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Urlaubs-Schnappschüsse oder Stationen einer inneren

Reise? – Franz Liszts „Années de pèlerinage“


Wer kennt es nicht: Man wird von einem guten Freund eingeladen, um sich im
vertrauten Kreise Bilder seines letzten Ferienurlaubs anzuschauen. Dieser gute Freund hat,
anstatt seine Zeit am Strand liegend zu vertun, eine Fülle fotografischen Materials
zusammengetragen und steht nun vor der Aufgabe, aus den über 2000 Bildern, die er mit
seiner neuen 10 Megapixel-Kamera geschossen hat, eine Auswahl zu treffen. Diese wird er
dann entweder – ganz klassisch – bei einem Abendessen mit Diashow oder – ganz modern –
als Fotoalbum auf Facebook den Freunden und Bekannten präsentieren.
Warum? Vielleicht, weil Mitteilung ein menschliches Grundbedürfnis ist; vielleicht, um
die Freunde am erlebten Schönen irgendwie teilhaben zu lassen; vielleicht, um Weltoffenheit
und kulturelles Interesse zu zeigen; vielleicht, um soziale Bestätigung der Zugehörigkeit zum
Bildungsbürgertum zu erlangen und gut dazustehen – der Gründe gäbe es viele.
Die Auswahl selbst verrät etwas von diesen Motiven: Sind auf den Bildern vorwiegend
Landschaften und Sonnenuntergänge zu sehen? Zeigen sie architektonische Meisterwerke,
berühmte Orte und Szenen aus dem Leben der einheimischen Bevölkerung oder sind es doch
eher nur Portraits des Reisenden, der mit seinem blöd in die Kamera grinsenden
Touristenlächeln den Blick auf eine wundervolle mittelalterliche Kathedrale verwehrt?
Dem Betrachter bleibt – wenn er den Urlauber nicht gut kennt – nur übrig, sich aus dem
ihm dargebotenen ausgewählten Material ein Bild über die Ferien des Freundes zu machen.
Dieses Bild kann nun auch geprägt sein von der Art des Vortrags: Ist er spannend gestaltet
oder muss man ihn ‚über sich ergehen lassen’? Außerdem von der Qualität der Fotografien:
Verwackelt-Verpixeltes sieht man eben nicht gerne. Andererseits können ein paar Klicks in
Photoshop einem Bild den Zauber entlocken, den der Fotograf selbst verspürt haben muss, als
er es einfing. Eines jedoch steht fest: Die Auswahl stellt – bewusst oder unbewusst – die
Wahrnehmung des Reisenden selbst heraus und mag somit dazu helfen, sich diesem Bild
anzunähern.
Franz Liszt zeigt uns in seinen „Pilgerjahren“ (Années de pèlerinage) drei Reisen und
lädt uns ein, diese ‚nachzuhören’. Weit davon entfernt, bloße „Programmmusik“ im negativen
Sinne des Wortes zu sein, breiten sie ein Panorama programmatischer Musik aus, dessen
Popularität bis heute ungebrochen ist. Im Jahre 1883 wurde der dritte Band Troisième Année
herausgegeben, mit dem die Sammlung von insgesamt 26 Stücken, an der der Komponist seit
1848 gearbeitet hatte, nun nach fast 50 Jahren vollendet war.
Nach einer Auswahl und umfangreichen Umarbeitung einzelner Stücke des vorher
komponierten Album d’un Voyageur wurde 1855 der erste Band Suisse veröffentlicht. Er geht
zurück auf seine gemeinsame Zeit mit seiner Geliebten, der Gräfin Marie d’Agoult im
Rhonetal. Die beiden hatten sich dorthin aus dem Pariser Großstadtleben zurück gezogen und
lasen in dieser Zeit gemeinsam Sénancours Roman Obermann, auf den das prominenteste
Stück des ersten Bandes, Vallée d’Obermann, zurück geht. Überhaupt hat sich die literarische
Lektüre in der Ruhe der Schweizer Berge stark auf die Komposition von Suisse ausgewirkt:
Zitate von Schiller, Byron und Sénancour finden sich fast allen Stücken vorangestellt. So wird
der Band eröffnet durch den Wahlspruch des Schweizer Volkshelden Wilhelm Tell: „Einer
für Alle – Alle für Einen“ und aus Obermann sind sogar mehrere Seiten im Notentext
wiedergegeben. Die Zitate chiffrieren einen Teil der Botschaft, die Liszt durch das Kunstwerk
zu vermitteln versucht. Doch auch ohne Kenntnis der Texte sprechen die Stücke aus den
Années eine deutliche Sprache.
Im zweiten Band Italie setzt sich Liszt intensiv mit der italienischen Literatur und
Bildhauerei auseinander. So sind z.B. Gedichte Petrarcas und Dantes Divina commedia
Vorlagen für einige Stücke. Das erste Stück Sposalizio bezieht sich auf ein Gemälde Raffaels
in Mailand, das die Vermählung Marias und Josefs darstellt. Il Penseroso weist auf
Michelangelos berühmte Statue in der Medici-Kapelle in Florenz hin. Ist es nur ‚Tonmalerei’?
Eine Illustration, ein Nachzeichnen großer Kunstwerke? Oder gar der Versuch einer
‚Übersetzung’ in die Sprache der Musik? Ähnlich wie bei Liszts Klaviertranskriptionen lässt
sich auch hier die Grenze zwischen Bearbeitung und Neuschöpfung schwer ziehen. Sind die
Stücke aus den Années auch von unterschiedlicher kompositorischer Qualität, so lässt sich
nicht bestreiten, dass sie mehr sind, als ‚bloße Vertonung’, als Be- oder Verarbeitung
vorgegebenen Materials. Aber was sind sie dann?

(Quelle: http://img524.imageshack.us/img524/4931/antiaimagezw0.jpg)
Liszts Bezugnahme auf andere Künsten will „Ausdruck eines neuen ästhetischen
Anspruchs [sein], dass die Musik nicht nur als Sprache sui generis zu ihrer höchsten
Ausdrucksfähigkeit in der Geschichte gefunden, sondern auch genuin kompositorische
Verfahrensweisen entwickelt habe, die es ihr ermöglichen, sich als Dichtung in Tönen der
Sujets der Weltliteratur zu bemächtigen, ja dass die literarischen Gattungen in den neuen
poetischen Gattungen der Musik im doppelten Sinne des Wortes aufgehoben seien“1 (MGG,
Liszt, S. 285). In diesem Sinne ist auch die „grande mission religieuse et sociale“ des
Künstlers zu verstehen, von der Liszt in musiktheoretischen Aufsätzen spricht. Das Sujet des
dem zweiten Band später als Supplement hinzugefügten Teils Venezia e Napoli ist eher das
der ‚Kunst der kleinen Leute’: Eine Gondelfahrt, ein Liebeslied und ein Volkstanz.
Der dritte Band, der keinen eigenen Titel hat, trägt nun auch stark der Tatsache
Rechnung, dass sich Liszt nach all den Jahren der Unrast nach äußerer und innerer Ruhe
sehnte, die er – nun Abbé Liszt – schließlich im römischen Kloster Madonna del Rosario
fand. Die dortige Zeit der Muße ermöglichte ihm auch die Verwirklichung weiterer
Kompositionsvorhaben wie das Oratorium Christus, einige Messen und eben der letzte Band
der Pilgerjahre. Er selbst schrieb die aufschlussreichen Worte über sein Verständnis der
Beziehung von Kunst und Religion:
„Wie einst, und mehr noch, muss die Musik sich an VOLK und GOTT wenden; sie muss vom einen zum
anderen gehen; den Menschen bessern, veredeln und trösten, Gott loben und preisen. Um dies zu
erreichen, muss eine neue Musik geschaffen werden. Diese zutiefst religiöse, starke und wirksame Musik,
die wir in Ermangelung eines anderen [Namens] Menschheitsmusik nennen wollen, wird THEATER und
KIRCHE in gewaltigen Ausmaßen vereinigen. Sie wird zugleich dramatisch und weihevoll sein,
prachtvoll und einfach, pathetisch und ernst, feurig und wild, stürmisch und ruhig, heiter und zart.“2

Liszt scheint nun tatsächlich am Ende seiner Pilgerreise angekommen zu sein. Im dritten
Band finden wir sowohl religiöse (z.B. Angélus) als auch weltliche Elemente wie den Marche
funèbre im Gedenken an Kaiser Maximilian von Mexiko. Les jeux d’eaux à la Villa d’Este
nimmt deutlich impressionistische Züge an und in weiteren Stücken verwendet er Skalen,
Melodien und Gestaltungsprinzipien, die manchen Hörer schon an frühe Formen Neuer Musik
erinnern mögen, womit sich hier das Wort von der „Zukunftsmusik“ als mehr als treffend
erweist.
Doch hat Liszt nun als Komponist neue Wirklichkeiten geschaffen oder ‚nur’ einen Weg
gedeutet, den andere nach ihm zu gehen hatten? Der Streit darüber, ob Franz Liszt nicht nur
1
Altenburg, Detlef, Franz Liszt in: Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 285
2
LSS 1, S. 58-59, zit. nach: Altenburg, Detlef, Franz Liszt
als Klaviervirtuose, sondern auch als Komponist eine Bedeutung hat, wird wohl nie beigelegt
werden. Vielleicht ist hier eine definitive Entscheidung auch nicht so wichtig. „Nicht dem
Wollen des Künstlers, sondern dem, was ihm auszusprechen gelungen ist, trägt die Nachwelt
Rechnung.“ (Franz Liszt) Und so ist es an uns, der Nachwelt, Liszts ‚Fotografien’ von
Stationen seiner Pilgerjahre gleich einem Album in die Hand zu nehmen und uns selbst ‚ein
Bild zu machen’.
Fabian Moss

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