’ ihm sein Frühstück ge
bracht und bin nach oben ins Atelier gegangen – nun, eigentlich
ist es das Gästezimmer. Zuerst hat er irgendwelche witzelnden
Bemerkungen nach oben geschrien, dann ist er selbst gekommen
und hat gesagt, er habe Hunger. Sein Hunger fing schon um elf
Uhr morgens an. Wenn ich dann nicht herunterkam und kochte,
hat er mit mir geschlafen. Danach sprachen wir über seine Ar
beit. Den ganzen Tag und die halbe Nacht haben wir über seine
verdammten Filme ge redet…« Maureens Stimme verschleierte
sich weinerlich: »Es ist alles so ungerecht, so ungerecht, so un
gerecht… alle waren so. Ich behaupte ja nicht, ich wäre eine
große Malerin geworden, aber etwas, etwas hätte ich werden
können. Etwas Eigenes… Nicht ein einziger dieser Männer hat
was anderes getan als sich lustig zu machen oder mich gönne r
haft zu behandeln… sie alle, einer wie der andere. Und natürlich
gibt man immer nach, weil man mehr Interesse dran hat…«
Peggy, die schon halb eingeschlafen war und kraft los auf dem
Sofa hing, setzte sich auf und sagte: »Hör auf, Maureen, was
soll’s?«
»Aber es stimmt doch. Zwanzig Jahre meines Lebens, achtzehn
Stunden am Tag habe ich damit verbracht, den Ehrgeiz irgende i
nes Mannes zu stärken. Stimmt doch, nicht?«
»Es stimm t schon, aber hör damit auf. Wir haben es so ge
wollt.«
»Ja. Und wenn das dumme rothaarige Luder ihren Job aufgibt,
kriegt sie genau das, was sie verdient.«
»Dann ist sie da, wo wir jetzt sind.«
»Aber Jack sagt, er will sie heiraten.«
»Tom hat mich auch geheiratet.«
»Er war fasziniert von ihrem klugen rothaarigen Köpfchen. All
die cleveren Bemerkungen über Politik. Aber jetzt versucht er
mit allen Mitteln, ihre Kolumne abzuwürgen. Ein Verlust für die
ganze Nation wäre das nicht gerade, aber sie sollte lieber aufpas
sen, das sollte sie wirklich…« Maureen bewegte den Brandy vor
ihren hypnotisierten Augen hin und her.
»Was der zweite Grund ist, warum ich gekommen bin.«
»Bist du nicht hergekommen, um mein neues Ich kennenzule r
nen?«
»Ist doch dasselbe.«
»Nun?«
»Wieviel Geld hast du?«
»Nichts.«
»Wie lang geht der Mietvertrag für dieses Apartment?« Maureen
hielt die Finger einer Hand hoch. »Fünf Jahre? Dann verkauf den
Mietvertrag.«
»Könnte ich nie.«
»Klar könntest du das. Es würde dir, schätz ’ ich, ungefähr zwei
tausend Pfund einbringen. Wir könnten uns irgendwo eine wen i
ger teure Wohnung mieten.«
»Wir?«
»Und ich habe vierzig Pfund im Monat. Also dann.«
»Was, also dann?« Maureen lag nun fast ausgestreckt in dem
großen Sessel, ihre weiße Spitzenbluse war auf die Brust h ochge
rutscht, so daß die schlanke braune Taille und der Bauch sichtbar
wurden über der engen braunen Hose. Sie hielt ihr Glas mit dem
Brandy vor sich und bewegte es vor und zurück, beobachtete,
wie die gelbbraune Flüssigkeit im Glas schwappte. Ab und zu
tropfte Brandy auf ihren braunen Bauch, dann kicherte sie.
Peggy sagte: »Wenn wir nicht was tun, muß ich zurück zu me i
nen Eltern nach Outshoorn – sie haben dort eine Straußenfarm.
Ich war das aufgeweckte Mädchen, das weglief. Nun, ich werd’s
nie zur Schauspi elerin bringen. Also muß ich zurück und mein
Leben auf einer Zuckerahornpflanzung zwischen Straußen
verbringen. Und wo wirst du hingehen?«
»Dito, dito.« Maureen drehte den Kopf mit dem sanftbraunen
Haar nervös zur Seite und ließ sich Brandy in den Mund fließen.
»Wir werden eine Boutique eröffnen. Wenn’s etwas gibt, wovon
wir beide wirklich was verstehen, dann das, wie man sich hübsch
anzieht.«
»Gute Idee.«
»Welche Stadt stellst du dir vor?«
»Ich denk’ an Paris.«
»In Paris könnten wir nicht mithalten.«
»Nein, könnten wir nicht… Was ist mit Rom? Ich habe drei Ex-
Liebhaber in Rom.«
»Die taugen nichts, wenn man sie wirklich mal braucht.«
»Völlig unbrauchbar.«
»Besser, wir bleiben in London.«
»Besser in London. Möchtest du noch einen Drink?«
»Ja. Jaaaah.«
»Ich hoooliihn.«
»Näxes Mal dürfen wir nich mehr ohne Heiratsurkunde mit
jemandem schlafen.«
»Klarer Fall.«
»Aber es ist gegen meine Prinßipien, so’n Handel.«
»Ach, weiß ich doch, weiß ich.«
»Jaaa.«
»Vielleicht wärn wir besser dran, wenn wir les – bisch wären,
was hältst du davon?«
Peggy stand mit Mühe auf, ging zu Maureen und legte ihre
Hand auf deren nackten Bauch. »Schpürst du was dabei?«
»Nichts.«
»Ich mag Männer auch lieber«, sagte Peggy und ging zum Sofa
zurück, wo sie sich mit einem Plumps hinsetzte und wei teren
Brandy verschüttete.
»Ich auch, und einen Dreck harn wir davon.«
»Nächstes Mal geben wir aber unseren Job nicht auf, wir ble i
ben bei der Boutique.«
»Jaaah…«
Pause. Dann setzte sich Peggy auf und riß sich zusammen. Sie
war von einer ungeheuren Ernsthaftigkeit durchdrungen.
»Hör zu«, sagte sie. »Nein, verdammt, hör ßu, das willich schon
die ganze Sseit sagen, ich mein’s ernst.«
»Ich auch.«
»Nein. Kein Weglaufen mehr, sobald nur ein Mm mann au f
taucht. Ich bi n stockbesoffen, aber ich mein’s ernst… Nein,
Maureen, ich fang’ gar nicht erst mit einer Boutique an, wenn das
nich von Anfang an klar is. Wir müssen, wir müssen einig darin
sein, zuerst die Arbeit, denn sons, denn sonst, du weiß ja, wo wir
sonst enden.« Peggy brachte das letzte in einem Schwung heraus
und legte sich zurück, befriedigt.
Darauf setzte sich Maureen auf, ernst, bemüht, ihre Zunge un
ter Kontrolle zu halten: »Abe r… worin… wir beide wirklich gut
sind, is Aufpäppeln von irgend so’m blöden Schenie, Genie.«
»Nicht mehr. Oh, nein. Du mußt mir das versprechen, Maureen,
versprich mir, oder sons…«
»Inornung, ich versprech’s.«
»Gut.«
»Willst noch einen Drink?«
»Köstlicher Brandy…«
BARBARA SHEEN
Zwillinge
Sie saßen an einem runden Tisch, Ma und Pa auf der einen Seite,
die Mädchen Hüfte an Hüfte auf der anderen. Unter dem Tisch
umschlang Anna Mae mit ihrem Fuß das Bein von Billie Jean.
Der Kellner brachte eine Flasche Champagner. Überr aschung.
Genes Augen zwinkerten.
Zum Geburtstag ist mir für meine Mädchen nichts gut genug.
Die Mädchen lächelten, Blick auf die Tischdecke. Danke, Pappi.
Mae Bel lächelte. Das ist aber wirklich nett von dir, Gene.
Sie tranken auf die Mädchen, Mae Bel räusperte sich: Auf die
süßesten Mädchen in ganz Texas.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Lieblinge.
Sie küßte ihre Wangen. Die Gläser klirrten. Der Kellner nahm
die Bestellungen auf, vier Filetsteaks. Die Mädchen entschuldi g
ten sich. Gingen Arm in Arm zur Toilette. Der Blick der Eltern
folgte ihnen.
Wir haben wirklich Gl ück, nicht wahr, Mae Bel? Sie sind wir k
lich ein hübscher Anblick.
Mae Bel lächelte, das Gesicht in tausend Fältchen. Das sind sie
wirklich.
Gene fuhr nachdenklich fort: Ja, wir haben wirklich Glück, weil
sie brave Mädchen sind. Du weißt, was dauernd in der Zeitung
steht, diese jungen Leute, wie sie sich benehmen. Laufen hal b
nackt herum, drehen durch, feiern Sexorgien, nehmen Drogen, es
ist widerlich. Hast du von Lavonne Davis ’ Mädchen gehört, hat
sich schwängern lassen.
Mae Bel runzelte die Stirn. Ihr Mund zuckte: wie furchtbar. Die
Davis sind so nette Leute. Lavonne bringt das Mädchen nach
Houston, um die Sache zu regeln. Wenn du weißt, was ich meine.
Gene nickte, ja.
Mae Bel runzelte die Stirn, das Gesicht wie eine Pflaume. Das
Davis-Mädchen ist eine Schli mme. Und sie ist nicht die einzige,
weißt du. Ich habe gehört, die kleine Peggy Raynolds hat die
Scheidung eingereicht.
Genes Mund verzog sich voller Mitleid. Wirklich? Und dabei
arbeitet Jack Raynolds so schwer.
Mae Bel nickte: Er ist sehr nett, und sie mit den beiden Kleinen!
Mrs. Carter sagte, es wäre wegen seiner Seitensprünge. Nun, ich
meine, eine Frau muß das in Kauf nehmen. Männer haben and e
re Bedürfnisse als Frauen. Das ist wissenschaftlich erwiesen.
Gene errötete. Gewissensbisse. Du hast vollkommen recht. Wir
haben wirklich Glück, Mae Bel, daß wir so brave Mädchen ha
ben. Das hast du wirklich gut hingekriegt. Ich bin so stolz.
Mae Bel lächelte, nahm die Hand ihres Gatten, des Vaters ihrer
Töchter.
»Küß mich , Shel, einen langen, langen feuchten, wie nur du ihn
geben kannst.« Er gehorchte.
Amaryllis stand mit ihrer Kaffeetasse da, die auf dem Unterse t
zer klapperte, und sah in das k alte Licht der First Avenue hinaus.
Jede Minute konnten die Tabletten jetzt anfa ngen zu wirken.
Letzte Nacht hatte das teuflische Glitzern der Stadt ihr gefallen.
Heute morgen kam sie ihr entblößt vor, wie ein Raum, der für
neue Tapeten vorbereitet worden war. Der Platz der Vereinten
Nationen summte. Gerade waren mehrere Limousinen mi t Poli
zeieskorten eingetroffen. Sirenen heulten, und eine Flotte von
weißen Motorrädern lungerte neben dem Bürgersteig. »In diesem
Monolithen aus Beton«, wurde ihr kurz klar, »entscheiden hal b
gebackene Diplomaten über unser aller Schicksal.«
An einigen der Gebäude an der First Avenue flatterten amer i
kanische Flaggen, und die Läden waren mit politischen Plakaten
und Slogans geschmückt. »Ein Wiederaufleben des Patriotismus«,
hatte der Sprecher in den Nachrichten gesagt; She l hatte darauf
bestanden, sie zu seh en, bevor er ins Bett ging. Ihr schauderte.
Sie waren alle verrückt.
Sie ging in das Schlafzimmer mit seinem prächtigen Ausblick
auf das Chrysler -Gebäude. »Damit hätte es enden sollen«, mu r
melte sie diesem Ausbund an kapitalistischer Anmut zu.
Sie beobacht ete Shel und lauschte seinen regelmäßigen Ate m
zügen. Nachdem er eine Stunde mit ihr im Bad verbracht hatte
(das ganze Apartment duftete nach Pfirsichkernbadegelee, Am
beröl und Ziegenmilchseife, die sie wahllos in ihr hedonistisches
Badewasser gekippt hatte ), war er zurück ins Bett gegangen und
lag nun vollkommen gelassen auf dem Rücken, die Arme über
seine wohlgestaltete Brust gefaltet und den Kopf auf drei Kissen
gestützt, um sich eine mittägliche Quizsendung besser ansehen
zu können, die vor einem Wall au s Amaryllisblüten geräuschlos
dahinflimmerte.
»Der große, stattliche Shel. Es würde lächerlich wirken, fast
schon trist, wenn jemand anders so gut aussähe wie du.« Er
schnarchte niemals, roch niemals schlecht, und seine Haare
standen niemals ab. Sein Fell lag sanft und geschmeidig an wie
das einer Burma -Katze. Er scheuerte ihr niemals das Gesicht
wund, indem er versäumte, sich zu rasieren. Wohin, fragte sie
sich oft, ist nur all das Unerfreuliche, Abstoßende, das andere
Männer an sich haben, verschwunden – ihm schien nichts davon
eigen zu sein. In seine Melancholie, nahm sie an. In seinen traur i
gen Materialismus.
Das Apartment, trotz seines beneidenswerten Ausblicks auf
Manhattan, für das er, sie konnt e nicht raten, wieviel, aber be
stimmt mehr, als er sich le isten konnte, bezahlt hatte, zeugte für
seine kahle, vermögende Existenz.
Es schien aus leeren Räumen zu bestehen. Die Möbel, sorgsam
unpersönlich, waren in regulären Abständen aufgestellt, ohne daß
ein Stück mit einem anderen telepathische Verbindungen einging,
vielmehr existierten sie alle solide und teuer für sich allein. Er
hatte die Wohnung für sie gekauft, sagte er (Umgebungen inte r
essierten ihn nicht; er hätte auch auf einer Couch im Büro ge
schlafen), um mit ihr allein zu sein, um seine Partner notfa lls
anlügen und ihnen sagen zu können, er sei für eine Woche nach
Key West geflogen; und auch, um sich seiner Frau entziehen zu
können, von der er sich entfremdet hatte, irgendeiner eleganten,
frostigen Frau aus Philadelphia, die absolut nicht amüsant gew e
sen war.
Der Kühlschrank schaltete sich ein, und sie sprang hoch, ve r
schüttete den Kaffee über ihren Veloursmorgenmantel. Ganz
Amerika schien von den Geräuschen der Kühlschränke zu vibrie
ren oder an der Leere zu leiden, die zurückblieb, wenn sie von
ihrer Mühsal ausruhten. Dieses Modell war riesig, antiseptisch
und leer, abgesehen von der Dose mit She ls Instantkaffee, dem
Marihuana im Gefrierfach und der Ananas, auf deren Kauf sie
bestanden hatte. Sie füllte ihre Tasse an der Kaffeemaschine
nach, die aussah wie eine tödliche Falle aus einem James -Bond-
Film. Sie wurde von dem teuersten Mixer und der teuersten
Saftpresse flankiert, die auf dem Markt waren. Keines der beiden
Geräte war jemals benutzt worden.
Dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und setzte sich zw i
schen die Blumen mit ihren großen, üppigen Blütenmäulern.
Welch ein Gegensatz zu ihrer Umgebung: ein Warho l-Druck im
obligaten Metallrahmen, sonst nackte Wände, ein Zweitfernseher
mit Videozubehör, ein kahler Kleiderständer, kopf- und fußloses
französisches Bett, eine Sci -fi-Leselampe, für Shels Sci -fi-
Taschenbücher und Luxusbände mit erotischer Kunst. Ihr pe r
sönliches Durcheinander wirkte genauso widersprüchlich; sel t
same weibliche Dinge, wie Treibgut über einen verlassenen
Strand verstreut: Schuhe mit hohen Absätzen und Schleifen mit
Pünktchenmuster, Täschchen mit Knipsverschluß, Romane,
Make-up, Parf um, Tabletten – zahllose Tabletten – und die
Schachtel mit Marzipan aus dem Laden in der 89. Straße, für She l
gekauft, aber von ihr verzehrt.
Der Nachttisch blieb eisern seiner: Digitaluhr, Taschenrechner,
eines der drei Telefone des Drei -Zimmer-Apartments und eine
Sammlung von Nasensprays – lauter Dinge, die für ihn womö g
lich lebenswichtiger waren als sie. Aber das war ein weinerlicher
Gedanke und einer fa st vierzigjährigen Frau nicht würdig, die es
schließlich doch noch gelernt hatte, Freude auszuhalten. Trot z
dem ärgerte die sich über die Art, wie die Uhr die Sekunden
verschluckte, sie ihr mit all ihren flüchtigen Möglichkeiten zeigte
und dann wegschluckte , noch ehe sie nach einer greifen konnte.
Die Minuten zogen sich etwas länger dahin, aber auch sie rollten
in die Maschine zurück wie die Augen in einem Puppenkopf.
Auf einem Stuhl, auf dem niemals jemand gesessen hatte, die
getragenen Kleider der letzten drei Tage in abwechselnden
Schichten – Amaryllis, Sheldon, Amaryllis, Sheldon, Sheldon,
Amaryllis. Die unterste Schicht bestand aus ihrem weiten, blaßka
rierten Schottenrock, den sie im Flugzeug getragen hatte. Sie
hatte ihn gekauft, weil sie etwas Üppiges und leicht Zugängliches
für ihre erste Begegnung haben wollte, etwas, das man dem
sofortigen Glück zuliebe ohne große Umstände abwerfen kon n
te. Die Frage, das fiel ihr nun wieder ein, war gewesen, ob er sie
abholen oder nicht abholen sollte. Sie änderte ih re Meinung
dreimal. Sie würde allein ankommen und dann auf dem Rücksitz
eines Taxis den ganzen Weg vom Flughafen daran denken, wie
sie ihm immer näher kam. Köstlich für sie, aber der Plan schloß
ihn nicht ein. Nein, er mußte sie abholen, aber nur, wenn er eine
Limousine mietete, so daß sie auf dem ausladenden Rücksitz
Champagner trinken und knutschen konnten. Nein, sie mußten
sofort freudig übereinander herfallen (das andere war er allmä h
lich satt); keine schmierigen pubertären Vorspiele, sie würde
allein in sein Apartment kommen, ja, sie war sich ganz sicher, ja,
sie würde auf jeden Fall kommen. Sie buchte den Flug.
Nach ihrer Dreiviertelstunde im Waschraum klopften verärge r
te Passagiere an die Tür. Wußte sie denn nicht, daß sie in fün f
zehn Minuten landen würden? Sie warf ihnen ihr kühnstes und
leichtestes ›Nur noch einen Augenblick!‹ zu und zog die Lippe n
konturen zu Ende. Oh, das Licht in Flugzeugen war grausam. Es
zeigte ihr Falten, Narben und Härchen, die sie seit Monaten nicht
wahrgenommen hatte. Und dan n die Statik – es war unmöglich,
ihr Haar in Form zu bringen (mit mehreren Kämmen, alle ve r
schieden aussehend, aufgesteckt, Locken, die über ihre Stirn
fielen, sie hatte es in einem Film gesehen; ein bißchen absurd,
selbst sie mußte das zugeben, aber doch reizvoll). Erneutes
Pochen an der Tür. O mein Gott, und sie hatte noch nicht ei n
mal gepinkelt. Vorsichtig legte sie Streifen aus Toilettenpapier auf
den Sitz und zog ihren französischen Slip herunter. Das ›Bitte
anschnallen‹-Zeichen leuchtete auf und zog eine energische
Stewardeß nach sich. Würde sie bitte sofort auf ihren Sitz zurüc k
kehren. Amaryllis stand auf und fing an, die Kosmetiksachen und
die Tabletten in eine teure Ledermappe zu fegen, in der sie alles
Lebensnotwendige bei sich trug und ohne die si e nirgendwo
hingehen konnte. Dann zögerte sie, zog sich den Schlüpfer aus
und stopfte ihn in die Mappe. Sie nahm ihre Vierzehn -Uhr-
Tablette, wischte das Waschbecken sauber, wie das Schild es ihr
höflich, aber bestimmt nahelegte, und kehrte auf ihren Sitz zu
rück, errötete angesichts der empörten Blicke von Passagieren,
die ihretwegen nicht drangekommen waren und die sich in der
nächsten halben Stunde sehr ungemütlich fühlen würden.
Shel fegte den Küchenboden, als sie ankam, hörte auf, Tequila
zu nippen und seine Nägel zu kauen. Er war sehr nervös, das
wußte sie, aber o so glücklich, sie zu sehen, obwohl er versuchte,
ihr nicht zu zeigen, wie sehr. Sie war im Vorteil mit ihren ausg e
zeichneten erotisierenden Antidepressiva.
»Shel, Liebster, ich sehe, du brauchs t noch ein, zwei Tequilas,
nicht? Aber was wäre, wenn ich meine Hände dort hinlegen wür
de?« Sie wandte sich kokett ab.
Er packte sie von hinten, preßte ihre Brüste mit seinen Armen
zusammen.
»Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, Amaryllis, ich will
dich, ich will dich, ich liebe dich, liebe dich, liebe dich.« Das war
schon besser.
»Ich weiß. Ich glaube dir, Shelly.«
Sie legte sich vor ihm auf das Bett und schlug ihren Schottenkilt
auf. Er zeigte sich nicht im geringsten überrascht, fast so, als
hätte er erwartet, daß sie unter dem Rock nackt sein würde, und
zerriß wie üblich ihre Strümpfe. Statt das Erwartete zu tun, legte
er dann sein Gesicht zwischen ihre Beine und küßte und leckte
sie, und trotz ihrer süßesten Verlockungen, ihn in sich zu ziehe n,
behauptete er, daß er für immer so weitermachen könne. Aber
nein, nicht bevor sie nicht dreimal gekommen war (er hatte eine
Art, mit seinen o so eigenen Lippen an ihr zu saugen, und die
Tabletten bewirkten, daß sie zutiefst entspannt war), gab er ihr
schließlich ihren eigenen Geschmack zu kosten und schlüpfte auf
die altmodische Art in sie, als ob der Garten Eden gerade erst
verlorengegangen wäre und dies das allererste Mal sei. Und sie
schrie, und als er schließlich mit Penis, Fingern und Zunge zu
gleich alles mit ihr getan hatte, was ihm einfiel, war es halb zwölf
und zu spät für das Abendessen.
Sie war gerade dabei, zur nächsten Schicht überzugehen und die
Szene mit dem Jean -Muir-Kleid neu zu erleben, als She l halbbe
wußt seinen Arm hob.
»Amaryllis«, sagte er, »wollten wir nicht irgendwo hingehen?«
»In die Weidenfeld -Sammlung, aber die ist noch bis zum zwe i
ten geöffnet.«
Er küßte ihre Handfläche. »Bring mir eine Tasse Kaffee, Lie b
ling, und die Zeitung, und dann bin ich bereit, mit dir loszugehen
und die Kultur zu lieben, obwohl die Oilers heute gegen die
Steelers spielen.«
Sie ließ die Sonntagsausgabe der New York Times mit ihren gro
ßen schwarzen Schlagzeilen auf seine Brust fallen. »Da hast du’s:
Katastrophen, Blutvergießen, Massaker, globale Verschwöru n
gen, verkrüppelte Kinder, skrupellose Politiker. Wie kannst du so
etwas nur lesen?« Er wollte etwas sagen. »Schon gut, Shel, ich
werde mich nicht beklagen, solange du mit mir nicht darüber
diskutierst. Da sind mir sogar deine Ehemaligen lieber.«
»Es gibt ke ine Ehemaligen, Liebes.« Er lachte sein geräuschl o
ses inneres Lachen, das in sich selbst zurückzurollen und sich
selbst aufzuzehren schien, so wie die Digitaluhr die Minuten und
Sekunden verzehrte. Er bat sie, den Fernseher einzuschalten, der
jetzt den Eur hythmieunterricht von June Ally son und Peter
Lawford zeigte. Sie strich die Kissen für ihn glatt, und eine Stu n
de lang las er grimmig mit der dicken, schwarz gerahmten Brille,
die ihm über seine herrliche Nase rutschte, wobei er tassenweise
schwarzen Kaff ee trank und schon fertig gerollte Joints mit
kolumbianischem Marihuana rauchte.
Als Resultat davon, daß Amaryllis es nicht hatte vermeiden
können, einen Blick auf die Führer zu wer fen, die sich über
nichts anderes als die Lage heisersch rien, mußte sie ihr e Tablet
ten zu früh nehmen und vergaß also das meiste von dem, was sie
in der Literaturbeilage las.
»Herzchen«, sie lehnte sich vor und klopfte mit dem längsten
ihrer rosa Fingernägel zart gegen de n Wirtschaftsteil. Shel lächel
te ihr über den Rand von Seit e 131 beruhigend zu. »Wir sollten
gehen.«
Er legte die Zeitung beiseite. »Ich liebe dich, Amaryllis.«
»Wirklich? Selbst wenn die Welt aus den Fugen geht?«
»Dann sogar noch mehr.«
Sie sah, wie das Bettuch unterhalb seines Nabels auf und nieder
hüpfte, ganz zart, als ob er mit einer Katze spielte.
»Shel, das hier ist eine Liebesgeschichte, oder?«
»Ja, das ist es.«
»Das ist alles, was zählt, weißt du.« Sie krabbelte zu ihm und
legte sich auf ihn. »Es ist so greifbar, ich meine, ich kann ins Bett
gehen und mich damit mitten in der Nacht allein hinlegen, bei
heulenden Stürmen und Dunkelheit draußen, und kann es halten
und an mich drücken, und die verrückte Welt geht zugrunde, und
du bist hier in mir drin, tiefer als tief, Shel, für immer verwu r
zelt.«
Er, dann sie , dann eine Dämmerzone voll wahlloser, halbb e
wußter Küsse.
»Backgammon?«
»Scrabble.«
Sie schafften es niemals bis in die Weidenfeld-Sammlung.
Eine Stunde später führte Houston vor Pittsburgh mit dreißig
zu sieben, aber niemand Bestimmtes gewann das Scrabbl e-Spiel.
Sie vergaßen mitzuzählen und brauchten zehn Minuten für die
Wörter mit drei Buchstaben. Halb zurückgelehnt in ein Gewirr
aus Bettzeug, aßen sie das Marzipan und sprachen kaum, dafür
lächelten sie sich um so häufiger an.
»Du warst der Beste«, sagte sie.
Seine braunen Augen wanderten runter bis dort, wo der Ve
loursmorgenmantel offenstand, ihm eine Haut zeigte, die ihn
immer noch an Nektarinen erinnerte. »Nein, du.« Die Menge
brüllte.
Geschickt ließ er sie nach hinten gleiten, verstreute überall die
Plastikbuchstaben. »Werden wir jemals aufhören könne n… wo
hast du das alles nur gelernt, meine Lieb e… Liebste, Liebst e…
ich freue mich, daß du die Beste bist.«
Sie schliefen. Houston gewann. Es fing an zu schneien, und die
Lichter im Chrysler -Gebäude gingen an. Das Telefon läutete
neunmal.
»Deine Frau?« stöhnte Amaryllis, als es schließlich aufhörte.
»Haben wir gevögelt?«
»Weißt du es nicht mehr?«
»Nein«, neckte er sie.
»Dann muß ich dir sofort ein Wiederholungsspiel bieten.«
»Amaryllis, bist du…«
»Wund? Bin ich nicht, ich meine, doch, aber um so besser.«
»Gott, Amaryllis, was ist, wenn ich dich umbringe?«
»Tu so, als ob – « er kam – »du es vorhast.«
»Oh, Süße.«
Donnerstag würde Thanksgiving sein. Mittwoch abend erinne r
te si e ihn daran und bestand darauf, ihm einen Truthahn zu
braten. Er protestierte schwach, hätte es vorgezogen, wenn sie es
gelassen hätte. Essen langweilte ihn beinah so sehr wie Wo h
nungseinrichtungen. Aber er gab nach, sie war mit einem solchen
Eifer dabei. Alles, was sie wollte, alles.
Natürlich war der Schrank leer bis auf die Ananas und das Ma
rihuana, also mußten alle Zutaten erst eingekauft werden, und es
war jetzt halb neun Uhr am Vorabend von Thanksgiving. Sie
nahmen ein Taxi ins Village zu Ba lducci, denn Amaryllis sagte
beharrlich, das sei der einzige Laden, wo es alles gebe, was sie
brauche. Sie schoben den Einkaufswagen zusammen, sie brach
bei allem in Begeisterungsrufe aus, er hatte seinen Arm um sie
gelegt und schmuste mit ihr, wenn sie anhielten, ganz ungeniert
über öffentliche Lieb esbekundungen. Großartige Dinge kaufte
sie, köstliche, extravagante Dinge, und brachte es sogar zustande,
den gelangweilten Shel mit ihrer Begeisterung anzustecken.
Die Truthähne waren enorm groß, also entschieden sie sich für
Fasane. Sie wußte die köstlic hste Sauce dazu. Er würde schon
sehen, würde staunen, was für eine fantastische Köchin sie war –
und so durchorganisiert –, das war das Ergebnis jener Abendku r
se, die ihr hatten helfen sollen, ihr seelisches Gleichgewicht
wiederzufinden. Cordon bleu, korea nisch, persisch, kreolisch –
sie konnte in jeder Tonart kochen. Das Ganze würde fast so
werden wie bei Sabrina und Linus Larabee.
»Hat sie das Soufflé nicht aus Kräckern gemacht?«
»Sie sagte, sie könne ein Souffl é aus Kräckern machen.« Sein
Gedächtnis, wie seine Zärtlichkeit, erstaunte sie immer wieder.
Auf dem Weg nach Hause kamen sie am UNO -Gebäude vor
bei, aber sie hielt ihn mit einem Kuß davon ab, etwas über Si t
zungen oder die Lage zu sagen.
Amaryllis hatte ihrem Mann versprochen, ihn an Thanksgiving
anzurufen. Da dieser Anruf eine ganze Menge Lügen erforderte,
hatte sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen, sagte die vorb e
dachten Unwahrheiten mit gedämpfter Stimme auf und überließ
es Sheldon, über die Vögel zu wachen, die in einem Ofen, groß
genug, um Hänsel und Gretel darin zu rösten, lebhaft vor sich
hinbrutzelten.
Vor dem Telefonieren hatte sie zögernd vor der Schlafzimme r
tür gestanden und sich zu ihm umgedreht.
»Ist es nicht merkwürdig, daß die einzige Möglichkeit, dich die
ganze Zeit für mich zu haben , darin besteht, daß ich dich die
meiste Zeit nicht für mich habe?« Sie sagte das mit einem Anflug
von Lächeln. Dann mußte er ihr versprechen, nicht zu lauschen.
Und obwohl er ohne Gewissensbisse mit dafür gesorgt hatte, daß
in Büros und einmal auch in ein er Privatwohnung kleine Abhö r
geräte installiert wurden, war sein Charakter doch solcher Art,
daß er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, etwas von
ihrem Gespräch mitzubekommen. Zum Teil war er nobel, und er
war großzügig genug und vernünftig genug, Amaryllis ihr sonst i
ges Leben nicht schwerzumachen. Es war ihm so widerwärtig,
daß er keinerlei Wunsch verspürte, mehr darüber zu erfahren, als
er bereits wußte. Trotzdem hätte ein anderer an seiner Stelle
vielleicht ein perverses Vergnügen daran gefunden, Staub aufzu
rühren.
Sollte er sie retten? fragte er sich. Sollte er sie sich nehmen und
für immer bei sich behalten, indem er sie ganz offiziell im dre i
zehnten Stock unterbrachte? Sollte er ihr helfen, die fixe Idee zu
überwinden, daß sie für ihre Lust mit monatelanger stoisch
ertragener Mühsal bezahlen müsse, sie davon überzeugen, wie
verrückt es war, daß sie in ihrem Alter Märtyrer der Liebe spie l
ten? Er dachte darüber nach, er war in Versuchung. Aber er
wußte genau, in kürzester Zeit würde sie sich zahme Kaninchen
wünschen und Blumenständer, und er würde die Wände hochg e
hen. Sie würde ein Vermögen bei Psychiatern und bei Bendel ’s
lassen und mit ihm über Solschenizyn sprechen wollen. Dann
würden Opernbesuche fällig werden: einen ganzen Abend ›La
Traviata‹, wenn er einen Boxkampf sehen oder um die Ecke ins
Kino gehen wollte. Sie würde ihm ständig bröckche nweise In
formationen anbieten, wie wessen Ausstellung sich Mussorgsky
angesehen hatte, wobei sie den naßkalten Nachmittag in Peter s
burg – oder war es Moskau – heraufbeschwor, und das alles,
wenn er einen klaren Kopf bewahren und Geld verdienen mußte.
Aber er liebte sie, er konnte ihr nicht widerstehen. Sie war eine
Oase der Zuneigung in einer Wüste aus trockenem Sex, und
wenn sie in zwei Tagen abreiste, würde es ihm das Herz brechen.
Inzwischen dachte Amaryllis, die hinter der Schlafzimmertür ihr
vorprogrammiertes Gespräch mit dem Exxon -Manager führte,
daß sie ihren Ehemann nicht so sehr haßte oder er sie langweilte,
sondern daß er ganz einfach für das Geld da war. Sie war ihm
beinah dankbar dafür, daß er so schlimm war, wie er war; daß er
die Bezahlung so schmerzhaft, so abstoßend werden ließ. Das
war natürlich ein Teil des Tricks.
Oh, der Trick, der Trick; wo wäre sie ohne den Trick?
In der Klinik hatte sie an gefangen, den Trick zu verstehen.
Allmählich, während dieser wirren, leeren Stunden, hatte sie
verstanden, wie sie sich selbst durch das erschreckende Spiel des
Lebens würde dirigieren müssen, um da herauszukommen, gewiß
nicht als Gewinnerin, aber mit etwa s Kleinem, überhaupt mit
irgend etwas. Ein Vertrag mußte geschlossen werden, ein Au s
gleich der Bezahlungen, mit einem anonymen Schicksal ausg e
handelt, das es nicht gern hatte, wenn irgendwer auf eigene Faust
abrechnete. Es würde schwierig werden, aber sie mußte es versu
chen. Sonst würde die Vergangenheit sie lähmen. Sie würde
Trübsal blasen wegen Hyacinth, Dahlia vernachlässigen, Abne i
gung gegen ihren Mann verspüren und sich für alle Zeiten dumpf
und leer fühlen.
Es dauerte Monate, ehe der Handel zustande kam. Unfähig zu
kämpfen, wurde sie von Erinnerungen und Träumen überflutet.
Aber die Erinnerungen waren ihre Wegweiser, ihre Reiseführer,
ihr Halt im Leben. Zum Beispiel: ein frostiger Nachmittag in
Boston zu einer Zeit in ihrem Leben, als ihre Nägel die gl eiche
Farbe hatten wie die der meisten Leute und sie noch sorglos
schön war. Sie war neunzehn, She l einundzwanzig. Sie hatten
sich gerade getroffen, hatten ein-, zweimal zusammen geschlafen,
waren aber scheu miteinander und hatten irgendwelche lärmigen
Bekannten besucht, um bis zur Schlafenszeit nicht zu lange unter
sich zu sein. (Es machte sehr viel Spaß, wenn sich ihre Augen ab
und zu tra fen und über das betrunkene Geschnatter hinweg
unsichtbare Brücken schlugen.) Ihr war kalt, sie kauerte sich in
ihren Stuhl und fröstelte. Shel fing die Bewegung auf und sprang
ohne zu zögern auf, nahm von der Wand eine Navajo -Decke, die
angeblich sehr wertvoll war und von ihrem Besitzer sehr in
Ehren gehalten wurde, und wickelte sie um sie, stopfte sie sor g
fältig ringsum fest. Irgendwer lachte nervös auf, verlegen ge
macht durch den spontanen Zauber dieser Geste. Aber niemand
bat ihn, die Decke wieder aufzuhängen.
Nachdem Dr. Lutisowski sie aus der Nervenheilanstalt entla s
sen hatte, verbrachte sie viele Wochen in ihrem Zimm er, fühlte
sich ausradiert wie eine Zeichnung oder eine beschriebene Seite.
Nur ein paar Spuren waren noch auf dem Papier, so schwach,
daß man es gegen das Licht halten mußte, um sie sehen zu kö n
nen. Aber die Erinnerungen kamen weiterhin, und die meisten
kreisten um Shel. Sie stärkten sie, und sie drehte und wendete sie
wieder und wieder in ihrem Kopf, hielt wie besessen an der
Szene im Foyer des Clermont fest. ›Das damals‹, sagte sie dann
zu sich, ›war Schicksal, Amaryllis, du alberne, ruinierte, früher
einmal intelligente Frau. Um Gottes willen, erkenne das doch
und handle danach.‹ Aber sie konnte nicht – noch nicht.
Sie ging wieder in die We lt hinaus. Alles, was sie dort vorfand,
war eine Menge Leute, die so taten, als ob sie erwachsen wären,
und alles, was sie wußte, war, daß ihre besten Kräfte, offenbar
ohne daß sie es wußte, in Banken, Restaurants, Läden und Kla s
senzimmern versandet waren, bis sie sich selbst, zu spät, gefu n
den hatte, als eine verblaßte Blondine. Und diese Orte warteten
immer noch auf sie, bereit, ihr die Lebenskraft im Namen des
wiederhergestellten inneren Gleichgewichts auszusaugen. War es
nicht besser, von diesen kostbaren Kräften zu retten, was noch
zu retten war, und sie an She l zu verschwenden? Sie löste ihr
Versprechen verspätet ein und rief ihn an.
Als sie dann dem Exxon -Manager auf Wiedersehen sagte, war
sie voller Entschlossenheit, als ob ihr ganzes Aggregat an DNS,
jetzt durch sie selbst freigesetzt, nur immer darauf gewartet hätte,
für diese eine entschädigende Romanze eingese tzt zu werden.
Und sie wollte keine Kameradschaft oder gemütliche Sicherheit
oder kulturelle Übereinstimmung oder Gleichberechtigung oder
vernünftige Gespräche, die mit leeren, klugen Kompromissen
endeten. Sie wollte eine üppige Freude mit unüberwindlichen
Hindernissen dazwischen. Ohne diese Hindernisse konnte die
Freude nicht blühen, sie kräftigten ihr Wachstum. Das, meine
Damen und Herren, war der Trick! Und Shel – der alte, gutau s
sehende, verschwiegene sexuelle Fatalist –, Shel war der perfekte
Komplize. Er forderte keine Erklärungen, Rechte oder Pflichten.
Wie sie konnte auch er sein Auge auf das einzig Wichtige ko n
zentrieren, ohne es sich durch Gier und Gemeinheiten zu ve r
derben, wie diese verrückten Leute, die ihren Trieb nicht zügeln
konnten und ihr ganzes Leben lang immer nur bewiesen, daß sie
Freude und Schönheit haßten. Es war, als kenne Shel den Trick
schon seit seiner Geburt.
Sie legte den Hörer auf und dachte an die Fasane.
»Shel, mein Schnäuzchen, hast du die Fasane begossen?«
Er saß auf dem Ran d der Couch, sah sich die Nachrichten am
Mittag an und kaute an seinen Fingernägeln.
»Mein Gott, Amaryllis, sie haben die Türkei besetzt.«
»Und das zur richtigen Zeit. Wer immer sie auch sein mögen,
sie scheinen zumindest etwas Humor zu haben. Aber die Fas än
chen, mein Süßer«, sie küßte ihn auf den Kopf, »sie müssen
ständig begossen werden.«
Er folgte ihr in die Küche, wo sie sich zum Backofen bückte,
mit der Schöpfkelle über den Vögeln herumfummelte, während
das Haar ihr ins Gesicht fiel und ihr Morgenmante l über den
nackten Oberschenkel wegglitt (sie machte mit der Kleidung
keine großen Umstände mehr). She ls normalerweise unberührte
Küche wurde überschwemmt von schmutzigen Töpfen, ve r
schmierten Küchengeräten und exotischen Saucen. Sie hatte alles
hervorgekramt.
»Shel, was bedeutet das?«
»Was, Süße?« Er kniete sich hin und schob seine Hände unter
ihren Morgenmantel.
»Die Besetzung.«
»Du würdest das gar nicht wissen wollen. Komm und leg dich
mit mir hin.«
»O Liebling«, sie drehte sich halb zu ihm um. »Ich kann jetzt
hier nicht weg. Gerade ist der kritische Augenblick. Sie müssen
alle fünf Minuten begossen werden.«
»Okay, Herzchen, wie du meinst«, sagte er, während er seinen
Finger in sie schob und spürte, daß sie vom letzten Mal vor einer
Stunde immer noch feuc ht war. Behutsam kippte er sie nach
vorn auf Hände und Knie, hob den Morgenmantel über ihrem
Hintern hoch, zog sie etwas zurück und auf sich drauf. Sie gab
einen leisen Ton von sich. Die Schöpfkelle rollte über den gek a
chelten Fußboden und stieß gegen den Kühlschrank.
»Vergiß nicht die…«
»O ja…« Während sie ihn in sich hielt, ihn leicht zusamme n
drückte, um ihn bei Laune zu halten (das war ein guter Trick von
ihr; nur eine von einer Million Frauen konnte das, sagte er),
öffnete sie die Backofentür, um nach dem Abendessen zu schau
en. Die Vögel konnten noch weitere fünf Minuten warten, nahm
sie an. Er drückte ihren Bauch flach auf den kalten Fußboden
und stieß in sie hinein, bis sie zu atemlos war, um ihm sagen zu
können, daß er aufhören solle, dann rollte er sie herum und
küßte sie, wobei seine Zunge fast bis zu ihren Mandeln vorstieß.
In einem wundervoll panischen Augenblick bemerkte sie, daß er
völlig außer Kontrolle war. Plötzlich stand sie wieder aufrecht,
wurde dann umgedreht, ihre Handgelenke knickten weg und die
Haut an den Knien scheuerte ab, während seine Finger ihre
Hüften so fest umklammerten, daß sie dachte, er würde das
Fleisch durchlöchern.
»Mußt du nach ihnen schauen?« keuchte er.
Sie schritt über den zusammengebrochenen Sheldon hinweg,
um die Sch öpfkelle wiederzuholen. Die Fasane waren ungefäh r
det.
»Amaryllis, holst du mir meine Zigaretten?« Er rauchte eine, da
wo er lag.
»Ich glaube, ihm geht ein Licht auf. Ich spüre es. Ich weiß, daß
er irgendeinen Verdacht hat. Geh auf keinen Fall ans Telefon.
Was meinst du? Was wäre denn, wenn mein Onkel etwas hätte –
bei welcher Krankheit außer Krebs braucht man denn noch sehr
lange, um zu sterben?«
Er hielt ihre Hand über die Überreste der Thanksgiving -
Festtafel hinweg.
»Dir gehen die Verwandten aus, Liebling.«
»Wie wäre es dann mit alten Schulfreunden – nein, ich glaube,
das gilt inzwischen als sehr altmodisch. Aber wenn ich darüber
nachdenke – du bist ja ein alter Schulfreund. Aber wenn ich lüge
– lügen muß –, nützt mir das nichts. Ich bin schon so lange aus
dem Geschäft, daß ich gar nicht mehr weiß, was die Leute als
Entschuldigung gebrauchen. Welche Entschuldigung ist denn
dieses Jahr modern? Wer weiß, vielleicht ist die Wahrheit mo
dern. Bin ich jetzt albern? Du läßt mich einfach auflaufen, She l,
du solltest meinem Delirium manchmal ein Ende machen. Nein,
nein, tu das nicht. Du bist so ein Liebling, wie du mich Verrückte
tolerierst. Darum weißt du auch so viel mehr von mir als ich von
dir. Ich erzähle alles. Ich brabbele alles aus. Siehst du, ich kann es
nicht kontrollieren!« Sie machte eine komische, hilflose Geste mit
den Händen. »Ich sollte sanft und kultiviert sein, aber das bin ich
nicht. Ich bin schlampig, und das weiß ich auch, aber trotzdem
kann ich den Mund nicht halten. Du, du bist so geheimnisvoll
wie eine ägyptische Statue. Du nimmst so viel hin und sagst so
wenig. Du erzählst gar nichts, und das macht mich verrückt vor
Begehren. Du wirst dich mit mir langweilen, wenn ich meinen
Mund nicht endlich halt e… weißt du, was ich getan habe, als
Hyacinth ge storben ist? Ich habe mich in mein Zimmer eing e
schlossen und eine Stunde lang onaniert. Genau weiß ich es nicht
mehr, vielleicht war es keine Stunde. Auf jeden Fall war es lange.
Die ganzen Seconal habe ich erst eine Woche später eingeno m
men.«
Sie hielt mi t einem gedankenvollen Blick inne, unsicher, was er
wohl denken mochte, unsicher, was sie selbst über das dachte,
was sie ihm gerade erzählt hatte. Er las Unsicherheit und Tra u
rigkeit in ihren Augen, aber keine Verlegenheit. Er schenkte ihr
ein breites, zu versichtliches Lächeln und drückte ihre Hand
zwischen seinen beiden Händen.
»Sex und Tod?« sagte er fröhlich.
»Ja«, sie lächelte zurück.
»Laß die Teller stehen, Liebes, die Putzfrau kommt morgen.«
Er nahm eine Flasche Tequila aus dem Ständer und winkte sie
ins Schlafzimmer. »Das Spiel fängt in fünf Minuten an.«
»Und noch ein Nachmittag mit Vögeln und Fußball. Man könn
te denken, wir wären immer noch auf der High-School.«
Sie schaute aus dem Fenster auf das graue Manhattan und das
UNO-Gebäude, wo sich die Ges chäftigkeit gelegt zu haben
schien.
»Keine Lage heute?« She l hatte den Fernseher angeschaltet und
war bereits eingeschlafen, den Kopf fast senkrecht auf einem
Kissenberg.
Am späten Nachmittag desselben Tages traf er sie mitten in
einem ihrer ausgedehnten Baderituale an. Und obwohl er ganz
schläfrig war, konnte er nicht widerstehen, sie mit ihm heru m
spielen zu lassen, während sie in der Wanne saß, ihn einhüllte,
liebkoste, streichelte, bis seine Knie nachgaben und er nach dem
heißen Handtuchständer griff, wo durch er sich Blasen an der
linken Hand zuzog. Dann lehnte sie sich im Schaum zurück, und
er zeigte sich ihr mit Zeige - und Mittelfinger erkenntlich, wä h
rend er ihre schlüpfrigen Brustwarzen zusammendrückte und die
Nippwellen der Lust beobachtete, unter de nen ihr Gesicht sich
leicht verzerrte.
»Wie kommt es nur«, fragte sie ihn später, als er auf der Toilette
und sie auf seinem Schoß saß, während Wasserbäche aus ihren
nassen Haaren über ihren Rücken liefen, »wie kommt es nur, daß
ich mit dir mehr schmutzige Sachen machen kann, als jemals mit
irgendwem in meinem Leben, und dich trotzdem so liebe, wie ich
als Sechsjährige das Jesuskind geliebt habe?«
»Ich denke, weil es Schicksal ist und ich ein Fatalist bin.«
»Komische Antwort.« Aber es stimmte. Er folgte ein fach seiner
Natur, wie eine Katze, die sich an einen Vogel heranpirscht.
»Komische Frage.«
Am nächsten Morgen – ihrem letzten – fand er sie in der Kü
che. Sie stand vor der Anrichte und trug kein Make-up.
»Was machst du da?«
»Ich mache Kräcker.«
»Woraus denn?«
»Aus einem Soufflé.« Sie brach in Tränen aus.
Shel schaltete die Nachrichten aus und sah etwas düster drein, als
er ihr mit ihren Koffern half. Die Lage war an diesem Tag
schlecht.
»Denk an die schwarzen Löcher.« Sie versuchte, heiter zu sein.
»Sie sind das gleiche wie die Raketen. Glaub nicht an sie, und es
gibt sie auch nicht. Wenn du nachdenken mußt, dann denk an die
Zeit in vier Monaten. Denk an mich.«
»Nimm den Fensterplatz über den Flügeln«, riet er ihr und
fummelte an der Schnalle des Koffers herum, auf dem Amaryllis
saß und ihre Augen blau umrandete. »Es ist der sicherste.«
»Und es ist eine klare Nacht. Ich werde einen wunderbaren
Ausblick auf Manhattan haben.«
Es war Zeit, aufzubrechen. Ihr war schlecht, und sie mußte
einen ganzen Batzen Table tten einnehmen, ehe sie in den Fah r
stuhl steigen konnte. Auf dem Weg nach unten legte er beschü t
zend seine Arme um sie. Sie hatte erwartet, daß er das Ganze
stoisch überstehen würde, konnte aber sein Herz in ihre Ohren
schlagen hören.
»Ich will gar nicht erst versuchen, dir zu erzählen, wie ich mich
im Augenblick fühle.« Der Pförtner verstaute ihre zu vielen
Koffer in einem Taxi. »Aber ich möchte, daß du mir noch einmal
sagst, daß du mich liebst.« Er sagte es. Er tat ihr jeden Gefallen.
Sie stieg ein und se tzte sich auf den Rücksitz. Shel stellte sich
zwischen sie und die Tür und griff ihre Hand. »Amaryllis«, sagte
er und hielt dann inne. Es fiel ihm schwer.
»Dein kleiner Finger ist mehr wert al s… mehr als das ganze
verdammte Chrysler -Gebäude.« Er küßte den rosa Fingernagel
und schloß die Tür. Als er sie durch das offene Fenster anscha u
te, liefen ihm die Tränen in Strömen übers Gesicht.
Als das Taxi schließlich die Lichter der 41. Straße erreicht hatte,
heulte sie völlig unkontrolliert und mußte durch die Gla strenn
scheibe dem Fahrer zuschreien, daß sie gern eine Zigarette von
ihm hätte, ihre erste innerhalb von zwei Jahren.
Er fing ihren Blick im Rückspiegel auf. »Für Liebende gibt es
keinen Abschied«, sagte er grinsend.
Sie fummelte mit der Zigarette und ihre r Ledermappe herum,
so beschäftigt mit einer Packung Kleenex, daß sie beinah vergaß,
sich umzudrehen, als sie den Mid -Town-Tunnel verließen (der
Tunnel, in dem man sich bei der Ankunft zusammenreißt, um
Manhattan ertragen zu können , und auf dem Rückweg, um es
ohne Manhattan auszuhalten), und ihre Lieblingsansicht zu
bewundern. Es war so dramatisch, New York zu verlassen. New
York zu verlassen war das gleiche, wie sich selbst zu verlassen;
aber sie selbst, ebenso wie New York, war besser für Besuche
geeignet, als um dort für immer zu leben. Wenn man in New
York wohnte, wurde es London oder Stuttgart oder Akron, und
man sollte seine Geliebte nicht heiraten. Also, die Zeit ist vorbei,
Amaryllis; die Zeit ist vorbei, Sheldon. So wenig Zeit, aber sie
war die kommende Langeweile wert, und wie sie es wert war.
Durch das Rückfenster glänzte und blinzelte die Stadt und ve r
änderte das Bild ihrer Beziehung zu ihr, wann immer das Taxi die
Fahrbahn wechselte. Aus dieser Entfernung, weg von den Scha t
tenseiten der Straßen, war New York beinah heilig. Sie wollte
eine Hymne auf die hohe Stadt komponieren, um ihre Ehrfurcht
und ihre Dankbarkeit auszudrücken. Sie ließen sie hinter sich. Sie
waren jetzt mitten in Queens, Schilder, die auf den Flughafen
hinwiesen, tauchten vor ihnen auf und verschwanden wieder.
Sie weinte noch etwas, verbarg ihr Gesicht in ihrem Pelzmantel,
um She l zu riechen, oder besser die Mischung aus seinem und
ihrem Duft. Was würde er heute abend tun, fragte sie sich –
Tequila trinken und Gras rauchen, bis er wegtrat, sich nackt ins
Bett legen und einen Boxkampf anschauen, eine Nutte anrufen?
War er überhaupt imstande, es vierundzwanzig Stunden lang
auszuhalten, ohne daß jemand mit ihm im Bett lag? Sie mußte
ihn das nächste Mal danach fragen.
Als sie am J. -F.-Kennedy-Flughafen ankamen, mußte sie den
Fahrer, dem sie wie gewöhnlich zuviel Trinkgeld gab, um eine
weitere Zigarette bitten. Das Spiegelbild in der automatischen
Tür zeigte ihr, daß sie fürchterlich aussah, also verbrachte sie,
nachdem sie ihr Gepäck ab gegeben und auch dem Träger zuviel
Trinkgeld gegeben hatte, fast eine Stunde auf der Damentoilette,
um sich instandzusetzen. Sie gab der verzweifelten Versuchung,
ihre Zehn-Uhr-Tabletten schon um acht zu nehmen, nicht nach
und versuchte, ihre Gedanken davo n abzuhalten, in den dre i
zehnten Stock zu wandern und darüber zu grübeln, was der
schlimme Shel dort wohl treiben mochte. Ihr Gesicht sah zufri e
denstellend aus. Amaryllis gehörte zu den Frauen, die am besten
aussehen, wenn sie etwas verstört sind, und es entging ihr nicht,
wie die Männer an der Bar sie anstarrten. Sie nahm eine Tuinol
mit zwei Champagnercocktails, um sich für den Start zu rüsten,
und hielt ihre Nase hoch. Keiner dieser Männer konnte sich mit
Shel messen.
Sie bekam ihren Fenstersitz. Sie sch nallte den Gurt fest un d
schlug einen Roman auf, um die irische Dame im mittleren Alter
neben sich auf Abstand zu halten, die, das spürte sie, auf ein
Schwätzchen brannte. Während des Starts hielt sie sich aufrecht
und blinzelte so gut sie konnte die Träne n zurück (die irische
Dame würde sicherlich versuchen, sie zu bemuttern), dann hob
sie ihre Auge n lange genug, um die Stewardeß auf sich aufmer k
sam zu machen und zwei Fläschchen eines markenlosen Sekts zu
bestellen – das war alles, was Pan Am anzubieten ha tte. Sie be
gann zu trinken, die Ledermappe zu ihren Füßen, falls sie die
Tabletten gegen Übelkeit brauchen sollte. Das Flugzeug übe r
kreiste die Stadt in einem weiten Bogen. Sie drehte sich in ihrem
Sitz um und preßte ihre Nase gegen das Fenster, reckte sic h, um
das Chrysler-Gebäude sehen zu können. Da war es, seine silberne
Turmspitze glänzte unter ihr, und der schöne She l nur fünf
Häuserblocks weiter.
Das Schauspiel verblaßte, während das Flugzeug Richtung
Norden Kurs auf Boston nahm, war aber durch den Tr änen
schleier und die endlich einsetzende Wirkung der letzten Tuinol
hindurch immer noch zu sehen. Es half nichts, sie mußte sich ein
Kleenex von der irischen Dame ausborgen. Während sie sich die
Augen trocknete, drehte sie sich noch einmal auf einen letzte n
Blick zum Fenster um, gerade noch rechtzeitig, um ein riesiges
weißes Aufblitzen am Himmel mitzubekommen, so kurz, daß sie
nicht sicher war, ob sie es wirklich gesehen hatte, und so ble n
dend, daß sie einen Augenblick lang dachte, es hätte sie blind
gemacht. Dann eine unvorstellbare Explosion. Das Flugzeug
bebte von ihrem Widerhall. Die Passagiere drängten sich auf
ihrer Seite der Kabine, um eine gigantische Feuersäule anz u
schauen, die zum Himmel hochschlug.
Die Lage hatte sich selbst erledigt. New York br annte. Das
Chrysler-Gebäude war in zwei Hälften zersplittert, die wie fant a
stische Eistüten schmolzen, während fünf Häuserblocks weiter
die beklagenswerten Überreste von Sheldon Laskys Körper in
einer Wolke von giftigen Schwefeldämpfen auf das Inferno der
Fifth Avenue prasselten.
Amaryllis hörte auf zu weinen. Einen Augenblick lang starrte
sie vor sich hin, bemerkte nicht, daß die irische Dame in Oh n
macht ge fallen war, und auch nicht die Schreie und Schluchzer
der anderen Passagiere und die entstellten Ansa gen des Flugkapi
täns, der bei gestörter Tonübertragung versuchte, sie wissen zu
lassen, daß das Flugzeug, wenn möglich, seinen ursprünglichen
Kurs halten würde. Natürlich würde er sie über jede neue En t
wicklung auf dem laufenden halten. Und bitte, bitte ke ine Panik.
Es war Stille in der Bordsprechanlage, dann kam etwas über
Gander.
Amaryllis goß sich den Rest Sekt ein, den Arm auf das Plasti k
tablett gestützt, um ihre Hand zu beherrschen. Während sie den
Becher in der einen Hand hielt, langte sie mit der and eren nach
der Ledermappe und zog sie sich auf den Schoß. Langsam nahm
sie die Flaschen heraus, die ihre Tabletten enthielten – es mußten
Dutzende sein –, und reihte sie auf dem Tablett auf.
›Die Zeit ist vorbei, Amaryllis. Die Zeit ist vorbei, Sheldon. Die
Zeit ist vorbei, New York.‹
Die Leute drängten sich noch immer vor den Fenstern und
zeigten auf den flammenden Horizont in der Ferne. Unbeachtete
Ansagen kamen wiederholt über die Bordsprechanlage. Stewa r
dessen versuchten vergeblich, hysterischen Passagie ren beizuste
hen. Es war solch ein Höllenlärm, daß niemand auf Amaryllis
achtete, die geschützt in ihrem Fenstersitz saß, nicht ohne
Schwierigkeiten die Sicherheitsverschlüsse aufschraubte, aber
ohne wie gewöhnlich zu fluchen oder sich die Nägel abzubr e
chen, die Tabletten in verschiedenen Farben eine nach der and e
ren aus ihren Behältern nahm und mit kleinen Schlückchen
Champagner langsam und systematisch herunterschluckte.
ELULA PERRIN
So als sei tags zuvor nichts geschehen, als sei ihr Himmel von
keinem Wölkchen getrübt worden, bestiegen sie die Rikschas und
ließen sich vor dem Pont Doumer absetzen. Von dort aus gingen
sie in Richtung Krankenhaus Lanessan langsam den Deich en t
lang, der jetzt den halbgezähmten Roten Fluß eindämmte, bli e
ben zuweilen stehen, um zuzusehen, wie die Kulis ihre dickb au
chigen, mit Bergen von Wassermelonen gefüllten Dschunken
entluden, indem sie sich, eine Reihe bildend, diese großen grünen
Kugeln zuwarfen, um sie dann an Land pyramidenförmig zu
stapeln. Hin und wieder griff einer beim Fangen daneben, worauf
die längliche Frucht zu Boden fiel, platzte und der untergehenden
Sonne ihr blutendes Fleisch darbot.
Weiter entfernt, auf anderen kleinen Schiffen, bereiteten die
Frauen über einem kleinen Holzkohlenfeuer am Heck des Sa m
pans das Abendessen zu. Der Geruch von Rauch und der Duft
von Nuocmam-Reis drang bis zu den beiden jungen Frauen, die
regungslos am Rande der Böschung standen, an der splitternac k
te kleine Kinder herumtobten.
»Wie schön das ist!« murmelte Françoise.
Sie ha tte sich zur Brücke umgewandt, deren Eisenbögen sich
gegen den flammenden Himmel abhoben.
Ein lauer Wind hatte sich erhoben, ein sanftes Lüftchen. De n
noch fröstelte sie.
»Ist Ihnen kalt?«
Anna wandte sich ihr zu.
»Nein. Mir geht es gut.«
Sie setzten ihren Weg fort. Wie selbstverständlich fanden sich
ihre Hände, und Anna schlenkerte die Arme genauso wie die
jungen Eingeborenenmädchen, wenn sie Spazierengehen und
sich dabei an der Hand fassen.
Wenn ihnen zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Damen des
Roten Kreuze s oder anderer wohltätiger Einrichtungen den
Deich entgegengekommen wären – eine höchst unwahrscheinl i
che Annahme, da es nur ein paar einsame Villen in dieser öden
Gegend gab –, wären diese Damen höchst erstaunt und zwe i
felsohne sprachlos gewesen, die so hübsche, aber doch so junge
Madame Laujac Spazierengehen zu sehen, übermütig lachend
und Hand in Hand mit einem gewiß entzückenden Mädchen,
aber eben einer Mestizin.
Wenn sie sich von nun an tra fen, gaben sie sich nicht mehr die
Hand; sie küßten sich. Das war zwar nur eine flüchtige Berü h
rung, aber auch wenn sich keine der beiden erinnerte, wer damit
angefangen hatte, wußten sie, daß ihnen dieses Ritual jetzt etwas
bedeutete.
Ebenfalls von jetzt an und nach einigen zunächst vorsichtigen,
dann verärgerten Einwänden, auf die seine Frau unverhältnism ä
ßig heftig reagiert hatte, fand sich Bernard Laujac damit ab, daß
Anna Hong sie für seinen Geschmack ein wenig zu häufig ›in die
Stadt‹ begleitete und bei jedem Essen erschien, zu dem die La u
jacs bei sich zu Hause einluden.
Nicht, daß ihm das junge Mädchen unangenehm gewesen wäre;
Anna war hübsch, freundlich, nicht mehr so zurückhaltend,
lachte über die Scherze, die er sich gelegentlich erlaubte. Kurzum,
ein charmanter Gast. Was ihn verstimmte, waren die erstaunten
Blicke, die er hin und wieder bei seinen Gästen oder Gastgebern
entdeckte. In der gesellschaftlichen Oberschicht von Hanoi, der
die Laujac aufgrund Bernards Stellung angehörten, begann man,
über dieses seltsame Trio zu klatschen. Ein paar Kollegen waren
sogar so weit gegangen, zarte Anspielungen auf diesen ›verdamm
ten Schlaumeier Laujac‹ zu machen, der es verstanden hatte, das
Beste aus seinem nicht gerade berauschenden Leben in der Ko
lonie zu machen: neben der hinreißendsten Gattin eine bildhü b
sche Mestiz in als Mätresse, und das Erstaunlichste – die beiden
Frauen schienen sich prächtig zu verstehen.
Wenn es nur so gewesen wär e… Sobald er den leisesten Ve r
such machte, mit ihr zu flirten, lächelte ihn die kleine Hong zwar
liebenswürdig an, aber ihre dunklen Augen wurden abgrundtief
schwarz, eisig, geradezu beängstigend. Nun, Verfü hren war ja
auch nicht seine Stärke. Er wunderte sich noch immer, wie er es
geschafft hatte, seine Frau so schnell herumzukriege n… Welch
mitfühlender Liebesgott hatte ihn an der Hand genommen und
geleitet?
Selbst wenn es ihn nach anderen Frauen gelüstete, nach and e
rem Fleisch, anderen, heißblütigeren, für die Sinnenlust empfäng
licheren Körpern, ließen ihn, den noch immer von seiner Erob e
rung freudig Überraschten, seine Liebe und der Stolz, den er
angesichts einer derart charmanten, derart wirkungsvollen Eh e
frau empfand, sich mit seinem nicht unbedingt vollständigen
Glück zufriedengeben und nicht mehr verlangen.
Hotel Ahla
Die Fliege war vom Fenstersims, auf dem Gael die Hälfte einer
Wassermelone hatte liegenlassen, an de r weißgekachelten Wand
entlang zu dem weißen Eisenbettgestell gekrabbelt. Sie war nur
einmal stehengeblieben und hatte mit den zwei vorderen Bei n
chen über den Kopf und die Fühler gewischt. Wenn sie die
schrägen Lichtstreifen der Jalousien durchquerte, schi mmerte das
runde, schuppige Hinterteil metallisch -blau. Die Fliege machte
nicht das geringste Geräusch, und trotzdem war Gael sicher, daß
das kleine Tier sie aus ihrem erschöpften, ohnmächtigen Schlaf in
die We lt zurückgeholt hatte. Die Stille um sie herum schien
vollkommen, nicht einmal der Ventilator an der Decke bewegte
sich.
Als sie sich gestern abend auf das Bett geworfen hatte, zu er
schöpft, um frische Laken zu verlangen, rotierten die schwarzen
Schaufelblätter des Ventilators noch mit müder Gleichmäß igkeit.
Gael erinnerte sich jetzt, während sie die Fliege beobachtete, daß
das eintönige Brummen des Ventilators ihr wie eine tröstliche
Nachricht aus der Zivilisation erschienen war, eine Botschaft aus
der Welt, zu der sie gehörte. Sie dachte an Stromkabel, Überland
leitungen, an das heimelige Licht, das der Lampenschirm über
dem Eßtisch ihres Elternhauses verbreitete, dachte in diesem
Zustand von Erschöpfung und Erleichterung plötzlich voller
Dankbarkeit, daß jemand so etwas wie einen Kühlschrank erfu n
den hatte, der, wenn man ihn öffnete, eine frische, kühle Luft
ausströmte, dachte an Erdbeeren in kleinen, blauen Schalen, mit
einer Folie überzogen, die sich so fort mit einem Film winziger
Tröpfchen bedeckte wenn man sie herausnahm, an eine eiskalte
Sodaflasche, an der das Kondenswasser herunterlief. Natürlich
gab es an diesem gottverlassenen Ort keinen Kühlschrank, aber
immerhin einen durch Generationen betriebenen Ventilator, der
sie mit allem, was sie sonst in ihrem Zimmer entdeckte, versöhnt
hatte. Das Bettlaken, dessen Schmutzflecken intime Geschichten
anderer Reisender preisgab, die sie lieber nicht gewußt hätte,
zerdrückte Mücken, die dunkle Blutstropfen auf den weißen
Kalkwänden hinterlassen hatten, der windschiefe Schrank, dessen
hellblau lackierte Tür nur noch an der unteren Ampel hing, die
verbogenen Drahtbügel, die Zigarettenkippen in dem Topf mit
der knisterndtrockenen Palme, die zerschlissenen, hellgrauen
Mousselinegardinen, die verbogenen Lamellen der Jalousien, die
weder das gleißende Sonnenlicht noch die Hitze aus dem Raum
fernhalten konnten, der schmierige Steinfußboden, auf dem die
nackten Fußsohlen klebten und auf dem jeder Schritt ein
schmatzendes Geräusch machte. Alles das war erbärmlich, ab
stoßend, und dennoch hatte der Ventilator, der auf ihrem erhitz
ten, sandverklebten Körper die Illusion von Frische und Kühle
verströmte, sie mit allem versöhnt.
Jetzt war die dicke blaue Stubenfliege nur noch wenige Zent i
meter von ihrem Bett entfernt, und der Ventilator stand still.
Ganz plötzlich änderte die Fliege ihre Richtung und steuerte nun
nicht mehr auf das Kopfende des Bettes zu, sondern auf Gaels
Hand, die sie, um Kühle zu suchen, gegen die kalkweiße Wand
gepreßt hatte. Gael fragte sich, welcher Instinkt ihr die Ric h
tungsänderung vorgeschrieben ha tte. Es war ihr vollkommen
logisch erschienen, daß die Fliege zu ihrem Kopf wollte, direkt zu
ihren Augen, zu dem dünnen Sekret, das die Schleimhäute un
entwegt absonderten, um die Staub - und Sandkörnchen der
langen Wüstenreise herauszuschwemmen. Gael hatte auf ihrer
Fahrt unzählige Männer, Frauen und Kinder gesehen, deren
Augen umschwirrt waren von Fliegen, und es hatte sie gleichze i
tig angezogen und abgestoßen, die instinktive Gier, mit der die
kleinen Schmarotzer sich auf dieses empfindliche Sinnesorgan
der Menschen stürzten.
Die Fliege hatte jetzt die Spitze ihres Mittelfingers erreicht, der
Nagel zeigte noch schwache Spuren des Perlmuttlackes, den sie
am Vorabend ihrer Reise durch die Sahara aufgetragen hatte, ein
bleiches, muschelfarbenes Ros é, das sie für diesen Anlaß als
passend empfunden hatte, dezent und irgendwie klassisch. Vie l
leicht hatte sie in jenem Augenblick noch angenommen, daß die
Durchquerung der Wüste mit dem Auto einem Landausflug
vergleichbar wäre, ähnlich dem heiteren Picknick französis cher
Kolonialbeamter unter schattigen Palmen, das man von vergil b
ten alten Fotos kannte.
Als sie morgens in den für die Reise sorgfältig ausgerüsteten
Landrover gestiegen war, hatten ihre Haare noch jenen bleichen,
seidigen Glanz gehabt, der arabische Frauen überall in Verzücken
versetzt und dessen mystischer Anziehung die Männer nie wide r
stehen können. Immer hatten sie, die ansonsten gern ihre Ve r
achtung westlichen, unverschleierten Frauen gegenüber zeigten,
irgendeinen Vorwand gefunden, um verstohlen dies e feinen,
europäischen Haare zu berühren, und Gael hatte, weil es sie
amüsierte, so getan, als bemerkte sie es nicht. Sie hatte sich oh
nehin ohne allzu große Skrupel den Ritualen unterworfen, wie sie
von einer arabischen Männergesellschaft für die Frauen aufge
stellt worden waren. Sie war mit niedergeschlagenen Augen in
den Palästen der Scheichs herumgegangen, nicht anders als deren
Lieblingsfrauen, hatte schamhaft die Formen ihres Körpers
verhüllt, auch wenn sie nicht verhindern konnte, daß jeder
Schritt, jede Bewegung zeigte, wieviel schlanker und kra ftvoller
ihr Körper war, als der ihrer arabischen Gastgeberinnen. Sie
hatte, wenn sie sich auf den Seidenpolstern zum Essen niederließ,
ihre nackten, sorgfältig manikürten Füße unter den langen Br o
katstoffen ihrer Kleider verborgen, und sich nur selten den kle i
nen Spaß erlaubt, die silbernen Glöckchen ihrer Fußketten kli n
geln zu lassen, immer in einem Augenblick, in dem der Gastgeber
zu einer Rede anheben wollte, und zu ihrer Genugtuung hatten
die Männer jedes Mal den Faden ihrer Rede verloren. Sie ve r
stummten, schauten zu ihr hin, wandten den Blick wieder ab und
fühlten sich irritiert.
Es war ein Spiel gewesen, ein Spiel, das sie von den arabischen
Frauen abgeschaut hatte, ein Spiel, bei dem sie gelernt hatte, mit
den Augen mehr zu sagen, als die Frauen in Europa. Sie hatte
gelernt, den klebrigen Zimthonig, der aus den Täubchenpasteten
herauslief, so aufzulecken, daß die Männer, die ihr gegenüber
Platz genommen hatten, mit kaum unterdrückter Begierde jede
Bewegung ihrer Zungenspitze verfolgten. Sie hatte gelernt, sich
die kleinen Fleischbällchen mit der rechten Hand so zwischen die
Lippen zu schieben, daß es den Männern, die ihr gegenüber
saßen, wie ein e obszöne Handlung erschien. O ja, sie hatte viel
gelernt, und es hatte sie sehr amüsiert. Aber das war es ja nicht,
was sie wollte.
Dennoch war es ein schönes aufregendes Spiel gewesen in den
Häusern, die sie als Gast bewohnen durfte, in der salzigen Nähe
des Mitte lmeeres oder in den heißen, troc kenen Wüstenzonen
am Rande des Atlasgebirges. Dort in den schattigen Innenhöfen,
angefüllt mit dem heiteren Plätschern von Springbrunnen, dem
murmelnden Geplapper der Wasserläufe, die über die blau
goldenen Mosaiktreppen abwärtsrollten, war die Luft immer kühl
und frisch gew esen, wie kaltes Soda. Morgens hatte man ihr auf
einem feinsilbernen Tablett heißen, süßen Pfefferminztee ge
reicht, zusammen mit einem kleinen Strauß gebundener Jasmi n-
knospen. Sie hatte in den Hammams zusammen mit den arab i
schen Frauen die erregende Sinnli chkeit von Waschungen, Ma s
sagen und Henna -Bemalungen erlebt, hatte später, auf kühlen
Lederkissen lehnend, süßes Mandelgebäck gegessen und dem
Flötenspieler gelauscht, der aus sieben Tönen das Lieblingslied
des Sidi Ben Faoud so spielte, das kein Ende und keinen Anfang
hatte und wie der Seufzer eines sehnsüchtigen Herzens klang. In
all den ungezählten Räumen und Höfen des Hauses von Sidi Ben
Faoud hatte es nicht ein einziges Insekt von der Gemeinheit und
Scheußlichkeit dieser schimmernden Stubenfliege gegeb en, die
jetzt über ihren Handrücken kroch, zwischen Zeige - und Mitte l
finger verharrte und mit ihrem Rüssel die feine Haut zwischen
den Fingern absuchte nach Schweiß und Sand oder den letzten
Tropfen des Saftes, der Gael abends durch die Finger geronnen
war, als sie gierig, die Melonenhälfte in beiden Händen haltend,
in das rosa Fleisch gebissen hatte. Der Saft war an ihrem Kinn
herunter auf ihre Brüste getropft, zwischen den Fingern hindurch
auf den Steinboden, aber es hatte sie nicht bekümmert, die Kerne
hatte sie in eine kleine Keramikschüssel gespuckt und sich da
nach etwas von dem abgestandenen Wasser aus der Thermosfl a
sche über die Hände und das Gesicht laufen lassen.
Wie die Propeller eines Hubschraubers rotierten plötzlich die
Flügel der Fliege, sie kr eiste über Gaels nacktem Bauch, als
betrachtete sie ihr Beuterevier von oben, aus einer überschaub a
ren Perspektive, und ließ sich dann direkt oberhalb des Bauchn a
bels wieder nieder, genau dort, wo der Schweiß einen flachen See
bildete.
Die Fliege bewegte sich durch die salzige Flüssigkeit, und diese
leichte, fast zärtliche Berührung ließ Gaels Hautoberfläche wie
unter einem kühlen Luftzug erschauern. Während sie mit ge
schlossenen Augen den Weg auf ihrer Haut verfolgte, dachte
Gael, daß sie sich nicht erinne rte, ob sie den Wirt nach einer
Dusche gefragt hatte. Sie war zu erschöpft gewesen, zu dankbar,
endlich das Hotel gefunden zu haben, nach der einsamen, vie r
zehn Stunden dauernden Fahrt durch den letzten Wüstena b
schnitt. Sie konnte sich jedoch erinnern, daß der Wirt fünfzig
Dinar für das Zimmer verlangt hatte, eine geradezu aberwitzige
Summe für diese Absteige. Aber ihre Müdigkeit war zu groß
gewesen, um mit dem Wirt zu feilschen. Wahrscheinlich hatte sie
sich durch diese Schwäche um jeglichen Respekt gebrac ht, hatte
sich als jemand ausgewiesen, der von arabischen Gewohnheiten
nichts wußte, denn natürlich war dieses Zimmer keinen Centime
mehr als zehn Dinar wert, und natürlich hatte der Wirt diesen
schamlos überhöhten Preis nur gefordert, weil er annahm, daß sie
höchstens ein Zehntel zahlen würde. Und inzwischen wußte
jeder in dieser kleinen Oase Qued Ksar Khalil, daß eine Weiße
angekommen war, die eine lächerliche Figur machte, jemand, den
man nicht ernst nehme n mußte. Sicherlich war sie heute das
Gesprächsthema bei den Dattelpflückern im Palmenhain, bei den
Frauen, die sich zum Wasserholen am Brunnen trafen, bei den
alten Männern, die vor dem Café Tatouine ihre Wasserpfeife
rauchten. So oft kommt es nicht vor, daß ein Fremder sich nach
Qued Ksar Khalil verirr t. Einmal pro Woche nur hält hier der
Linienbus, der von Bord Mechehed kommt, aber es steigen
immer nur Leute aus und ein, die hier wohnen oder hier Ge
schäfte machen wollen. Der Soldatenkonvoi auf dem Weg zur
Wachablösung an der Grenzstation machte hier im mer seltener
Station, um Wasservorräte und Benzinkanister aufzufüllen oder
sich mit frischen Datteln und Ziegenkäse zu versorgen. Für ein
paar Stunden sitzen dann die Soldaten in ihren verstaubten Un i
formen im schattigen, von Fliegen summenden kahlen Raum des
Café Tatouine, rühren den Blechlöffel in der winzigen Tasse und
machen ein paar tapfere Scherze, um sich Mut zu machen für die
endlosen Monate, die sie an der Grenzstation würden verbringen
müssen, ohne eine Frau, nur mit den Titelseiten billiger Illus trier
ten, die sie sich in der Hauptstadt besorgt haben.
Gael war in die Oase gekommen, kurz bevor das letzte rote
Abendlicht ganz von der schwarzen Nacht verschluckt worden
war, aber sie wußte, daß die Staubwolke, die ihr Jeep während der
Fahrt aufwirbel te, schon lange von den Dattelhainen der Oase
beobachtet worden war, sie wußte, daß all die vermummten
Männer in ihren hel lblauen Djellabahs, die zu dieser Stunde auf
den wackeligen Stü hlen vor dem Café saßen, nur ihretwegen
noch nicht zu ihren Frauen zurü ckgegangen waren. Vielleicht
hofften sie, ein Verwandter würde kommen und Neuigkeiten und
Klatsch aus der Stadt mitbringen, oder ein Händler, der ihnen
endlich ein paar Teppiche und Decken abkaufen würde, die die
Frauen und Mädchen in den langen einsamen Tagen gefertigt
hatten. Der Dattelhändler wurde nicht vor Ende des Monats
erwartet, und der Mann, der ihren Ziegenkäse aufkaufte, lag im
Krankenhaus mit einem zerquetschten Arm, den ihm ein tollw ü
tiges Kamel (wie man sagte) mit den Kiefern zermalmt hatte.
Gaels Jeep war an der Grenze von den Soldaten notdürftig re
pariert worden, das Kupplungsseil bestand aus einem rostigen
Stück Maschendraht, das jeden Augenblick wieder reißen konnte,
deshalb fuhr sie sanft durch die Schlaglöcher und wechselte auf
der Straße nicht ein einziges Mal den Gang, sie mußte im Fahren
die letzten Reste ihrer Wasserration trinken, im Fahren von den
trockenen Keksen abbeißen, das Kopftuch zum Schutz vor dem
Wüstensand immer wieder zurechtzupfen und die Ärmel ihres
Hemdes ganz weit über die Hände streifen, die unter den be i
ßenden Sonnenstrahlen glühten als stünde sie unter Strom. Als
sie vor dem Café hielt, waren einige Männer, vor allem jüngere,
aufgestanden, um sich dem Auto zu nähern, um zu helfen, wie
sie es gewohnt waren. Meist reic hte einer dem Fahrer eine Tasse
Minztee oder eine Schale Wasser hinauf, noch bevor der Motor
abgestellt war, denn hier in der Wüste kann man ohne die Si
cherheit der Gastfreundschaft nicht überleben.
Als die Männer erkannten, daß sie eine Frau war, wichen sie
zurück, schürzten ihre Djellabahs und ließen sich langsam, aber
doch irgendwie alle gleichzeitig wieder auf ihren Stühlen nieder.
»Salam«, sagte Gael. Ihr Mund war von der trockenen Hitze
spröde und aufgerissen, das eine Wort brannte wie Feuer in ihrer
Mundhöhle.
»Assalama«, murmelten die Männer zwischen zusammeng e
preßten Lippen. Die schwarzen Augen musterten sie aufmer k
sam, verfolgten jede ihrer Bewegungen, als warteten sie darauf,
daß sie einen unentschuldbaren Fehler machte, daß irgend etwas
geschah, was ihnen das Recht gab, sich zu entrüsten. Aber Gael
machte, obwohl sie zu Tode erschöpft und durstig war, keinen
Fehler. Sie betrat das Café nicht, sondern fragte auf arabisch
einen der sehr alten Männer, dessen Augen verschleiert waren
vom Grauen Star, ob man ihr wohl eine Tasse Tee herausbringen
könne. Der Alte nickte und rief einem Jüngere n etwas zu, und
Gael stand und wartete neben ihrem staubverkrusteten Jeep und
blickte an all den Männern vorbei auf die Wüste, aus der sie
gekommen war. Zwei dünne, schlanke Palmen reckten sich vor
dem tiefen Himmel, auf dem die ersten Sterne aufblitzten.
Man brachte ihr den Tee, und sie fragte nach dem Hotel Ah la.
Es wurde ihr geantwortet, das Hotel sei am Ende der Straße, und
sie ließ ihren Jeep da stehen, vor dem Ca fé, weil sie Angst hatte,
ihn noch einmal in Gang zu setzen. Dann hob sie ihren Koffer
heraus und ging, gefolgt von den Blicken der Männer, die wie
eine Schar hellblauer Krähen nebeneinander vor der ockerfarb e
nen Wand des Cafés saßen, die Straße hinunter, an dem Brunnen
vorbei, an niedrigen, weißgekachelten Lehmhäusern, deren Türen
alle verriegelt waren. Ein zäher magerer Hund auf drei Beinen
rannte vor ihr her, drehte sich immer wieder nach ihr um, als
wolle er ihr de n Weg zeigen, einmal leuchteten ihr aus einer
Fensterhöhle die großen, runden Augen in einem Kindergesicht
entgegen: automatisch lächelte Gael, aber da verschwand das
Gesicht. Zwei Frauen, tief verhüllt in ihre mannigfachen Schleier,
hasteten an ihr vorbei, blieben aber gleich stehen und schaut en
ihr nach, Gael fühlte es, weil sie die Schritte der Frauen nicht
mehr hören und nicht mehr den Luftzug spüren konnte, der von
dem Wehen ihrer Schleier ausging. Sie ging weiter mit dem leic h
ten Kof fer, in dem nur ihre Aufzeichnungen waren und etwas
frische Wäsche, ein weiteres Paar Sandalen und natürlich das
Geld und ihre Papiere, die während ihrer Fahrt hundertmal
vorgezeigt und geprüft worden waren, an jeder Grenzstation, von
jedem Polizisten, der ihrer ansichtig wurde. Die Männer hier
lieben die Macht, die von den Papieren ausgeht, und sie lieben
den schwerfälligen Apparat der Bürokratie, Stempel, Unterschri f
ten, Zahlen, Fingerabdr ücke. Gael hatte das alles über sich erg e
hen lassen, denn man hatte sie vorher gut informiert.
Die Fliege kroch vom Bauchnab el abwärts auf ihre Schamhaare
zu, verfing sich in den ersten krausen Locken, zitterte und ließ
die Flügel rotieren, Gael hob den Kopf ein wenig, um ihr besser
zuschauen zu können, beinahe war es ihr, als warte sie auf Hilfe,
aber je mehr sie zappelte, des to tiefer verstrickte sie sich, und
Gael begann, das leichte Zupfen und Zerren an den Härchen als
angenehm zu empfinden. Vielleicht war es auch nur die Schade n
freude zu sehen, wie jemand sich selbst in dem tückischen Netz
des Fremden verfing. Vielleicht wa r sie auch einfach zu er
schöpft, um etwas zu tun. Ganz plötzlich hörte sie von unten aus
dem Haus ein Rumoren, so als werde ein Aggregat angewor fen,
und auf einmal begann über ihr an der Decke das Summen, und
schwerfällig setzten sich die Flügel des Ventil ators in Bewegung.
Gael wurde aus der Trägheit aufgeschreckt, sie beugte sich vor
und zog die Fliege an einem Flügel, der sofort abriß, aus dem
Gestrüpp ihrer Härchen, die Fliege taumelte zu Boden, Gael
machte, als sie aufstand einen großen Schritt über si e hinweg und
ging zum Fenster.
Die Streifen des strahlenden Lichtes zeichneten ein geometr i
sches Bild auf ihren nackten Körper. Gael zog die Plastiklamellen
der Jalousien auseinander und schaute hinaus. Das Dorf wirkte
verlassen und leer, schattenlos unter einer erbarmungslosen
Sonne. Ein Kamel schrie in der Ferne, und von unten aus dem
Haus kamen Geräusche der Unruhe und Geschäftigkeit. Ge
schirrklappern, das Rauschen von Wasser, Stimmen. Männe r
stimmen, scharf, dann ein Frauenlachen. Dann wieder, etwas
sanfter, die Stimme eines Mannes. Dann das Klatschen der Ba
bouche, der Pantoffeln, auf dem Steinfußboden, und als Gael
sich umdrehte, stand ein Mann in der Tür, er hielt eine große,
hellblaue Schüssel in der Hand, aus der es dampfte, und er sagte:
»Salam.«
Gael schwieg. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Das Bett war
zwei Meter entfernt, sie hätte ein Laken nehmen können und sich
darin einwickeln, aber das würde fünf Schritte vor seinen Augen
bedeuten, fünf Schritte, bei denen er ihren Körper noch deutl i
cher betrachten konnte als jetzt, wenn sie stehenbliebe, reglos wie
ein Stein, wie eine Statue.
Sie wußte nicht, ob dieser junge Mann schon jemals eine nackte
Frau gesehen hatte, in diesem Land zeigen ja nicht einmal Mütter
sich ihren Söhnen nackt, nicht einmal Schwestern, niemand
außer der eigenen Frau in der Nacht der Hochzeit.
»Das Wasser«, sagte der Mann, »Sie haben gestern abend wa r
mes Wasser bestellt. Ich bringe es. Es ist zwölf Uhr Mittag. Ich
dachte, Sie warten vielleicht auf das Wasser.«
»Ja«, sagte Gae l, »gut. Schukran.« Schukran heißt danke, es fiel
ihr im letzten Augenblick wieder ein. Zwölf Uhr Mittag. Sie hatte
also mehr als vierzehn Stunden geschlafen!
»Ich stelle das Wasser hier ab«, sagte der Mann, der sich bückte
und die Schüssel genau auf die Türschwelle stellte.
»Ja«, sagte Gael, »Schukran.«
Der Mann beugte sich tief, sehr tief und verschwand. Seine
Babouchen machten auf den Steinplatten nicht das geringste
Geräusch.
Unten wieder das Lachen einer Frau, eine leise männliche
Stimme. Dann Musik. Arabische Schlager, plärrend aus einem
Radio, das mit schwacher Batterie lief. Kaffeeduft drang zu ihr
herauf. Gael war endlich fähig, sich zu bewegen. Sie nahm die
Schüssel, trat mit dem Fuß die Tür zu und trug die Schüssel zum
Bett. Als sie ging, spürte sie etwas unter ihrer rechten Fußsohle,
aber erst als es zu spät war, merkte sie, daß sie auf die Fliege
getreten war. Sie zerrte eines der Laken vom Bett, tauchte es in
das Wasser und begann, ihren Körper zu waschen. Das heiße
Wasser war trotz der Hitze an genehm. Mit einem anderen Laken
trocknete sie sich ab. Es gab keinen Spiegel in dem Zimmer, sie
hätte sich gerne betrachtet, ganz bleich war ihr Körper, weil er
während der tagelangen Fahrt vor der Sonne geschützt war, sie
hätte gern ihr Gesicht gesehen, ihre Augen, ob jetzt ein anderer
Glanz in ihnen war, ob sich etwas anderes in ihnen spiegelte als
früher, vor ihrem Aufbruch. Aber es gab keinen Spiegel. Sie
suchte in dem Koffer nach ihrem Kamm, aber die Haare waren
so widerborstig, daß es schmerzte. Gael wickelte sich in ein
Laken und öffnete die Tür.
»Holâ!« rief sie. »Me lechrab, schukran.« Me lechrab bedeutete
kostbares Trinkwasser, das Wort für Wasser fiel ihr nicht ein. Es
dauerte nur einen Augenblick, dann war ein junges Mädchen da,
unverschleiert, vielleicht zehn Jahre alt, das balancierte eine
schöne Schüssel mit gemalten Rosen in der Hand und lächelte.
»Salam«, sagte das Mädchen, »ich bin Laila.«
»Assalam«, erwiderte Gael. Sie wartete, bis das Mädchen die
Schüssel abgesetzt hatte. Dann zeigte sie auf ihre Haare und sagte
in holprigem Arabisch, »ich muß meine Haare waschen, ich bin
durch die Wüste gefahren. Mein Haar ist voller Sand.«
Laila lächelte, verschwand, kam zurück mit einem Stück Seife,
an dem Gael riechen sollte, es war Sandelholzseife. Lai la holte
einen Stuhl und bedeutete Gael, sich zu setzen. Dann stellte sie
die Schüssel auf einen zweiten Stuhl. Gael beugte sich über die
Waschschüssel, und das Mädchen begann, ihre Haare zu wa
schen.
Geschickt ließ Laila das klare lauwarme Wasser über Gael s
Kopf rieseln, massierte in sanften runden Bewegungen die Kop f
haut und verstärkte leicht den Druck an den schmerzenden
Schläfen. Laila schien zu spüren, an welchen Stellen Gael die
Massage als besonders lindernd und wohltuend empfand. Sie
lachte dann leise und glucksend, und Gael spürte das Lachen, das
im Bauch des Mädchens begann, wenn Laila ihren Körper leicht
gegen Gaels Rücken preßte.
Etwas von der Sandelholzlauge lief in Gaels Augen. Laila be
merkte es sofort und bog Gaels Kopf zurück, um mit dem Zip fel
des Leinentuchs zärtlich und behutsam die Augen zu trocknen.
Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke und Laila senkte ihre
langen dichten Wimpern schüchtern und mit anmutiger Besche i
denheit etwas weiter über die Augen. Gael hoffte, dieses Ritual
des Haarewaschens würde nie zu Ende gehen, immer könnte sie
Lailas Hände an ihren Schläfen, in ihrem Nacken, am Haaransatz
spüren, immer diesen leichten sich verstärkenden Druck von
Lailas kindlichem Mädchenkörper gegen ihren gebeugten Rü k
ken. Gael beugte sich wi e ein Opferlamm über die Waschschü s
sel, und Becher für Becher rann das klare Wasser über ihre Haare
und spülte die letzten duftenden Sandelholzreste fort, bis Lai la
ihre beiden weichen Handflächen an Gaels Hals legte und sagte:
»Fertig.«
Laila reichte ihr das Leinentuch, und Gael wickelte es wie einen
Turban um den Kopf. Das Mädchen lächelte und schaute zur
Seite.
»Schukran«, sagte Gael leise, beinahe zärtlich. »Schukran.« Sie
berührte mit den Fingerspitzen den Scheitel des Mädchens.
Später würde sie Laila ein paar Dinar geben, später zum Ab
schied.
Der Kamm ließ sich jetzt leicht durch die Haare führen, sie
fühlten sich weich und seidig an. Das Mädchen lächelte und
verschwand. Gael stand unter dem Ventilator. Hob die Haare
vom Nacken auf und ließ die Luft hi ndurchfächeln. Aus der
Melone auf dem Fenstersims tropfte langsam der Saft. Sie bog
den Kopf in den Nacken und genoß die fächelnde Luft mit
geschlossenen Augen.
»Ich hätte nicht gedacht, daß du es schaffst«, sagte eine Stimme
in ihrem Ohr. Warmer Lufthauch streifte ihre Ohrmuschel wie
ein Kitzeln. »Bei Allah, was seid Ihr nur für Frauen.«
Gael öffnete nicht die Augen. Nur ihre Nase kräuselte sich ein
wenig. »Das darf nicht wahr sein«, flüsterte sie, »daß du schon
hier bist. Wir haben das nicht so ausgemacht . Du hast die Spie l
regeln verletzt.«
Jetzt erst öffnete sie die Augen. Machmout sah aus wie ein
wohlhabender Weltreisender, den es durch ein Mißgeschick an
einen schäbigen verlassenen Ort verschlagen hat. Er trug einen
hellen Leinenanzug, leicht zerknitter t, der dadurch aber um so
weltmännischer wirkte. Die Hände hatte er in den Taschen der
weiten Hosen vergraben, wahrscheinlich, dachte sie, will er der
Versuchung widerstehen, mich sofort zu berühren. Wahrschei n
lich will er so etwas wie Anstand wahren. Aber seine Blicke
tasteten ihren Körper ab, verweilten an manchen Stellen lange,
fast zu lange, und kehrten rasch zu ihren Augen zurück, um
Verzeihung bittend, irrten wieder weiter.
»Warum bist du gekommen?« fragte Gael. »Hast du gedacht, ich
schaffe es nicht? Hast du gedacht, eine europäische Frau kann
eine arabische Wüste nicht durchqueren? Hast du das gedacht?«
Er schaute sie nur an.
»Die Tür schließen«, sagte Gael sanft, »aber von außen. Und
dann anklopfen. Und vielleicht sage ich dann herein.«
Er schaute sie an. Schluckte, senkte den Kopf. Dann wandte er
sich ab. Er schlenderte, mit den Hosenbeinen schlackernd, zur
Tür. Gael meinte einen Augenblick, in einem Film zu sein. Nur
der Hut fehlte, ein weißer Borsalino, den er in diesem Augenblick
in den Nacken ge schoben hätte, um dann so, mit zurückgebog e
nen Schultern, aus dem Raum zu gehen, während sie immer noch
dastand, unter dem rotierenden Ventilator, mit dem Scha ttenbild
der Jalousien, das ihren Körper in Streifen zerteilte. Und draußen
die Hitze. Das Kniste rn der Palmwedel, die sich aneinanderri e
ben. Und von unten das Lachen des jungen Mädchens. Und
dieser Generator, der wie ein Dieselmotor brummte.
Gael wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, dann nahm sie
das Handtuch und wickelte es sich wie eine Kikuy u-Frau um den
Körper, so daß ihre weißen Schultern nackt blieben und auch
ihre Beine, und sie rief: »Herein.«
Er kam, schloß die Tür, er lächelte traurig. »Ich habe mir ge
dacht, daß ich dich nicht wieder so sehen würde wie eben. Du
hast gemerkt, daß ich mi r beinah die Augen verbrannt habe?
Aber dieses Brennen ist ein Schmerz, der auf dem Weg zu me i
nem Herzen immer süßer wurde.«
Gael hob langsam einen Arm und fuhr ihm durch die schwa r
zen, krausen Haare. »Du bist ein komischer kleiner Poet«, sagte
sie zärtlich. »Schade, daß du erst heute lebst. Früher hätten reiche
Haremsfrauen dich fürstlich für solche Sätze bezahlt. Aber dieses
ist ein anderes Leben, und ich bin eine andere Frau. Ich habe die
Wüste durchquert, wie ich es dir gesagt habe, ganz alleine. Wenn
du vor einer Stunde gekommen wärst, hättest du noch den Staub
auf meiner Haut gefühlt und den Sand in meinen Haaren. Ich
hatte die Wüste noch an mir wie ein Kleid, Machmout. Vielleicht
hätte es dir gefallen.«
»Ich sehe die Wüste immer noch in deinen Augen«, sagte
Machmout. »Und das gefällt mir auch.«
»Dann habe ich jetzt Augen wie Lawrence of Arabia, nicht ?
Siegreich und triumphierend. Sehe ich siegreich und triumphi e
rend aus?«
Er blickte sie an. Seine Augen waren schwarz wie Kohle. Das
Weiße wirkte gelblich , und seine Wimpern waren von einem
bläulichen Schwarz. »Ja«, sagte er zaghaft, »ja, ich glaube.«
Er wich ihrem Blick aus. »Es ist schwerer als ich gedacht habe,
sich neben dir als Mann zu fühlen. Mit arabischen Mädchen ist
das leichter. Arabische Mädchen haben einen anderen Blick.«
»Ich bin allein durch die Wüste gefahren, Machmout. Mein A u
to ist kaputtgegangen. Die Soldaten haben es mir repariert. Ich
habe meinen Stolz noch, weißt du. Meine Würde. Ich wollte dir
zeigen, daß ich ebenso viel wert bin wie ei n Mann. Ich wollte
ebenso viel von dir verlangen können wie du von den Frauen
verlangst.«
Machmout schwieg.
Gael ging zum Fenster und öffnete es. Die glühende Wüste n
hitze strömte ins Zimmer, wurde vom Ventilator mit dem Sa n
delholzduft ihrer Haare, dem Geru ch ihrer Haut vermischt. Sie
bewegte langsam ihre bloßen Füße auf dem nackten Steinboden.
Machmout verfolgten jeden ihrer Schritte. Draußen schrie ein
Junge, der ein Kamel vor sich hertrieb, und unten im Haus lachte
das Mädchen, das vielleicht einmal im Fr isiersalon der Haup t
stadt einer Diplomatenfrau die Haare waschen würde.
Gael liebte die Berührun g seiner Augen auf ihrer Haut. Sie
drehte sich langsam unter dem Ventilator und dehnte sich, wie
eine Katze sich unter dem Streicheln ihrer Herrin dehnt.
»Möchtest du lieber erst frühstücken?« fragte Machmout, seine
Stimme war rauh. Er räusperte sich wiederholt. »Bist du nicht
sehr hungrig? Du siehst so mager aus. Deine Schultern, mager
wie bei einem kleinen Mädchen. Wann hast du zuletzt etwas
gegessen?«
»Ich kan n mic h nicht erinnern. Irgendwann gestern habe ich
Datteln gegessen und trockene salzige Kekse, von denen ich
Durst bekam. Aber meine Thermosflasche war leer. Mein Mund
hat gebrannt. Ich dachte, die Lippen platzen mir. Aber sie sind
nicht geplatzt, oder?« Sie trat ganz nahe an ihn heran, und er war
ihrem weichen großen Mund so nah, daß seine Lider vor Aufr e
gung zuckten. Er kräuselte seine Lippen, er lächelte, verlegen,
während er auf ihren Mund starrte. »Nein«, sagte er, »sie sehen
wunderbar weich aus, deine Lippen.«
»Kann sein«, sagte Gael, während sie mit ihrer Nase sein Ge
sicht kitzelte, »kann sein, daß ich auf süße Tortillas Lust hätte, auf
Feigenmarmelade, Rühreier und heißen, schwarzen Kaffee.« Sie
legte ihre weißen schlanken Arme um seinen Hals, und e r beugte
sich vor, um erst ihre Lippen zu küssen und dann über ihren
Hals zu streifen. Er küßte ihre Achselhöhlen mit seinen trock e
nen, nervösen Lippen, und die weichen Haare seines Bärtchens
streichelten ihre Haut.
Seine Hände schoben sich nur langsam aus den Hosentaschen,
und als er sie zuerst berührte, fühlte sie nur seine Fingerkuppen
auf den Hüften, einen leichten Druck, dem sie nachgab, sofort,
weil sie auf diesen Druck gewartet hatte. Sie beugte den Obe r
körper zurück und seine Lippen streiften ihre Brüste.
Gael starrte an die Zimmerdecke. Die Fliege fiel ihr plötzlich
wieder ein, die unausweichlich angezogen worden war, vom
Geruch ihres Schweißes, ihrer Haut, magisch angezogen vom
Unglück, das unweigerlich dem Augenblick der Begierde folgen
würde, abe r ohne Instinkt für die Gefahr, die Verstrickungen,
ohne Angst, flügellos auf den Boden zu stürzen, wo man zertr e
ten wird.
Machmout legte seine Hand zwischen ihre Schenkel. Er hatte
angenehm trockene Hände, die herrlich kühl waren. Am Anfang
fand Gael all diese Berührungen immer angenehm.
Am Anfang schaute sie gerne zu, wenn eine Männerhand über
ihren Körper wanderte, Männerlippen ihre Haut liebkosten, am
Anfang war es immer eine Lust, diese Liebe zwischen Mann und
Frau.
JAYNE ANNE PHILLIPS
Unzucht
Auch wenn ich kein Geld habe, muß ich mir schließlich verschaf
fen, was ich zum Leben brauche. O ja, ich weiß genau, welchen
von meinen Liebhabern ich anrufen muß, wenn mich die Polizei
dabei ertappt, wie ich gerade ein paar Pornofotos an den Mann
bringe; wen n mir die Ladendetektive die Handgelenke rumdr e
hen und mir die geklauten Strümpfe aus dem Ärmel ziehen. Und
die Metzger hauen mir ins Kreuz, bis die eingewickelten Haxen
unten rausfallen; das Papier reißt, und die weißen Knochen mit
dem durchwachsenen Flei sch kommen zum Vo rschein, und sie
schubsen mich hart gegen die Wand. Sie beschimpfen mich, und
ich rufe meine Liebhaber an. Ich werde bald 15, meine Liebhaber
werden immer älter. Ich weiß genau, wer von ihnen mir freud e
strahlend entgegenkommen wird, für di e Kaution aufkommt und
mich mit nach Hause nimmt in sein Bett und mich mit Whiskey
aufwärmt. Ich kann den ganzen Tag lang dableiben; ich kann
genausogut gleich wieder abhauen, sobald die Tür des großen
Autos aufgeht. Selbst im Davonlaufen höre ich noch, wi e sie
amüsiert hinter mir herlachen.
Ich treibe mich mit meinen Bildern in der Nähe der Schule he r
um. Die kleinen Jungen paffen Zigaretten, sind weibisch wie
Schwuchteln, aber sie lassen den Starken raushängen. Ihre Ca
mels sind krumm und zerknittert, wenn sie sie aus der Hosent a
sche ziehen, am Ende schon ein bißchen abgelutscht. Ich sehe es
richtig vor mir, dieses feuchte Mundstück, rosa verschmiert,
abgefärbt vom zarten Rosa ihres Schmollmunds. Ich sehe die
harten Nippel unter ihren T-Shirts; ihr Brustkast en ist schmal
und fest. Die Umrisse des flachen Bauches und ihr kleiner Penis,
irgendwo in der kurzen Unterhose versteckt. Um den lächelnden
Mund sprießt schon der erste Flaum, zeigen sich die ersten list i
gen Fältchen. Aber keine Akne; ich mache mich an si e heran,
bevor sie Pickel kriegen, nehm’ sie mir vor, wenn sie das erste
Mal diesen entrückten Blick in die Augen kriegen, ihre Augen
unruhig hin und her gehen. Ich zeige ihnen, was ich zu bieten
habe. Zu fünft oder sechst stehen sie um mich herum, klimper n
mit ihren Münzen, wippen unruhig auf den Ballen ihrer Tur n
schuhe. Ich weiß, in der Grundschule haben sie einen Basketbal l
trainer, ein ehemaliger Jockey, der sich mit seinem Bierbauch und
‘nem Ständer in der Trainingshose in den Umkleideräumen
rumdrückt, und sowas haut mich völlig aus den Socken. Sie
kommen näher. Ich beobachte die verkrampften Zehen in ihren
Turnschuhen. Jetzt arbeite ich nur mit den Augen. Schaue hoch
und suche mir den aus, der mir paßt. Ich sage ihm, daß er das
Geld einsammeln soll und verabrede in der Pause einen Treff mit
ihm im Park auf der anderen Straßenseite; im hohen Rohr eines
Abzugskanals oder in einer weichen Graskuhle, in einem verla s
senen Auto unter der Brücke oder sonst an einem schattigen
Plätzchen. Kommt vor, daß ich ihnen auch ein paar Pillen zeige.
Oder eins von den Bildern; eine schlampige Rothaarige mit einer
Blondine, das Mädchen liegt wie ein Eunuch auf den weißen
Knien. Die Rothaarige hat prachtvolle Beine, man sieht ihre
straff gespannten Muskeln, und es kommt ihr im Stehen. Ich
erzähle ihnen davon. Schon mal einer von euch im Stehen ge
kommen? Ich frage sie, und ihre Blicke gehen vom einen zum
anderen. Ich weiß, sie haben es schon in dunklen Schlafzimmern
unter der Decke gemacht. Das klatschende Geräusch und dieser
trockene Drang. Aber sie kapieren nicht, wieso ihre kleinen
Schwänze plötzlich ganz steif sind, wenn sie morgens aufwachen,
ahnen nicht, was da noch alles auf sie zukommt.
Dann warte ich also mittags auf sie. Ich rauche nicht, finde ich
abscheulich. Ich lut sche einen glatten Kieselstein, warte. Auf
einem Tankstellenklo habe ich mir die Zähne geputzt. Ich beiße
mir mit den Zähnen auf den Lippen ru m, sauge daran, damit sie
geschmeidig und weich sind. Reibe mir einen Tupfer Öl auf den
Hals und einen zwischen di e Hände. Ambergris oder Moschus
zwischen meine Brüste, dann unten auf die verborgene Stelle
unter meinem Nabel, wo die haarige Spur zu sprießen beginnt.
Vielleicht bürste ich mir auch das Haar. Ich lasse sie dabei zu
schauen; öffne die Puderdose und fahre mir langsam mit der
Zunge über die Lippen. Von meiner Zunge sehen sie nur vorn
die weiche Spitze; ich tu so, als sei das nichts für sie.
Meist kommt nur einer von ihnen, der, den ich mir ausgesucht
habe, und sein Freund wartet irgendwo in einem Versteck, vo n
wo er uns belauert.
Ich sehe es ihnen an, ob sie alleine kommen oder nicht.
Manchmal sind sie high, sind auf irgendwas drauf; das ist mir
gleich. Ich empfange sie in einem alten Autowrack irgendwo in
einem Hinterhof, habe eine Decke über den Sitz gebreit et, oder
statt des Rücksitzes liegt eine alte Matratze drin. Im Fond sind
die Fenster mit Papiersäcken verhängt, mit gesprenkeltem Lehm
zugeschmiert, und das Sonnenlicht wirft breite Muster durch die
dreckverkrusteten Scheiben, durch das braune Packpapier.
Er ist nervös. Hält mir in der ausgestreckten Hand das Geld
hin. Oder er tut ein bißchen unwirsch, knufft mich mit seiner
kindlichen Faust. Vielleicht kommt ein hübscher Blondschopf
an, mit einem süßen Hals, dessen Schlüsselbeine sic h hervorwöl
ben wie ein Flügelpaar; oder ein Sommersprossiger, dem das
aschfarbene Haar über die Augen fällt. Oder ein dunkler Junge
mit dicken Augenwimpern und kurzgestutztem, wolligem Haar,
vollen rosigen Lippen, die auf dem düsteren Rücksitz noch ein
bißchen voller werden. Ic h gebe ihm einen Schluck Whiskey,
krame in den Fotos, tue so, als würde ich sie ordnen. Nehme
auch einen Schluck, scherze mit ihm. Diesen Teil mag ich am
liebsten; er lehnt sich im Sitz zurück, die Augen blicken schläfrig
drein. Ich streichle über seine fe sten Schenkel, seine Brust ; ich
will, daß er sich wohl fühlt.
Ich lege die Bilder neben uns hin, manche von ihnen sind nicht
mal postkartengroß. Wir stecken die Köpfe zusammen, um sie
miteinander zu betrachten. Ein blondes Girl, ein schwarzes Girl;
sie sch auen sich immer gern die Fotos an. Die eine lehnt sich
zurück, ihre weiße Mähne fällt herunter, während die andere sich
über sie beugt, sie an der Taille festhält, ihren Mund auf eine der
Brüste drückt; sie ist so klein, daß man bloß den abstehenden
Nippel sieht. Auf dem Bild kann jeder sehen, daß sie den Nippel
zwischen ihren Lippen rein und raus flutschen läßt. Eine schwa r
ze Hand berührt fast das bleiche Schamhaar, der Zeigefinger
leicht gekrümmt, beinahe zärtlich tastet er sich vor zum Spalt,
von dem kau m was zu sehen ist unter der vorgereckten Hüfte.
Ich mag keine Bilder von rasierten Girls; sie kriegen es mit der
Angst, wenn sie zuviel auf einmal sehen. Dann kommen sie nicht
mehr.
Ich zeige ihnen Dinge, die sie nie zuvor gesehen haben. Ich
könnte mich von ihnen anfassen lassen, doch nein. Ich lege
ihnen die Hände und Füße zurecht, und schön so liegenbleiben,
ja? Manchmal erzählen sie mir Geschichten, ständig erzählen sie
mir von ihren Baseballspielen und den wilden Kämpfen mit ihren
Freunden. Die Lippen weich und schmollend, in den Augen ein
harter, gläserner Glanz. Sie verschlucken die Worte und nuscheln
wie Babys, ich halte sie im Arm, halte sie fest, singe die ältesten
Songs. Manchmal werden ihre Gesichter in meinem Blickfeld
immer kleiner und kleiner. Ich konzentriere mich auf ihren Hals,
auf die Schultern. Lockere ihnen die Kleider, massiere ihnen die
Kopfhaut, kneife sie fest am Ansatz des Nackens. Zum Beispiel
dieser spanische Typ mit dem dunklen Haar, seine Augenlider
beginnen zu flattern, und ich ziehe ihn herüber zwischen meine
Beine, knöpfe ihm das Hemd auf. Schiebe ihm die Hose runter
bis auf die Knie, und man sieht seine dünnen Beine, den glatten
Schwanz, und unser Atem geht heiser und stoßweise, es klingt
wie Musik. Er ist unfähig, die Beine zu bewegen, kriegt aber
einen Steifen in meinem Schoß, liegt auf mir drauf, die Handfl ä
chen nach außen gekehrt. Im nächsten Moment wird er die
Augen verdrehen, und ihm kommt’s, und ganz sanft werde ich
ihm meine schlüpfrigen nassen Finger zwischen die Lippe n
schieben. Dann ziehe ich mein Hemd aus, massiere mir mit den
glibberigen Fingern meine Brüste, bis die Warzen sich hart au f
richten, mit schaumigen Schlieren außenrum. Ich drücke seinen
Mund darauf. Lasse meine Hand hinuntergleiten zu der geheimen
engen Stelle zwischen seinen Arschbacken. Manchmal treibt es
ihnen die Tränen in die Augen.
Von meinen Pflegeeltern bekam ich immer Puppen geschenkt,
und ich spielte Kirche. Anfangs wartete ich immer, bis alle außer
Haus waren; später war es mir dann völlig schnu ppe, ob mir
dabei jemand zuschaute. Ich reihte die ganzen Puppen auf der
Couch auf, setzte sie in Reih und Glied hin. Es waren häßliche
Dinger dabei, die meisten hatten nicht mal Kleider an, oder sie
hatten die Arme nach hinten gebogen. Die Puppen stammten
vom Müll, aus der Weihnachtssammlung der Heilsarmee, vom
Trödelmarkt. Eine von ihnen hatte im Feuer gelegen. Eine der
Plastikhände war völlig weggeschmolzen, es war nur noch ein
aufgequollener, von lauter kleinen Lu ftbläschen durchsetzter
Stumpf zu sehen; das heiße, tröpfelnde Plastik war auf dem Arm
zu kleinen Knoten erstarrt. Wir saßen alle zur Stirnseite des
Raumes hin. Stundenlang saßen wir so, ohne uns zu rühren, als
ob wir jemandem zuhörten, beim Predigen im Auge behielten.
Onkel Wumpy schenkte mir eine Puppe. Sie nennen ihn so. Er
hatte ein blatternarbiges Gesicht, ein Paar riesige Ohren und
graues, weiches Fleisch. Sein Gesicht ist übersät mit lauter winz i
gen Narben, die Haut ist gerötet , wir haben auf dem Jahrmarkt
gewonnen, Cowboyhüte, einen Gummi revolver, einen Plüsc h
leoparden mit grünen Glitzeraugen für Kitty. Wir machten uns
gerade auf den Nachhauseweg, um Kitty von der Arbeit abzuh o
len, liefen zwischen den Ständen und Attraktionen hindurch, das
Sägemehl am Boden war ganz klebrig von all dem süß en Kram
und dem verschütteten Bier. Da kamen wir an der Schießbude
mit den Enten vorbei. Wumpy war so besoffen, daß ich ihm
helfen mußte, als er das Gewehr anlegte, und wir schossen sie ab,
eine nach der anderen. Kleine gelbe Enten mit toten Augen und
aufgesteckten Schwanzfedern; sie glitten vorbei, waren an einer
Schnur festgehakt. Wir trafen, und mit einem knackenden Ge
räusch kippten sie nach hinten, als bräche etwas mittendurch.
Wir landeten zwölf Treffer; die ganze Bande klappte wieder
hoch, zog wieder nacheinander an uns vorüber, die Augen so tot
wie zuvor. Und wir hielten drauf, sch ossen und sch ossen… bis
der Ausrufer hinter seiner Theke hervorkam, in der Hand die
dicke Zigarre mit dem langen Aschekegel. Er hielt sie zwischen
zwei Fingern, wie etwas Schmutziges, das er dennoch zu schätzen
wußte. Dann zog er daran und nahm uns prompt das Gewehr
weg. Die Menge hinter uns murrte. Er knallte mir die Puppe vor
den Bauch. Sie war fast einen Meter groß, hatte Perlenohrringe,
hochhackige Schuhe aus Lackleder. Trug ein langes weißes Kleid
und einen Schleier, der mit einem durchsichtigen Plastikvogel
festgesteckt war. Ich machte den Vogel ab, hielt ihn an Wu mpys
Feuerzeug. Sein Hals schmolz und krümmte sich, der flache
Kopf sackte auf die Flügel. Den Vogel hatte ich immer an einem
Platz liegen, wo ihn keiner sehen konnte. Schließlich buddelte ich
ein Loch und begrub ihn, an einer Stelle, bei der ich mir sicher
war, daß ich sie vergessen würde.
Wie ich Wu mpy traf? Ich war zwölf und wohnte bei Minnie. Sie
nahm mich mit in den Schnel limbiß, wo ich immer mit dem
Lappen die Resopaltische abw ischen mußte. Ich bückte mich,
rubbelte das hartgewordene Ketchup von den Aluminiumbeinen.
Neben dem Grill lagen die Tiefkühlfritten zum Auftauen, sie
waren schlaff und glitschig wi e ein Fisch. Sie warf sie in das
siedende, rußgeschwärzte Fett; es zischte und brodelte, und als
sie rauskamen, waren sie glänzend und knusprig. Sie war vierzig
und hatte ein altes, verkniffenes Rattengesicht. Trug eine Brille
mit dicken Gläsern und auf de m Kopf ein rotes Taschentuch;
drehte gern das Radio laut, wenn die Gospelshows kamen. Eine
ihrer Hände war ganz verkrümmt. Sie hatte Arthritis, Rheuma,
Hühneraugen, und wenn sie zu Hause in die Dusche lief, sah ich
ihre wunden Füße mit den knotigen Zehen. In ihren langen
Bademantel gehüllt, vornübe rgebeugt, den Blick starr auf die
Badezimmertür gerichtet, huschte sie vorbei, die Arme um die
Taille geschlungen und schlug die Tür hinter sich zu.
Nach der Schule ging ich zum Schnellimbiß, wo ich ihr bis si e
ben beim Abräumen der Tische half. Leise fluchte sie über die
Bergarbeiter. Gab mir einen Klaps auf den Hintern, wenn ich
nicht schnell genug war, oder packte mich mit dieser harten
Hand mit den arthritischen Knöcheln am Arsch, zwickte hinein.
Abends kam Wumpy immer auf einen Kaffee herein. Er arbe i
tete bei der Straßenmeisterei, stutzte das Gebüsch und Gestrüpp
an den Straßenrändern. Beobachtete Minnie und mich. Dann
kam immer Kitty mit ihm rein. Hatte eine Zellophantüte voll
White Crosses dabei, billiges Spee d. Sie bestellte sich ein Pepsi,
schluckte ein paar von ihren Pillen, zerdrückte sich auf der
Tischplatte noch einige zu Pulver. Sie zwinkerte mit den Augen,
schenkte mir Haarschleifen, sagte, sie würde mich gerne mitne h
men ins Kino. Wumpy sagte zu Minnie, ich hätte mal ein paar
neue Kleider nötig, er und Kitty würden mit mir nach Pittsburgh
fahren und mir ein paar Kleider kaufen. Sie gaben ihr dreißig
Dollar.
Im Motel stand ich im Badezimmer und kotzte. In der Kl o
schüssel schwammen die rausgewürgten Sopors, Klümpchen von
weißem, unaufgelöstem Pulver in einer Lach e aus klarem
Schleim. Mir kam es immer wieder von neuem hoch, es ging so
einfach, daß ich fast lachen mußte. Dann kamen sie nackt herein
und zogen mir die Kleider aus. Ich konnte nicht mehr auf den
Füßen stehen; sie trugen mich ins Bett. Wumpy machte sich von
hinten an sie ran und fickte sie, sie sagte immerzu diese Worte,
aber ich konnte einfach nicht mehr die Augen aufhalten. Sie zog
mich rüber, sagte zu mir Honey, Honey. Ich hing in einer dun k
len Kuhle und wippte immerzu auf und ab. Seine großen Arme
hielten mich umschlungen, bis er mich dann hochhob. Hob mich
an den Hüften hoch, und ich spürte ihren Mund an meinen
Beinen, hatte das Gefühl, als würde ich immer größer werden.
Die Decke begann sich zu drehen, wie die Lichter in den düst e
ren Fluren des Kinderheims, wenn ich mitten in der Nacht au f
wachte. Dann ein Flash, ein Zucken der Muskeln, und ich rollte
mich zusammen, kuschelte mich in die Laken.
Ich stand am Fenster und befühlte die dünnen Vorhän ge. Ich
beobachtete die beiden, wie sie schliefen, rannte nicht davon. Ich
schaute auf Wumpys breiten Rücken, wie er sich hob und senkte.
Wumpy machte es nie mit mir; er gab mir Bilder, die ich an den
Mann brachte. Ich wollte ihm das Geld geben, doch er lachte
mich aus. Im Fleisch auf seinen Händen hatte er lauter winzige
Sterne. Er nahm mich mit in die Bars. Wir schleppten dann einen
Mann mit in irgendein Motel; Wumpy sagte immer, er müsse
aufpassen… stand neben dem Bett, während ich ein bißchen
japste und würgte, als hätte ich lauter kleine explodierende Sal z-
brocken im Hals.
Immer wieder kommt der Traum, der Traum ist immer noch
da. Natalie hat den Traum gemacht. Ich schlief mit ihr, als ich
acht Jahre alt war, sechs Monate lang schlie fen wir zusammen.
Nachts fing sie an zu wimmern, machte ins Bett. Wir waren beide
Mündel unter Amtsvormundschaft, und sie kriegten Geld für
uns. Das Schlafzimmer war kalt, sie schlang ihre schmächtigen
Ärmchen um mich. Fragte, ob sie mich anschauen dürfe. Doch
ich schlief ei n, wollte mir nicht mit ihr im Bett die Kleider au s
ziehen. Ich schlafe ein, und immer wieder kommt derselbe
Traum.
Natalie steht im Sand. Hinter ihr schwappt der Ozean über, die
Wellen haben schwarze Kämme. Natalie mit ihrem zerfetzten
Slip, den knubbelige n Knien, ihren wäßrigen, blauen Augen.
Natalie steht reglos da wie eine Statue, die Beine breit, hat die
Hand da unten. Ihre Finger am Fummeln, und ihr Gesicht weiß
wie Schnee. Sie kneift und zerrt so hart dran ru m, daß es blutet,
sie ruft um Hilfe, sie will zu mir. Überall um uns herum tanzende
Gesichter, große Gesichter, nichts als Lippen und Zähne, und sie
halten mich fest für Natalie. Natalie auf mir drauf, Natalie drückt
sich auf mich. Ihre wäßrigen Augen sind stumm.
Sie seufzt vor Wollust, und um uns herum kocht ihr heißer
Urin.
Ich weiß noch, wie Natalie mich immerzu anschaute. Die Leute
sind den ganzen Tag über weg, wir sind allein mit dem ruhigen
Baby. Einmal ist nichts zu essen da, nur eine Dose Salz. Eine
hellblaue Dose, der silberne Ausgießer spr ingt heraus. Vorndrauf
ist ein Mädchen mit schimmernder weißer Haut und Grübchen,
sie hat einen wehenden Pferdeschwanz und trägt einen Schirm in
der Hand. Ich kann es essen, Natalie. Ich kann es alles auf einmal
aufessen. Sie steht am Fenster und schaut hi naus in den Schnee.
Ich weiß, sie hat Angst. Ich setzte mich auf den Boden, direkt
vor ihre Füße. Die Dose ist rund wie ein Tomtom, ich kippe sie
um. Das Salz schießt in meinen Mund, er wird immer voller, aber
ich kann nicht aufhören, es hineinfließen zu lassen… ich bin am
Ersticken, aber Natalie weigert sich strikt, mic h anzuschauen, sie
schreit und schreit. Sie tritt nach mir mit ihren nackten, blauen
Füßen, die Dose fliegt quer durchs Zimmer, Fontänen von Salz
schießen heraus. Als es dunkel wird, glitzer t das Salz am Boden
in einem eigenartigen, kühlen Glanz. Natalie bleibt in ihrem
Sessel sitzen, rührt sich nicht von der Stelle, und ich muß alleine
schlafen gehen.
Im Kinderheim kriegte ich immer die protzigen, aufwendigen
Grußkarten; schätze, da steckte irgendein Witzbold dahinter. Der
lieben Tochter von ihrer Mutter zu Weihnachten, mit Girlanden aus
Goldpapier und samtigen Weihnachtssternen. Ich dachte, wo
möglich stecken die Pförtner dahinter oder die Jungens in der
High-School; ich stellte mir vor, wie sie mit verschmitzten Augen
den Umschlag zukleben, ihr Atem stinkt nach Bie r… irgendwie
drehten sie es, daß die Briefkarten aus Wichita oder Tucson
kamen. Die Behörden vermittelten mich von den einen Pflegee l
tern an die nächsten. Die Ferien über war ich im mer im Heim,
und sie erledigten unterdessen die nötigen Formalitäten, um mich
bei einer neuen Pflegefamilie unterzubringen. Dann war jedesmal
ein neuer da von diesen Jungen mit den käsigen Gesic htern und
den abgefressenen Fingernägeln, dem graubraunen Stru bbelkopf.
Die Karten kamen, und immer verkehrt. Als ich zehn wurde,
Dem Baby zum ersten Weihnachtsfest, – ein aufklappb ares Stecke n
pferd und eine Ma mmi mit blondem Haar und großen Augen.
Ich wurde sieben, und auf der Karte stand Der Debütantin in
silberner Prägeschrift; das Bild zeigte ein Mädchen mit Ner zstola
und Stöckelschuhen. Als ich die ersten paar Male von den Bullen
hopsgenommen wurde, empfahl der Psychiater, meine Post
einzubehalten. Sie sagten, wahrscheinlich käme ich in eine An
stalt.
Kleinkind, weiblich, Alter ca. 14 Monate, ausgesetzt im De
zember 1960, Diagnose: stumm. Aber als ich drei war, machte
ich Geräusche wie Lastwagen und Wespen, ich schrie und sang.
Sie denken, ich würde spinnen, zum Beispiel wegen dieser einen
Sache.
Nachts schließe ic h mich gern im Badezimmer ein. Stelle mich
vor den Spiegel, halte mir eine brennende Kerze unters Kinn.
Starre die Schatten auf meinem Gesicht an und sehe die weißen
Konturen eines Schädels. Ich lege mich vor den Toiletten auf die
kalten Bodenfliesen und mache es mir selbst. Ich besorge es mir,
liege auf dem Bauch dabei. Halte den Atem an und reite auf
meinen Fingerknöcheln, und mir ist schwarz vor den Augen, ich
spüre das leise Rauschen des Wassers in den Rohren im Fußb o
den. Galoppiere über diesen Hügel un d rolle in die Hitze, bis
mich ein durchdringendes Geräusch innehalten läßt. Wenn ich
mich umdrehe und die Augen aufschlage, ist die Decke höher als
sonst, hat die Farbe von Elfenbein, durch die Gitter fällt das
Licht der Straßenlaternen herein. Ich mach ’ mir’s bequem, mach’
es mir. Liege auf dem kalten Boden, den geometrischen Fliesen.
Meine Haut weiß wie Porzellan, ich bin so groß wie die alten
Waschbecken dort und die Toiletten, die leeren weißen Wannen.
Milchglas, Marmor, Stein, und es gluckst in den al ten Rohren.
Wenn mir diese weißen Blitze vor den Augen hin und her zu k
ken, lauf ich immer hierher. Ich beobachte sie. Ich weiß, das bi n
ich. Sie rennt von einer Toilette zur nächsten, zieht die Spülung,
rennt immer wieder von der einen zur anderen. Das Rau schen
des Wassers schwillt immer lauter an, dann das schrille Zischen,
wenn die Wasserkästen wieder vollaufen. Es gluckst und röhrt.
Ich liege am Boden und lausche. Ich lasse keinen herein.
Ich glaube, Natalie ist längst tot. Sie sagte, wenn sie zwölf wä re,
würde sie sterben. Aber nur dann. Im August saßen wir unter
den Bäumen und stemmten Steine. Sie vergrub ihre Füße im
Sand und sagte, sie wäre ein Stein. Ich konnte sie zwicken, bis
mir die Fingernägel blau anliefen, und wenn sie nicht dabei
schrie, mußte ich tun, was sie von mir verlangte. Sie wollte wi e
der ›Haus‹ spielen: ich bin ein Haus, ein riesengroßes Haus.
Krabbel zwischen meinen Beinen durch, das ist die Tür. Und sie
klettert auf meinen Rücken, legte mir ihre Hände ums Kinn, bog
meinen Kopf nach hinten, und ich sah ihr Gesicht über mir. Sie
streichelte meinen Hals, steckte mir ihre rosa Zunge ins Ohr und
zischelte. Schschsch. Zischelte noch mal. Schschschsch. Brum m
te, ganz tief kam es aus ihrem Bauch. Sie machte eine Männe r
stimme nach. Ich liebe dich. Du gehörst nur mir allein. Iß deinen
Teller leer. Und ich leckte ihr über die ganze Hand, leckte zw i
schen ihren Fingern auf und ab.
Einmal schlich die Alte hinter uns her. Wir waren in dem
Schuppen hinterm Haus. Natalie gefiel es in diesem Raum mit
seinen Werkzeugen und Krügen, den verrosteten Rechen, den
Holzstapeln und quiekenden Ratten. Sie zog sich aus, hängte ihre
Kleider an irgend welche Nägel an der Wand, so daß es aussah
wie ein Mädchen ohne Arme. Ihre Füße verschwanden in einem
großen Paar sc hwarzer Männer stiefel. Ganz weiß war sie und
ohne Haar, sie klapperte mit den metallenen Schnallen. Natalie
lachte und lachte. Wir hatten die stumpfen Hämmer in den
Händen, wir ließen sie mit voller Wucht herabsausen. Es gab
kleine, flache Dellen auf dem Boden, lauter kleine runde Kreise,
die sich in das alte Holz drückten, wie von unsichtbaren Münzen.
Natalie sagte, wir machen Geld. Immer mehr, auf den Wänden,
auf dem Boden. Natalie am Fenster, ich höre es splittern, die
Glassplitter liegen in glitzernden Häufchen auf ihren glänzenden
schwarzen Gummistiefeln.
Er öffnet die knarrende Tür. Was zum Teufel macht ihr hier.
Ich versteckte mich neben der Werkbank, hinter den Spinnw e
ben. Er schnallt seinen Gürtel auf, ich höre ein kurzes schwirre n
des Sirren, als der Gürtel aus den Schlaufen fährt. Er kriegt sie zu
fassen, wirft sie über die Werkbank. Natalie wird still, die großen
Stiefel fallen ihr von den Füßen. Ihre Fußsohlen sehen fast aus,
als hätten sie Gesichter aus Alabaster, sie baumeln vor meinem
Gesicht; ihre dünnen weißen Beine hängen herunter. Das kla t
schende Geräusch des Gürtels und das tiefe Atemholen zw i
schendurch. Du kleines Miststück. Er nimmt einen Penny und
wirft ihn, er verschwindet zwischen den Schatten im Staub. Sie
weiß es, sie weiß immer, woh in er rollt, sie findet ihn jedesmal.
Hände voll klimpernder Münzen. Natalie läuft umher mit ihrer
Gänsehaut, häuft vor seinen Schuhen ein Häufchen Kupferpe n-
nies auf. Er stößt sie runter auf die Knie, Natalie läßt ein unte r
drücktes Kichern hören. Ich sehe seinen Rücken, die breiten
Hüften, die grüne Arbeitshose. Nimm es in die Hand, sagt er.
Natalie sagt, sie kann nicht, ihre Hände seien giftig.
Ich bin so rein wie der treibende Schnee. Ich halte das Haus in
Ordnung, mache Suppe aus der Dose. Wu mpy trinkt sein Bier.
Die leeren Dosen drückt er immer zusammen, bis sie völlig
verbeult sind, und wirft sie in die Ecke. Ich möchte ihn anfassen,
ihn ganz fest drücken; dann macht er immer die Augen zu und
gibt mit seiner kratzigen Stimme diese Laute von sich. Wenn ich
mein Hemd ausziehe, haut er mir eine rein. Kitty hält mich im
Arm, o mein Baby. Sie will, daß ich tue, was sie will. Wumpy tut,
was sie sagt. Immer mehr will sie, was ich will. Wir bewegen uns
hin und her auf dem schwarzweiß karierten Boden.
Kitty ist auf Bewährung. Wir geben ihr viel Kaffee zu trinken
und helfen ihr auf die Beine. Jeden Samstag muß sie zu ihrem
Bewährungshelfer, mit ihm quatschen. Manchmal treibt sie was
auf, kommt mit einem Briefchen Heroin retour. Die Tage we r
den immer trüber, der Sch nee sinkt wie Federn herab, schneit
uns ein. Kitty ist im Tran, hockt auf dem Fensterbrett, rollt sich
in ihrem ausgebeulten roten Mantel zusammen wie eine Hase l
maus. Sie lehnt sich immer gern so weit hinaus, bis sie fast herun
terfällt. Und Wumpy, ich beob achte ihn durch das schiefe Loch
in der Badezimmertür, er ist am liebsten alleine dabei. Bindet den
Arm ab, pumpt, bis die Vene anschwillt. Er summt vor sich hin;
dann seufzt er auf. Aus den Wasserrohren, die sich durch die
Wände ziehen, kommt ein wäßriges Gähnen und Sirren. Es ist so
ruhig, daß ich das Klicken höre, wenn die Neonreklame draußen
umspringt und die blaue Schrift über den Boden wirft. Zimmer
frei, verkündet sie, Zimmer frei. Wenn ich jemand näher ko m
men sehe, kriege ich es mit der Angst: Wenn Natalie nicht tot
wäre, sie würde mich finden.
ANAÏS NIN
Linda
Hetäria
Was wäre unser Geist, o Herr, wenn er nicht das Brot der ird i
schen Dinge, den Wein der Schönheiten hätte, die für seinen
Rausch erschaffen wurden?… Der Pfad, den wir erkl ettern, um
uns zu erheben, besteht aus Materie.
R. P. PIERRE TEILHARD DE CHARDIN
Um ein Uhr nachts reichte man in Maligath eine Consommé
mit roten und grünen Pfefferschoten, Zitronensaft, Basilikum
und Minze, Tintenfisch -Suppe mit Lotusherzen und Kebala -
Früchten, Haifischflossen in Krabbenmilch, ganz junge, in feine
Scheiben geschnittene Sirenen, bei denen nichts mehr an die
obszöne Form und den wenig appetitlichen Anblick erinnerte,
die sie zu Lebzeiten hatten, mit Ingwer farcierte Hummersch e
ren, ferner in Kokosmilch eingelegtes Barracudafleisch, ge
schmort in 27 verschiedenen Gewürzen, die aus China, Indones i
en und Vietnam eingeschmuggelt worden waren, winzige Vögel,
bei denen man auch die langen, zarten Schnäbel, die knackenden
Krällchen und den sahnigen Schädel essen mußte, Kämme von
Perlhähnen und Hähnen, die mit Salbei und dem Extrakt der
Arakapalme garniert waren und wie Feuer auf der Zunge bran n
ten, sowie durchsichtige, irisierende, gallertartige Fäden, die wie
Glasnudeln aussahen, aber in Wirklichkeit die gifthaltigen Tent a
kel der Chrysaor-Meduse waren, die in ihrer Jugend männlich, als
ausgewachsene Qualle hermaphroditisch und im Alter weiblich
ist: Alle diese Speisen, die für ihren Reichtum an Proteinen und
Phosphorsäure berühmt sind, aber völlig neu tral schmecken,
servierte man – ohne es zu sagen – roh.
Junge Männer mit nackten Hinterbacken, nur mit einem Gürtel
bekleidet, an dem eine Art winziger Schurz aus Emailketten und
Eisenmaschen hing, der ihr Genital erkennen ließ, und Mädchen
mit knospenden Brüsten, den Schamhügel mit Jasmin - oder
Hibiskusblüten geschmückt, am Hals seidene Kordeln mit gol d
gefaßten Elfenbeinamuletten in Form von Phalli, so jung, daß
gewisse Gäste im Laufe des Festes Gelegenheit hatten, sie zu
deflorieren (denn man hatte nur Ju ngfrauen ausgesucht, die es
nach dieser Nacht nicht mehr sein sollten), huschten durch die
Säle und über die Terrassen, um diese Gerichte sowie entzweig e
schnittene Kürbisse anzubieten, auf denen man Schildkröteneier
in einer Brühe aus Schwalbennestern schw immen sah; sie reic h
ten ferner Krokodilfleisch mit Curry, Eichhörnchenleber, Ko
braklößchen, in Pollen und zerstoßenen Hirschgeweihen geso t
tene Pilze, in Austernöl sautierte Bambusschößlinge und Pal m
blättchen sowie kleine, mit Niello ausgelegte Schalen, der en
Deckel frisches Affenhirn verbargen.
Emmanuelle kostet von allem, nascht zum Dessert kandierte
Alraunwurzeln, glacierte Skarabäen und Nachtfalter, trinkt wa r
men Khouang -Tong-Schnaps, weißes Reisbier aus Khorat und
das Sonnenwasser des Südens, das wie ei n Peitschenhieb schmerzt.
Nach dem Mahl kann sie kaum noch sagen, ob sie schon einen
Tag, eine Stunde, ein Jahr oder ein ganzes Leben in Maligath ist.
Sie weiß nicht mehr, in welchem Teil des Palastes sie sich be
findet. Sie sitzt auf dem Boden, zwischen un bekannten Leuten,
die sich unterhalten, anlächeln, ausruhen, und bei denen sie sich
wohl fühlt. Ein großer brauner Mann, der auf dem hochflorigen
Teppich aus blauer Wolle liegt, stützt seinen Nacken auf Emma
nuelles Schenkel, ein anderer streichelt ihre Füß e. Ihr Herz singt
trunkene Barkarolen: süße Nacht, o Liebesnacht!
Einen Augenblick darauf kommt der Fürst zu ihr, um sie an
seinen Tisch zu führen, in einen anderen Raum. Er stellt sie vor:
Man umringt sie, Männer und Frauen bewundern sie, berühren
ihre Ha are, küssen ihre Lippen, umfassen ihr e Taille. Sie kann
kaum die Gesichter unterscheiden, so heiß ist ihr, und sie sagt es
ihrem Gastgeber, der sie an der Hand nimmt, den anderen Gä
sten entzieht, in einen Innenhof geleitet.
Die frische Luft beleb t sie. Kön nte sie ihr Kleid wieder anzi e
hen? Der Fürst willigt ein, ruft einen Diener, erteilt einen Befehl;
sie warten, und Emmanuelle fragt sich, ob der junge Mann ihre
schöne Tunika aus Jade finden wird: Es wäre schade, wenn sie
das Gewand verloren hätte. Aber da bringt er es schon, und auch
den Gürtel und die goldene Fibel, er hat nichts vergessen. Er sagt
ihr mit einer Geste, wo sie einen Spiegel findet, um die Falten zu
ordnen, duftende Essenzen, um ihre Haut zu erfrischen, eine
Bürste für ihr Haar. Sie dankt ihm, und er nimmt ihren Dank
entgegen, indem er die Hände vor dem Gesicht zusammenlegt
und den Kopf neigt.
»Kommen Sie mit mir«, sagt der Fürst anschließend. »Sie haben
meine Gärten noch nicht gesehen. Ein Spaziergang wird uns
guttun.«
›Wird er es nun auch mit mir machen?‹ fragt sie sich. Sie hat
sich noch nicht ganz von der Behandlung erholt, die der Se e
mann ihr zuteil werden ließ.
Sie folgt dem Herrn des Besitzes, vorbei an Wasserbecken und
Treibhäusern, und versucht sich vorzustellen, ob er sie auf einer
dieser fontänenfeuchten Rasenflächen oder auf einer rosafarb e
nen Sandsteinbank unter den Luftwurzeln der Banjan -Bäume
nehmen wird. Wird er dieses merkwürdige Damastgewand abl e
gen, in dem er aussieht wie eine Paraventfigur? In diesem Fall
würde er vielleicht ein wenig von seiner Erhabenheit einbüßen.
Zwei junge Mädchen, durch ihr Kommen aufgeschreckt, spri n
gen in einer Laube hoch und sind mit zwei Sätzen außer Sich t
weite. Ihre Sarongs haben sie zurückgelassen. Emmanuelle schaut
den samtenen Körpern nach.
»Ich weiß, daß Ihnen auch Frauen gefallen. Haben Sie heute
abend eine gefunden, die Ihnen zusagt?«
Sie will protestieren.
»Man scheint alles von mir zu wissen. Und ich bin doch erst seit
drei Wochen hie r… Interessiert sich denn die ganze Stadt nur
noch für mich?«
»Nicht die ganze Stadt, aber eine Stadt in der Stadt. Warum
sollte sie sich nicht für Sie begeistern? Sie hat lange auf Sie gewar
tet.«
»Warum? Wenn ich recht verstehe ähneln mir in dieser Stadt
alle Frauen…«
»›Man kann nur seine eigene Schwester lieben, seinen natürlichen oder
siamesischen Zwilling‹, hat ein bedeutender Mann einmal gesagt. Es
ist ganz natürlich, daß wir Sie lieben.«
»Und Anna Maria Serguine , ist sie nicht Ihre Schwester?« fragt
Emmanuelle, immer noch ungehalten.
Aber es ist nicht leicht, ihn aus der Ruhe zu bringen.
»Wer kann das sagen?« murmelt er. »Man braucht manchmal
ein ganzes Leben, um seinen Bruder zu erkennen. Dann und
wann sogar mehrere Leben.«
»Glauben Sie an eine Wiedergeburt?«
»Ich weiß nichts darüber. Ich weiß noch nicht ei nmal, ob man
sterben kann.«
»Ich will jedenfalls nicht sterben.«
»Dann werden Sie auch nicht sterben.«
Er läßt sie auf Marmorstufen Platz nehmen, die in ein
Schwimmbecken führen.
»Hören Sie dieses Gedicht von einem jungen chinesischen In
genieur unserer Zeit:
Der Berg ist mein Kopfkissen, Der Himmel ist mein Dach: Morgen werde
ich den Berg spalten, Aber der Himmel wird nicht einstürzen.«
Emmanuelles Kehle bleibt wie zugeschnürt.
»Ich weiß, was ich aus meinem Leben machen soll«, sagt sie.
»Aber was mache ich aus meinem Tod?«
Der Fürst betrachtet sie mitfühlend und antwortet:
»Du kennst das Leben nicht. Wie willst du den Tod kennen? Das hat
Konfuzius gesagt. Wozu quälen Sie sich?«
»Anna Maria hat mit mir über den Sinn des Lebens gesprochen.
Seitdem muß ich daran denken.«
»Denken Sie, woran Sie wollen«, erwiderte der Fürst, »aber Sie
dürfen keine Angst haben. Wenn Sie sich den Kopf zerbrechen,
weil Ihnen das Leben und der Sinn des Lebens geheimnisvoll
erscheinen, werden Sie letzten Endes doch nur Gott sehen. Und
dann werden Sie sich vor ihm fürchten. Was für ein Fortschritt!«
Emmanuelle muß lachen. Aber sie ist betrübt. Der Fürst mu n
tert sie auf:
»Ein Schriftsteller aus Ihrem Land, Georges Bataille, hat etwas
sehr Vernünftiges gesagt. ›Ich will mich nicht rühmen, aber der Tod
scheint mir die lächerlichste Sache auf der Welt zu sein.‹«
»Das finde ich nicht«, gesteht Emmanuelle.
Der Fürst lächelt. Sie seufzt:
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber seit zwei oder drei
Tagen lande ich immer wieder an diesem Punkt. Ich habe noch
nie soviel Liebe gemacht – und soviel vom Tod geredet! Das
paßt doch nicht zusammen.«
»Warum nicht? Im Gegenteil, nichts ist logischer: Was das Le
ben wertvoll macht, reizt zum Weiterleben.«
»Eben. Man müßte alles verlieren.«
»Wer kann das wiss en? Mario Serghini hat mir erzählt, daß Sie
die Mathematik lieben. Sie müßte Ihnen helfen, die Sache zu
verstehen. Die Berechnungen Ihrer Gelehrten zeigen doch, daß
sich die Materie verringert und zu verschwinden scheint, wenn
sie die Lichtgeschwindigkeit erreicht. Zugegeben, für unsere
Augen oder unsere Meßgeräte verschwindet sie, aber wer kann
sagen, daß sie tatsächlich nicht mehr existiert? Für diejenigen, die
uns vom anderen Ende des Kosmos beobachten, haben wir aus
denselben Gründen aufgehört zu existi eren. Wir sind im gleichen
Nichts der Geschwindigkeit untergegangen, in dem wir ihre rund
zehn Milliarden Lichtjahre von uns entfernten Galaxien versi n
ken zu sehen glaubten. Und wir werden uns nie wieder gegense i
tig sehen können. Getrennt durch eine verwir rende Konstante
der Natur, durch ein Zahlenrätsel, werden wir vielleicht in ve r
schiedenen Ordnungen, in Räumen ohne jede Verbindung zuei n
ander fortfahren zu leben.«
»Das stimmt«, sagt Emmanuelle, »ich weiß.«
»Dann wissen Sie auch, daß die Zeit nicht zur Hö lle führt. Die
Zukunft ist nicht der Tod der Gegenwart, sondern einfach ein
anderes Jenseits. Früher kannten wir nur die eine Seite des Mo n
des, aber das bedeutete nicht, daß die andere Seite der Tod war.
Vielleicht werden wir im Tod weiterbestehen, jedenfa lls in den
Augen anderer, auf andere Weise sichtbar…«
Emmanuelle war glücklich und hätte zugleich weinen mögen.
Zweifellos lag das Glück auch darin, Tränen auf dem strahlenden
Gesicht des Lebens zu spüren? Den Kopf nach hinten geworfen,
die schwarzen Haare auf den marmornen Stufen ausgebreitet, sah
sie, das Herz voller Hoffnung und Verzweiflung, zu jenen fer n
sten Sternen auf, die ständig an den Grenzen des Universums
erloschen, ihren sibyllischen Sturz begannen und alles mit sich
rissen, die Liebe, die sie ihnen beimaß, und den fantastischen
Traum, den sie träumte, den sie immer würde träumen müssen:
Sie träumte nämlich, sie würde sie eines Tages kennen, sie würde
lange genug leben, weit genug kommen, um ihre flammenden
Schultern und Leiber zu umarmen.
Ein Mann setzte sich zu ihnen. Dunkelrotes, sehr kurz ge
schnittenes Haar betonte seine Jugend. Emmanuelle fand ihn
interessant und nahm ihm die Störung nicht weiter übel.
»Michael«, sagte der Fürst. »Ihre Gesellschaft bekommt dieser
jungen Frau besser als meine. Unterhalten Sie sie!«
Sie widersprach: Sie wünsche sich nichts anderes, als mit dem
Fürsten zusammen zu sein, sie habe keinerlei Bedürfnis, ›unte r
halten‹ zu werden. Doch ihr Gastgeber nahm ihre Hand und
legte sie in die des jungen Mannes:
»Los«, sagte er. »Schwimmt mit meinen Schwänen.«
Das Wasser des Beckens wirkte im Licht der weißen Lotuskö p
fe und Mondreflexe sanft und einladend. Emmanuelle hielt einen
Fuß hinein und stellte fest, daß es lauwarm war. Sie wandte sich
dem Neuankömmling zu und blickte ihn fragend an. Er bejahte
mit einem Lächeln. Da entzog sie ihm die Hand, stand auf, en t
fernte sich einige Schritte und hob den Arm, um die goldene
Eule auf ihrer Schulter zu lösen.
Obgleich sie den größten Teil des Abends nackt gewesen war,
schien es ihr, al s ob diese Geste, mit der sie sich in diesem Park,
in dieser durchsichtigen Dunkelheit entkleiden wollte, mehr
herbeiführen würde als nur Nacktheit. Eine archaische Scham
lähmte ihre Finger. Dann gab ihr der Gedanke, daß ihre Begleiter
die Metamorphose erw arteten, daß sie ihnen die Verwandlung
zum Geschenk machen wollte, den Mut wieder. Das Entkleiden
hatte also einen Sinn, bildete einen erotischen Akt, mit seinem
spezifischen Protokoll, seinen spezifischen, feierliche Präliminari
en.
Sie legte zuerst den Gü rtel ab, und ihre Tunika füllte sich mit
Wind, glitt an ihrem Leib hinab, entblößte den gebeugten Rücken
mit der langen Furche, die ihn in zwei lange Schatten teilte. Der
Stoff blieb einen Augenblick an den Hüften hängen, wobei an
den Schenkeln und Knöcheln jener Faltenwurf entstand, mit dem
die Bildhauer so gern die Figur der Venus schmückten. Sie schien
tatsächlich einem antiken Traum zu entsteigen; glich so genau
dem Bild, das sich jahrhundertelang in den Herzen der Männer
gehalten hatte, daß die Wirklichkeit nur Unglauben einflößte.
Plötzlich streckten sich die Hände der Männer nicht mehr der
menschlichen Schönheit Emmanuelles entgegen, die vollkomm e
ner war als die göttlichen Rundungen, sondern der steinernen
Verlockung, die ihr für die flüchtigen Sekund en einer Fata Mo r
gana den Zauber ihrer ewigen Unwirklichkeit verliehen hatte.
Wer hätte den steinernen Brüsten der Aphrodit e von Knidos,
wären sie von Leben erfüllt gewesen, neben dem Busen Emm a
nuelles noch einen Blick geschenkt? Doch so unnachahmlich
dieser Frauenbusen selbst für den Künstler der Götter war, er
würde nie die unsagbare Liebe, die mythische Liebe kennen, von
der diejenigen verzehrt wurden, die die Göttin in den Tempeln
und Grotten, in denen sie ihr steinernes Bildnis gefangenhielten,
entweihten – und den zerschmetterten Torso befragen die Mä n
ner noch heute.
Ohne zu sprechen, sahen der Fürst und Michael das Traumbild
im Wasser zerfließen. Die gekräuselten Wellen machten es zu
nichte; es zerteilte sich, seine Fragmente hörten auf zu existieren.
Schließlich war es unwiederbringlich dahin, und nur die Wolke
der Haare blieb schwimmen, wie der dunkle Fleck an der Obe r
fläche des Meeres, der noch lange an die versunkene Triere mit
den Amphoren erinnert, an deren Wölbungen junge Mädchen
fromme Tänze tanzen und von fernen Inseln träumen.
Michael entkleidete sich und schwamm, inmitten der duftenden
Lotussterne und abfallenden Jasminblüten, die das Becken
schmückten, zu Emmanuelle. Sie ließen sich treiben, verfingen
sich manchmal in den Netzen langer Wasser pflanzen oder tauch
ten spielerisch unter den riesigen, flachen, schwimmenden Blä t
tern jener Seerosen hindurch, die angeblic h das Gewicht eines
Mannes tragen können. Der Fürst war gegangen. Sie preßten sich
aneinander. Emmanuelle spürte das Verlangen, die Rute zu
berühren, die, lang und hart wie eine Flöte, von der Lust des
Mannes kündete. Er versuchte, sie im Wasser zu lieben: linkisch,
weil ihre Körper keinen Halt fanden und weil er zu ungeduldig
und zu stark war; trotzdem gelang es ihm, in sie einzudringe n
und ihr Schreie der Wollust und des Schmerzes zu entlocken. Sie
bat um Gnade und wollte wieder ans Ufer. Dort liebkoste sie ihn
mit der Zunge und den Fingern, mit ihrem Bauch und ihren
Schenkeln, mit ihren Brüsten, die sie aneinander drückte, damit
der Penis fest dazwischen eingebettet war wie in der Scheide
einer Jungfrau. Sie brachte ihn endlich zum Erguß, und sein
dickflüssiger Samen quoll in langen Stößen hervor, so reichlich,
daß sie ihn kaum in ihren zusammengelegten Händen auffangen
konnte. Sie füh rte ihn an die Lippen, hielt ihn dann ihrem Lie b
haber hin:
»Möchtest du trinken?«
Lachend schüttelte er den Kopf, legte seine Wange aber an ihre,
um zuzusehen, wie sie trank, und die feuchten Haare E mmanuel
les bedeckten ihrer beider Schultern, ließen ihren Zwillingskörper
in einem einzigen Kopf enden.
Da sie fror, legte er sich anschließend der Länge nach auf sie,
und sie sagten sich Worte der Liebe. Der Orion mit seinem
Schwert aus Spiralnebeln und seinem Gürtel aus Edelsteinen
steht über ihnen, und Emmanu elle spricht leise die ihm geltende
kabbalistische Formel: Aniam, Alnitak, Mintaka… Ihre Gedanken
verlieren sich im Traum.
Schmerzlich und ohnmächtig wurde sie sich wieder der Ge
genwart bewußt, des Parks, in dem sie unter einem nackten, wie
leblosen Mann lag, den sie noch nie gesehen hatte, der vielleicht
schon tot wa r… Ihr Entsetzen wich in dem Maße, wie ihre
Erinnerung wiederkehrte, aber sie wollte nicht an jenem Ort
bleiben. Sie bat ihren Begleiter, sie nach Hause zu bringen. Sie
war abgespannt. Sie war müde und wollte in ihrem eigenen Bett
schlafen, tagelang, wie ein Murmeltier…
Er erklärte indessen, es sei noch zu früh, man müsse auf den
Tagesanbruch warten. Emmanuelle war verstimmt. Sie sollte
besser versuchen, Mario wiederzufinden. Sie zog ihr Gewand an;
ihre Haut war trocken; das Gefühl und die Sicherheit der Seide
schenkten ihr die innere Ruhe und Heiterkeit wieder. Aber sie
wollte sich gern die Haare kämmen, aus denen ihre Finger feuc h
te Blüten und abgestorbene Blätter zogen. Im Palast, fiel ihr ein ,
gab es Badezimmer mit schönen Dingen aus Silber und Elfe n
bein, wo man sich von Jünglingen bedienen lassen konnte, die
vor Bewunderung und Begierde große Augen bekamen. Sie
suchte eines, fand es und ließ den Mann an der Tür stehen,
befahl ihm, nicht auf sie zu warten.
Sie badete in heißem Wasser, ließ sich trocknen, pudern, pa r
fümieren, massieren, liebkosen, frisieren und wäre sicher den
Rest der Nacht dort geblieben, wenn der Fürst nicht gekommen
wäre, um sie zu holen. Michael hatte ihn zweifellos informiert.
»Man klagt darüber, daß Sie entführt wurden«, teilte er ihr mit.
»Wollen Sie es nicht wiedergutmachen?«
»Als ich eben durchs Haus ging, kam es mir eher so vor, als
habe die allgemeine Glut nachgelassen. Ich hatte sogar den Ei n
druck, es gäbe keine Männ er mehr – ich glaubte, sie seien alle
schlafen gegangen.«
»Sie werden noch in einem kleinen Hetäria erwartet, das alles,
was bis jetzt passiert ist, zu einem Vorspiel macht. Sie haben
doch bisher auch nur getändelt, nicht wahr?«
»Übrigens«, erkundigte sich Emmanuelle, »wer war der schöne
Junge, dem Sie mich im Park auslieferten?«
»Michael? Ich dachte, Sie kannten ihn. Der Marineattaché der
Vereinigten Staaten.«
Emmanuelle verzog keine Miene, obgleich ihr war, als hätte
man sie ins Gesicht geschlagen. Bees Bruder! Sie hatte sich ihm
völlig ahnungslos hingegeben! Wie hatte sie nur so blind sein
können? Der Blick, die gleichen Lippen, das gleiche Lächeln und
die kupfernen Haare, die stolze Haltung ! Sogar die Art zu re
den… Mehr als ihr Bruder, ihr Double. Und si e hatte es nicht
gemerkt!
Ohne auf ihre Umgebung zu achten, ließ sie sich von dem Fü r
sten in einen Raum führen, in dem eine Klimaanlage summte. Sie
schauerte zusammen, denn im Vergleich zur Nachtluft war es
hier kalt. Eine rötliche Wolke nahm ihr die Sicht . Ein schwerer
und herber chinesischer Duft, rein und doch vielfältig, schlug ihr
entgegen, Ingwer und Safran vielleicht, jedenfalls eher Kräuter
und Gewürze als Blumen, es sei denn, es handelte sich um den
Geruch eines Holzes – kein Damen - oder Herrenparf um, so n
dern das Parfum einer Landschaft, das sich aus dem Dämmer zu
ergießen schien. Sie spürte, wie es sie umschloß, ihre Haut trän k
te…
Zuerst erkannte sie nur längliche Lampen auf sechseckigen Fü
ßen aus dickem Glas, die am Boden standen. Erst dann sah si e
die flachen und großen Kissen, die überall herumlagen, verschi e
den dick, aber immer rechteckig oder quadratisch, nie oval oder
rund. Obgleich sich ihre Augen ziemlich schnell an diese spezielle
Dunkelheit – farbig und beinahe greifbar, jeden Augenblick vo n
einer anderen Konsistenz, wie durcheinandergewirbelt von dem
Luftzug, der durch die offene Tür gekommen war – gewöhnten,
konnte Emmanuelle nur eine Körperlänge weit sehen. Sie er
kannte nur drei Frauen, noch jünger als sie selbst, auf den Kissen.
Sie lagen auf dem Rücken, berührten sich nicht, hatten die Beine
weit gespreizt. Die eine war die Tochter des Fürsten. Ringsum,
am Rand des Lichtkegels, die Umrisse mit den wabernden
Dämpfen zerfließend, befanden sich Gestalten, sicher Männer,
die sie betrachteten.
Emmanuelle wandte sich ihrem Gastgeber zu. Sie hatte das
Bedürfnis, die eigene Stimme zu hören. Sie sprach den ersten
Namen aus, der ihr einfiel, um sich inmitten so vieler Ungewi ß
heiten nicht so fremd zu fühlen.
»Ariane… ist sie auch hier?«
»Möchten Sie es?« antwortete der Fürst schnell. »Ich werde sie
holen lassen.«
»Nein, nein«, dankte Emmanuelle sofort, als habe sie eine
Fauxpas begangen. Dann, um ungezwungen zu erscheinen:
»Hat sie sich gut amüsiert?«
Sie wurde sich bewußt, daß sie in der Vergangenhe it gespr o
chen hatte, als sei das Fest bereits zu Ende.
»Ich glaube«, erwiderte der Gastgeber lächelnd, »daß sie heute
abend mehr Erfolg gehabt hat als alle anderen.«
»Warum?« fragte sich Emmanuelle und stellte fest, daß sie sich
gegen diese Vermutung sträu bte. »Mehr als ich?« hörte sie sich
protestieren.
Stolz und Unruhe klangen aus ihrer Stimme. Sie zwang sich, wie
von einem Spiel zu sprechen: »Weil sie schöner ist als ich?«
»Nein«, antwortete Ormeasena.
»Warum dann? Wenn ich schöner bin, habe ich das Rech t,
mehr Liebhaber zu haben. Mehr als jede andere.«
Ihre triumphierende Stimme erfüllte das ganze rote Zimmer.
Ein Mann löste sich aus den Schatten und faßte sie an den
Handgelenken.
»Das müssen wir entscheiden!« sagte er.
Sie erkannte ihn und verstummte. Es war der Seemann.
Er zog sie vor, und der Dunst wich entsprechend zurück, gab
andere Körper frei, meist Männer. Einige waren noch jung,
beinahe Kinder, mit den Gesichtern angelsächsischer Bomberp i
loten und kurzen hellen Haaren; andere waren reifer, sonnen ver
brannt, hatten die hohen Wangenknochen der Sibirier und tie f
liegende, ironische, wissende Augen. Und es gab noch andere,
alle möglichen…
Hände legten sich auf ihre Schultern, und sie setzte sich. Der
Stoff war kalt und glatt. Man berührte sie. Man sprei zte ihr die
Beine, bemächtigte sich sofort ihres Geschlechts, ließ ihr noch
nicht einmal Zeit, sich auszuziehen, umarmte sie nicht, redete
kein Wort. Sie wagte nicht, sich hinzulegen, obgleich sie damit
rechnete, daß sie von mehreren genommen werden sollte , ob
gleich ihr Mund bereit war. Die Hände, die sich zwischen ihren
Beinen zu schaffen machten, taten ihr weh, aber sie klagte nicht,
während man sich darauf beschränkte, sie zu öffnen, sie grün d
lich zu erforschen. Sie erwartete Schlimmeres und war en t
schlossen, sich damit abzufinden. Plötzlich entdeckte sie, daß sie
keine Angst mehr hatte, und ihre Brust schwoll vor Stolz und
Lust.
Auf einen Befehl des Seemanns lösten sich die Hände von ihr
und ließen von ihr ab. Ließen sie allein, hätte sie meinen können,
denn ihre Bewunderer wurden schon eine Armeslänge von ihr
entfernt zu Schatten und verschwanden gleichsam.
»Holt Ariane«, sagte eine gebieterische Stimme, und man hörte,
wie jemand hinausging.
Drückend warme Luft strömte durch den Raum. Emmanuelle
begriff, daß sie in diesem Augenblick noch die Möglichkeit hatte,
das Zimmer zu verlassen. Sie wußte, daß man nichts unterne h
men würde, um sie zurückzuhalten. Man ließ ihr die Wahl. Das
war der Sinn dieser geöffneten Tür.
Sie blieb. Nicht aus Respekt, Trägheit ode r Fatalismus. Sondern
weil sie Lust dazu hatte . Sie spürte diese Lust in ihrem Hals,
beiderseits des Kehlkopfes, wie eine Hand, die sanft zu würgen
beginnt. Und ihre Zunge wurde heiß. Ihr Puls beschleunigte sich,
aus ihren Schläfen brach der Schweiß aus. Es war eine Form des
Verlangens, die sie noch nie erlebt hatte. Sie sollen sich beeilen,
stöhnte sie heimlich. Sie sehen doch, daß ich bereit bin. Sie sollen
meinen Körper benutzen, wie sie wollen.
»Was sollen wir mit Ihnen machen?« fragte die Stimme des Ze
remonienmeisters, und Emmanuelle genoß die Ironie der forme l
len Klausel.
Sie wußte nicht genau, ob der Seemann ihr Lächeln falsch ge
deutet hatte oder ob es den Gewohnheiten entsprach, als er
fragte:
»Was ziehen Sie vor, Mann oder Frau?«
Bevor sie aber Zeit hatte, etwas zu erwidern, gab er die Antwort
schon selbst:
»Das ist übrigens nebensächlich. Auf einer bestimmten Stufe
des Erotismus spielt das Geschlecht keine Rolle mehr.«
Dann sprach er wieder befehlend.
»Zeigen Sie sich!«
Emmanuelle stützte sich auf den linken Ellbogen und neigte
sich etwas zurück. Sie legte die Bahnen ihres Kleides nach rechts
und links, entblößte damit ihren Venushügel, von dem inzw i
schen fast alle Perlen abgefallen waren. Sie zog ein Knie an,
spreizte das rechte Bein ab. Mit zwei Fingern öffnete sie, langsam
und anmutig, die Lippen ihrer Vulva.
»Vorwärts!« sagte der Offizier, und sie zweifelte nicht daran,
daß er sich an die Männer wandte, die sie umringten.
Wie viele mochten es wohl sein? Es gelang ihr noch nicht ei n
mal, sich die Größe des Zimmers vorzustellen.
Und wenn es hundert waren? Na und? Nach einer derartigen
Nacht würden sie gar nicht mehr alle in der Lage sein, die Chance
zu nutzen.
In Wirklichkeit, sie wagte nur nicht, es sich offen einzugest e
hen, befürchtete sie, es werde nur noch so wenige Potente geben,
daß die neue Erfahrung erniedrigend sein würde. Es war eine
gewisse Erleichterung, als sich ein großer nackter Mann mit
krausen Haaren und dicken Lippen, sicher ein Schwarzer, zw i
schen ihre Beine kniete, ihre Hand, die si e auf die Scham gelegt
hatte, zur Seite schob, sich mit einer Hand stützte und mit der
anderen einen Penis einführte, der so hart und leidenschaftlich
war, wie sie sich nur wünschen konnte. Sie wäre allerdings auch
mit einem kleineren Exemplar zufrieden ge wesen, vor allem bei
diesem ersten Sturm.
Sie bemühte sich, nicht vor Schmerz zu schreien, während er
sie nahm, doch die Tränen liefen ihr die Wangen hinab, als wäre
sie noch Jungfrau. Das riesenhafte Glied schob sich tiefer und
tiefer: Emmanuelle hatte ga r nicht gewußt, daß ihr Schoß so
grenzenlos war. Als der Mann sein Ziel endlich erreicht hatte –
und er hatte seiner Partnerin keinen Zentimeter seiner Möglic h
keiten erspart –, war er wenigstens so rücksichtsvoll, zu einem
Zeitpunkt, in dem sie noch zu seh r litt, nicht sogleich in ihr hin
und her zu fahren; er blieb tief in ihr und bewegte seinen Bauch
und die Muskeln seiner Oberschenkel, drehte sich ein wenig und
zuckte mit seiner großen und festen Eichel, um die inneren
Fasern Emmanuelles so lange zu dehnen und zu erweitern, bis sie
innen feucht und warm geworden war , ihn umarmte und die
ersten Lustschreie rief.
Da stieß er mit unvermittelter Raserei los, so kraftvoll und wild,
daß sie bei jedem Stoß aufheulte. Ihre Schreie erregten ihn of
fenbar nur noch mehr, und kurz darauf fiel er mit rauher, kaum
noch menschenähnlicher Stimme ein, bis er eine Samenmenge
entlud, die ebenso schwer und kraftvoll sein mußte wie sein
Körper und die so heftig durchdrang, daß sie den Geschmack
fast im selben Augenblick auf den Papillen ihrer Zunge zu spüren
meinte. Er setzte den Verkehr noch lange Zeit nach der Ejakul a
tion fort, preßte sich auf die Brüste des Opfers, vergrub das
Gesicht in ihren Haaren und zuckte unter den lustvollen Spa s
men, die sich gegenseitig zu zeugen schi enen und Emmanuelle
ganz neue, schmerzhafte, zersprengende und köstliche Empfi n
dungen verschafften. Sie stöhnte in die stoppelige Wange hinein,
biß sie, küßte sie, mußte zwischendurch immer wieder laut au f
schluchzen.
Der Mann höhlte sie, bearbeitete sie la nge, mit derselben bruta
len Leidenschaft und demselben frenetischen Rhythmus: länger,
als sie es je erlebt hatte, und sie spürte mehr Lust, als sie je ge
spürt hatte. Sie dachte (in einem hellsichtigen Augenblick zw i
schen zwei Ekstasen), daß Liebe immer wieder mehr sein konnte.
Wenn dieser Unbekannte sie nicht besessen hätte, hätte sie vie l
leicht nie im Leben erfahren, daß man imstande war, soviel Lust
zu spüren.
Ich muß mich selbst übertreffen, feuerte sie sich an, und zwar noch in
dieser Nacht. Doch als ei n letzter Orgasmus, noch gewaltiger als
die anderen, sie getroffen hatte, wollte sie nicht mehr. Ihr Feuer
legte sich und wurde von einer heiteren Gelassenheit abgelöst;
eine beseligende Klarheit nahm von ihr Besitz. Wenn das, was sie
eben gespürt hatte, Lust gewesen war, war das jetzige Gefühl
zweifellos Glück.
Mit einem tiefen Stöhnen ergoß sich der Mann ein zweites Mal
in ihr. Dann blieb er unbeweglich, wie nach dem Todesstoß,
liegen. Andere zogen ihn fort und folgten ihm nach. Sie merkte
es nicht mehr.
Als sie wieder zu sich kam, fragte sie sich, wie viele Liebhaber
sie so, ohne es zu wissen, gehabt hatte.
»Ich muß sie unbedingt zählen«, ermahnte sie sich. »Sonst ist es
nicht der Mühe wert.«
Und während die anderen sie besaßen, entdeckte sie eine neue
Form des Genusses: kein sinnliches, sondern ein viel fasziniere n
deres zerebrales Vergnügen. Sie sagte sich, daß sie außer dem
fleischlichen Orgasmus, dem Orgasmus des Körpers auch den
erotischen Orgasmus, den des Geistes, erleben konnte. Sich aus
Verlangen hinzugeben ist nichts: Der Erotismus beginnt dort, wo
das Erhoffte aufhört, vielleicht beginnt er in seiner ganzen Tra g
weite und Majestät erst dort, wo die Lust aufhört… Die Schö n
heit ist immer ein Widerspruch.
Es störte sie jetzt, daß gewisse Männer sie zu lange benutzten,
denn sie wollte allen zur Verfügung stehen: Welche Enttä u
schung, wenn sie die Geduld verlören, sich nicht mehr für sie
interessierten – oder sich schließlich an den anstößigen Anblick
gewöhnten!
Sie war nur dann – vorübergehend – beruhigt, wenn ein Mann
in ihr ejakulierte, weil sie in diesem Moment wußte, daß er gleich
von einem anderen abgelöst werden würde, und sie fühlte in
diesen Augenblicken ein inneres Sehnen, das die Würze der Liebe
hatte: nach demjenigen, der die Lücke ausfüllte, sich zwischen
ihre Beine kniete oder der Länge nach auf sie legte und mit
seinem aufgerichteten Glied in sie eindrang, wenn er dazu fähig
war, oder den Penis mit der Hand einführte, was öfter geschah.
Einige klammerten sich mit den Lippen an ihren Mund, wä h
rend ihre Lenden nach dem Rhythmus suchten, der ihren Ge
schlechtern synchrone Lust verschaffte. Andere stützten sich auf
die Arme, blieben entfernt, um sie zu betrachten, wenn sie in
ihrem Körper arbeiteten. Bei allen benutzte sie das Wissen, daß
sie in Je ans Lektionen gelernt hatte, um ihren Genuß zu vergr ö
ßern. Wenn ihre Bewegungen den Partnern ein wollüstiges Stö h
nen entlockten, dachte sie dankbar und liebevoll an ihren Mann,
der sie zu einer Meisterschaft geführt hatte, von der noch nichts
vorhanden gewesen war, als sie ihm die erotische Jungfräulichkeit
der Lesbierin geschenkt hatte.
Wie auf stillschweigende Übereinkunft – oder auf einen stu m
men Befehl des Seemannes – liebkoste man sie nicht. Und diese
schonungslosen Umarmungen, die sie sonst wie Beleid igungen
aufgefaßt hätte, schienen ihrer augenblicklichen inneren Verfa s
sung zu entsprechen. Sie wollte nur noch Lust verschaffen, sich
als Lustwerkzeug vieler Männer sehen. Sie sollten zufrieden sein
mit ihrer Vagina und mit den Empfindungen , die ihre Glie der
dort spürten; sie sollten sich ganz egoistisch befriedigen, ohne an
sie zu denken. Sie hatte etwas Besseres: die Vollkommenheit der
Kunst. Und sie benutzte ihre Talente als Liebhaberin, ihre Erfi n
dungsgabe und ihren Willen, um ihnen die höchste Sättigu ng zu
verschaffen, damit sie später in der Stadt erzählen konnten, wie
angenehm sie sei, ebenso gefällig und bequem wie die beste
Prostituierte, aber viel überraschender.
Es kam der Augenblick, in dem sie überall Schmerzen hatte.
Dann jener, in dem sie nichts mehr richtig fühlte und sogar das
Denken aufgab. Schließlich hörte man auf, sie zu nehmen. Und
da wurde sie sich bewußt, daß sie das Zählen völlig vergessen
hatte.
Eine Stimme weckte sie, viel später. Der Raum schien noch
kälter geworden zu sein: Ob ein Teil der Anwesenden hinausg e
gangen war?
Emmanuelle brauchte einige Zeit, um zu sehen, wer mit ihr
sprach. Immerhin war das Licht jetzt besser, doch ihre Augen
waren noch vom Schlaf umnebelt. Schließlich sah sie das Ge
schöpf, das sich genau über ihr aufgebaut hatte und nur aus
Beinen zu bestehen schien: aber was für Beine! Vor allem dort,
wo sie sich trafen, was für großartige, sinnliche und pralle Li p
pen, und so jung, so lasziv unter der Fülle feuerfarbener Locken!
Sie erinnerte sich, diesen Pelz scho n einmal auf dem hohen
Schamhügel gesehen zu haben – so hoch, daß er beinahe anomal
wirkte. Aber damals war er von einem winzigen Badeslip geteilt,
allerdings nicht verdeckt worden. Sie hatte dieses Mädchen nur
wegen dieses schmalen Streifens aus weißer Ba umwolle begehrt,
der darauf abzielte, nicht nur das Vlies, sondern die gesamte
Vulva freizulassen, denn er verschwand zwischen den Schamli p
pen und ließ sie hervorquellen, lenkte die Blicke stärker auf sie als
bloße Nacktheit. In diesem Augenblick bedauerte Emmanuelle
fast, daß der perverse Bikini nicht da war. Aber es war ebenfalls
schön, dieses aggressive Geschlecht, das sich ihren Blicken so
bot, daß sie sich nur etwas aufzurichten brauchte, um es mit dem
Mund zu erreichen. Nein! Es wäre noch besser, wenn es zu ihr
herabstiege, dieses Genital, wenn es sich auf ihren Mund legte
wie eine aufgeschnittene salzige Meeresfrucht und ihn mit ihrem
Wasser erfrischte.
»Ich kenne Sie«, sagte Emmanuelle endlich, wie um sich zu
beweisen, daß die Erscheinung kein Traum war. »Ich habe Sie im
Schwimmbad gesehen. Aber ich weiß nicht, wie Sie heißen.«
Sie fügte hinzu: »Sie sind die junge Löwin.«
»Ich heiße Merv ée«, sagte das junge Mädchen. »Die Römer
nannten mich lieber Fiamma, weil ich sie verbrenne, oder Renata,
weil ich aus ihrer Asche geboren wurde. Mein Gelieber ruft mich
Mara, wie einen indischen Dämon. Aber ich bin auch Mâyâ. Und
Lilith.«
»Es ist schön, wenn man so viele Namen hat«, stimmte Emm a
nuelle zu, obgleich sie ein bißchen verdutzt war.
»Ich habe noch mehr, aber sie würden heute nacht nicht zu mir
passen. Ich haben Ihnen nur die Vornamen gesagt, die ich habe,
wenn ich nackt bin.«
Die Augen etwas zusammenkneifend fügte sie hinzu: »Natürlich
habe ich auch Jungennamen, für die Tage, an denen ich ein
Knabe bin.«
Emmanuelle zog die Augenbrauen hoch. Dann beschloß sie,
sich der Situation anzupassen. Schließlich konnte ein so mer k
würdiges Wesen alles mögliche sein. Sie machte nur nebensächl i
che Einwände:
»Hoffentlich verlieren Sie die Haare nicht, wenn Sie sich in ei
nen Mann verwandeln.«
Das wäre ein Unglück, dachte sie. Dieser unglaubliche Dschu n
gel, noch dichter und länger als meiner, und so golden. Golden
wie das Gold der Chinesen, das wie emailliertes Rot aussieht.
Ob Mädchen oder Junge spielt kaum eine Rolle, argumen tierte
sie. Ich würde sie gern lieben. Mit den Augen suchte sie den
gesäumten Spalt unter den Flammenlocken.
Das Wesen musterte sie ebenfalls. Und sprach: »Schade, daß Sie
nicht eher nach Sia m gekommen sind. Ich hätte Sie teuer ve r
kauft!«
Es näherte seine Lippen, als wollte es unterstreichen, daß man
die Sache trotzdem nicht dramatisieren sollte, und nannte den
Grund:
»Macht nichts, ich werde schon noch eine Gelegenheit dazu
haben.«
Emmanuelle informierte sich:
»Sie verkaufen Frauen?«
Die junge Löwin, dacht e sie gleichzeitig, denn sie rechnete gar
nicht mit einer Antwort, gehörte zu einer Spezies, die weder
Tugend noch Laster, weder Schuldige noch Unschuldige kennt.
Sicher auch kein Alter, denn konnte man wissen, ob sie zehn war,
wie ihr Gesicht, zwanzig, wi e ihre Brüste, oder unendlich alt, wie
dieses Genital, das einem Engel gehören mußte – oder einem
Teufel.
»Wo ist Ariane?« fragte Emmanuelle.
Mervée hing wie gebannt an ihren Lippen.
»Kommen Sie mit mir ins Badezimmer«, sagte sie beiläufig, als
sei ihr Vor schlag ganz unwichtig, verfolge noch nicht einmal
einen bestimmten Zweck.
Warum? fragte sich Emmanuelle. Sie war sicher, daß Mervée sie
dort nicht lieben würde, wenigstens nicht so, wie es die anderen
Leute taten. Sie hatte eine vage Idee. Bei einer Löwin-Frau mußte
man auf alles gefaßt sein. Sie war drauf und dran, zuzustimmen,
aber sie mußte erst noch aufstehen…
Männer bewegten sich, und bevor Emmanuelle wußte, was
geschah, war Mervée gegangen. Der Rhythmus, der die Liebe in
Maligath mit Mahlzeiten würzte , brachte Platten mit Gerichten
und Getränken. Genau rechtzeitig, wie sie konstatierte, denn sie
hatte Hunger.
Sie erinnerte sich nicht, ihre Tischgefährten (oder besser Ki s
sengefährten) schon einmal gesehen zu haben, aber sie kamen ihr
schön vor. Waren un ter ihnen auch welche, die sie vorhin ge
nommen hatten? Sie brauchte sie nur zu fragen, befand aber nach
kurzem Überlegen, es sei reizvoller, im Ungewissen zu bleiben.
Dann wurden Opiumpfeifen gereicht. Der Dunst wurde blau,
nahm noch einen Duft an. Emmanue lle kam nicht in Vers u
chung: Ihr genügte es, einmal probiert zu haben.
»Die Luft ist so süß, daß ich nicht sterben kann«, hörte sie jemanden
deklamieren.
»Was werden Sie mit Ihrem Mann machen?« erkundigte sich
der junge Mann, der gerade neben ihr saß.
Sie zog sich mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck aus der
Affäre: das Thema war ihr zu kompliziert.
»Da ist Ariane«, verkündete eine Stimme.
Aber die Tür hatte sich nicht geöffnet, und Emmanuelle sah
niemanden.
Sie hatte Durst.
»Nehmen Sie«, sagte der junge Mann und ließ sie trinken, wobei
er ihre Schultern stützte. Seufzte dann:
»Ich möchte es gern noch einmal mit Ihnen machen. Aber ich
kann nicht mehr, wirklich nicht!«
Ich auch nicht, denkt Emmanuelle. Macht nichts. Man kann
nicht ständig das gleiche tun. Sie betrachtet ihren Körper: ist es
nicht geradezu barock, sich ganz nackt unter so vielen Menschen
zu befinden? Hat man sie entkleidet? Sie hat es noch nicht einmal
bemerkt. Ihre Beine sind gespreizt. Sie legt sie wieder zusammen.
Ein Geschlecht, überlegt sie, das niemand berührt, ist lächerlich.
Und ihr ist nicht danach, es selbst zu berühren, zu dieser Stunde.
Wie spät mag es überhaupt sein? Und wo ist ihr schönes Kleid?
Diesmal ist es bestimmt verloren. Wie soll sie nach Hause ko m
men?
»Ich frage mich, was ich Jean sagen soll.«
Der junge Mann nickte mitfühlend. Er hatte einen Einfall:
»Geben Sie ihm Mara«, schlug er vor.
Das ist seine Geliebte, sagte Emmanuelle zu sich.
»Sie sollten zu dritt leben«, fuhr er, schnell entflammt, fort. »Sie
würden sehr gut zusammen passen. Kein Zweifel: Das sollten Sie
tun.«
Warum Mara – oder Renata oder Fia mma, wie sie auch heißen
mag, möchte Emmanuelle fragen. Warum sie und nicht Ariane
oder, noch besser, Marie -Anne? Oder eine andere? Anna Maria
zum Beispiel, das wäre gar nicht so übel. Aber sie will diesem
Jungen nicht weh tun, denn für ihn gibt es, das ist klar, keine
Frau, die der Liebe so würdig ist wie seine Geliebte.
»Ja«, sagte sie also, »das würde mir schon gefallen.«
»Sie dürfen keine Zeit verlieren«, drängte er. »E s ist absurd, daß
Jean und Sie alle diese Gelegenheiten verpassen.«
Welche? fragt sich Emmanuelle, aber ohne echte Neugier. Und
was ist die beste Kombination: zwei Frauen und ein Mann oder
eine Frau und zwei Männer? Die letzte Möglichkeit scheint ihr
viel verlockender. Der andere Mann könnte beispielsweise Chr i
stopher sein. Oder Mario. Nein, nicht Mario. Christopher auch
nicht.
»Woran denken Sie?« erkundigt sie sich nach fünf Minuten des
Schweigens.
»Zwei Frauen scheint mir logischer, weil Sie lesbisch sind . Wor
auf es aber ankommt, ist der erste Schritt. Ob man es so oder so
macht, spielt eine untergeordnete Rolle. Ich werde Ihnen mein
Buch schicken.«
»Handelt es von einer Ehe zu dritt?«
»Unter anderem.«
»Dann muß ich es lesen, denn ich weiß noch immer nicht ge
nau, wie man sich einrichten soll. Es kann nicht leicht sein: ein
bißchen wie ein Tanz zu dritt.«
»Beinahe.«
Emmanuelle machte kein Hehl aus ihrer Überraschung, daß er
ihr mehr oder weniger zustimmte. Er fuhr fort:
»Aber schwieriger. Gott sei Dank! Wenn es von allein ginge,
wäre es ein schlechtes Zeichen, oder? Wir sind nicht für die
leichten Dinge geschaffen.«
Wir machen es nicht, weil wir uns amüsieren wollen, bekräftige
Emmanuelle im Geiste: Wir sind hier, um der Spezies von mo r
gen eine Chance zu gebe n. Nicht um der Moral zu trotzen oder
sie zu entthronen, sondern um eine andere zu schaffen. Die
Moral von Galahad funktioniert nicht mehr, wenn man die Ge
stirne hinter sich lassen will. Als man auf der damaligen Erde
Mostäpfel anbauen wollte, genügte die Moral von damals. Wenn
man aber würdig sein will, die Beteigeuze zu erforschen, muß
man eine bessere finden.
Sieh an, stellte sie fest, ich mache mich über Mario lustig.
»Ich würde mich wundern, wenn wir uns wirklich veränderten«,
redete sie laut weiter, »aber wenn wir wollen, daß unsere Kinder
fortgeschrittener sind als wir, müssen wir sie unter solchen Vo r
zeichen erschaffen.«
Der junge Mann schüttelte feierlich den Kopf.
»Vorsicht, Sie sind sentimental.«
»Ich?« rief sie beleidigt.
»Alle. Wir sind zwar int elligent, aber unsere Gefühle hinken
hinter unseren Erfahrungen her. Wir denken wie Einstein und
lieben wie Paul und Virginia.«
Sie zuckte die Achseln:
»Die Gesetze Einsteins sind nicht auf die Liebe anwendbar und
werden es auch nie sein«, sagte sie. »Die Liebe ist keine Eige n
schaft der Natur.«
»Eben!« stimmte ihr Begleiter zu. »Eben! Das ist ja die Wurzel
allen Übels. Die Menschen können nur lieben wie das dumme
Vieh. Das ist die Tragödie der Gattung. Unsere Intelligenz gehört
zu einer Ordnung der Materie, die uns im Augenblick noch
turmhoch überlegen ist, aber wir haben Mittel und Wege en t
deckt, um die Liebe selbst zu erfinden. Ganz klar, daß das Werk
mangelhaft ist.«
»Der Kosmos«, verkündete Emmanuelle, »ist ein Stück Perka l,
glatt und eisig. Der Mensch hat ein paar Knitterfalten hineing e
macht, um ihn zu verschönern. Das glaubt er wenigstens: In
Wirklichkeit hat er sie gemacht, damit er sich zurechtfinden
kann!«
»Das Eisen der Zeit wird das alles ausbügeln. Kommen Sie in
ein paar Jahrtausenden zurück und sagen Sie mir, ob Sie noch
eine Spur von Ihren Schneiderkünsten finden.«
»Vielleicht wird es die Liebe nicht mehr geben«, sagte Emm a
nuelle, »aber Spuren von ihr gewiß.«
Der junge Mann trank den Inhalt eines großen Glases in einem
Zug aus und wechselte unver mittelt den Tonfall, vielleicht sogar
das Thema:
»Mit einer Menge Leute schlafen, eine nächtliche Orgie, das ist
nichts, nur eine Laune. Was Sie hier machen? Ferien, Urlaub vom
Alltag. Sie flüchten vor einer Moral, aber sie bauen keine neue
auf.«
»Sie irren. Was ich heute nacht mache, mache ich nur, weil ich
weiß, daß es gut ist.«
»Dem Reinen ist alles rein, nichts ist unrein an sich, hat Paulus gesagt.
Aber er sagte auch: Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist erbaulich.
Wenn Sie die We lt ändern wollen, werden Sie es bestimmt nicht
schaffen, indem Sie vor ihr fliehen und Feste feiern. Fangen Sie
an, indem Sie nach Ihrer eigenen Moral leben, und zwar nicht
nur sonntags, sondern alle Tage. Ihr Verhalten wird eine Bede u
tung haben, wird beweiskräftig sein, wir d etwas nützen, wenn Sie
ständig so leben wie heute nacht in Maligath. Solange Sie tag s
über eine achtbare Frau sind, ist es mir gleichgültig, ob Sie sich
nachts in einen Sukkubus verwandeln. Sie werden mir erst imp o
nieren, wenn Sie, sagen wir einmal, Jean mit Mara verheiratet
haben. Oder wenn Sie Ihrem Mann beigebracht haben, Sie seinen
Freunden nach dem Abendessen anzubieten. Nicht heimlich,
sondern offen und so, daß es die ganze Stadt erfährt. Und nicht
zu Weihnachten oder Ostern: jeden Tag.«
Er machte ei ne umfassende Geste, wie um zu sagen, daß er
jetzt abschließend sprechen wollte:
»Schamlosigkeit, Ehebruch, Ausschweifungen, all das intere s
siert mich nicht, wenn es nur dumme Streiche, Ausnahmen,
heimliche Spiele, läßliche Sünden sind. Wenn Sie wollen, da ß ich
Ihnen glaube, müssen Sie aller Öffentlichkeit stolz und trotzig
zeigen, daß Sie das Recht auf Nacktheit beanspruchen und daß
Sie die Freiheit beanspruchen, Lust zu empfinden und anderen
geistig und körperlich Lust zu verschaffen. Wenn Ihre Exper i
mente gelingen, bekannt und jederzeit verifizierbar sind, wie es
bei jeder Wissenschaft sein muß, wird Ihre Umgebung lernen,
daß die amourösen Verbindungen und die synchronen fleischl i
chen Intimitäten, die Vielfalt der Leidenschaften, von denen
keine einzige reduzierbar oder ersetzbar ist, daß alle diese Dinge
kein sinnliches Chaos sind, das auf einen Defekt der Seele zu
rückgeht, sondern die Berufung des Erwachsenen, und daß wir
nicht länger Kinder bleiben können. Die Kindheit ödet uns an,
wir wollen nicht mehr das Mühlespiel treue Liebe, das Verstec k
spiel eifersüchtige Liebe, das Murmelspiel enttäuschte Liebe
spielen. Wir haben genug von den Versprechungen des Tages,
den Tränen der Ewigkeit, den tödlichen Affären und den gesto r
benen Lieben. Wir möchten uns verwi rklichen und wie Me n
schen leben, für die es keine Ohrfeigen und Fesseln mehr gibt.«
Er schweigt. Emmanuelle erhebt sich und gibt sich Mühe, ihn
nicht zu stören. Sie fragt sich, ob sie Merv ée wohl wiederfinden
wird. Zuletzt stößt sie gegen die Beschläge der Tür. Sie hatte
eigentlich noch nicht die Absicht zu gehen, aber da sie plötzlich
vor dem Ausgang steht, geht sie. Sie durchquert eine verlassene
Galerie. Es ist warm. Sie nähert sich einem anderen Zimmer, in
dem offenbar noch Menschen sind. Und dort erbli ckt sie Mario!
Sie stößt einen freudigen Schrei aus. Er hat sie weder gehört
noch gesehen, ist allem Anschein nach zu sehr damit beschäftigt,
irgendeiner Nymphe den Hof zu machen.
Er dreht Emmanuelle zu Dreiviertel den Rücken zu. Sie nähert
sich, merkt sich sein Lachen, wirft einen Blick über seine Schulter
und sieht vor ihm einen nackten Körper. Es ist Bee.
Emmanuelle stockt der Atem. Ihre keusche Bee! Mario, dieser
Mario, der keine Frauen nimmt, mit aller Kraft seines Ge
schlechts im Geschlecht der Geliebt en arbeitend, die sie, Emm a
nuelle, nicht halten konnte. Sie möchte zuschauen, wird aber von
einem Tränenschleier geblendet. Sie beißt die Zähne zusammen,
dreht sich um, läuft fast durch das Zimmer, flieht, sie weiß nicht
wohin, verirrt sich, stolpert, keuc ht, hastet durch Hallen und
Flure, wo sie nichts mehr wiedererkennt.
Plötzlich steht sie jedoch vor Ariane, die mit anderen Gästen
zusammensitzt. Emmanuelle fällt vor ihr auf die Knie, legt den
Kopf auf ihre Beine.
»Bring mich fort!« fleht sie. »Ich will hier nicht bleiben. Gehen
wir!«
»Was hast du, meine Gazelle?« fragt Ariane mit sanftem Spott.
»Hat man dir weh getan?«
»Nein. Nichts. Überhaupt nichts. Ich will nach Hause.«
»Nach Hause? Aber dort ist doch niemand. Was willst du dort?«
»Dann bring mich zu dir.«
»Willst du es wirklich?«
»Ja.«
»Wirst du auch bleiben?«
»Ja, ja!«
»Und mir gehören?«
»Ich verspreche es.«
»Ehrlich?«
»Du siehst doch, ich habe niemanden außer dir!«
Ariane beugt sich vor und umarmt sie.
»Komm.«
Emmanuelle schüttelt ihre wilden Locken.
»Ich werde alles tun, was du willst.«
Ihre Freundin führt sie an der Hand über den mondbeschien e
nen Marmor und die Rasenflächen.
»Ich bin splitternackt«, klagt Emmanuelle wie ein Kind.
»Das macht nichts.«
Während der Fahrt, im Auto, reden sie kein Wort. Emmanuel
les Schläfe ruht an Arianes Schulter. Das Morgengrauen verlöscht
eine Straßenlaterne nach der anderen. Die Busse klingeln, und die
Obsthändler preisen ihre Ware an. Wenn die Ampeln an den
Kreuzungen rot werden und den Roadster anhalten, bleiben die
Gassenjungen stehen und sperren die Augen auf, rufen sich beim
Anblick des nackten Mädchens auf dem schwarzen Leder aufg e
regte Bemerkungen zu.
Der Pförtner öffnet das Gittertor der Botschaft. Auf dem Fluß
vor der alten Fassade wimmeln Barken, schrillen Pfe ifen. Die
beiden Frauen gehen die Treppe hinauf, betreten Arianes Schla f
zimmer, in dem ein schweres Parf um aus Farnessenzen hängt.
Emmanuelle wirft sich auf das Bett, verschränkt die Arme, zieht
die Beine an. Die Stimme Arianes dringt wie im Traum zu ihr.
Die Gräfin entledigt sich des Kimonos, den sie beim Verlassen
Maligaths übergestreift hat. Sie öffnet eine kleine Tür und stiehlt
sich ins Zimmer nebenan:
»Komm und schau«, sagt sie, einen Finger auf die Lippen le
gend.
Ihr Mann steht auf, geht mit ihr zum Bett:
»Sieh nur«, flüstert sie hingerissen. »Sie gehört mir. Ich werde
sie dir leihen.«
Sie gibt ihm ein Zeichen, sich zurückzuziehen, legt sich neben
Emmanuelle, nimmt sie in die Arme, schläft ebenfalls ein.
ANNE-MARIE VILLEFRANCHE
Germaines Fitness-Training
»Ehebruch«
Es gibt keine Frau, die nicht Grund hätte, die Ehe zu brechen;
keine Frau braucht einen Grund, um die Ehe zu brechen.
Es ist kein Grund für die Frau, die Ehe zu brechen, weil der
Mann, den sie liebt, gerade nicht zur Stelle ist. Weil ein Fremder
sie ansieht, wie ihr Mann sie seit Jahren nicht mehr angesehen
hat. Weil ein Fremder ihr Dinge sagt, die ihr Mann ihr seit Jahren
nicht mehr sagte.
Nein. Dafür waren die Frauen nicht jahrhundertelang das Ris i
ko eingegangen, im Moor versenkt, enthauptet oder verbrannt zu
werden.
Warum dieses Rasen des Mannes gegen den Ehebruch der
Frau? Warum dieses Martyrium der Frau Jahrhunderte hindurch?
Vielleicht wüßten wir ohne dieses Wüten der Geschlechter ge
geneinander nicht, was Ehebruch ist. Vielleicht wären wir um
eine Sünde ärmer, um die kunstvollste und sinnloseste, die von
der weiblichen Fantasie jemals ersonnen wurde.
Die perfekte Ausführung gelingt nur einer glücklichen, gelie b
ten Frau, die nicht den geringsten Grund dazu hat. Sie denkt
nicht daran, sich neu zu verlieben. Sie könnte es gar nicht. Ihr
gesamtes Kontingent an Liebe hat sie an ihren Ehemann ve r
schwendet. Was sie braucht, ist Erholung von dieser Strapaze.
Der Ehebruch als pikante Drohung ist ein weiblicher Ur
wunsch. Seine Seltenheit ist nur damit zu erklären, daß es für die
Frau fast aussichtslos ist, den richtigen Partner dafür zu finden;
einen Mann, der Kunstverstand genug besitzt, um dem klass i
schen Arrangement, bei dem der Ehemann Zuschauer ist, zuz u
stimmen.
Lust am Ver führen? Wenn sie nur nicht wüßte, wie ernst ein
Mann so etwas nehmen kann! Nicht einmal Neugier ist es. Was
ein Mann ist, we iß sie zur Genüge. Die Jungfernschaft eines
Jünglings ist nicht Reiz genug; sie hat nicht vergessen, wie lästig
ihr die eigene war. Sie sucht niemanden, bei dem sie über ihr
Leben jammern kann, denn es gibt nichts zu jammern. Sie jagt
nicht einmal der Sünde nach, denn sie hat nicht den Ehrgeiz, eine
Heilige zu werden.
Sie hat keinen Grund – das ist Grund genug.
Der Gerechtigkeit halber muß gesagt werden, daß der Eh e
bruch in dieser Vollkommenheit selten ist. Es bedarf dazu einer
vollkommenen Frau. Ohne vorei ngenommen zu sein, muß man
Laura diese Vollkommenheit zugestehen.
Als sie aus dem Jagdhaus trat, war die Sonne hinter den Kronen
der Kastanien verschwunden. Der Sand, der in ihre Sandalen
rieselte, war heiß. Die Kunstledersitze des Jeeps kochten. Der
Rücken eines glühenden Tieres. Der dünne Wollstoff des Rocks
bot keinen Schutz.
Laura mochte es. Das Feuer und das Frösteln. Nicht nur auf
der Haut, im Rücken, zwischen den Schenkeln, sondern auch in
ihr, im Mund, im Hals, in den Eingeweiden.
Sie legte die Händ e auf das glühende Steuerrad. Züngelnde
Flammen, die in sie drangen, die ihr den Atem nahmen.
Sie wendete den Wagen und lenkte ihn auf den schmalen Fel d
weg, der nach einigen Kilometern in eine Pappelallee mündete,
die bis zum Schloß führte.
Ihr Haar flatte rte im Fahrtwind. Irgendwann hatte es sich ge
löst. Wahrscheinlich suchte Oskar jetzt die Nadeln und Kämme
am Boden zusammen. Haare von ihr, die er ins Portemonnaie
steckte.
Eine Biene ließ sich auf der Lacktasche nieder, die auf dem
Nebensitz lag. Das dich te Pelzkleid des Insekts, goldbraun.
Dieselbe Farbe, die sie an Oskar entdeckt hatte. Seidiger Flaum,
vom Nabel abwärts.
Ohne das wäre es vielleicht schon das erstemal nicht geschehen.
Das zweitemal wollte Laura nicht mehr; eine Wiederholung
machte etwas Langweiliges nicht spannender. Aber Oskar er
wachte plötzlich aus seiner Betäubung, fiel über sie her. Der Slip,
den sie schon wieder anhatte, zerriß unter seinen Händen. Jetzt
steckte er zusammengeknüllt in der Handtasche. Sie hatte ihn
nicht mehr anziehen können.
Auch ein Siebzehnjähriger war eben nichts anderes als ein
Mann. Es mußten die Männer gewesen sein, die die Ehe erfu n
den hatten. Wenn schon dieses Kind verlangte, daß sie sich die
Haare unter den Achseln wachsen lassen sollte. Für ihn. Als
gehörte sie jetzt ihm. Als würde sich das, was geschehen war,
wiederholen!
Nicht einmal für Ceno hatte sie damit aufgehört, sich epilieren
zu lassen. Obwohl er sie immer wieder darum gebeten hatte.
Vielleicht war es das, was Ceno an Ivanka gefiel, das Vlies unter
den Armen.
Etwas wie ein Lächeln lag auf Lauras Gesicht, ein Ausdruck
von Erwartung.
Die Allee endete an dem weißen gemauerten Tor, das in die
Wirtschaftshöfe führte. Laura schaltete den Jeep herunter.
Die hohen Kamine mit den Rundhauben warfen bizarre Scha tten
über den Hof.
Vor den Garagen standen die Wagen der Gäste. Der Cadillac,
daneben der Bentley von Ceno, der einzige Wagen, der noch
staubig war. Die anderen glänzten vor Nässe. In den Rinnen
zwischen den grauschwarzen Pflastersteinen stand das Wasser.
Zwei Männer in Gummistiefeln lederten die Wagen trocken.
Die funkelnden Autos, die Garderobe, die aufgebügelt in den
Schränken hing, die Schalen mit Obst und Kon fekt, die Lektüre
auf dem Nachttisch, die Kopfwehtabletten, die Bettbezüge mit
den eingestickten Initialen des Gastes – alles das hatte erst Ivanka
eingeführt. Eine Polin hatte kommen müssen, um Giulio Frevelli
zu den fürstlichen Allüren seiner Vorfahren zu bekehren.
Laura parkte den Jeep vor der offenen Remise, neben den an
deren Jagdjeeps. Sie stieg aus, raffte Jacke und Tasche zusammen.
Als sie sich umdrehte, stand Valentino vor ihr. Neben sich hatte
er einen der silbergrauen Weimaraner, von denen es in Vernier
ein Dutzend gab. Der Hund kam wedelnd auf Laura zu, drängte
sich an sie, stieß die Schnau ze in das Dreieck des Schoßes. Laura
ließ ihn gewähren.
»Signor Lumati ist vor einer halben Stunde gekommen«, sagte
Valentino. »Er hat nach Ihnen gefragt.«
Laura sah ihn an. Hatte er dieselbe Witterung wie der Hund?
Oder war es etwas anderes? Wartete er au f einen Befehl, immer
noch unsicher in seiner Wahl zwischen Ceno und ihr? Brauchte
er ein neues Versprechen und eine neue Demütigung? Hatte sie
heute noch nicht genug getan für ihn? War das aufgelöste Haar
nicht deutlich genug? Mußte sie die Handtasche öff nen, gerade
lange genug, daß er den zerfetzten Slip sah? Nein. Ungewißheit
war ein wirksameres Gift. Wenn er Augen im Kopf hatte, konnte
es ihm nicht entgehen. Ihr Rock war eng. Beim Ausschreiten
würde er sehen, daß sie nichts darunter trug, nicht einmal mehr
den Slip von heute nachmittag.
»Ich habe den Wagen gesehen«, sagte Laura. Sie ließ Valentino
stehen. Der Hund lief ihr nach. Valentino pfiff das Tier zurück.
Laura wandte sich um. Sie sah, wie Valentino das Tier an die
Leine nahm. Zitterten seine Hände ? Eifersüchtig auf das Tier.
Begierig, es zu züchtigen oder zu liebkosen? Er bemerkte Lauras
Blick. Er packte den Hund bei der Schnauze.
Laura wandte sich ab. Gleichgültigkeit. Es gab kein besseres
Mittel.
Mein Mann fährt jeden Morgen mit dem 8 Uhr 5 in die Stadt und
kommt mit dem 6 Uhr 51 zurück. Mein Töchterchen geht mo r
gens zur Schule und spielt den ganzen Nachmittag lang mit
andern Kindern, und so bin ich die meiste Zeit über allein.
Wir waren umgezogen, in größere Nähe zur Stadt, wo mein
Mann eine Stellung bei der UNO hat. Der Posten ist nicht gut
bezahlt, deshalb habe ich kein Mädchen und mache die Hausa r
beit selbst. Ich bin ziemlich geschickt darin, die Wasserleitung zu
reparieren, ein Regal aufzustellen, die Bilder umzuhängen, und
ich ärgere mich nur darüber, daß ich es tun muß, weil der Mann,
den ich geheiratet habe, nicht vollkommen ist. Sogar mir selbs t
gestehe ich das nur ungern ein, denn ich liebe ihn sehr; tatsä ch
lich ist gerade das der Grund dafür, wie Sie schon vermutet
haben werden, daß ich mich ärgere. Mein Mann ist ein glänze n
der Kopf, heißt es, und unentbehrlich bei der UNO. Er spricht
acht Spr achen und besitzt zahlreiche akademische Grade ve r
schiedener Universitäten. Zu Hause aber schweigt er sich aus, in
Schriftsprache wie in Dialekt, und ich weiß von seinen Talenten
nur aus dem Wer ist Wer? und durch seine zahlreichen Verehrer.
Ich bin auf de m Land geboren und aufgewachsen, mein Mann
hingegen lebt und denkt in einer winzigen Stadt, die er in seinem
Kopf mit sich herumträgt. Sein wohlgeformter Schädel um
schließt hohe Gebäude und Untergrundbahnen und Fahrstühle,
und die Häuser und U-Bahnen und Fahrstühle sind bevölkert
von winzigkleinen zellenartigen Menschen, jeder von ihnen mit
seinem Bürgerrecht, seiner Steuerfreiheit, seiner Aufgabe. Mein
Mann ist Kaiser, Fürst, Kanzler, und sein Einfluß gleicht der
Schrift an der Wand. Er denkt. Dies soll ni cht eigentlich eine
Kritik sein, denn ich bin voller Bewunderung für seinen fruch t
baren Geist, aber warum nur ist er so unpraktisch? Warum
erbleicht er, wenn ich ihn bloß darum bitte, das Bild auf derse l
ben Höhe zu halten, so daß ich zurücktreten und beurt eilen
kann, ob es hoch genug hängt? Warum kann er den simplen
Mechanismus der Toilette gleich neben der Küche nicht begre i
fen? Warum hat er es nicht ein einziges Mal fertiggebracht, die
Zündflamme im Backofen zu finden? Oder den Fliegendraht zu
flicken? Oder auch nur das ewig klemmende Fenster zu öffnen?
Es muß abgehobelt werden, sage ich sanft, aber nicht zu viel,
sonst wird es im Winter klappern. Armer Liebling – er kann es
einfach nicht in Ordnung bringen, und erstaunte Blicke nutzen
da nichts. Vielleich t ist dies alles eine Entschuldigung oder ein
moralisches Mäntelchen, um mein Interesse an dem Mann von
nebenan zu erklären. Anfangs sah ich ihn nur durch Glas, durch
die Fensterscheiben. Sogar im Bett sitzend, während des Frü h
stücks, das ich unten gericht et und mir selbst zusammen mit der
Morgenzeitung serviert hatte, beobachtete ich ihn, wie er mit
zwei großen, löwengleichen Apportierhunden über den Rasen
ging, sie führte, wohin ich nicht wußte. Doch sie paßten gut
zueinander, und ich ahnte, daß entweder er sie für menschliche
Wesen hielt oder sie ihn für einen Hund nahmen. Sie öffneten
ihre Mäuler und gähnten zu ihm auf, und er lächelte und sagte
etwas. Später am Tage sah ich ihm zu, wie er den Rasen mähte
und dürre Zweige und Äste aufsammelte; ich sah ih n mit einem
Schubkarren; ich hörte ihn hämmern, als er die Doppelfenster
einsetzte. Eines Tages war er auf dem Dach und fegte das welke
Laub aus der Trau frinne. Ich kam nicht auf die Idee, mich zu
fragen, warum er immer daheim war; ich bewunderte ganz ei n
fach seine Geschicklichkeit. Als wir Sturm hatten und ein großer
Ast von der hohen Ulme abbrach, war er prompt mit seinen
Werkzeugen zur Stelle und verwandelte den Ast in Feuerholz,
das er im Schuppen aufstapelte. Zuweilen kam seine Frau, eine
pummlige Pers on mit hohen Absätzen, aus dem Haus, gestik u
lierte und rannte wieder hinein, weil das Telefon klingelte, und
fort war sie.
Eines Tages, wir wohnten etwa sechs Wochen da, kam sie mich
besuchen. Es überraschte mich, denn ich hatte keine altmod i
schen Höflichkeiten von Seiten meiner Nachbarn erwartet.
Man könnte eher sagen, daß sie vorbeikam, als daß sie Besuch
machte. Es sah aus, als hätte sie sich verlaufen. Ich hatte, vie l
leicht albernerweise, das Gefühl, sie wolle es vermeiden, daß ich
glaubte, sie mache einen offiziellen Besuch mit allen Konseque n
zen und dem altväterlichen Unfug. Sie war ohne Hut, trug ein
Baumwollkleid und darüber einen Pullover. Ich erinnere mich,
daß ihr Gesicht gerötet war, so als sei sie gelaufen. Ich saß auf
den Treppenstufen und rauchte eine Zigarette.
»Ich bin Lesley Brinkerhoff«, sagte sie.
»Und ich Carola Byron, guten Tag.«
Sie sah weit hinaus auf den Sund von Long Island, doch zuvor
hatte sie mich blitzschnell gemustert: meine Mar drasslacks, das
weiße Hemd, die Espadrilles, mein dunkles Haar, den langen
Hals.
»Gefällt es Ihnen hier?« fragte sie mürrisch.
»Ich bin begeistert«, sagte ich.
»Ihr Mann«, sagte sie, »ich habe gelesen, was er sagte anlä ß
lich…«
»Oh«, sagte ich.
»Wollen Sie nicht mit hinüberkommen und etwas trinken?«
fragte sie.
»Auf der Stelle?«
»Ja.«
»Liebend gern«, sagte ich, doch wie gewöhnlich fühlte ich mich
überrumpelt, wollte es aufschieben.
»Eigentlich müßte ich…« begann ich.
»Ach bitte, kommen Sie doch mit, Jason macht uns einen Ma r
tini.«
Ich ging über unsere anein andergrenzenden Rasenflächen und
betrat ihr Haus; die beiden riesigen Hunde schnüffelten zwischen
meinen Beinen, als sei ich ein Mann.
»Laßt das«, sagte Lesley, »Platz! Sind sie nicht schrecklich?«
»Mir macht’s nichts aus«, sagte ich, »brave Hunde.«
»Dies ist mein Mann«, sagte sie. In ihrer Stimme wie in ihrem
Betragen spürte ich etwas Entschuldigendes. Warum?
Der Mann von nebenan sah nicht auf, er rührte etwas in einer
Kristallkaraffe und lächelte in sie hinein, als wäre sie ein Bach mit
einer Forelle.
»Jason! Das ist unsere Nachbarin, Mrs. Byron. Wie ein kleiner
Junge«, sagte sie. »Sag schon guten Tag.«
»Guten Tag«, sagte er, »bitte entschuldigen Sie mich«, und er
ging hinaus.
»Jason!«
Er gab keine Antwort.
Lesley zuckte die Achseln und lachte. Sie schenkt e uns zu tri n
ken ein, wobei sie das Eis mit den Fingern zurückhielt, die sie
anschließend abschleckte. Das machte sie mir beinahe symp a
thisch.
Hinter der Bühne entstand ein kleiner Tumult, und ich hörte,
wie die Wasserspülung der Toilette betätigt wurde. Er wird sie
reparieren, dachte ich.
Lesley runzelte die Stirn. Die beide n Hunde, eine iigen Zwillin
gen gleich, lagen da, die Nase zwischen die Pfoten gesteckt, und
äugten in Richtung des Aufruhrs, aufmerksam und sprungbereit.
Als das Quaken einer Ente hörbar wurde, sprangen sie hoch.
»Platz, Gemelli!« befahl Lesley. »Also wirklich, Jason«, sagte sie
ins Leere. Das Quaken steigerte sich in wahnsinnigem Cresce n
do. Es war köstlich. Ich lachte, und ich glaube, Lesley auch, und
die Gemelli wedelten unisono mit ihren langen Schwänzen.
Der Mann von nebenan kam vor den Vorhang. In der Hand
hielt er eine Entenjäger-Lockpfeife, führte sie an die Lippen.
»Nein, Jason, bitte Schluß jetzt, was soll Mrs. Byron denken.«
Gehorsam schob Jason die Pfeife in die Hosentasche. »Ich halte
eine Ente in der Toilette«, sagte er und lächelte bezaubernd.
»Was für ein Jux«, sagte ich.
»Nein wirklich«, sagte er mit weitoffenen Augen, »ich meine es
ernst.«
Er stieß mit dem Fuß gegen den Teppich. Ich spürte, daß er
seine Frau und mich als Erwachsene betrachtete.
Ich wollte unbedingt diesen Eindruck, den er von mir haben
mußte, korrigieren, diese Kollektivschuld einfach aufgrund me i
nes Zusammentreffens mit Lesley.
»Darf ich sie sehen?« fragte ich.
»Nein«, sagte er.
Ich ärgerte mich, fühlte mic h zurückgestoßen. »Ist es nicht
grausam, eine Ente in so engem Gefängnis zu halten?« fragte ich.
»Genau das sage ich immer«, bemerkte Lesley.
Ich erkannte meinen Fehler. »Ist es eine Tauchente, eine Kri k
kente, eine Kanevasente oder eine Wildente?« fragte ich.
Er schoß einen Blick zu mir hinüber; seine Augen verengten
sich eine Spur, zeigten eine gewisse Schlauheit, doch Lesley
antwortete für ihn.
»Es ist eine Schwimmente«, sagte sie. Sie war mir voraus.
Die Gemelli standen auf, ihre Schwanzspitzen gingen hi n und
her.
Quak – quak – quak! Quak – quak – quak! ertönte es von der
Toilette.
»Platz doch, Gemelli!« sagte Lesley.
Mein Blick ging über Jasons Jeans, und sie waren so eng, daß
ich mühelos die Umrißlinie der Lockpfeife erkannte, er hatte sie
nicht berührt.
»Setzen Sie sich doch ein bißchen und erzählen Sie von sich,
Mrs. Byron, und trinken Sie aus. Ist noch Eis da, Jason? Was tun
Sie so den ganzen Tag?«
Das Quaken hörte nicht auf. Jason beruhigte die Hunde, sie
wälzten sich auf den Rücken und ließen die Zu ngen lang herau s
hängen.
Es wurde ziemlich geräuschvoll. Ich kicherte. Liebend gern
hätte ich gesehen, wie die Ente in der Toilettenschüssel planschte
und kreiste, ja vielleicht sogar auf dem Kopf stand, wie Enten das
zu tun pflegen.
Plötzlich war alles sti ll, und nach einer Weile gezwungenen
Plauderns stand ich auf, um mich zu verabschieden.
»Sag auf Wiedersehen, Jason«, sagte Lesley.
»Wiedersehen«, sagte Jason. Er saß bei den Gemelli auf dem
Boden, und jeder der beiden knappte an einer seiner Fäuste
herum.
»Jason!«
»Nein, bitte bleiben Sie doch sitzen«, sagte ich, doch er stand
auf und lächelte mich freundlich an. »Ihnen werde ich vielleicht
eines Tages meine Ente zeigen«, sagte er.
»Ich glaube nicht, daß sie sich dafür interessiert«, sagte Lesley.
»Aber ja doch, bestimmt tu ’ ich das«, sagte ich, »ich wüßte
nicht, was mir mehr Spaß machen würde.«
»Ihr seid von derselben Sorte«, sagte sie. »Es ist eine Ente und
nichts weiter.«
»Aber im Klo«, sagte ich und wurde rot. »In der Toilette«, ko r
rigierte ich mich.
»Es ist der ideale Platz, um eine Ente zu halten«, sagte Jason.
»Hier drinnen will Lesley keine Ente haben.«
»Das fehlte noch«, sagte Lesley und rümpfte die Nase.
»Man zieht ganz einfach wie sonst auch«, sagte Jason.
»Nun laß schon, Jason«, sagte Lesley.
Jason sah sie an, als hielte er nicht eben viel von ihr. »Sie findet
es unanständig«, sagte er.
»Manchmal glaube ich, er macht sich mehr aus dieser Ente als
aus mir«, sagte Lesley schüchtern. »Stimmt’s, Liebling?« fragte sie,
doch Jason war verschwunden; die Hunde trotteten hinter ihm
drein.
»Jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte ich.
»Sie sind allesamt große Kinder, nichts weiter, ist es nicht so«,
sagte sie und machte dabei eine weitausladende Geste, die die
gesamte Männerwelt einbezog; aber sie kannte meinen nicht,
wenn der ein Kind ist, so gewiß ein reichlich altkluges.
»Ihr Mann natürlich ist so bedeutend«, fügte sie hinzu, als habe
sie meine Gedanken erraten. »Ihn meine ich nicht.«
Und ich dachte, er würde ganz gewiß in der Toilette keine Ente
halten.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich.
»Auf Wiedersehen, meine Liebe, kommen Sie uns wieder bes u
chen, vielleicht zum Bridge einmal.«
Du lieber Himmel, dachte ich. »Ja, sehr gern«, sagte ich, »vielen
Dank.«
Danach sah ich die bridgespielenden Damen kommen und ge
hen, in ihren kleinen Baumwollkleidern und ihren strengen Pu l
lovern und hochhackigen Schuhen, aber mich lud sie nicht ein,
und ich war froh darüber.
Immer wieder verschwand Jason mit den Ge melli in den Wald
und kam erst zurück, wenn die Damen in ihren langen, haif isch
flossenbewehrten Wagen die Auffahrt hinunter - und davong e
rollt waren. Ich sah, wie er mit dem Rechen die Spuren glatthar k
te, die ihre Pneus hinterlassen hatten. Eines Tages trug er bei
seiner Rückkehr aus dem Wald etwas in seinen Armen, und
hinter ihm trippelte mi t hochgerecktem Schwanz eine junge
Katze. Wenige Minuten später aber kam er wieder heraus, die
Katze als Schrittmacher vorneweg.
Sie erlaubte ihm nicht, es zu behalten, was immer es sein moc h
te – vielleicht Katzenjunge?
Meine Gedanken beschäfti gten sich oft mit dem Mann von
nebenan. In gewisser Hinsicht war ich in ihn verliebt. Ich
wünschte mir sehr, nicht verdächtig zu sein, keine Frau, keine
Erwachsene. Ich sehnte mich danach, mit ihm zu spielen, seine
Vertraute zu sein, Geheimnisse mit ihm zu teilen, vor allem aber
die Ente zu sehen.
Ich sah ihn mit seinem Angelgerät losziehen, um Barsche zu
fangen, die nach dem Unwetter zu den Laichplätzen wanderten.
Er kam mit leeren Händen heim, doch er sang zufrieden vor sich
hin. Wenig später war er drauß en beim Zaun, besserte ihn aus
und strich ihn. Es scheint fast, als hätte ich nichts zu tun, außer
mit dem Fernglas das Kommen und Gehen des Mannes von
nebenan zu beobachten.
Dann ging ich hinaus und grub kleine runde Löcher und setze
Zwiebeln, doch er sah nicht auf. Die Gemelli dagegen setzten
sich etwas entfernt hin und sahen mir zu, ein breites, grinsendes
Lächeln auf ihren Zügen.
Ein oder zweimal machte ich einen lauwarmen Versuch, sie
zum Cocktail einzuladen, aber Lesley hatte beide Male etwas
anderes vor, und in Wahrheit wollte ich sie gar nicht gemeinsam
haben, wollte auch ihn gar nicht wirklich in meinem Hause ha
ben, warum weiß ich nicht. Ich wollte in sein Haus gehen und die
Ente sehen, falls sie existierte, oder mit ihm durch den Wald
streifen, oder auf den Klippen nach Roccus leneatus fischen.
Von Neugier zerfressen, ging ich eines Tages über unser beider
Rasenflächen und klingelte.
»Oh, guten Tag, kommen Sie herein«, sagte Lesley.
»Ich wollte nur guten Tag sagen, ich kann nicht bleiben«, sagte
ich.
»Jason ist in die Stadt gefahren«, sagte sie, »ich hoffe, er geht
dort nicht unter.«
»Ich tu’ das immer«, sagte ich. »Wenn ich bei Lord und Taylor
rauskomme, weiß ich nie mehr, aus welcher Richtung ich ge
kommen bin.«
»Ach, ich meine nicht diese Art Unter gehn«, sagte Lesley, »das
passiert ja jedem.« Sie erklärte sich nicht näher, und ich fragte
mich, auf welche Weise denn Jason untergehen sollte.
»Er haßt die Stadt«, sagte sie.
Ich war drauf und dran, zu sagen, ich täte das auch, aber ich bin
überzeugt, si e würde darauf erwidert haben: Ja, aber Jason haßt
die Stadt nicht auf diese Art, und deshalb sagte ich gar nichts.
»Es muß heiß sein«, sagte ich und sah dabei zur Toilette hi n
über.
»Wie meinen Sie, meine Liebe?« Sie erhaschte meinen Blick.
»In der Stadt«, sagte ich; »einfach gräßlich.«
»Jason spürt die Hitze nicht«, sagte sie. »Möchten Sie etwas
eisgekühlten Tee?«
Ich fragte mich, warum Jason in der Stadt war, selbst wenn er
die Hitze nicht spürte.
»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Wissen Sie, was ich liebe nd
gern möchte, ist die Ente sehen, ich meine, wenn Jason, Ihr
Mann«, verbesserte ich mich schnell…
»Nennen Sie ihn ruhig Jason«, fiel sie ein.
»Jason«, sagte ich.
»Was?«
»Vielleicht möchte er nicht, daß ich die Ente sehe.«
»Ach, die Ente«, sagte sie.
»Ja.«
»Er ist ein drolliger Bursche, mein Jason, nicht wahr?« sagte sie.
»O ja«, sagte ich. »Darf ich?« und ich machte einen Schritt in
Richtung Toilette.
Sie legte mir die Hand auf den Arm, hielt mich zurück. »Nein!«
sagte sie schnell und wurde feuerrot.
»Es tut mir leid«, sagte ich, »ich wollte nur…«
»Mein Knöchel«, sagte sie, »ich hab’ mir den Knöchel
verknaxt«, und sie humpelte auf einen Stuhl zu. Ich half ihr, sich
zu setzen, und sie rieb sich den Knöchel mit beiden Händen. »Es
macht einen ganz schwach, ni cht wahr«, sagte sie, und sie war
jetzt wirklich ganz weiß nach der Feuerröte von vorhin.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen?« fragte ich. Es war
mir völlig klar, daß ihr Knöchel völlig in Ordnung war, weshalb
aber die kunstvolle List?
»Ein wenig Kognak, er steht gerade neben Ihnen in der kleinen
Karaffe. Vielen Dank, Liebste, wie ärgerlich so etwas«, sagte sie.
»Wenn Sie sich wieder wohl fühlen«, sagte ich, »Frederica muß
jeden Augenblick aus der Schule kommen.«
»Sie ist so reizend«, sagte Lesley.
»Also dann auf Wiedersehen«, sagte ich.
»Kommen Sie wieder, meine Liebe.«
Ich kam nie wieder, ich kam niemals wieder.
Und lange Zeit hindurch war ich viel zu verstört und entsetzt,
um hier weiterzuschreiben. Inzwischen ist ein Jahr vergangen,
und wir sind von Seaport weggezogen. Ich sitze nicht länger auf
dem Fensterbrett, um den Mann von nebenan zu beobachten;
niemand ist an seine Stelle getreten. Mein jetziger Nachbar ist ein
Pendler, und seine Frau hat nie Besuch bei uns gemacht.
Nachdem also Lesley so getan hatte, als habe sie sich den Kn ö
chel verstaucht, nur damit ich nicht mehr an die Ente in der
Toilette denken sollte, begann ich mich zu fragen, ob diese Ente
überhaupt existierte. Oder ob sie vielleicht nur ein Spaß war, den
sich Jason ausgedacht hatte, um mich und die bridgespielenden
Damen zum besten zu haben und seine Mutter zu ärgern. Da
mals begann ich Lesley als seine Mutter anzusehen.
Was für ein ungezogener Bub er ist! dachte ich und mußte über
seine Frechheit lächeln. Was würde er wohl als nächstes anste l
len? Lesley betrachtete ich als einen guten Kerl, wenngleich ein
wenig beschränkt, und zweifellos schlief sie auch mit Jason, doch
machte sie sich wohl kaum Gedanken über die sonderbare Be
ziehung zwischen ihnen, und von Inzest hatte sie bestimmt kei ne
Ahnung. Doch ich glaubte zu spüren, daß sie ihn, wenn er ihr
auch zur Zeit ihrer Verlobung vielleicht als Held erschienen sein
mochte, jetzt nicht als erwachsenen Mann ansah, sondern als
einen kleinen Jungen, und meiner Ansicht nach hatte sie ihn zu
diesem kleinen Jungen gemacht. Vielleicht ist es grausam von
mir, sie so zu beurteilen, doch ist es so unwahrscheinlich, daß sie
nach jahrelangem Enttäuschtsein von dem He lden schließlich
dem Kind den Vorzug gab? Ihn, weit stärker, als ihre kleinen
Baumwollkleider und lächerlich hohen Schuhe sie erscheinen
ließen, zu dem machte, für das sie sich entschieden hatte? Arme
Lesley.
Lesley war immer so geduldig mit ihm, hörte ich bei Ralph eine
Dame sagen, nachdem alles vorüber war, und die andere antwo r
tete: Sie tat es einzig zu seinem Besten.
An jenem Morgen machte ich mir wie gewöhnlich mein Frü h
stück, und als ich vor die Tür trat, um die Zeitung hereinzuholen,
sah ich die Gemelli in großen Sprüngen und miteinander balgend
über den Rasen jagen. Nie hatte ich sie ohne Jason gesehen,
höchstens in ihrem Gehege, wenn er zum Angeln gegangen war,
und jetzt erschienen sie mir sehr wild und furchterregend. Ein
Angstschauder durchrieselte mich, sie waren so riesig. Sie en t
deckten mich in meinem weißen Pyjama und blieben sto cksteif
stehen, die Köpfe erhoben, die Schwänze gestreckt. Eilig schloß
ich die Fliegentür, als sie über den Rasen gejagt kamen.
Nein! Nein! Geht weg, Gemelli, und ich schlug die innere Tür
zu, verriegelte sie. Wo war Jason?
Ich frühstückte, doch ich empfa nd Unbehagen und Angst. Es
schien, als fühle ich mich ohne Jason nicht sicher. War er mein
Held? Die Gemelli amüsierten sich königlich. Ich sah sie in den
Wald sausen. Höchste Zeit, Lesley anzurufen und ihr zu sagen,
daß die Hunde frei herumliefen.
Die Klingel schlug lange an, ich hörte es so nah, als wäre sie im
Nebenzimmer. Endlich meldete sich Lesley.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe«, begann ich, »die
Gemelli…«
»Jason fühlt sich nicht wohl«, unterbrach sie mich, und ich hö r
te die Angespannthe it ihrer Stimme, es klang, als sei sie sehr
müde.
»Ich… ich«, begann ich noch einmal, doch sie sagte nur: »Jason
ruft nach mir, leben Sie wohl, meine Liebe«, und hängte ein.
Zu meiner Überraschung trat Jason wenig später aus dem Haus.
Er sah so kräftig und verläßlich aus wie immer und pfiff nach
den Hunden.
»Sie sind in den Wald gelaufen«, sagte ich.
Er sagte nicht danke, pfiff noch einmal, und da kamen die be i
den aus dem Wald hervor. Sie zupften und zerrten an irgend
etwas, das sie erbeutet hatten. Ich war ganz nahe, hatte keinerlei
Furcht mehr vor den zwei großen jungen Hunden, und ich sah
alles ganz genau.
»Ablegen!« sagte er.
Und sie gehorchten. Und Jason hob die gänzlich schlaffe Ente
auf, hielt sie so zart in den Händen, als wäre sie ein Baby. Ich sah
die Tränen in seinen Augen und seine zitternden Lippen.
»Nicht weinen, Jason«, sagte ich.
Mit brennendem und bittrem Haß sah er mich an.
Ich erschrak. Trat zurück.
Ein Damenschal war eng um den Hals der Ente gewunden. In
meinem Schrecken bemerkte ich doch alle Einzelheiten. Der
Schal war rosafarben, und in lila Schrift stand darauf Gute Reise.
Seine Mutter!
Jason knüpfte den Schal auf. Auf dem breiten, flachen Ente n
schnabel stand geronnenes Blut, und Klümpchen getrockneten
Blutes verdeckten die kleinen Atem löcher. Die einst feschen
Schwanzfedern waren schlaff, und der herabhängende Hals
schien sehr, sehr lang.
Jason wandte sich ab und ging ins Haus, den seltsamen kleinen
Leichnam mit sich tragend, und die Ge melli folgten ihm mit
gesenkten Köpfen und baumelnd en Schwänzen. Sie sahen aus,
als ob sie sich für die Schuldigen hielten und bereit wären, es auf
sich zu nehmen, wenn es denn sein mußte.
»Kleiner!« schrie Lesley.
Ich hörte den Schuß. Es klang nicht anders als ein Sektpfro p
fen.
EDNA O’BRIEN
Morgen
Vier Tage waren sie jetzt schon hier, und jeden Morgen stand sie
früh auf und machte auf der Promenade einen Spaziergang. Am
Ende der Promenade lag ein Golfplatz, sie schritt über das Gras
auf die leere, baumlose Fläche zu, die nichts enthielt, bis auf eine
alte, graue Ruine. Am vierten Morgen redete ein Mann sie an, der
hier nach Golfbällen suchte, und warnte sie, sie möge ja nicht mit
hohen Absätzen über die Putten gehen, obwohl er doch genau
sehen konnte, daß sie Schuhe mit flachen Absätzen tr ug. Das
andere Gras, erklärte er ihr, das zähe gelbe Zeug, sei aus Neuse e
land importiert, denn das irische Gras habe in dem mörderischen
Seewind hier keine Chance. Der Mann ruckte und zuckte beim
Sprechen, sie erkannte ihn jetzt, das war die ›Uhr‹, so gena nnt
wegen der Regelmäßigkeit seiner Verrenkungen.
»Nehmen Sie doch ein Bonbon«, sagte er und holte eine Han d
voll Karamellen aus seiner Manteltasche, aber sie lehnte ab und
ging weiter, etwa eine Meile, dann setzte sie sich auf eine Anhöhe
– jeden Tag diese lbe –, schaute aufs Meer hinaus und dachte
immer mehr oder weniger dasselbe. Würde man ihn heute sehen?
Würde er dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatten? Ihr die Ju
gend zurückgeben, ihr Vor-Leben, das, wonach jeder sich sehnte,
ausgenommen die Kinder. Und wenn sie einander sahen und er
sagte: »Na, wie geht’s?«, was sollte sie dann antworten? Sollte sie
ihm sagen, daß sie die Gattin eines Arztes war, daß sie eine Zu
gehfrau hatte, die die Türklinken putzte und die Besuche in einen
verschnörkelten Vormerkkalen der eintrug, wo für jeden einze l
nen Tag des Jahres ein besonderes Gebet stand. Schließlich war
man gut katholisch. An manchen Tagen gab es Kartoffelpüree,
an anderen Bratkartoffeln, an Freitagen Chips; man brauchte
Abwechslung im Leben. Wenn sie sonst nichts zu tun hatte, dann
saß sie oben – ein Schlafzimmer war als Wohnzimmer eingeric h
tet worden – und las, manikürte sich die Nägel, hörte sich traur i
ge Musik an. An den Abenden, an denen ihr Mann nicht nach
Hause kam, saß sie am Fenster, hauchte auf die Scheiben, wischte
sie wieder sauber, stellte sich vor, welchen anderen Verlauf ihr
Leben hätte nehmen können, dachte an ihre Kindheit und an
eigene Kinder, die sie nun nie mehr haben würde; sie hatte sich
wegen irgendeines inneren Leidens operieren lassen, und dabei
hatte man ihr zuviel weggeschnitten. Ein Freund ihres Mannes
hatte die Operation gemacht, kostenlos. In bitteren Momenten
redete sie sich ein, daß ihr Mann das so arrangiert hatte, damit sie
kinderlos bleiben und ihr ganzes Leben lang nur ihn verwöh nen
würde. Die Operation hatte sie noch immer nicht verwunden.
Sie hatte ihn geliebt, so wie man eben liebt, als sie vor sieben
Jahren geheiratet hatten; dann begann sie, ihn nicht mehr zu
lieben; und jetzt hatte sie derart genug von ihm, daß sie gar nicht
mehr glauben konnte, ihn jemals geliebt zu haben. Er war
schwach, vergeßlich, glücklich über ein neues Hemd, zu ängs t
lich, um nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen im Garten
Kohlen zu holen, knausrig bei den Ausgaben für den Haushalt,
dafür splendid in den Wirtshäusern, ein Angeber, ein Charmeur.
Deshalb war sie zurückgekommen, um den anderen wiederzus e
hen, ihren Jugendgeliebten, den Jungen mit dem sandfarbigen
Haar. Ein paar Nächte lang war sie mit ihm zusammen gewesen,
sie hatten getanzt, er hatte si e unter einer Pappel vor ihrer Wo h
nung in Dublin geküßt. Damals waren sie beide noch Studenten
gewesen. Er hatte nie sein Examen gemacht, sondern wurde ein
Folk-Sänger und war jetzt in Amerika sehr berühmt. Sie hatte es
so eingerichtet, daß sie und ihr Man n hier in diesem Ort, woher
ihr Geliebter stammte, ihren Urlaub verbrachten. Das war ganz
leicht gewesen, und einen Urlaub hatten sie dringend nötig, sie
hatte genug von dem ewigen Telefon, der ewigen Türklingel, dem
Kanarienvogel in seinem Käfig und den monatlichen Fleisc h
rechnungen.
»Buche einfach irgendwo«, sagte ihr Mann. »Wir haben Geld,
wir können es uns leisten.«
Also buchte sie ein Zimmer in dieser Hafenstadt im Westen
von Irland, in der Hoffnung, daß auch er, jetzt, da es Sommer
war, hier seinen Ur laub verbringen würde. Schon am ersten
Abend hörte sie vom Hotelbesitzer, daß er hier sei, aber sie hatte
ihn noch nicht gesehen. Heute vielleicht? Immerhin, sie sah
wenigstens gut aus. Das lange, dunkle Haar machte sie jung, wie
dreißig sah sie bei weitem noch nicht aus, der Wind ließ ihre
Augen glänzen wie früher, als sie noch ein Mädchen war und
darauf brannte, sich zu verlieben.
Auf dem Rückweg hatte sie die Stadt vor sich und die Häuse r
zeile, die zu der neuen Kirche mit der Aussicht aufs Meer hinau f
führte. Die Häuser waren alle weiß, nur eines hob sich von den
anderen ab mit seinem Pfauenblau, aber auch die weißen Mauern
hatten einen Stich ins Blaue, sie hatte gehört, daß die Leute hier
immer etwas blaue Farbe in die weiße Kalktünche gaben, das
Blaue sc himmerte leicht durchs Weiße hindurch, wie das ferne
Klagen des Brachvogels durch die Schreie der Möwen. Die Mö
wen schrien wie alte Weiber, die Brachvögel klagten wie traurige
Mädchen, menschliche Stimmen gingen im Gelärm der Vögel
und im Röhren des Windes unter. Bald würde es regnen, die
Geschäftsleute holten schon die Sachen herein, die sie im Freien
ausgestellt hatten, die bunten Bälle und die handgestrickten
Pullover. Ein paar Kinder auf Besuch spielten unten am Strand,
ein paar Erwachsene lehnten sich über das Geländer, sahen ihnen
zu, riefen sie zurück. Sie lächelte. Aus diesen steifen Kunden
machte sich der Hotelbesitzer nur wenig – das waren Engländer,
die ein riesiges Frühstück verschlangen, ein riesiges Lunch, ein
riesiges Abendessen und dazu Pale Ale tranken. Kein Profit
dabei.
Sie zog sich Schuhe mit hohen Absätzen an und ging in die
Hotelbar, sie wollte ihren Mann sehen und war sicher, daß sie ihn
dort finden würde.
»Nur herein, Mrs. Mullaly!«
»Ellen.« Ihr Mann hatte schon wieder dieses glücklich abwesen
de Lächeln, wie immer, wenn er ein Glas mit Alkohol in der
Hand hielt.
»Die wird noch eine echte Wandersfrau.«
»Was für eine gute Farbe sie hat!«
Sie ging über den sauberen Steinfußboden zu ihnen – zu ihrem
Mann, Dr. Mullaly, zu Mr. Carmody, dem Ban kmanager aus der
nächsten County, zu James, dem Hotelbesitzer, der in seinem
schwarzen Anzug aussah wie ein Pfarrer, zur der ›Uhr‹, der ger a
de versuchte, einen Drink gegen ein paar lehmverkrustete Gol f
bälle einzuhandeln, und zu einem Mann namens Tim, der einen
Geißbock hielt und sich über den schlechten Gang der Geschäfte
beklagte.
»Nehmen Sie einmal mein Problem«, sagte er, »die edle Geiß ist
am Aussterben, Materialismus und Dialektik sind in Gefahr,
zu…«
»Yeah«, sagte der Amerikaheimkehrer. Eigentlich geh örte er zu
gar keiner Partei, aber er bändelte mit allen an, außerdem ve r
suchte er, James seine Kunden abspenstig zu machen, dieser
betrachtete ihn daher mit einer gehörigen Portion Mißtrauen . Er
war aus Amerika zurückgekehrt und hatte ein großes Herrenhau s
gekauft, in ein Hotel umgewandelt und mit grünen Teppichen
und grünen Vorhängen ausgestattet. Den Besuchern gefiel aber
anscheinend das kleinere Hotel mit seinen weißgekalkten Wä n
den und Fußböden aus Schwarzstein (aus dem Steinbruch in der
Nähe) viel besser.
»Was trinkst du?« fragte der Arzt seine Frau.
»Irgendwas, Sherry…« Er selber trank Whisky. Bis Mittag wü r
de er langsam von seinem Barhocker heruntersacken, später die
Suppe schlürfen, die James ihm brachte.
»Sie sind doch der ›Uhr‹ begegnet«, sagte Mr . Carmody zu ihr.
»Hat er Sie belästigt?«
Die ›Uhr‹ tat sich derart schwer, von einem Mädchen einen
Kuß zu bekom men, daß er nur in der Finsternis eine Chance
hatte, und auch dann nur mit Gewalt. Ich hätte ihn küssen sollen,
dachte sie und seufzte über ihre kleinliche Kühle, die Kühle aller
Frauen, die das, was sie geben, immer nur an dem messen, was
sie dafür bekommen.
»Ich, ich hab’ überhaupt nichts mit der Frau Doktor gemacht,
was ich nicht…« fing die ›Uhr‹ an, aber James, der ihn manchmal
als Aushilfe be schäftigte, schickte ihn in die Küche. Sie sahen
ihm alle nach – da konnte man gar nicht wegsehen –, wie er
zuckend zur Tür ging, sein eigenes Leiden gleichsam parodi e
rend. Gleich würde Ellen fragen, ob ihr Freund schon aufg e
taucht sei. Zu spät. Jetzt redete der Doktor.
»Erzähl doch Ellen die Geschichte«, sagte er zu Mr. Carmody.
»Ellen wird sie gefallen.«
»So, bist du sicher?« Diese Bitterkeit war ihnen bereits zur Ge
wohnheit geworden.
»Auf jeden Fall«, antwortete Mr. Carmody, fuhr sich mit der
Zunge über die Lippen und setzte an. Er war ganz außerstande,
eine Geschichte zu erzählen, ohne sie vorher durch ausführliche
Erklärungen zu ruinieren.
»Das ist ein schönes Beispiel für eine typisch irische Unterha l
tung, für die eingeborene Hinterfotzigkeit, wenn Sie so wollen…«
»Los, fang schon an«, sagte der Doktor, der es besser verstand.
»Schön«, sagt Mr. Car mody, »da waren also diese beiden Mä d
chen, die eine hinter der Mauer, die andere fuhr auf ihrem Fah r
rad draußen vorbei. Wir wollen die eine hinter der Mauer Maria
nennen, ihre Freundin aber Martha.«
»Immer die ewige Scheiß -Bibel«, sagt der Mann mit dem Gei ß
bock.
Mr. Carmody fuhr fort: » ›Wie spät ist es denn?‹ fragt das Mä d
chen auf dem Fahrrad.
›Fährst du hinunter ins Dorf?‹ fragt das Mädchen hinter der
Mauer.
›Kann ich dir was mitbringen?‹ fragt Martha zurück.
›Was brauchst du denn selbst aus dem Dorf?‹ sagt Maria darauf.
›Ich weiß überhaupt noch nicht, ob ich wirklich fahre‹, sagt
Martha«, darauf fing Mr. Carmody zu lachen an und gab damit
Ellen das Zeichen, ebenfalls zu lachen. Kein Zweifel, sie hatte
wirklich keinen Humor. Ein Seelchen, das war das passende
Wort für sie, ein rührseliges Seelchen.
James wußte, was sie auf dem Herzen hatte. »Wir werden bald
Gesellschaft bekommen«, sagte er und teilte ihr mit, daß Tom
angerufen und einen Tisch für drei Personen bestellt hatte.
»Wir werden ihn schon zum Singen bringen«, sagte sie und tat
so, als wäre sie nur daran interessiert, als würde die Vorstellung,
daß er singen würde, sie so glücklich machen, daß sie gleic h eine
Runde für alle bestellte. Sie summte sogar ihrem Mann ein kle i
nes Lied vor.
»Sehr schön«, sagte James. Das hatte sie an ihrem Hochzeitstag
gesungen, damals studierte ihr Mann noch, und sie war Lehrerin.
Dann machte er seine Prüfungen, kam als Arzt voran, und sie
mußte ihre Arbeit aufgeben, denn es gehörte sich nicht für einen
erfolgreichen Mann, daß seine Frau arbeiten ging. Aber das war
ja jetzt nicht mehr wichtig, denn ihr Freund kam zurück, sie
würden beieinander sitzen und ihre Freundschaft erneuern.
»Gott ist mein Zeuge«, sagte Mr. Carmody und wärmte seine
Hände am Strahlen ihres glücklichen Gesichts. »Wer kann die
Frauen verstehen? Da schneiden sie dich mit ihrem Blick, und im
nächsten Augenblick wickeln sie dich mit ihrem Charme ein.«
»Ich habe Sie doch nicht geschnitten«, sagte Ellen mit kokettem
Lächeln, »wann soll ich Sie geschnitten haben?«
»Meine Frau«, erklärte der Doktor, zu den Flaschen in der Bar
gewandt, »ist eine einmalige Persönlichkeit, eine Dichterin – in
einer Gesellschaft wie der unseren daher völlig fehl am Platz.«
»Sie ist nicht ganz bei Trost«, sagte der Mann mit dem Gei ß
bock, weil er sah, wie sie an den Wicken in der Vase knabberte
und verschiedene Zeilen aus verschiedenen Liedern summte.
»Yeah«, sagte der Amerikaheimkehrer.
»Ich gehe jetzt«, sagte James, »und bereite das Fest für unseren
Freund vor«, und ging lächelnd hinaus.
Nachmittag
Jetzt sah Ellen ihn zum ersten Mal lachen, sein ganzes Gesicht
war wie aufgebrochen, seine blauen Augen sahen wieder so
fröhlich aus wie damals.
»Das arme Mädchen«, sagte er und lachte für sie.
»Sehen Sie«, sagte Mr. Carmody, »nach dem vielen Bereu en,
Beten und Fasten wurde ihr das neue Korsett einfach zuviel. Da
schleuderte sie es hinweg.«
»Ich habe schon immer einmal eine Wallfahrt machen wollen«,
sagte Toms Mutter, »wegen meinem Rücken.« Das hatte sie zu
Tom gesagt, aber der zerriß sich noch immer vor Lachen.
»Ich werde wallfahren gehen, wenn mich die Freuden des Le i
bes einmal verlassen«, sagte Mr. Carmody und nahm sich den
zweiten Irish Coffee vor, der für Tom bestimmt war. Den ersten
hatte sich der Doktor genommen, das war schließlich nur recht
und billig. Tom trank Tee. Bald würde er wohl gereizt werden,
wie alle Leute, die sich von der falschen Fröhlichkeit, die der
Alkohol bei einer Gesellschaft erzeugt, ausgeschlossen fühlen.
»Sie sollten Tom Ihren Geißbock zeigen«, sagte sie zu dem
Mann, der sich dieses Vieh hielt. Eine echte Eingebung! »Vie l
leicht kauft er ihn Ihnen ab und nimmt ihn mit nach Amerika.«
»Ein edler Gedanke«, sagte der Bocksbesitzer, und jetzt kon n
ten sie und Tom ohne Schwierigkeiten und ohne lange Erkläru n
gen aufstehen, um den Bock zu besichtigen, der in einer kleinen
Hütte ein paar Häuser weiter lebte.
»So«, sagte er, sobald sie entkommen waren. Sie legte den Kopf
zurück und trank mit offenem Mund den Regen – sie wollte, daß
ihr Atem für ihn nach Regen roch.
»So«, sagte sie im gleichen Ton, aber zuerst mußten sie das Vieh
betrachten. Tim wartete schon auf sie, um sie hinzuführen. Sie
sahen also einen weißen, grämlichen Geißbock, der an die Hi n
tertür gekettet war und sich in dem kleinen Garten kaum rühren
konnte. Ein paar Rhabarberstauden lagen unberührt da.
»Was frißt er denn?« fragte Tom.
»Alles«, fing sein Herr an. »Nehmen Sie zum Beispiel ein Pal m
blatt oder was wir hier eben so nennen, eigentlich ist es ja eine
Zypresse…«
Würden sie jemals von ihm loskommen? Mußten sie sich wi rk
lich noch mehr langweiliges Zeug über diesen Geißbock anhören
und dabei kostbare Sekunden verlieren?
»Schalen ißt er natürlich auch«, fuhr sein Besitzer fort. »Hunger
ist der beste Koch.«
»Er gefällt mir«, sagte Tom. »Er ist arrogant, das gefällt mir.«
»Werden Sie ihn kaufen?« fragte der stolze Besitzer, der vor
knapp zwei Minuten geschworen hatte, sich niemals im Leben
von seinem Geißbock zu trennen.
»Was sollte ich denn mit ihm tun?« fragte Tom. Sie sah, wie
gern er dem Mann entkommen wäre, aber zuerst wollte er ihm
noch auf irgendeine Art ein Pfund zukommen lassen.
»Bringen Sie ihn zum Fernsehen«, sagte dieser.
»Der spielt mich womöglich an die Wand!«
»Na ja, das kann schon sein – muß aber nicht!«
»Kaufen Sie ihm einen Baum«, sagte Tom und gab ihm das
Geld.
»Das kann ich doch nicht nehmen«, sagte Tim, schloß schnell
die Hand über dem Geld und grinste – für die nächsten drei
Abende war ihm der Porter sicher. Jetzt waren sie ihn los.
Sie gingen aus der Stadt hinaus, in Richtung auf den Golfplatz.
»Ich träume von dir«, sagte Tom, als sie endlich die Straße und
damit die Reihe der schweigenden, neugierigen, mißbilligenden
Häuser hinter sich gelassen hatten.
»Und ich«, sagte Ellen, »denke an deine Purpuraugen.«
»Meine Augen sind blau!«
»Du hast Meeraugen«, sagte sie, »die ändern sich dauernd.«
»Und wie geht’s dir?«
»Wunderbar, großartig.« Sie stiegen jetzt den ersten Grashügel
hinan, Hand in Hand, daher bemerkten sie weder Regen noch
Feuchtigkeit.
»Du bist wie ein kleines Kind«, sagte er. Sie waren beide gleich
alt, aber er war groß geworden, war hinausgezogen in die We lt,
hatte kämpfen gelernt, ums Vorsingen, um Ruhm, Geld, Ane r
kennung; er hatte sich seinen Platz an der Sonne erkämpft.
»Rede«, sagte er zu ihr.
»Warum sollen wir es mit Worten zerreden?« fragte sie.
»Weil ich sehe, daß du reden willst, du bist unruhig.«
»Bin ich alt geworden?« fragte sie ihn. »Nein«, sagte er, ihr Ge
sicht war noch genauso traurig und lieblich wie früher, ihr Hals
noch immer der Hals eines jungen Schwans. Jetzt war es aus mit
ihr. Er konnte stundenlang ernst, ja düster sein, ihre kindischen
Gefühle nicht beachten, aber dann war er auf einmal so zärtlich,
daß ihr davon ganz schwindlig wurde.
Der Regen hatte nachgelassen, sie setzten sich im Schutz eines
kleinen Hügels, um einander an zusehen. Er nahm eine kleine
Cellophanschachtel aus der Tasche und brach zwei Eckchen ab,
die weiße Pillen enthielten.
»Tut dir was weh?« fragte sie.
»Nein, das nehme ich, damit mir eben nichts weh tut.« Und
darauf steckte er sie in den Mund und kaute sie, ganz offen und
schamlos.
»Erinnerst du dich noch an die Nacht, als sie uns in Dublin fast
aus dem Pub geschmissen hätten, weil du das Wort ›Jungfer n
schaft‹ gebraucht hast?«
Er wußte noch alles, das Pub, den mit Sägemehl bedeckten
Boden, den Whisky mit dem schwarzen Etikett und die Ohrringe
aus Kristall, die einen so langen Schatten auf ihren Hals warfen.
Und er küßte sie jetzt genauso, wie er sie damals geküßt hatte. Ihr
Leib flog ihm entgegen. Sie lag auf dem nassen Importgras, er
umfing sie mit Armen und Beinen und sagte, wenn sie eine
Lungenentzündung bekäme, dann würde eben ihr Mann sie
übernehmen müssen.
»Gib mir deinen Mund«, sagte sie. Er küßte sie von ihrem ho
hen Haaransatz herunter über ihr ganzes trauriges Gesicht.
»Wenn es jetzt schön wäre, wären die Golfspieler hier«, sagte
sie, außer Atem.
»Zum Teufel mit ihnen«, sagte er.
Aus irgendeiner Gedankenverbindung heraus dachten sie jetzt
beide an die zerbrechlichen Gläser, und er preßte sie so fest an
sich, daß ihre Knochen knirschten.
»Wir können miteinander schlafen, wenn du willst«, sagte sie.
»Ich will«, sagte er.
»Dann kannst du.« Tief war sie gesunken, sie bettelte fast da r
um.
»Vielleicht wirst du dann schwanger«, sagte er, »das wäre mir
nicht recht.«
»Ich werde ganz sicher nicht schwanger«, antw ortete sie. Aber
ihr Geheimnis konnte sie ihm nicht sagen, denn das war schmu t
zig, das hatte nichts zu tun mit dem sanften Regen, mit dem
weichen Fordern seiner malvenfarbenen Zunge, die mit ihrer
Zunge verschmolz.
»Wirklich nicht, jetzt nicht, glaub mir.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja, ich bin ganz sicher, ich bin ganz sicher, daß ich dich liebe“
und daß ich immer nur auf dich gewartet habe«, sagte sie, das war
zwar nicht die Wahrheit, aber gelogen war es auch nicht. Hatte
sie das nicht auch damals zum Doktor gesagt?
»Ellen«, sagte er, ihren Namen dort aufnehmend, wo er ihn vor
Jahren zuletzt geflüstert hatte, »da ist nur eins – «
»Was?«
»Ich werde in zwei Monaten heiraten.«
»Oh.« Das änderte die Lage völlig. »Warum hast du das nicht
gleich gesagt?«
»Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Aber das tust du doch!«
»Ich weiß. Macht das wirklich so viel Unterschied? Können wir
nicht trotzdem?«
»Du willst dich noch einmal vergnügen«, sagte sie, angewidert
von ihrer eigenen Stimme , die innerhalb weniger Sekunden
schneidend geworden war. Gott allein wußte, wie ihr Gesicht
jetzt aussah. Irgend jemand hatte einmal gesagt, daß das Licht in
ihrem Gesicht ausging, wenn sie schlechte Nachrichten hörte, als
hätte man eine Lampe von innen gelöscht. Sie rührte sich unter
ihm, er setzte sich auf und nahm einen Taschenkamm heraus, um
sein Haar zu kämmen, obwohl es gar nicht zerzaust war.
»Ist sie aus Irland?« fragte sie endlich, denn er hätte wahrschein
lich nun den ganzen restlichen Abend geschwiegen.
»Nein, sie ist Amerikanerin.«
»Wie reizend«, sagte sie mit falscher Herzlichkeit in der Stimme.
»Die sind ja groß in Hygiene, in Gemeinschaft und Snacks, den
guten alten amerikanischen Snacks.«
»Du kennst sie doch überhaupt nicht.«
»Da hast du vollkommen recht«, erwiderte sie, schaute au fs
Meer hinaus und überlegte, wie sie jetzt damenhaft aufstehen
könnte, ohne daß ihre Knie knarrten, ohne daß man ihr ihr Alter
ansah. Aber da überfiel sie wieder der alte alltägliche Schmerz ,
und es tat ihr leid, was sie über Snacks und Gemeinschaft gesag t
hatte.
Sie kehrten um, gingen zurück in Richtung Stadt, vorbei am
Pfauenhaus und an den vielen weißen Häusern, die dunkler
geworden waren unter dem finsteren Himmel.
»Wo hätten wir denn miteinander geschlafen?« fragte sie.
»In der Ruine«, gab er zur Antw ort. Sie gingen in die entgege n
gesetzte Richtung.
»Die alte graue Ruine meinst du?«
»Genau.«
»Wo Fuchs und Has’ sich gute Nacht sagen?«
»Du bist ja wieder lustig«, sagte er.
»Natürlich«, erwiderte sie, »ic h bin lustig, weil ich tugendha ft
bin.« Anscheinend war es wichtig, einen glücklichen Eindruck zu
machen. Sie redete über ihr Leben, ihre glänzenden Türklinken,
über ihre Lektüre, die Patienten ihres Mannes, die Platten, die sie
sich anhörte. Er erzählte von Amerika, von Greenwich Village,
wo er lebte, von Kürbissen, die er gegessen hatte, von seinen
Konzerten und wie sehr er in den Fernsehstudios jedesmal
schwitzte.
»Schwitzen ist gesund«, sagte sie, und dann lachten sie beide
über ihre hochtrabende Bemerkung. Wenn sie jemals ein gutes
Volkslied hören sollte, dann möge sie es ihm doch bitte schicken,
sagte er und schrieb ihr seine Adresse auf eine Zigarettenschac h
tel, sich gegen die Wand des ersten Hauses der Stadt lehnend.
Die Adresse, die er ihr gab, war die der Plattengesellschaft, mit
der er seine Aufna hmen machte; seine Privatadresse vertraute er
ihr nicht an. Sie sagte, sie würde gern einmal nach New York
kommen, und er meinte, es würde ihr sicher gut gefallen. Als sie
schon ziemlich nahe beim Hotel waren, wandte sie sich wieder zu
ihm.
»Wir sollten doch noch einmal zurückgehen zu unserer Ruine.«
»Du wirst mich hassen«, sagte er.
»Nie, das könnte ich nie.«
»Die können uns jetzt schon durchs Fenster sehen«, sagte er.
»Meine armen Eltern werden ohnehin schon glauben, daß ich mit
dir zusammen abgehauen bin.«
»Wie lange bist du denn noch zu Haus?«
»Zwei Tage.«
»Vielleicht sehe ich dich noch einmal.«
»Möglich.«
»Wann?«
»Überlassen wir es dem Zufall«, sagte er, »ich plane solche Di n
ge nicht gern im voraus.«
»Ausgenommen heiraten«, sagte sie, aber er drückte sc hon auf
die Türklinke des Hotels und hatte sie vielleicht nicht mehr
gehört. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und
wölbte seine Lippen zur Andeutung eines Kusses. »Es war wahr,
wie ich gesagt habe, daß ich von dir träume, das war alles wahr«,
sagte er.
Dann gingen sie hinein, mit unschuldigem Gesichtsausdruck,
und die Leute drinnen sahen über sie hinweg, als wären sie nur
ein paar Minuten lang fort gewesen. Die Zeit war im Speisesaal
langsam zerbröckelt, Rauch lag über den Tischen, der Dampf
von heißem Kaffee und warmem Atem hatte die Fenster und die
Spiegel beschlagen und die Gesellschaft benebelt, die sich jetzt
über irgend etwas zankte, was keiner ganz genau ausdrücken
konnte.
»Das ist falsch, das ist vollkommen falsch«, hörte sie Toms Va
ter sagen.
Tom mußte sich plagen, seine Eltern loszueisen, und während
er auf sie einredete, hielt er die ganze Zeit Ellens Hand, denn er
hatte angefangen, sich von ihr zu verabschieden, und konnte
nicht damit aufhören, bis er wirklich fortging.
Nacht
Geschliddert
e.’e. cummings
William Blake
Er kam in ihr Leben geschliddert, pflegte sie nach dieser Nacht
zu sagen, und so war es auch. Wenn Mel ihr Geld nicht bei Lotus
Ltd. investiert hätte und plötzlich tot umgefallen wäre, wenn
Alva Libbey nicht den Weg aller Nannys gegangen wäre, wenn es
nicht wieder geschneit hätte, wenn sie nicht erschöpft, ausg elaugt
und blutend heimgekommen, gleichzeitig aber merkwürdig erhe i
tert gewesen wäre angesichts der Vorstellung, völlig mitte llos ein
neues Leben beginnen zu müssen – hätte sie dann je ein so
explosives Element wie Berkeley Sproul in ihr Leben gelassen?
Wahrscheinlich nicht.
Er kam in einem bunten Lieferwagen, der seinem Temper a
ment entsprechend rot, violett, gelb und leuchtend orange gestr i
chen war – jeder Kotflügel in einer anderen Farbe. Auf den
Seitenflächen prangten wilde Spraybilder, die an einen schlechten
LSD-Trip erinnerten. Der Fahrer dieses Unikums wirkte wie ein
fröhlicher Schelm oder Hofnarr mit seinen fu nkelnden blauen
Augen, dem unge bändigten aschblondem Haar und diesem
Lächeln, vor dem sie dahinschmolz. Er hatte verschiedenfarbige
Socken an: einen roten und einen grauen. Er war überhaupt
nachlässig angezogen, und seine Kleider rochen schwach nach
Mottenpulver. Er trug einen weiten, weißen Seemannspullov er,
der sich unter den Achseln auftrennte (sprengte ihn soviel gebal l
te Lebenskraft?), einen langen Wollschal (rot), aber keinen Ma n
tel. Er sah wirklich aus wie ein Vagabund. Als er Isadora eine
weiße Orchidee in einer schlanken Silbervase überreichte, fra gte
sie: »Orchideen – zu dieser Jahreszeit! Wo haben Sie die her?«
»Meine Mutter züchtet sie in ihrem Gewäch shaus in Darien«,
sagte er. »Darien: ›ja‹ auf russisch und ›nichts‹ auf französisch. ›Ja,
nichts!‹ Das charakterisiert das Nest ganz prima! Es ist die Hei
mat der unnützen angelsächsisch -protestantischen Geldaristokra
ten, der weidwunden Gewinner.«
Isadora lachte. Es kam ihr vor, als habe sie ihn in einem Buch
erfunden und als werde sie nun Zeuge einer erstaunlichen Ve r
wandlung, die ihn zum Leben erwec kte. Er hätte Marietta Rob u
stis Freier sein können, aber nicht ihrer. Nein, er paßte nicht
einmal zu Marietta Robusti; er war wie eine Figur aus einem
anderen Zeitalter. Vielleicht entstammte er dem Artusroman, den
Nebeln der Frühgeschichte; der edle Ritte r Lancelot – oder
Gawan. »Was hatten Sie denn hier in der Nähe zu tun?« Bean sah
sie verständnislos an. »Ich war nicht hier in der Nähe«, sagte er.
»Ich war bei meinen Eltern in Darien. Ich hatte Angst, sie nie
wiederzusehen, wenn ich nicht schnell handelt e. Als Sie mir das
Stück Papier mit Ihrem Namen gaben, bin ich erst mal total
ausgeflippt. Da hielt ich Sie zunächst bloß für eine unverschämt
hübsche Frau, und auf einmal stellt sich heraus, daß Sie auch
noch meine Lieblingsautorin sind.«
»Mit Ihrer Schmeichelei werden Sie’s noch weit bringen.«
»Ich meine es ernst. Sie sehen noch besser aus als auf den Fo
tos. Ich wär’ nie darauf gekommen, daß Sie die Isadora sind.«
»Gibt es denn noch viele andere Isadoras?«
»Nun, da wäre zum Beispiel Isadora Donkey…«
»O Gott! Sie werden vom Kalauer-Teufel geplagt… Sie sind der
Mann meiner Träume. Noch so ein Wortspiel, und ich bin auf
ewig die Ihre… Wollen Sie etwas trinken?«
»Und essen… wenn Sie bei Ihrer Einladung bleiben. Sie müssen
wissen, daß ich Ihre Sekretärin in den letzten vierundzwanzig
Stunden gut ein dutzendmal angerufen habe. Sie hat mir anda u
ernd erzählt, Sie seien nicht da oder unter der Dusche oder in der
Sauna. Entweder sind Sie die sauberste Frau in ganz Connecticut,
oder Sie geben leichtfertig Ihre Telefon nummer her und überl e
gen sich’ s dann gründlich. Ich habe zwar nicht jedesmal eine
Nachricht hinterlassen, weil ich nicht aufdringlich erscheinen
wollte, aber ich mußte Sie wiedersehen.« Er lächelte sein betöre n
des Lächeln.
»Ich hole uns etwas zu trinken.« Isadora lief in die Küche und
stellte Gläser und den gekühlten Wein auf ein Tablett. Sie war
erschöpft, sie hatte Bauchschmerzen – aber sie war auch aufg e
kratzt.
»Würden Sie bitte im Kamin Feuer machen?« rief sie zu Bean
ins Wohnzimmer hinüber.
»Klar. Was ein waschechter Connecticut -Boy ist, der kann das.
Aufgewachsen bin ich in New York und hier draußen. Das war
vor dem Krach.«
»Vor was für einem Krach?«
»Das erzähle ich Ihnen, wenn Sie versprechen, wieder herübe r
zukommen.«
»Bin gleich da!«
»Das hoffe ich.«
Als sie mit Wein und Käse ins Wohnzimmer kam, kniete er vor
dem Kamin und schichtete geschickt die Holzscheite auf.
»Feuer schüren können Sie«, sagte Isadora.
»Auf diesen Kalauer sage ich nichts«, konterte er.
»Sie heitern mich auf, und ich habe einen gr auenvollen Tag
hinter mir. Wie auch immer – erzählen Sie mir von diesem
Krach.«
»Also, eigentlich hat es zweimal gekracht. Zuerst der große
Krach, bei dem meine Familie den Großteil ihres Vermögens an
die Finanzbehörde abtreten mußte…«
»Was für ein erstaun liches Zusammentreffen!« unterbrach ihn
Isadora.
»Und dann krachte der Wagen in den Grabe n… Welche Ge
schichte wollen Sie zuerst hören?«
»Ich weiß nicht recht. Trinken Sie erst mal einen Schluck. Das
ist ein ausgezeichneter ›Trefethen Chardonnay‹ , den ich mir
vielleicht schon bald nicht mehr leisten kann.« Sie reichte ihm ein
langstieliges Kristallglas und erkundigte sich: »Wie alt sind Sie,
Bean?«
»Fünfundzwanzig. Disqualifiziert mich das?«
»Als was?«
»Als Ihr Freund«, antwortete er.
Sie sah ihm in die Auge n und wußte, daß er es ernst meinte.
Seine Augen konnten fröhlich sein, aber manchmal lag ein sehr
verletzlicher Ausdruck in ihnen. Ob sich hinter all seiner Forsc h
heit Furcht verbarg?
»Ich möchte Ihr Freund sein«, wiederholte er. »Ihre Bücher
geben mir da s Gefühl, als sei ich es scho n… kriegen Sie das oft
zu hören?«
»Nicht so, wie Sie es gesagt haben. In der Regel erzählen mir
alle, ich sei seit sieben Jahren ihr sexueller Wunschtraum, und
dann gehen wir zusammen ins Bett – und pfff…« Sie deutete mit
dem re chten Zeigefinger einen Penis an, der bis zur Unkenn t
lichkeit zusammenschrumpfte.
Bean lachte. Ȇbrigens fand ich Ihren angeblich so skanda l
trächtigen ersten Roman nicht annähernd so gut wie den zweiten
und dritten oder gar wie ›Tintorettos Tochter‹. Diese s erste Buch
steckt voller Selbsthaß. Hören Sie denn nie auf, sich selbst zu
quälen? Sie sollten das lassen. Sie haben mehr auf dem Kasten als
die meisten Männer. Sie sind ein echter Held – im klassischen
Sinn.«
»Was ist ein Held?« zitierte Isadora. »Im we sentlichen einer, der
seine Ängste bezwungen hat.«
»Genau.«
»Das ist Henry Millers Definition und nicht meine«, sagte Is a
dora. »Und nach seiner Auslegung bin ich kein Held, weil ich
mich nämlich andauernd fürchte.«
»Ah, Sie mögen Furcht empfinden, aber Sie lassen sich nicht von
ihr beherrschen. Ich wette, selbst Odysseus hat sich gefürchtet.
Ja, das ist sogar belegt. Nicht die Gegenwart oder Abwesenheit
von Furcht machen den He lden aus, sondern die Tat, die er trotz
seiner Furcht vollbringt. Und Sie hören nie auf zu handeln. Sie
marschieren geradewegs ins Auge des Orkans. Darum sind Sie
meine Heldin.«
»Danke«, sagte Isadora. »Es tut gut, das gerade im schlimmsten
Jahr meines Lebens zu hören. Ich wäre im letzten Jahr beinahe
gestorben. Ich habe mich nie für suizidverdächtig gehalten, aber
nachdem mein Mann mich verlassen hatte, wäre ich in der Lage
gewesen, mich vor ein Auto zu werfen. Ich hab’s sogar getan. Ich
habe mich vor sein Auto geworfen.«
Bean sah sie aufmerksam an, als wisse er genau, wovon sie
sprach.
»Ich bin ein Unfall auf der Suche nach einem Ort, an dem er
sich ereignen kann«, sagte er. »Ich habe mehr Narben am Körper,
als Sie je an einem Menschen finden werden.«
»Ich nehm’s mit Ihnen auf, Narbe für Narbe.«
»Ist gebongt. Ziehn wir uns aus.«
»Bin ich seit sieben Jahren Ihr sexueller Wunschtraum?« scher z
te Isadora.
»Nein, erst seit sieben Minuten.«
»Sie sehen ein Wrack von einer Frau vor sich. Ich habe meinen
Beruf fast an den Nagel gehängt – aber nicht freiwillig. Ich, die
ich in meinem ganzen Leben nie einen Block hatte, kann plöt z
lich überhaupt nicht mehr schreiben.«
»Das ist nur eine Phase der Umorientierung«, versicherte Bean.
»Oder die schöpferische Pause vor dem neuen großen Wurf. Ich
glaube nicht einen Moment, daß Sie wirklich blockiert sind.
Kunst ist nichts Mechanische s – sie ist organisch. Sie können sie
nicht produzieren, wie eine Fabrik Schrauben oder Muttern
herstellt.«
»Danke, daß Sie mich daran erinnern. Ich hab mich noch nie so
verbraucht, so am Ende gefühlt.«
»Irgend etwas müssen Sie aber trotzdem richtig anpacken, sonst
könnten Sie nicht so lebendig sein und so schön.«
Aus ihren Augen sprach Dankbarkeit, vielleicht sogar Vertra u
en.
»Also, erzählen Sie mir von diesen zwei Krachen.«
»Mach’ ich, wenn ich etwas zu essen kriege.«
»Das ist die Sprache eines wahren Vagabunden«, sagte Isadora.
»Als nächstes werden Sie noch ein Bett für die Nacht verlangen.«
»Der Fußboden tut’s auch.« Bean lachte.
Beim Abendessen (das Danae gekocht hatte und das folglich
vorzüglich schmeckte) ließ Bean sich über die haarsträubende
Geschichte seiner Familie aus. O Mann, da bilden sic h die Juden
ein, sie hätten das Monopol auf meschuggas, aber wenn es um
wirklich meschuggene geht, können sie den alteingesessenen Goji m
nicht das Wasser reichen. Beans Familienges chichte war voll von
Duellen (zufälligen und inszenierten), vergeudeten Erbschaften,
Kämpfen um Grundbesitz und Antiquitäten (wie in einer Ge
schichte von Cheever), Alkoholismus, Inzest, Habgier, Unte r
schlagungen, Prozessen, Haftstrafen, Heldentaten und Burlesken.
Seine Vorfahren hatten im Unabhängigkeitskrieg gekämpft, im
Krieg von 1812 und im Sezessionskrieg. Der unmittelbare Fam i
lienbesitz war von ursprünglich fünf Häusern (in New York,
Paris, Palm Beach, Martha’s Vineyard und Da rien) auf eines
geschrumpft: einen verfallenen Bauernhof in Connecticut, vollge
stopft mit morschen Möbeln, vermodernden Bildern und Bü
chern, die allerdings die Finanzbehörde über kurz oder lang als
Pfand für die fällige Steuernachzahlung einziehen würde. Was
Beans Hoffnung auf einen persönlichen Anteil betraf, so hatte er
diesen ohnehin zerstört, als er seinen Wunsch durchsetzte und
Schauspieler wurde.
»Kein genealogisches Handbuch erwähnt Schauspiele n ist ein
Lieblingssatz meiner Mutter.«
»Stimmt nicht – eine Ausnahme muß es doch ge ben. Wie steht
es mit Dina Merrill?«
»Na ja, vielleicht. Aber eine Schauspiele rin, das zählt nicht. Es
ist eben ein Beruf für Huren und Vagabunden. Ich kenne keine
einzige Frau, die das Leben eines Schauspielers auf die Dauer
ertragen könnte; nicht mal ein e, die selbst vom Bau ist. Wir
arbeiten die halbe Nacht und verschlafen den Tag, tollen mit
schönen Mädchen herum, die meist halb nackt sind, wir haben
keinen festen Wohnsitz, tragen keine Anzüge, rasieren uns nur
selten, haben zweifelhafte sexuelle Gewohn heiten – oder sind
total enthemmt –, besitzen in der Regel keinen Pfennig Geld,
geben aber rasend gern das anderer Leute aus. Außerdem essen
wir wie die Schweine.«
Um die letzte Behauptung zu illustrieren, schlenkerte er ein
Hühnerbein zwischen den Zähnen und klemmte sich eine Zitr o
nenschale als Schnurrbart unter die Nase. (Da nae hatte ihr sa
genhaftes Zitronenfrikassee mit Sesamsamen gemacht.)
Isadora lachte. »Jetzt erzählen Sie mir endlich von den Kr ä
chen«, bat sie ihn.
»Also, beim ersten handelt es sich um die altbekannte Ge
schichte vom Niedergang einer reichen Familie, die der Möcht e
gernverführer dem staunenden Mägdlein erzählt.«
»Mägdlein? Ich bin ein ziemlich altes Mädchen…«
»O nein, nicht nach drei Ehen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich? Ich weiß nur, wa s die ganze We lt weiß. Ihr Leben ist ein
offenes Buch.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie alt ich bin?«
»Ich vermute, Sie müssen älter sein als ich, sonst hätten Sie
nicht all diese Bücher geschrieben – aber ich begreife nicht, wie
Sie das geschafft haben, ohne zu altern.«
»Ha! Noch so eine Schmeichelei. Als Sie auf die Welt kamen, da
wurde ich gerade geschlechtsreif.«
»Und jetzt werde ich Ihnen zeigen, daß sich das gelohnt hat.«
»Sie wären wirklich imstande, mich in Schwierigkeiten zu bri n
gen.« Isadora lachte wi eder. »Erzählen Sie mir von dem zweiten
Krach.«
»Wie? Ach so – von dem. Tja, dann überspringe ich die Ge
schichte von den zerronnenen Reichtümern und den in Trü m
mern liegenden Herrschaftssitzen…«
»…die Sie dem potentiellen Verführungsopfer erzählen.«
Bean nickte. »… und fahre fort mit der Schilderung meines
Versuchs, Hand an mich zu legen, wie man im E lisabethanischen
Zeitalter zu sagen pflegte. Stellen Sie sich vor, seit ich geschlechts
reif wurde, habe ich indirekt ständig versucht, mich umzubri n
gen. Vielleicht liegt es daran, daß ich zuviel überschü ssige Ener
gie habe, die ich nirgends ausleben kann. Oder ich habe zum
fraglichen Zeitpunkt kapiert, daß mein Vater mich seit meiner
Geburt loswerden wollte, habe seinen Wunsch internal isiert und
zu meinem eigene n gemacht – das behauptet jedenfalls mein
Seelenklempner. Wie auch immer, ich baue dauernd Unfä lle, bei
denen ich ums Haar hops gehe. Den letzten hatte ich vor zwei
Jahren: Mein Kopf flog durch die Windschutzscheibe des Wa
gens, meine Brust flog gegen das Steuer, meine Milz flog durch
den ganzen Körper, und ich schwebte zwei Wochen lang zw i
schen Leben und Tod. In dieser Zeit hatte ich übersinnliche
Erlebnisse, meine Eltern dagegen drehten durch, und eine junge
Krankenschwester versuchte, mir einen zu blasen, während ich
mich gerade mit Gott und den Engeln unterhielt.«
»Und was haben Sie aus diesem Gespräch mit Gott und den
Engeln erfahren?«
Bean wurde auf einmal ganz ernst, beinahe feierlich. »Daß Gott
und die Engel sich nicht drum kümmern, wer dir den Schwan z
lutscht, aber daß ein Leben ohne Liebe nicht viel wert ist, gelebt
zu werden – selbst wenn man reich und berühmt ist und Hü h
nerfrikassee zu essen hat. Als ich Sie im Fitneßklub traf und Sie
so schön, so frisch aussahen, in Ihren Augen aber dieser gequält e
Blick lag, so als fühlten sie sich verletzt, betrogen, verfolgt, da
wußte ich, daß ich Sie wiedersehen mußte.«
»Ritter Galahad, der tapfere Befreier! Gehören Sie etwa zu den
Männern, die sich nur in bedrängte Damen verlieben?«
»Nein. Normalerweise verlie be ich mich überhaupt nicht. Da
vögle ich mir das Hirn aus dem Kopf und gehe heim, ohne
irgend etwas zu fühlen. Aber bei Ihnen spüre ich, daß jede Be
gegnung zwischen uns mein Herz erfüllen wird, selbst wenn ich
nie mit Ihnen schlafen sollte.«
Isadora konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Sie war
sich nicht sicher, ob er es ehrlich meinte oder ihr nur schme i
cheln wollte. Es war ihr Fluch, daß sie eine Schwäche für wor t
gewandte Männer hatte, gleichgültig, wie blumig sie daherred e
ten. Ob ihre große Verw undbarkeit einen Fluch oder eher einen
Segen darstellte, darüber war sie sich nicht im klaren. Sie wappne
te sich. Sie würde nicht mit Bean schlafen, egal, wie charmant er
sie rumzukriegen versuchte, und wenn sie noch so sehr auf
seinen Charme abfuhr. Seine Offenheit und seine Empfindsa m
keit waren ihrer verletzlichen Psyche entweder wahlverwandt –
oder er war tatsächlich ein guter Schauspieler und ein klein wenig
auch ein Hochstapler (was darstellende Künstler eben sein mü s
sen – und Schriftsteller vielleicht genauso, wer weiß?).
»In letzter Zeit hab’ ich auch ziemlich oft bis zum Gehtnich t
mehr gefickt und bin leer und ohne etwas zu empfinden heimg e
fahren«, sagte Isadora. »Das wird schnell langweilig. Ich ha b’ es
früher nie oft genug praktiziert, um das rauszu finden – wenn
man das bei meinem Ruf auch nicht glauben würde. Aber ich
habe fest vor, mit diesem Leben Schluß zu machen und nicht
mehr wahllos herumzuschlafen.«
Bean schnippte mit den Fingern. »Was für ein Pech, daß ich
Ihnen ausgerechnet jetzt begegnet bin, wo Sie es sich anders
überlegt haben.«
Wieder mußte Isadora lachen. Sie versuchte herauszukriegen,
wieviel an seinem Gerede Ernst und wieviel Schwindel war. Bean
war ohne Zweifel einer der charmantesten Menschen, denen sie
je begegnet war. Er hätte mi t seinem Charme die Vögel von den
Bäumen locken oder den Kindern ihre Lutscher und Geizhälsen
das Geld abschmeicheln können. Aber sie war entschlossen,
nicht zuzulassen, daß er sich mit seinem Charme in ihr Bett
schlich.
Das Feuer im Wohnzimmerkamin verglo mm, aber im Eßzi m
mer brannte ein kräftiges Feuer, und sie legten immer wieder
Scheite nach. Draußen schneite es noch immer, und der Himmel
schimmerte rosig wie ein Kinder popo. Für gewöhnlich geriet
Isadora in Panik, wenn es in Connecticut schneite, aber dieser
Schneefall erschien ihr warm und freundlich, weil Bean bei ihr
war. Hoch oben in dem großen Holzhaus am Ende der tück i
schen, gewundenen Einfahrt der Serpentine Hill Road setzten
Bean und Isadora ihre Unterhaltung fort.
»Was meinen Sie – warum sind Sie so selbstzerstörerisch?« frag
te Isadora. »Ich meine, wenn Sie ganz ehrlich sind. Liegt es nur
am Verhältnis zu Ihrem Vater? Verstehen Sie mich nicht falsch,
ich glaube an so etwas. Ich denke, daß ein Mann, der nie seinen
Vater erschlägt, auch nie erwachs en wird. Mein Exehemann,
Josh, ist der Beweis dafür. Aber warum wollen Sie sich selbst
umbringen?«
»Meinen Sie, daß ich eigentlich ihn töten will, die Aggressionen
dann aber verinnerliche und gegen mich selbst richte?«
»Zu oberflächlich. Hören Sie, ich habe auch die ersten fünfund
zwanzig Jahre meines Lebens damit zugebracht, Narben zu
sammeln. Narben, gebrochene Knochen, zerbrochene Ehen. Ich
wäre beinahe zum Krüppel geworden, als ich in Texas vom Pferd
stürzte. Der Gaul war zu wild für mich. Ich zog mir ei n Dutzend
Verletzungen am Schienbein zu, als ich in den österreichischen
Alpen hinter einem rätselha ften Orientalen, der mein zweiter
Mann war, eine vereiste Piste runterfuhr, von der ich wußte, daß
ich mich nie hätte drauf wagen dürfen. Ich glaube, ich ha be mich
ständig selbst bestraft, weil ich mich so schuldig fühlte. Ich
machte mir Vorwürfe, weil ich begabter war als meine Schw e
stern und weil ich mein Talent nutzte, während meine Mutter das
ihre nicht genutzt hatte; ich fühlte mich schuldig, weil ich so gut
dran war.«
»Sie geben es also zu! Sie sind gut dran?«
»Ich denke schon.«
»So wie einer, der mit einem silbernen Löffel im Mund geboren
wird, wie es bei der alteingesessenen Elite heißt.« (Bean machte
einen spitzen Mund und imitierte den gezierten Akze nt der
protestantisch-angelsächsischen Geldaristokratie, den Isadora in
Gedanken die ›Locust-Valley-Kieferklemme‹ nannte.)
Diese Sprache war so atypisch für ihn, daß sie lachen mußte.
»Oder mit einer Extradosis Adrenalin, wie meine Mutter von
mir behauptet, als ich noch klein war«, sagte Isadora.
»Eben dieses meinte ich.« Bean äffte noch immer die gekünste l
te Sprechweise der Vornehmen nach. »He, gefällt Ihnen das?
Gefällt’s Ihnen, wenn ich beim Sprechen den Mund nicht aufm a
che?«
»Ich finde es himmlisch. Es paßt so überhaupt nicht zu Ihnen.
Sie reißen den Mund eigentlich weiter auf als alle Männer, denen
ich je begegnet bin. Aber abgesehen davon müssen Sie jetzt nach
Hause fahren.«
Bean wirkte äußerst niedergeschlagen. Seine struppigen Auge n
brauen rutschten nach unten. Der Funke in seinen blauen Augen
erlosch mit einem Schlag. Sogar die für seine Herkunft typische
leichte Stupsnase (die ein romantischer Autor als retroussé be
zeichnet hätte) schien sich der Oberlippe zu nähern, als wolle sie
auf einmal semitisch aussehen.
»Aber wir müssen doch noch über so vieles reden«, sagte er.
»Wir müssen über Nietzsche diskutieren, über Schopenhauer und
über Sex.«
»Den Sex haben wir schon abgehakt. Nietzsche und Schope n
hauer können warten.«
»Aber brauchen Sie denn den Sex nicht, um Ihre Kreativität
anzufachen?«
»Heute abend nicht. Mein Manager ist gerade ganz unerwartet
gestorben, und ich stehe mit grauenhaften Steuerproblemen da.
Zudem habe ich meine Tage, und ich bin total erschossen. Ich
werde jetzt aufstehen, falls ich das noch schaffe nach all dem
Wein, und werde Sie bitten zu gehen.«
»Wie kann ich Sie davon abbringen?«
»Überhaupt nicht.« Sie schwankte ein bißchen, als sie aufstand.
»Ich schwöre Ihnen, überhaupt nicht.«
Bean sah auf einmal aus wie ein sehr großer Holden Caulfield.
Er wirkte wie fünfzehn und nicht wie fünfundzwanzig. Seine
Oberlippe zitterte, als wolle er gleich anfangen zu weinen. Seine
unwahrscheinlich blauen Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich
konnte sich Isadora vorstellen, daß er sich umbringen wollte. Er
hatte ihr erzählt, daß er eine Pistole besaß und auch mit ihr
umgehen konnte. Er hatte ihr außerdem anvertraut, daß er sein
Auto als Todeswaffe benutzte – und die Straßenverhältnisse
waren heute nacht tückisch genug. Sollte sie ihm anbieten, im
Gästezimmer zu übernachten?
Nein. Unmöglich. Unmöglich, mit einer solchen Ladung von
geballtem Sex unter einem Dach zu schlafen und nicht mit dem
Typ zu vögeln. Wenn er diese selbstzerstörerischen Anwandlu n
gen hat, dann ist das sein Problem, dachte sie. Sie war es leid,
sich um alle We lt zu kümmern. Josh, Roland, Bean – sie alle
würden sich allein durchschlagen müssen. Aber waren alte Mä n
ner denn besser? Wie es schien, hatte sie sich gewissenhafter um
Mel Botkin gekümmert als umgekehrt.
»Sie sollten jetzt na ch Hause gehen.« Isadora hielt sich an der
Stuhllehne fest. Sie hatte wieder Krämpfe im Unterleib und
konnte sich nur mühsam aufrechthalten. Ob der Tampon schon
durchgeweicht war? In ein paar Minuten würde ihr das Blut in
dünnen Rinnsalen über die Schenkel laufen.
»Ich habe den Abend sehr genossen«, sagte Isadora. »Aber ich
bin wirklich der Ansicht, Sie sollten nach Hause gehen.«
Sie wußte selbst nicht recht, weshalb sie so entschieden dagegen
war, mit ihm zu schlafen. Schließlich war sie schon mit vielen
Männern ins Bett gegangen, die ihr weit weniger gefielen als er.
Vielleicht spürte sie, welche Macht er über sie gewinnen könnte;
vielleicht wußte sie sogar, welch ungeheure Rolle er dann in
ihrem Leben spielen würde. Wenn eine Frau sich besonders stark
zu einem Mann hingezogen fühlt, rennt sie manchmal gerade vor
dieser Anziehungskraft davon. Kommt aber ein hohler Typ
daher, dann kann sie mit ihm ins Bett steigen und hernach ganz
cool ihrer Wege gehen.
»Ich werde Ihnen wenigstens noch ein signiertes Buch mi tge
ben«, sagte Isadora mit einem Blick in Beans verschleierte Augen.
Es war das alte Lied: Bücher statt Bett. Oder Bücher als Vorspiel
zum Bett? Sie war sich nicht ganz sicher. Mit fünfzehn hatte sie
Männern Gedichte geschrieben, statt mit ihnen ins Bett zu gehen.
Mit fünfundzwanzig hatte sie immer noch das gleiche gemacht.
Mit achtundzwanzig hatte sie einen ganzen Roman geschrieben
wegen eines Mannes, den sie nicht haben konnte. (Er war nä m
lich boshafterweise gerade bei ihr impotent.) Als sie einunddre i
ßig war, erschien dann dieser Roman, und plötzlich lag ihr die
Welt zu Füßen, jener Mann allerdings nicht. Mit neununddreißig
hatte sie die Bücher durchs Bett ersetzt und war von jedem
Abenteuer mit trockenen Augen und einsamem Herzen heimg e
kehrt. Was war die endgültige Lösung dieses Buch -Bett-
Dilemmas? Gab es die überhaupt? Liebte sie nur den unerreic h
baren Mann, den Mann unterm Bett, das unmögliche Objekt
ihrer Begierde – letztlich den Vater?
»Kommen Sie mit!« sagte sie und führte Bean hinauf in ihr
Baumhausstudio. Sie bewegte sich vorsichtig und preßte beim
Gehen die Schenkel zusammen, um das Blut zurückzuhalten.
Sie stiegen die Wendeltreppe zu ihrem Studio hinauf. Dort
oben in ihrem Heiligtum mit dem perlgrauen Teppichboden und
den bis zur Decke reichenden Regalen zeigte er sich erstaunt
über die vielen Ausgaben, die es von ihren Büchern gab. Er sah
sie als Frau, nicht als Buchmaschine, aber sie war augenscheinlich
das eine wie das andere. Es hatte in den Wäldern etlicher Kont i
nente eines Kahlschlags bedurft , damit ihre Worte sich in vielen
Sprachen fortpflanzen konnten.
»Französisch, Spanisch, Deutsch, Italienisch – und was noch?«
fragte er beeindruckt.
»Japanisch, Hebräisch, Holländisch, Schwedisch, Finnisch,
Norwegisch und sogar Serbokroatisch und Mazedoni sch – aber
Suaheli nicht.« Man merkte ihrer Stimme an, daß sie betrunken
war. Warum war sie so stolz auf ihre fremdsprachlichen Ausg a
ben? Sie hatte keinen blassen Schimmer, ob die Übersetzungen
auch nur entfernt das wiedergaben, was sie geschrieben hatte.
Gut, mit Französisch, Italienisch und Deutsch kannte sie sich ein
bißchen aus, aber sämtliche anderen Sprachen waren ihr völlig
unbekannt. Dabei klaffte eine so beträchtliche Lücke zwischen
Absicht und Wirkung, daß ihre Bücher selbst in ihrer Mutte r
sprache nicht genau das aussagten, was sie beim Schreiben im
Sinn gehabt hatte. Es war, als habe sie ein Einhorn zeichnen
wollen, aber nur eine Ziege mit angepapptem Horn zustande
gebracht. Das Ergebnis war stets so weit entfernt von dem, was
sie beabsichtigt hatte, daß es ihr kaum Freude machte. Das Beste
war das Schreiben selbst: der Wortstrom, der sich übers Papier
ergoß, das Vergnügen, das sie empfand, wenn sie ihre gelben
Notizblöcke mit verschiedenfarbigen Stiften vollschrieb. Sollten
andere Autoren ruhig au f den Bildschirm ihres Computers sta r
ren, sie mußte Seiten fühlen, die Tinte schmecken; sie brauchte
den physischen Akt des Schreibens.
Aber das fertige Produkt? Das hatte sie weder zu genießen noch
zu beurteilen. Es war für sie ein Artefakt: nur der Schaf fenspro
zeß zählte. Gewiß empfinden alle Künstler so; bestimmt spüren
sie alle die schmerzliche Kluft zwischen Absicht und Wirkung.
Selbst wenn die Leser hingerissen waren, fühlte man sich ve r
sucht, abzuwehren: Nein, nein, das Leben ist viel interessanter,
komplexer und reichhaltiger, als Literatur es je sein kann.
»Hier.« Sie nahm eine Leinenausgabe von ›Tintorettos Tochter‹
vom Regal und schrieb eine Widmung für Bean hinein : FÜR
BERKELEY SPROUL III. MÖGE ER DEN IV. UND V.
UND HOFFENTLICH DEN VI. ERLEBEN. UND MÖGE
ER SICH EINES TAGES IN VENEDIG VERLIEBEN WIE
MARIETTA ROBUSTI – ABER OHNE DAFÜR SEIN
LEBEN ZU LASSEN. IN AUFRICHTIGER ZUNEIGU NG,
ISADORA WING.
Sie gab ihm das Buch. Als er die Widmung las, verschleierten
sich seine Augen noch mehr. Dann zog er sie plötzlich an sich
und hielt sie fest umschlungen. Sie spürte seinen steifen Schwanz
durch die Jeans, während seine großen, unvorstellbar sanften
Hände ihr Gesäß umspannten. Dann wanderten die Hände ihren
Rücken hinauf, und er streichelte sie, als wolle er ihren Körper in
den seinen hineindrücken. Aber was sie wirklich verblüffte, war
die Art, wie er ihren Hals und ihr Haar berührte. Seine Finger
fanden genau den Punkt im Nacken, der ihr immer am meisten
weh tat, wenn sie diese gräßlichen Kopfschmerzen hatte . Unend
lich behutsam massierte er die Stelle. Woher wußten seine Finger
so genau, wo sie ansetzen mußten? Es war unheimlich. Eine
Hand blieb auf ihrem Nacken, die andere strich ihr über den
Kopf und streichelte sie mit solcher Zärtlichkeit und Liebe, daß
sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlte, als ihr Großvater
ihr vor dem Einschlafen übers Haar gefahren war.
Panischer Schrecken ergriff sie. Kein Mann (außer ihrem Gro ß
vater) hatte je diese empfindlichen Punkte gefunden; kein Mann
hatte es verstande n, ihren Nacken und Kopf so zu streicheln.
Wenn er das konnte, was mochte er sonst noch von ihrem Kö r
per wissen? Sie fürchtete sich davor, es herauszufinden.
»Du mußt jetzt gehen.« Sie machte sich von ihm los. »Es ist
wirklich Zeit.«
Er nickte traurig. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn die
Wendeltreppe hinunter. War sie verrückt, daß sie ihn gehen ließ,
oder war gerade das vernünftig? Schluß mit der Liebe! hatte sie
sich versprochen. Schluß mit den verführerischen jungen Mä n
nern, deren Herzen ›wie Wa chs sind, bis sie ihr Ziel erreichen,
doch dann zu Marmor erstarren‹ (wie Byron es formulierte).
»Recht so! Wirf mich wieder in die Gosse. Da gehören Vag a
bunden ja auch hin«, klagte Bean theatralisch.
Unten in der Halle reichte Isadora ihm seinen langen ro ten
Schal und seinen Seemannspullover. Sie bot ihm sogar eine alte
Skimütze von Josh an, aber er lehnte ab. »Nein, danke. Wenn ich
dich nicht haben kann, dann will ich gern erfrieren. Ich sterbe
freiwillig in der Gosse.«
»In der Gosse sind wir alle. Aber e inige von uns schauen hinauf
zu den Sternen.« Isadora öffnete die schwere Eingangstüre, und
Schneeflocken wirbelten herein.
»Das ist aus ›Lady Windermeres Fächer‹«, sagte Bean, »aber jetzt
werde ich dir ein Zitat aus ›Bunbury‹ vortragen, das zutreffender
ist.« Er trat auf den verschneiten Gehweg, drapierte sich den
roten Schal malerisch um die Schultern und deklamierte: »›Ho f
fentlich haben Sie kein Doppelleben geführt und vorgegeben,
schlecht zu sein, während Sie in Wirklichkeit die ganze Zeit über
gut waren. Das wäre geheuchelt.‹«
»Touché«, rief Isadora. »Und nun ab mit dir!«
Obwohl sie nur in Jeans und Pullover war, begleitete sie ihn zu
seinem Lieferwagen. Sie genoß die rosafarbene Schneenacht und
fand, es sei eigentlich gar nicht sehr kalt.
»Gib acht, da ß du nicht ausrutschst.« Er nahm sie behutsam
beim Arm. Als er die Tür des Wagens (dessen grelle Farben unter
einer dünnen Schneedecke verschwunden waren) öffnete, sah er
sie traurig an.
»Fahr nach Haus!« Sie umarmte ihn flüchtig. Er beugte sich
über sie, nahm sie in die Arme und küßte sie auf den Mund.
Seine Zunge kannte ihr innerstes Wesen. Es hätte sie kaum mehr
erregen können, wenn er statt ihres Mundes ihre Möse geküßt
hätte. Seine Zunge wußte alles über ihren Mund, so, wie seine
Finger den empfindsame n Punkt in ihrem Nacken gekannt ha t
ten. Sie spürte, daß er sie mit einem bloßen Kuß zum Orgasmus
bringen konnte.
»Fahr nach Haus!« wiederholte sie und löste sich aus seiner
Umarmung. Ihr war nicht klar, weshalb sie ihn so unbedingt
loswerden wollte. Wir al le wünschen uns nichts sehnlicher, als
erkannt zu werden, und Bean hatte sie erkannt, das stand fest.
Mußte er deshalb gehen? Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und
fuhr ihm ausgelassen mit der Zunge ins Ohr. »Fahr nach Haus!«
sagte sie noch einmal.
Wortlos stieg er ein, ließ den Motor an und setzte zurück. Sie
winkte und ging wieder ins Haus. Ihr war, als habe sie knapp ihr
Leben, ihre Freiheit und ihre Seele gerettet.
Göttin sei Dank! dachte sie erleichtert, als sie den Wagen mit
dröhnendem Motor die Einfahrt hinunterfahren hörte.
Sie zog sich aus, wechselte den Tampon (gerade noch rechtze i
tig, um ein Blutbad zu verhindern) und schlüpfte in ein altes
Flanellnachthemd, eins von ihren Großmuttergewändern. Sie
wusch sich das Gesicht so ausgiebig mit schwar zer Seife, daß sie
das Vermögen von Dr. Lazio dadurch gewiß vergrößert e. Wo
mochte Dr. Lazio wohl stec ken? Vielleicht war er im Himmel
und machte Geschäfte mit Mel Botkin?
Beans Eintritt in ihr Leben hatte ihr unwahrscheinlichen Au f
trieb gegeben. Und wenn ich pleite gehe, was so ll’s, dachte sie.
Ich werde noch einmal von vorn anfangen, genau wie beim
ersten Mal. Sie war übermütig, unternehmungslustig, furchtlos
und überschwenglich. Sie spürte, daß sie wieder zu leben begann,
vielleicht noch intensiver als früher, weil sie erneut bei Null
anfangen mußte. Sie würde Konkurs anmelden, ihren Besitz
verkaufen und ein einfaches Leben führen. Der klassische Wagen
würde verschwinden – vielleicht würde sie sich von beiden Autos
trennen und von den Brillantohrringen, die Josh ihr gekauft
hatte. Sie konnte auch mit einem kleineren Haus und einem
kleineren Wagen zufrieden sein, ja sogar ohne Haus und ohne
Auto. Allein das Schreiben zählte, nicht Geld oder Berühmtheit –
das Schreiben und Amanda. Und die Liebe? Nein. Die Ze it der
Liebe war noch nicht gekommen.
Gut, daß sie Bean heimgeschickt hatte. Er stellte eine Bedr o
hung ihres Vorsatzes dar, frei zu bleiben, eine echte Bedrohung.
Isadora beendete die Lazio-Kur, machte Licht im Schlafzimmer
und beschloß, sich mit einem Buch ins Bett zu verziehen. Sie
würde sich einen Klassiker aussuchen, statt die lästigen Fahne n
sätze zu lesen, die sich auf ihrem Nachttisch türmten und auf ein
Kollegenurteil warteten. »Lest nicht die Zeiten, lest die Ewigke i
ten«, sagt Thoreau, und wenn man unmittelbar vor dem Bankrott
steht, braucht man die Klassiker mehr denn je. Sie würde also
Thoreau lesen. Sie würde noch einmal ›Walden oder Leben in
den Wäldern‹ studieren als Auftakt zum Verkauf von Haus und
Autos und zum Neuanfang in der Wildnis. Sie kon nte das Leben
ganz gewiß auch ohne schwarze Seife meistern!
Die amerikanische Literatur stand in dem Zimmer unterm
Dach, in dem sie ›Tintorettos Tochter‹ geschrieben hatte und das
jetzt Mand ys Spielzimmer war. Die Erwachsenenbücher waren
noch nicht ausgerä umt. Isadora zog ihre lustigen roten Eddie
Bauer-Pantoffeln an (die hinten runtergetreten waren und in
denen sie aussah, als habe sie Clownsfüße) und tappte zur Tre p
pe, um unterm Dach nach Thoreau zu suchen. Als sie an der
Haustür vorbeikam, hörte sie ein hartnäckiges Klopfen.
»Isadora!« Es war Beans Stimme. »Isadora!«
»Scheiße!« murmelte sie. Ich muß ja zum Kotzen aussehen. Sie
riß die Tür auf.
Bean stand draußen und klapperte mit den Zähnen.
Sein Haar war voller Schneeflocken. Seine Nase war gerötet
und tropfte.
»Was ist passiert?« fragte Isadora.
»Ich bin auf der Einfahrt ins Rutschen gekommen, und der
Wagen ist in einer Schneewehe steckengeblieben. Ich krieg ’ die
verdammte Karre nicht wieder auf die Straße.«
»Eine glaubhafte Geschichte«, sagte sie ironisch.
»Sie ist wahr«, versicherte Bean. »Der Wagen ist geschliddert
und wäre ums Haar gegen einen Baum gekracht.«
Isadora musterte ihn spöttisch. »Du bist absichtlich ins Schli d
dern gekommen.« Sie war riesig erleichtert, daß er nicht tot und
daß er zurückgekommen war.
»Ich schwöre, ich hab’s nicht vorsätzlich getan. Der Wagen kam
in der vereisten Kurve ins Schleudern und rutschte nach hinten
weg.«
»Aber sicher.« Isadora lachte. »Wer so scharf drauf ist, aufs
Kreuz gelegt zu werden, der muß schon eine Wucht im Bett
sein.« Damit nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn in ihr
Schlafzimmer. Sie rissen sich die Kleider vom Leib – Pullover,
Schal, Großmutternachthemd, Jeans – und fielen sich in die
Arme, als sei ihr ganzes Leben nur eine Vorbereitung auf diesen
Augenblick gewesen.
Was heißt da Spontanfick! Was heißt Erfüllung eines unmögl i
chen Traums! Bean war im Bett in seinem Element wie ein Fisch
im Wasser, wie ein Eisbär am Nordpol oder wie ein Verhunger n
der, wenn er ein Stück Fleisch bekommt. Er machte sich über
Isadoras Körper her, daß man hätte denken können, er habe sein
Leben lang vergeblich nach einer Frau gelechzt – doch das war
offensichtlich nicht der Fall. Er war so hungrig, so geil (und doch
so seltsam rein in seinem Hunger und seiner Brunft, daß sie
versucht war, ihn zu beschwichtigen: ›Ruhig, nur ruhig! Es nimmt
dir ja niemand was weg!‹ Aber sie hielt sich zurück, aus Angst,
seiner unglaublichen Sexualität nicht gerecht zu werden). Auch
Riechen und Schmecken gehört zu seinem Repertoire, und er
genoß Ge rüche, Säfte, Schweiß und Blut. Ganz hingerissen
tauchte er seine Finger in ihre Muschi, teilte sie, entdeckte den
weißen Faden, der keusch zwischen ihren Schamlippen baumelte,
und mit den Zähnen zog er triumphierend den Tampon heraus.
»Aha! Ein Ariadnefad en!« Er kaute ein bißchen auf dem Ta m
pon herum, prüfte seinen Geschmack, dann spuckte er ihn auf
den Boden und rammte sie mit der Zunge. Er spielte einen
lustvollen Walzer auf ihrer Klitoris und stieß den Finger gekonnt
so weit in ihre Möse, daß er den süß esten Punkt an der Vorde r
wand traf. Er rieb ihn mit wunderbarem Geschick, während seine
Zunge weiter auf ihrem Kitzler trillerte. Die andere Hand hielt er
auf ihren Bauch gepreßt, und Isadora erlebte den berauschen d
sten Orgasmus ihres Lebens.
Sie wollte di e Beine schließen und ein wenig ausruhen, doch er
spreizte sie mit Gewalt (ohne sich um ihren Protest zu kümmern)
und stieß seinen Schwanz in ihre Möse. Er wiegte sie in seinen
Armen und berührte Stellen im Innern ihres Körpers, von denen
sie hätte schwöre n können, daß noch keiner sie berührt hatte.
Unvermittelt glitt er heraus, rammte sie aber gleich darauf wieder.
Schonungslos stieß er wieder und wieder in sie hinein. Er stützte
sich auf die Arme und räumte mit seinem harten Schwanz in
ihrer Fotze auf, al s wolle er jede Spur ihrer früheren Liebhaber
auslöschen. »Für Josh«, keuchte er, »für Bennett, für Brian, für
alle.« Er stieß so heftig zu, daß sie fast schon wieder gekommen
wäre, doch da wich er zurück. »Noch nicht, Baby, noch nicht«,
sagte er, warf sie auf den Bauch, schlug ihr mit der flachen Hand
auf den Hintern und drang von hinten in sie ein. Er zog sie hoch,
so daß sie im Bett kniete, und dann fickte er sie, bis ihre Sich e
rungen durchbrannten, während seine Finger ihre Klitoris rieben.
Sie kam und kam und kam, schrie und übergoß seinen Schwanz,
die Laken, den Qui lt und die Kissen mit schwärzlich -rotem
Monatsblut.
Er triumphierte. Die Laken starrten vor Blut. Sein Gesicht, sein
Schwanz und sein Bauch waren blutverschmiert. Er hatte einen
Schnurrbart aus Blut, einen Bart aus Blut, und blutige Kriegsb e
malung zierte seine Wangen; auc h ihr Leib war voller Blut. Sie
wollte seinen Schwanz lutschen, ihr eigenes Blut ablecken, aber
er stieß sie zurück, warf sich ihre Beine über eine Schulter und
fickte sie aufs neue mit wilder Entschlossenheit und Energie. Sie
war noch nie jemandem begegnet (sie selbst vielleicht ausg e
nommen), der sich so rückhaltlos hinzugeben vermochte. Ge
wöhnlich versucht der andere beim Sex, einen Teil von sich
zurückzuhalten, sucht einen gewissen Abstand, Ironie, Bewuß t
heit – alles, nur keine vollkommene Vereinigung mit dem Par t
ner. Aber Bean bedurfte keiner solchen Distanz. Er lieferte sich
der Sexualität völlig unerschrocken aus, er vertraute auf seine
Männlichkeit mit einer Sicherheit, von der Isadora glaubte, sie sei
mit den Wikingern ausgestorben. Auf seinem Gesicht spiegelte
sich äußerste Spannung: Er wäre gegen einen Baum gerast und
hätte sich umgebracht, wenn er sie nicht hätte ficken können,
und nun fickte er sie, als sei dies eine Sache auf Leben und Tod.
Er spreizte ihre Beine, klemmte ihre Füße in seinem Nacken
fest und fickte sie wie besessen. Sie konnte weder die Position
bestimmen noch kontrollieren. Sie konnte diesen Partne r nicht
führen, aber merkwürdigerweise erregte sie da s mehr als alles
andere je zuvor, und sie kam wiederholt in Stellungen, von denen
sie bisher geglaubt hatte, sie seien für sie nicht vorteilhaft.
Er jubelte und lachte jedesmal, wenn sie kam. Er fühlte ihren
zuckenden Orgasmus mit seinem Schwanz – so perfe kt harm o
nierten ihre Körper miteinander.
»Du paßt genau zu mir, wir sind das Paar«, sagte er, und seine
Augen funkelten vor Lust. »Gönn dir noch einen auf meine
Kosten!«
Er kniete über ihr und hielt ihr seinen Penis entgegen wie eine
todbringende, von ihre m Blut rot gefärbte Waffe. Vor ihren
Augen reckte sich sein Schwanz in einer aufreizenden, leicht
geknickten Kurve.
»Ich will dich ficken, bis du alles andere vergißt.« Wieder stieß
er in sie hinein. »Ich will alle Liebhaber und alle Gatten ausl ö
schen. Ich will dein Mann sein«, keuchte er und stieß zu. »Dein
Mann, dein Mann.«
Isadora stöhnte unter seinen wilden Stößen. Sie stöhnte vor
Lust und Staunen. Beans Augen funkelten wild.
»Du bist wahnsinnig«, flüsterte sie. »Du bist irr!«
»Ich hab’ noch nicht einma l angefangen, dich zu fic ken«, sagte
er. Er glitt aus ihr heraus, drehte sie wieder auf den Bauch und
schlug ihr klatschend auf den Hintern. »Was für einen schönen
Arsch du hast – aber er ist längst noch nicht rot genug. Ich werd’
dafür sorgen, daß er rot wird.«
Er schlug sie, bis das Klatschen seiner Schläge den ganzen
Raum erfüllte, bis ihr Hintern brannte und schmerzte und die
glühende Flamme auf ihre Möse überzuspringen schien. Dann
warf er sie wieder auf den Rücken und peitschte ihre Muschi mit
seinem steifen Schwanz. Und wieder trieb er ihn in sie, zog ihn
zurück und rammte sie gleich noch einmal. Wieder peitschte er
ihren Kitzler und hörte nicht auf, bis sie um seinen Schwanz
bettelte, ihn anflehte, doch in sie zu stoßen.
»Noch nicht, Baby, noch nicht.«
Er beugte sich hinunter, drückte den Kopf zwischen ihre Beine
und leckte sie aufs neue. Seine Zunge kreiste auf ihrem Kitzler,
seine Finger spielten in Möse und Hintern.
»Ich werde dir den Finger so tief reinstecken, daß ich dein Ge
heimnis fühlen kann«, sagte er und leckte sie aus.
Sie war außer sich vor Verlangen, Erschöpfun g und Verlangen.
Sie wollte dagegen ankämpfen und ihm mit keinem weiteren
Orgasmus mehr Freude machen. Sie hatte es aufgegeben mitz u
zählen, wie oft sie schon gekommen war – aber sie war sicher,
daß der nächste Höhepunkt sie auf immer an ihn binden und ihr
Ego und ihre Freiheit auslöschen würde. Sie war entschlossen,
nicht noch einmal zu kommen. Sie bemühte sich, an Josh zu
denken oder an Kevin; sie versuchte sogar, die Kopfschmerzen
heraufzubeschwören – doch es war umsonst. Schon bebte sie auf
der Klippe zum nächsten Orgasmus, einem Orgasmus, der die
Kundalini zu wecken schien, ihre Beine sich konvulsivisch bew e
gen und ihre Hände sich in Beans Nacken festkrallen ließ, bis er
vor Schme rz schrie. Und dann machte er sich wieder über sie
und vögelte sie noch leidenschaftlicher als zuvor. Er wandte den
Kopf zur Seite, und sein Gesicht verzog sich wie im Schmerz. Er
stützte sich auf die Arme und schlüpfte, glitt, nein flog in sie
hinein und wieder heraus, als schösse er geradewegs ins All.
»Flieg, Liebster, flieg!« jubelte sie.
»Baby, Baby, Baby, Baby!« Er stieß in sie hinein und schrie vor
Lust. Sein Becken und seine Schenkel zuckten wie im Fiebe r-
krampf, als er endlich kam. In seiner Leiste pochte wild eine
Ader. Dann brach er auf ihr zusammen.
»Mein Liebling.« Er streichelte ihren Kopf und ihren Nacken
und murmelte immerzu: »Mein Liebling, Liebling, Liebling,
Liebling.«
Überwältigt von der Gewalt ihrer Vereinigung, überwältigt auch
von dem geheimnisvollen dritten Geschöpf, das ihre beiden
Körper gebildet hatten, hielten sie einander in den Armen.
»Daß du ein harter Brocken bist, wußte ich gleich«, sagte Isad o
ra. »Aber ich hatte keine Ahnung, wie hart.« Sie kam sich vor wie
Venus, die Adonis in den Armen hält, wie Ischtar mit Anu, ihrem
Gemahl, wie Kleopatra mit Marcus Antonius. Ihr war eine un
vergleichliche erotische Erfahrung zuteil geworden, das wußte
sie: die Vereinigung einer voll erblühten Frau mit einem jungen
Mann, dessen Lebenssäfte noch ungehemmt fließen. Die Männer
opfern ihrer gesellschaftlichen Macht und Position so viel Ene r
gie, daß ihre Lebenskraft, ihre sexuelle Kraft eher versiegt als die
der Frauen. Frauen werden mit jedem Jahr, mit jedem Kind und
jedem Schicksalsschlag stärker , Männer dagegen wirken mit
zunehmendem Alter erschöpft und ausgelaugt. Eine Neunun d
dreißigjährige und ein Mann von fünfundzwanzig sind einander
sexuell ebenbürtig. Die französischen Romanciers entdeckten
diese große Wahrheit, doch die Amerikaner wollen si e nicht
anerkennen. Colette kannte sie, als sie mit einundfünfzig zu
Maurice ins Bett stieg. Sie wußte, warum sie ihn, den Fün fund
dreißigjährigen, mit einundsechzig heiratete; sie nannte ihn da
mals ihren besten Freund. Kluge Frauen kennen und hüten das
Geheimnis, daß ihr Lebensfaden länger ist als der des Mannes.
Das Klingeln des Telefons schreckte Isadora aus ihren Geda n
ken. »Das ist mein Manager – im Himmel«, witzelte sie. »Hallo?«
Es war Kevin.
»Oh…« Sie war verlegen, als könne er sehen, wie sie dalag mi t
ihrem blutverschmierten Bauch. »Wie geht’s dir?«
Bean kicherte.
»Schhh.« Sie legte die Hand über die Muschel.
Bean hob den blutigen Tampon vom Boden auf und begann
erneut, daran herumzuschnüffeln. »Mm mmmm«, stöhnte er
genießerisch.
»Scht!« Isadora schirm te mit der Hand die Sprechmuschel ab.
»Du, Kevin, hör mal, ich schlaf schon hal b… Kann ich dich
morgen früh zurückrufen?«
»Ist was nicht in Ordnung?« fragte Kevin. »Fehlt dir wirklich
nichts?«
»Ich fühle mich großartig.«
»Du wirkst so matt, richtig kraftlos.«
»Das ist nur, weil ich schon fast eingeschlafen war, bestimmt!«
Sie verstellte ihre Stimme und bemühte sich, schläfrig zu klingen
statt halb totgefickt.
»Schwindelst du auch nicht?«
»Ganz ehrlich«, gurrt e sie ins Telefon und sah Bean dabei an,
der auf dem Tampon herumkaute. War er von Sinnen – oder
bloß berauscht? Durchaus möglich, daß er verrückt ist, dachte
sie. Wer außer einem Wahnsinnigen könnte sich den dunklen
Göttern so rückhaltlos ausliefern? Aber dann wäre ja sie auch
verrückt. Kevin dagegen wa r es nicht: Kevin, der Meister des
netten kleinen flüchertjes zum Nachtisch. Kevin würde nie ihre
Seele fordern, aber er würde auch nicht die Bacchantin in ihr
erwecken oder ihre Verrücktheit, den schier animalischen Wah n
sinn.
»Ich rufe dich morgen früh an«, sagte sie zu Kevin mit einem
Blick auf Bean. »Schlaf gut! Küßchen!« Sie legte auf.
»Wer war das?« fragte Bean.
»Meine Nummer eins.«
»Deine was?«
»Meine Nummer eins. Willst du mir etwa deswegen eine Szene
machen?«
»Ich möchte deine Nummer eins sein.«
»Du bist zu jung für mich«, erwiderte Isadora, doch ihr Herz
sagte ihr, daß das nicht stimmte.
»Ich habe das Gefühl, bei dir werde ich schnell altern. Ach, da
fällt mir ein – ich hab’ ja was für dich.«
Er führte ihre Hand an seinen steifen Schwanz. »Komm!« Er
half ihr aus dem Wasserbett, türmte die Kissen vor ihr auf, damit
sie sich darauf stützten konnte, umspannte ihre Brüste mit den
Händen und nahm sie von hinten. Er stieß noch härter in sie
hinein als zuvor. Ihre Möse pochte, schmerzte, prickelte. Sie
flehte ihn an, sie noch fester zu rammen, sie zu schlagen, zu
zermalmen – mehr, ja, mehr. Wenn Bean in sie eindrang, war es,
als nehme ein dybuk von ihr Besitz. Bei jedem Stoß feuerte sie ihn
an mit einer Stimme, die gar nicht ihr zu gehören schien – als sei
sie wirklich zur Bacchantin geworden, als habe die Grenze zw i
schen Schmerz und Lust sich aufgelöst. Er war ihr Gebieter, ihr
Priapus, der nicht nur in ihren Körper, sondern auch in ihre Seele
stieß.
Ah, sie gab vor, der Großen Mutter zu huldigen, aber in Wi rk
lichkeit war sie dem Phallus hörig, sie war schwanzabhängig,
schwanzbeherrscht, schwanzverunsichert. Sie hatte schon immer
gewußt, daß Männer diese latente Macht über sie besaßen, doch
noch nie hatte sie so hundertprozentig den ihr sexuell ebenbürt i
gen Partner gefunden: einen Mann, der des Fickens nicht müde
wurde, der wild darauf war, sich bis zur Erschöpfung wund zu
vögeln, einen Mann, der gleich ihr nicht vor Schweiß, Gerüchen
und Blut zurückschreckte, einen erdgebundenen Mann, der
wußte, daß der Mensc h nur durchs Irdische zum Göttlichen
emporsteigen kann.
»Ich will dein Mann sein«, stöhnte er und fickte sie wie ein Ra
sender von hinten. Sein Mittelfinger stieß in ihren Hintern, sein
harter, gekrümmter Schwanz füllte ihre M öse, sein leidenschaftli
ches Ve rlangen, seine Glut, seine Sicherheit, seine Lust füllten
ihre Seele.
Sie war noch nie in dieser Stellung gekommen, aber diesmal war
es, als würden die Orgasmen von neununddreißig Jahren auf
einmal explodieren, und sie stöhnte und winselte wie ein Tier.
Das erregte ihn so sehr, daß er vor Leidenschaft fast den
Verstand verlor. Er spritzte mit einem wilden Aufschrei. Sein
Becken zitterte, bebte, sein Schwanz stieß heftig in ihre Möse
und füllte sie mit seiner Ladung, bis sie beide keuchend vor
Erschöpfung vornüber aufs Bett fielen.
»Komm her zu mir«, flüsterte er, legte sich aufs Bett und reichte
ihr die Hand. Er schlang den Arm um sie, sie kuschelte sich in
die Mulde, die sein Körper bildete, und er streichelte ihren Kopf.
Selbst im Liegen fügten sich ihre Körper wunderbar zusammen.
Obwohl sie nur eins-zweiundsechzig, er dagegen fast einsneunzig
war, lagen sie aneinandergeschmiegt, als gehörten sie zusammen,
ja, als hätten sie schon immer zusammengehört. Erstaunlich, wie
selten es das gibt: zwei Körper, die i deal zusammenpassen. Es ist
wohl das einzig Gute an der Pro miskuität, daß sie uns diese
Lektion erteilt, und zwar gründlich.
»Du und ich, wir passen zusammen. Du gehörst zu mir«, sagte
er. »Jetzt, wo ich dich gefunden habe, lass ’ ich dich nie mehr
fort.«
»Mein Liebling.« Isadora kämpfte gegen den Wunsch an, seinen
Worten Glauben zu schenken. Nach dieser Nacht werde ich ihn
nie wiedersehen, dachte sie. Er ist ein Wunder, ein Traum, ein
Zauberer aus einer Geschichte von LB. Singer, er ist der Leibhaf
tige in der Gestalt eines Engels. An eine solche Leidenschaft darf
man sich nicht klammern, sie kann nicht dauern, nicht bewahrt
werden. Ein Mann wie er könnte sich mit seinen romantischen
Einfällen glatt die Liebe einer Frau erschleichen und sie dann mit
gebrochenem Herzen zurücklassen. Sie war zu einem solchen
Abenteuer nicht bereit, nicht so kurz, nachdem Josh ihr Herz
gebrochen hatte. Vielleicht würde sie nie mehr bereit sein, sich so
bedingungslos auf einen Mann einzulassen.
»Woran denkst du?« fragte er.
»An nichts.«
»Du bist eine Frau, die in ihrem ganzen Leben keine Sekunde
lang an nichts gedacht hat«, sagte Bean. »Davon bin ich übe r
zeugt.«
»Ich habe bloß gedacht, daß du ein harter Brocken bist, ein sehr
harter.«
»Nur ein ungestümer junger Mann. Genau dein Fa ll: der Fe ld
Wald-und-Wiesen-Wüstling.«
»Der Spender irdischer Freuden. Aus bekehrten Wüstlingen
werden übrigens die besten Ehemänner – jedenfalls glaubte man
das im achtzehnten Jahrhundert, siehe ›Tom Jones‹.«
»Sapperlot! Frauenzimmerchen, macht sie mir etwa gar einen
Antrag?«
»Höchst unwahrscheinlich. Mein Bedarf an Ehe ist gedeckt.«
»Ich würde dich auf der Stelle heiraten«, sagte er, »und dabei
glaube ich nicht einmal an die Ehe.« Unendlich sanft streichelte
er ihren Kopf. So brutal er sich vorhin veraus gabt hatte, so zär t
lich war er jetzt. Was war echt, die Zärtlichkeit oder die Brutal i
tät? Oder war am Ende beides echt? Ungezügelter Sex bringt die
Extreme in uns ans Licht: Lamm und Wolf, Engel und Bestie. Sie
spürte das unverkennbare Zeichen einer kosmis chen Verbi n
dung, eine winzige Sonne, die in ihrem Becken glühte, einen
leuchtenden, wärmenden Strahl fünf Zentimeter unter dem
Nabel, genau an der Stelle, auf welche die Zen -Meister sich bei
Kontemplationsübungen konzentrieren, das Chakra zwischen
Nabel und Schambein.
»Was soll ich bloß mit dir machen, Bean? Ob ich dich adopti e
ren muß?«
»Schh, mein Liebling, komm, wir lassen uns treiben!«
Und sie schliefen einer in des anderen Armen ein, schliefen eng
umschlungen, ohne daß es der geringsten Verrenkung bedu rft
hätte; eingehüllt in ihren Schweiß, in Sperma und Blut schliefen
sie glückselig und friedlich.
Isadora schlief so gut wie noch nie, seit Josh ausgezogen war.
Sie schlief ohne ›Valium‹, ohne Alkohol, ohne dope. Sie träumte
sich zurück in die Wohnung in Manhattan, in der sie aufgewac h
sen war. Sie kletterte wieder die Treppe zu Papas Atelier hinauf
und spähte über die Brüstung in das überh ohe Wohnzimmer
hinab. Sie versuchte, sich festzuhalten (merkwürdigerweise war
das Geländer nicht mehr da), um nicht in die Tiefe zu stürzen,
wo ihre Eltern eine Gesellschaft für ihre Freunde gaben. Dort
unten prosteten sich die Gäste mit echtem Champagner in lan g
stieligen, kelchförmigen Gläsern zu. Die Champagnerbläschen
stiegen auf, begleitet von den Klängen der Barmusik, die jemand
auf dem Klavier klimperte. Die Leute waren ausgelassen und
lustig, sie kicherten über Dinge, die Kinder nicht verstanden.
Aber jetzt sprachen sie wie aus heiterem Himmel über sie, ohne
zu ahnen, daß sie zuhörte. »Sie wird sich durchbeißen müsse n«,
sagten sie. »Sie wird es schwerhaben.«
Auf einmal jagten ihr diese unklaren Worte der Erwachsenen
Angst ein. Sie wollte rufen: ›Ich bin hier, ich höre zu‹, aber es war
verboten zu lauschen, und außerdem hätte sie schon längst im
Bett sein müssen, also durfte sie sich nicht verraten. Sie verlor
den Halt und fiel hinunter. Aber sie schwebte vom Luftzug
getragen durch den Raum, wie ein geflügeltes Samenkorn, das
träge abwärts segelt. Sie wußte, daß sie über kurz oder lang auf
dem Fußboden des elterlichen W ohnzimmers aufschlagen mußte
und daß ihr schreckliches Geheimnis, ihre furchtbare Schuld ans
Licht kommen würden. Kurz vor dem Aufprall schreckte sie
hoch. Sie erwachte in panischer Angst, spürte, wie ihr das Blut
über die Schenkel strömte und erblickte ne ben sich auf dem
Kissen ein fremdes Gesicht. Durch die Ritzen der Jalousien vor
ihren Schlafzimmerfenstern drangen die rötlichen Strahlen der
aufgehenden Sonne. Die Digitaluhr zeigte fünf Uhr neunun d
fünfzig. Ihre Tochter wachte oft um sechs auf.
Sie sprang aus dem Wasserbett und rannte ins Bad, wo sie sich
in fieberhafter Eile säuberte (wie Lowell Strath more, der wie ein
Keystone-Cop zappelte, ehe er zu seiner Ehefrau zurückhastete).
Sie führte einen frischen Tampon ein, wusch Beine und Bauch
mit dem Schwa mm, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht,
besprühte sich von Kopf bis Fuß mit ›Opium‹, bürstete ihr Haar,
legte ein wenig Make -up auf, lief zurück ins Schlafzimmer und
schüttelte den Fremden, der da in ihrem Bett gelandet war.
»Liebling«, murmelte der, »Liebling.«
»Du mußt weg. Mein Kind kann jeden Moment aufwachen.«
Der Schweiß brach ihr aus – ob der Alptraum daran schuld war
oder die bacchantischen Ausschweifungen der vergangenen
Nacht? Sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie ihn loswerden
mußte, und zwar schnell.
»Bitte, Bean, bitte!« Isadora schüttelte ihn heftig. Er blinzelte
verschlafen und streckte die Arme nach ihr aus.
»Entschuldige meinen Drachenatem«, sagte er.
»Macht nichts.« Sie küßte ihn zärtlich, machte sich dann von
ihm los und sagte: »Du mußt jetzt wirklich gehen.« Sie brachte
ihm seine Kleider. Mit trägen Bewegungen, wie ein Mann unter
Wasser, zog er sich an. »Werden jetzt die Penner vertrieben?«
fragte er halb verletzt und halb amüsiert.
»Meine Tochter wird jeden Moment aufwachen. Ich fand’s groß
artig letzte Nacht – du bist wunderbar –, aber was soll ich ma
chen, wenn Amanda plötzlich hier hereinspaziert?«
Sie öffnete die Tür zum Hundeauslauf, wo Malteserhündche n
kot unter dem frischgefallenen Schnee hervorschimmerte.
»O Gott, der Wagen!« rief sie.
»Keine Sorge, den schieb ’ ich raus. Für körperliche Arbeit bin
ich ganz gut zu gebrauchen. Geliebte, ich bete dich an. Vergiß
das nicht, ja?«
Er lief hinaus und warf sich den roten Scha l über die Schulter.
»Raus in den Kot, wo ich hingehöre!« Übermütig sprang er über
die gefrorene Hundescheiße.
Sie sah ihm nach. Er lief zur Einfahrt, fand den Lieferwagen
(der kaleidoskopisch in einer Schneewehe leuchtete) und ve r
suchte, ihn auf die Fahrbahn zurückzuschieben. Es schien un
möglich, aber entweder ha tte er soviel Kraft, oder die Macht der
Göttin, die ihn erst festgehalten und dann losgelassen hatte, war
mit ihm, jedenfalls gelang es ihm binnen weniger Minuten, den
Wagen ein Stück zur Fahrbahn zu schieben.
Er stapfte durch den Schnee zu Isadoras Sandki ste, nahm die
Schaufel, die dort lehnte wie ein phallisches Symbol, und verteilte
Sand und Salz um die Räder seines Wagens. Dann stieg er in das
grellbemalte Fahrzeug und brachte den Motor auf Touren. Der
Wagen schaukelte vor und zurück, als Bean versuchte , wieder auf
die Fahrbahn zu gelangen. Selbst sein Fahr stil war sexy! Ve r
dammt noch mal, dachte Isadora, dieser Mann könnte mich
wahnsinnig machen. Sie konnte es kaum erwarten, daß die Räder
im Sand Halt fanden, daß sie griffen und ihn für immer aus
ihrem Leben entführten.
Als es klappte, hätte sie beinahe Beifall geklatscht. Raus, raus,
raus! Für immer raus aus meinem Leben, dachte sie, ob du nun
ein Wunder, ein Dämon oder dybuk bist! Aber noch während sie
dem Wagen nachsah, wie er die Einfahrt hinunterfuhr, begann sie
zu singen. Sie trällerte Liebeslieder vor sich hin, als sie unter die
Dusche ging. »Niiiieeee war ich so verliebt…«, sang sie, und dann
lachte sie sich selbst aus. Sie wusch Blut und Sperma aus ihrem
Schamhaar und sah, wie sich das Wasser ro strot färbte, ehe es in
schwindelerregendem Tanz den Abfluß hinunterwirbelte.
RAHEL HUTMACHER
Herzanfall
Ich fuhr heim, obwohl ’s noch mitten in den Ferien war; wohin
hätt’ ich sonst gehen sollen. Ich war eine prüde alte Jun gfer, die
zu ihrer prüden alten Mutter zurückwollte: Fritz hatte recht.
Obwohl’s zum Fürchten heiß war, fror ich in meiner alten Haut.
Deine Haut sieht aus wie ein runzliger alter Fisch. Ja, ja.
Ich fuhr den ganzen Tag, ohne einmal anzuhalten. Die Aut o
stopper saßen am Straßenrand und rühr ten sich nicht, schöne
junge Tote in der Hitze. Heute nahm ich keinen mit. Nie wieder
würde ich einen mitnehmen. Sie waren schön und jung, und ich
war alt: nichts hatte ich mit ihnen zu schaffen, nichts. Mit dir ist
nichts mehr anzufangen, Fritz hatte recht.
Gegen Abend nahm ich doch jemanden mit, ein junges Mä d
chen. Ich stellte mir vor, wie sie nachts am Straßenrand stand
und von einem Mann aufgelesen wurde, der ihr weiß was antat;
da hielt ich an.
Sie grüßte nicht und bedankte sich nicht. Sie stieg schwei gend
ein und setzte sich ihren schmutzigen Rucksack auf den Schoß
wie ein schweres Kind.
»Das kannst du hinten hinlegen«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie.
»Wohin willst du«, fragte ich. Sie war jung, sie hätte eine meiner
Schülerinnen sein können.
»Ist mir egal«, sagte sie.
»Du mußt doch irgendwohin wollen«, sagte ich. Aber sie sah
schweigend aus dem Fenster, als wäre jetzt alles geklärt. Also
fuhr ich weiter. Mir konnt’s ja egal sein.
Als sie ihre Zigaretten hervorholte, sagte ich: »Rauch bitte nicht
in meine m Auto«; sie nickte und tat die Zigaretten wieder weg.
Einmal sagte sie: »Hast du kein Radio hier.« Es störte mich, daß
sie mich duzte. Ich sagte »Nein.« Sonst redeten wir kein Wort.
Ich fuhr und fuhr; solange ich fuhr, war der ganze Schmerz,
waren die Ang st und die Kränkung weg. Ich fuhr und fühlte
nichts. Ich war tot; alle waren längst tot, nur wußten sie ’s nicht
oder wollten’s nicht wissen, Fritz und meine Mutter, die schönen
Autostopper am Straßenrand und das Mädchen neben mir. Ihre
strähnigen langen Ha are flatterten, als wüchsen ihr Tuchstreifen
aus dem Kopf und nicht Haare. Dann wurde es dunkel, und ich
merkte plötzlich, mein Nacken schmerzte, ich war hungrig und
durstig; und dieses Mädchen roch nicht gut, auch das merkte ich
erst jetzt. Alles tat mir weh.
»Ich werde beim nächsten Hotel anhalten und übernachten«,
sagte ich zu dem Mädchen und war froh, daß ich sie bald loswu r
de mit ihren fettigen Haaren und ihrem Schweißgeruch.
»Okay«, sagte sie.
»Und du«, sagte ich, »wo bleibst du.«
»Weiß ich nicht«, sagte sie und sah weiterhin geradeaus, als sähe
sie in dieser Dunkelheit ein schönes Land und müßte es jetzt
andächtig und genau betrachten.
»Ist das denn nicht gefährlich«, sagte ich. Höhnisch , sage die
Stimme von Fritz in mir: »Prüde, prüde.«
Das Mädchen zuckte die Schultern, das sah sehr verächtlich
aus, und sagte nichts. Sie holte wieder ihre Zigaretten hervor.
»Rauch nicht in meinem Auto«, sagte ich scharf, und die Stimme
in meinem Innern höhnte: Jungfer, Jungfer, Lehrerin.
»Ach ja«, sagte das Mädchen gl eichmütig, als wäre sie Verbote
und Enttäuschungen gewohnt, und ich zerbrach mir den Kopf,
was ich mit ihr machen sollte.
Ich wollte sie loswerden. Aber sie war so jung, ich konnte sie
doch nicht mitten in der Nacht hier irgendwo stehenlassen. Aber
auch we nn ich gewollt hätte, hätte ich sie gar nicht einladen
können; ich hatte kaum Geld bei mir. Ich hatte nur mein Zeug in
den Koffer geworfen und war weggefahren, so schnell ich kon n
te. Eine klügere und erfahrene Frau als ich hätte zuerst von Fritz
das geliehene Geld zurückverlangt; da fing ich an zu weinen.
Als ich vor Tränen nichts mehr sehen konnte, fuhr ich an den
Straßenrand und hielt an. Ich legte den Kopf aufs Steuerrad,
schluchzte und weinte.
Das Mädchen blieb neben mir sitzen wie eine schweigende,
stinkende Pflanze, während ich weinte und weinte über das, was
Fritz mir angetan hatte, was das ganze Leben mir angetan hatte.
Das nächste, woran ich mich erinnere, ist der alte Portier, der
so schnell redete. Ich stand hilflos da und fand kein mir vertra u
tes Wort in dem rasenden Fluß von Wörtern, die aus ihm hervor
stürzten. Das Mädchen nickte schließlich und antwortete ihm
etwas. Er gab mir einen warmen Schlüssel in die Hand und wies
uns, immerfort redend, die Treppe hinauf. Noch immer liefen
mir die Tränen übers Gesicht, wer weiß, was er dachte. Wah r
scheinlich war’s ihm egal.
Wir gingen mehrere Treppen hoch, und das Mädchen stank. Im
Auto hatte ich alle Fenster offen gehabt. Hier, in diesem stickigen
grauen Gang, roch sie so heftig nach fettigen Haaren und ver
schwitztem Frauenkörper, daß ich versuchte, den Atem anzuha l
ten. Prüde, prüde, frigide, sagte die Stimme von Fritz wie ein
Lautsprecher in meinem Innern. Ich ging hinter diesem Mädchen
her und weinte mir die Seele aus dem Leib, und mir war übel und
schwindlig.
Das Zimmer war schrecklich, aber das merkte ich erst am näch
sten Tag. Mir war schlecht; mein Herz brannte und stach. Etwas
Reißendes, Tobendes zerquetschte mir das Herz. Ich stand ganz
still in diesem dröhnenden grauen Trichter, klammerte mich an
das Eisenrohr und dachte, jetzt sterbe ich, jetzt muß ich sterben.
Das Mädchen stellte meinen Koffer aufs Bett, stieß das Fenster
auf und drehte am Wasserhahn, aus dem ein gelbroter Wasse r
strahl kam; ich hatte den ersten Herzanfall meines Lebens und
sagte zu dem Mädchen: »Wasch dich mal gründlich.«
Ich sah das Mädchen gleichmütig nicken und fühlte, wie mein
Herz stampfte und zerrissen wurde. Ich hörte das Mädchen
sagen: »Ich hab’ aber nichts zum Waschen da.«
Auf grauen Knien ging ich zu meinem Koffer und gab ihr alles,
mein Shampoo, meine Seife, mein Handtuch, und krümmte mich
dabei vor Schmerzen. Nie hatte ich bisher mit jemandem mein
Handtuch geteilt, und daß man sich, um seine Liebe zu beweisen,
die Zähne mit der Zahnbürste des Geliebten putzt, fand ich
schon immer widerlich und töricht. Aber jetzt riß etwas Hartes,
Graues mein Herz auf; ich wußte nichts mehr von dem, was ich
einmal gewußt und gelernt hatte, und lieh diesem vollkommen
fremden Mädchen meinen Waschlappen und meine Zahnbürste.
Sie zog sich aus und wusch sich. Ich saß auf dem Bettrand, ha t
te einen Herzanfall und Todesangst und sah ihr beim Waschen
zu. Sie wusch sich die Haare; Schaum flog bis zu mir aufs Bett,
und ich wußte nicht, ob das auf meinem Gesicht meine erkalte n
den Tränen waren oder die Schaumflocken, die um mich flogen
wie weiße Federchen.
Dann konnte ich wieder atmen und lebte noch: saß auf dem
Bettrand und sah einem nackten Mädchen zu, wie es sich wusch.
Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben eine nackte Frau,
nachdem ich erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal in meinem
Leben einen nackten Mann gesehen hatte. Vor dem nackten Fritz
hatte ich mich geschämt und gefürchtet und war vor Ratlosigkeit
gelähmt gewesen. Jetzt fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das
sitzt und zusieht, während di e Tränen auf seinem Gesicht troc k
nen: nur dasitzt und zusieht, friedlich und vollkommen furchtlos.
Wir schliefen im selben Bett, es gab in diesem Zimmerchen nur
dieses weiße Eisenbett. Das Mädchen legte sich neben mich und
schlief sofort ein, und ich schlief auch ein.
Nachts wachte ich auf, weil ich mit der Stirn auf der Armban d
uhr lag. Ich legte die Uhr auf den Boden neben das Bett, und das
Mädchen drehte sich um und legte sich in meinen Arm.
Ich war eine prüde alte Jungfer. Ich war beinahe fünfzig, und
Fritz hatte es nicht glauben können, daß er der erste Mann in
meinem Leben war. Erst neckte er mich deswegen, später ve r
höhnte er mich : vertrocknet, alt, gar keine richtige Frau. Ich war
ungeschickt und voller Angst, etwas falsch zu machen, etwas
nicht zu wi ssen, was ich als Frau hätte wissen sollen; und Fritz
war wütend.
Jetzt lag ich in dem engen Bett, hielt diese junge Frau im Arm
und fühlte im Dunkeln, wie sie ihre Hand auf meine Wange legte.
Sie streichelte mich, und ich ließ mich streicheln, ohne mich zu
wundern oder zu ängstigen. Es war keine Angst übriggeblieben.
Die Hand der jungen Frau war rauh und warm. Ich roch mein
Shampoo in ihren Haaren, die mich im Gesicht und dann auf den
Brüsten und dann auf dem Bauch kitzelten. Ich war gestrandet;
ich war mi t dem Leben davongekommen. Ich ließ mir das
Nachthemd ausziehen und hörte meiner Stimme zu, die ganz von
selber, ohne daß ich etwas davon wußte oder etwas dazu tat, zu
stöhnen und zu rufen begann und schließlich in das dunkle
Zimmer hineinschrie und nicht mehr aufhören wollte zu schre i
en.
Ich schlief in ihren Armen ein wie ein Kind, und sie hielt mich,
als wäre ich ein Kind. Sie sagte freundliche Wörter zu mir, die ich
nicht verstand, aber das machte nichts. Sie strich mir über die
Haare, und ich schlief gä nzlich getröstet ein. Am andern Morgen
wachte ich auf, und sie war weg, und mein Geld war auch weg,
und die goldene Armbanduhr auch, die meiner Mutter gehörte
und die sie mir unter tausend Mahnungen für die Reise geliehen
hatte.
Es machte mir überhaupt nic hts aus. Ich hätte mich aufregen
sollen, aber ich regte mich nicht auf. Es war, als hätte ich dies
alles schon lange gewußt und immer erwartet, und jetzt war’s
geschehen, und alles war gut und vollkommen gerecht.
Ich mußte Geld auftreiben. Ich stammelte in dieser fremden
Sprache herum. Ich behielt das häßliche Zimmerchen und lag
fast die ganze Zeit, bis das Geld ankam, im Bett: als wäre ich von
einer schrecklichen Krankheit genesen, als wäre ich endlich am
richtigen Ort angekommen; und als ich nach Hause ka m, sagte
meine Mutter sofort: »Wo hast du meine Uhr.«
Ich log. Ich log sie an und log die Kollegen an, als sie nach
meinen Ferien fragten, und sie glaubten mir alles, nur meine
Mutter glaubte mir kein Wort. Sie jammerte ihrer Uhr nach und
machte mir wochen lang Vorwürfe deswegen, aber zum ersten
Mal in meinem Leben waren mir ihre Tränen, ihre Vorwürfe und
ihr gekränktes Schweigen vollkommen egal.
Quellenverzeichnis
DORIS LESSING: Zwischen Männern, aus: Die Frau auf dem Dach,
Erzählungen, Band 2. Übers , von Adelheid Dormagen. Cop y
right © Verlagsgemeinschaft Klett-Cotta, Stuttgart 1982.