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Dieter Groh – Michael Kempe – Franz Mauelshagen

Einleitung
Naturkatastrophen – wahrgenommen, gedeutet, dargestellt

Als am frühen Morgen Jeronimo Rugera die Glocken von Santiago de Chile
hörte, die seine Geliebte zur Hinrichtungsstätte begleiteten, rissen plötzlich
heftige Erdstöße den Spanier, der sich gerade in seiner Verzweiflung zu
erhängen versuchte, gewaltsam aus seiner Gefängniszelle ins Freie.
Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten,
glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die
der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses ein-
gerissen hatte. Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte
Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos,
wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt
und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte,
nach einem der nächsten Thore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusam-
men, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße;
hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und
trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade ge-
hoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier
lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte,
hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen
und Thiere mit den Wellen, hier war ein muthiger Retter bemüht, zu helfen; hier
stand ein Anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände
zum Himmel. Als Jeronimo das Thor erreicht, und einen Hügel jenseits dessel-
ben bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder. Er mochte wohl
eine Viertelstunde in der tiefsten Bewusstlosigkeit gelegen haben, als er endlich
wieder erwachte, und sich, mit nach der Stadt gekehrtem Rücken, halb auf dem
Erdboden erhob. Er befühlte sich Stirn und Brust, unwissend, was er aus seinem
Zustande machen sollte, und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein
Westwind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte, und sein Auge
sich nach allen Richtungen über die blühende Gegend von St. Jago hinwandte.
Nur die verstörten Menschenhaufen, die sich überall blicken ließen, beklemmten
sein Herz; er begriff nicht, was ihn und sie hierhergeführt haben konnte, und
erst, da er sich umkehrte, und die Stadt hinter sich versunken sah, erinnerte er
sich des schrecklichen Augenblicks, der er erlebt hatte.1

1 Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili, hrsg. von Roland Reuß. Frankfurt a.M. 1993,
S. 11-14.
12 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

So erlebte und überlebte der Spanier Rugera 1647 das »Erdbeben von Chili«
in Heinrich von Kleists Erzählung von 1807. Zwar handelt es sich hier um
eine Fiktion, doch läßt sich die wiedergegebene Sequenz auch als literarische
Imagination eines Naturkatastrophenerlebnisses zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts lesen.2 Sie kann Aufschluß darüber geben, wie Erfahrungen von Natur-
katastrophen zu dieser Zeit in der Literatur dargestellt wurden. Die imagi-
nierten Ereignisse in Santiago de Chile zählen damit auch zur Geschichte der
Darstellung und Wahrnehmung katastrophaler Naturereignisse.
Erdbeben, Überschwemmungen und Sturmfluten, Waldbrände, Hagel,
Stürme, Dürre und Epidemien gehören zum ewigen Lied vom Menschenda-
sein. Wo solche oder ähnliche Gefahren regelmäßig auftreten und das gesell-
schaftliche Leben prägen, handelt es sich oft um bewußt – meist um ökono-
mischer Vorteile willen – in Kauf genommene Risiken. Risikominimierung
kann als die zentrale Strategie von Subsistenzökonomien angesehen werden,
d.h. von Gesellschaften, wie sie auch in Westeuropa bis an die Schwelle der
Moderne existierten – und weltweit sogar noch bis in unser Jahrhundert.
Zum Ruin oder Risiko gehörten auch, wenn nicht sogar in erster Linie, Na-
turkatastrophen, die den »Ernteertrag« der ökologischen Nische, in der un-
sere Vorfahren als Jäger-Sammler, Bauern oder nomadisierende Viehzüchter
lebten, drastisch reduzierten. Dagegen halfen nur oft recht komplizierte
Regeln, die zur Unternutzung oder Unterproduktivität der Carrying capacity
und zu einem komplexen Netz sozialer Ressourcen mit der Möglichkeit
jederzeitiger Aktivierung führten. Sie haben unsere Gattung insgesamt die
vielen großen und kleinen Katastrophen ihrer langen Geschichte überleben
lassen.3
Trotz dieser zeitlichen Tiefendimension sind Naturkatastrophen lange
Zeit alles andere als bevorzugte Gegenstände für historisch arbeitende Kul-
turwissenschaften gewesen. Nehmen wir nur die Geschichtswissenschaft, so
fehlte es bis in die jüngste Zeit offenbar an Ansätzen, mit denen Naturkata-
strophen wieder mehr ins Blickfeld gerückt werden konnten – oder, besser
gesagt: aus dem völligen »Jenseits« historischer Forschung in ihr »Diesseits«.
Dies hat ebenso mit der Ausdifferenzierung von Natur- und Geisteswissen-
schaften wie mit der Geschichte des Fachs zu tun. Der Historismus des
19. Jahrhunderts ließ mit dem älteren universalhistorischen Ansatz auch die
Integration von Naturphänomenen hinter sich. Der Blick auf das Indivi-
duum Mensch als Akteur der Geschichte grenzte Naturgewalt als Zufall aus.

2 In der Literaturwissenschaft dient Kleist Erzählung auch als (Lehrbuch-)Exempel für unter-
schiedliche methodische Ansätze. Vgl. hierzu David E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Lite-
raturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili. Mün-
chen 1985 (4. Aufl. 2001).
3 Vgl. Dieter Groh, Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität
und Mußepräferenz – die zentralen Kategorien von Subsistenzökonomien, in: ders., Anthro-
pologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt am Main 1992 (2. Aufl. 1999), S. 54-113;
sowie Rolf Peter Sieferle/ Ulrich Müller-Herold, Überfluß und Überleben. Ruin und Luxus in
primitiven Gesellschaften, in: GAIA 5 (1996), S. 135-143.
Einleitung 13

Auch die noch relativ junge Umweltgeschichte war lange Zeit den Natur-
katastrophen nicht sonderlich zugeneigt. Ihr Interesse galt vorwiegend lang-
oder mittelfristigen Entwicklungen, nicht den oft blitzartigen Ausbrüchen
von Naturgewalten. Die Klimageschichte konzentrierte sich in den vergan-
genen Jahrzehnten auf die Ermittlung langer Datenreihen, um den Klima-
wandel vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu dokumentieren. Seitdem für
Mitteleuropa umfassende Ergebnisse vorliegen,4 rücken hier zunehmend die
sozial- und kulturgeschichtlichen Konsequenzen von Klimaveränderungen in
den Mittelpunkt wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. In der Diskussion um
die Folgen der Kleinen Eiszeit standen diese Aspekte zwar von Anfang an –
seit den Arbeiten von Emmanuel Le Roy Ladurie5 – mit zur Debatte. Dies
betraf allerdings zunächst vor allem den Einfluß des Wetters auf die Preis-
entwicklung von Grundnahrungsmitteln mit agrar- und sozialhistorischen
Konsequenzen. In Deutschland hat Hartmut Lehmann die Frage nach den
frömmigkeitsgeschichtlichen Auswirkungen aufgeworfen.6 Die Debatte um
den Zusammenhang von Kultur- und Klimawandel hat vermutlich noch
längst nicht ihren Höhepunkt erreicht.
Anfang der achtziger Jahre konnte Arno Borst noch die Selbstausschal-
tung der Historiker aus der wissenschaftlichen ebenso wie der öffentlichen
Diskussion über Naturkatastrophen beklagen.7 Seitdem hat sich einiges ver-
ändert. In den heutigen Umweltdebatten werden Naturdesaster häufig als
Hinweise auf einen möglichen Klimawandel gedeutet. Um längerfristige Ent-
wicklungen in den Blick nehmen zu können, wendet sich die wissenschaftli-
che Klimaforschung zunehmend auch den Katastrophen der Vergangenheit
zu, was sich z.B. in der ständig wachsenden Zahl immer wieder aktualisierter
historischer Erdbebenkataloge niederschlägt. Auch in den Kulturwissen-
schaften, insbesondere in der Geschichtswissenschaft, hat sich inzwischen
vieles bewegt. Mit sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen lassen sich

4 Christian Pfister, Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen. Mit


einem Vorwort von Hartmut Graßl sowie Beiträgen von Jürg Luterbacher und Heinz Wan-
ner. Unter Mitarbeit von Daniel Brändli, Beat Brodbeck und Paul-Anthon Nielson. Bern –
Stuttgart – Wien 1999; Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter,
Klima, Katastrophen. Darmstadt 2001. Für die Klimageschichte des 16. Jahrhunderts hat
der Sammelband Christian Pfister u.a. (Hrsg.), Climatic Variability in Sixteenth Century Eu-
rope and its Social Dimension. Dordrecht 1999, neue Maßstäbe gesetzt.
5 Emmanuel Le Roy Ladurie, Histoire du climat depuis l’an mil. Paris 1969 (englisch: Times of
Feast, Times of Famine. A History of Climate since the Year 1000. London 1972).
6 Hartmut Lehmann, Frömmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der »kleinen Eiszeit«, in:
Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfgang Schieder. (Geschichte
und Gesellschaft, Sonderheft 11) Göttingen 1986, S. 31-51. Zu den originellsten Thesen, die
an Lehmanns Überlegungen anknüpfen, gehören diejenigen von Wolfgang Behringer, der einen
Konnex zwischen Hexenverfolgung und Klimaabkühlung in der Frühen Neuzeit sieht. Vgl.
für einen zusammenfassenden Überblick mit weiterführenden Hinweisen ders., Climate
Change and Witch-Hunting: The Impact of the Little Ice Age on Mentalities, in: Pfister u.a.
(Hrsg.), Climatic Variability (wie Anm. 4), S. 335-351.
7 Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung,
in: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 529-569.
14 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

Naturkatastrophen in die Menschengeschichte zurückholen: Sie können als


Initial für technische Innovationen und politische Institutionenbildung, die
durch die organisatorischen Anforderungen der Katastrophenhilfe und
-bewältigung angestoßen werden, als Gegenstand für das Studium menschli-
cher Kontingenzbewältigung oder als – möglicherweise identitätsstiftende –
Ereignisse, die sich ins kulturelle Gedächtnis einschreiben, untersucht wer-
den. Einzelne Studien zur Sturmflut von 17178 und zum Erdbeben von
Lissabon 17559 sowie weitere monographische Darstellungen10 deuten die
Trendwende der 1990er Jahre an. Forschergruppen in Frankreich, der
Schweiz und Deutschland haben sich seitdem gebildet, Tagungen wurden
veranstaltet, Sammelbände sind erschienen.11 Auch Klima- und Stadtge-
schichtsforschung haben das Thema mittlerweile entdeckt.12 Naturkatastro-
phen bieten überdies ein Feld für international vergleichende Studien.13

8 Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der


Frühen Neuzeit. München 1992.
9 Wolfgang Breidert, Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens
von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen. Darmstadt 1994; Ulrich Löffler, Lissa-
bons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschspra-
chigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts. Berlin – New York 1999.
10 Für die Antike ist auf folgende Monographien hinzuweisen: Gerhard Waldherr, Erdbeben.
Das außergewöhnliche Normale. Zur Rezeption seismischer Aktivitäten in literarischen
Quellen vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. (Geographica Historica
9) Stuttgart 1997; Holger Sonnabend, Naturkatastrophen in der Antike. Wahrnehmung, Deu-
tung, Management. Stuttgart – Weimar 1999; vgl. ferner: Christa Hammerl/ Wolfgang Lenhardt,
Erdbeben in Österreich. Graz 1997, mit weiteren Hinweisen auf die österreichische For-
schung; Jacques Berlioz, Catastrophes naturelles et calamités au Moyen Age. (Micrologus’ Lib-
rary, Bd. 1) Turnhout 1998. Die Aufzählung beansprucht keinerlei Vollständigkeit. Weitere
Hinweise finden sich in den Einzelbeiträgen dieses Bandes.
11 Noch Ende der achtziger Jahre erschien: Emanuela Guidoboni (Hrsg.), I terremoti prima del
Mille in Italia e nell’ area mediterranea. Bologna 1989; vgl. ferner: Bartolomé Bennassar (Hrsg.),
Les catastrophes naturelles dans l’Europe médiévale et moderne. Actes des XVes Journées
Internationales d’Histoire de l’Abbaye de Flaran 10, 11 et 12 septembre 1993. Presses Uni-
versitaire du Mirail 1996; Eckart Olshausen/ Holger Sonnabend (Hrsg.), Naturkatastrophen in
der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 6.
(Geographica Historica; Bd. 10) Stuttgart 1998; drei Einzelstudien zu »Wahrnehmung und
Verarbeitung von Katastrophen« sind in Paul Münch (Hrsg.), »Erfahrung« als Kategorie der
Frühneuzeitgeschichte. (Historische Zeitschrift, Beihefte N.F., Bd. 31) München 2001,
S. 211-267, erschienen. Ferner ist der Band von Christian Pfister (Hrsg), Am Tag danach. Zur
Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000. Bern u.a. 2002, zu nennen.
Schließlich ist auf Michael Kempe/ Christian Rohr (Hrsg.), Coping with the Unexpected. Natu-
ral Disasters and their Perception. Environment and History, Special Issue 2 (erscheint
2003), hinzuweisen.
12 Martin Körner (Hrsg.), Stadtzerstörung und Wiederaufbau/ Destruction and Reconstruction
of Towns/ Destruction et reconstruction des villes, 3 Bde. Bern 1999/2000; vgl. jetzt auch
Geneviève Massard-Guilbaud/ Harold Platt/ Dieter Schott (Hrsg.), Cities and Catastrophes/ Villes
et catastrophes. Coping with Emergency in European History/ Réactions à l'urgence dans
l'histoire européenne. Frankfurt a.M. u.a. 2002. Gerade erschienen ist die Arbeit von Mischa
Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im
6. Jahrhundert n.Chr. Göttingen 2003.
13 Schon auf der ersten Konferenz der neugegründeten European Society for Environmental History
in St. Andrews 2001 gab es eine Sektion zum Thema (die Beiträge erscheinen in dem bereits
erwähnten Special Issue der Zeitschrift Environment and History; vgl. Kempe/ Rohr
Einleitung 15

II

In den Beiträgen dieses Bandes überwiegt ein intuitives Verständnis davon,


was unter einer Naturkatastrophe zu verstehen sei. Wir wollen es hier nicht
dabei bewenden lassen. Denn die brennende Frage, welchen spezifischen
Beitrag die historischen Kulturwissenschaften zur Erforschung von Natur-
katastrophen leisten können, wirft Klärungsbedarf auf – angefangen beim
Begriff der Naturkatastrophe. Schon darum, weil seine Bestimmung in der
Forschung umstritten ist,14 genügt es nicht, ihn einfach zu definieren. Gerade
im transdisziplinären Kontext, für den bisher noch kein Forschungspro-
gramm entwickelt wurde, verbieten sich unvermittelte definitorische Setzun-
gen. Statt dessen sollte das Begriffsverständnis aus historischen Vorausset-
zungen entwickelt und von terminologischen Alternativen abgesetzt werden.
Zu den Alternativen gehört die Bezeichnung »Extremereignis«.15 Chri-
stian Pfister hat diesem Begriff entgegengehalten, daß er alleine über das
Ausmaß der wirkenden Naturkräfte etwas aussage, nicht jedoch über deren
Wahrnehmung und über ihre Auswirkung auf die Gesellschaft. Jeder Natur-
katastrophe liege ein natürliches Extremereignis zugrunde, aber nicht jedes
natürliche Extremereignis bedeute eine Katastrophe.16
In den Naturwissenschaften wird seit geraumer Zeit von »Naturgefahren«
(natural hazards) gesprochen. Der Aspekt der Gefahr wird dabei durch die
Möglichkeit von Schadensfolgen und die Chance ihrer frühzeitigen Erken-
nung zwecks Prävention definiert. Naturkatastrophen bezeichnen demgegen-
über bereits eingetretenes Unheil. Der perspektivische Unterschied besteht also
in erster Linie in verschiedenen Zeithorizonten: Naturgefahren sind Verge-
genwärtigungen möglicher Zukunft, während Naturkatastrophen auf Ge-
genwart oder Vergangenheit bezogen sind, damit aber auch immer den Ver-
lust vergangener Zukunftsperspektiven einschließen. Mit Pfister kann man
festhalten: »Die Forschung über Naturgefahren ist naturbezogen und ursa-
chenorientiert. Sie ist vorwiegend in den Naturwissenschaften angesiedelt.
Dagegen ist die Naturkatastrophenforschung gesellschaftsbezogen und wir-
kungsorientiert. Sie gehört deshalb vorwiegend in den Bereich der Sozial-

(Hrsg.), Coping with the Unexpected [wie Anm. 11]). Auf der zweiten Konferenz in Prag
2003 werden es insgesamt drei Sektionen sein, zwei davon unter dem Titel Cultural Impacts of
Natural Disasters. Für den nächsten Welthistorikerkongress in Sydney 2005 wird im Rahmen
des Schwerpunktthemas Humanité et nature dans l’histoire (Humankind and Nature in History) eine
weitere Sektion über Les catastrophes naturelles et leurs suites (Natural Disasters and How They Have
Been Dealt With) organisiert.
14 Einige Definitionen bei: Anders Wijkman/ Lloyd Timberlake, Die Rache der Schöpfung.
Naturkatastrophen: Verhängnis oder Menschenwerk? München 1986, S. 30f. und 170; Josef
Nußbaumer, Die Gewalt der Natur. Eine Chronik der Naturkatastrophen von 1550 bis heute.
Grünbach 1996, S. 15.
15 Z.B. Körner (Hrsg.), Stadtzerstörung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 9-11 und S. 37 Anm. 4.
16 Christian Pfister, Naturkatastrophen und Naturgefahren in geschichtlicher Perspektive. Ein
Einstieg, in: ders. (Hrsg.), Am Tag danach (wie Anm. 11), S. 11-25, hier S. 15.
16 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

und Geisteswissenschaften.«17 Dem wäre hinzuzufügen, daß häufig erst


Katastrophenerfahrungen ein Bewußtsein für Naturgefahren erzeugen. Wäre
eine Synthese der beiden Perspektiven gefragt, so würde sich auch dafür der
Katastrophenbegriff anbieten und damit zum umfassenden Konzept avan-
cieren, das auch den Zukunftshorizont etwa der Prävention oder des Kata-
strophenschutzes einschließt.
Unter den gegenwärtig diskutierten Alternativen bringt die Bezeichnung
»Naturkatastrophe« am ehesten eine auf den Menschen zentrierte Forschung
auf den Begriff, die den Kulturwissenschaften ein Feld für transdisziplinäre
Zusammenarbeit bietet. Naturereignisse, auch Extremereignisse, die ohne
Effekt auf Menschen und ihr Zusammenleben geblieben sind, liegen außer-
halb des Fragehorizontes. Die anthropozentrische Perspektive wird durch
begriffsgeschichtliche Überlegungen gestützt. Da es an umfassenden Unter-
suchungen fehlt, kann die Begriffsgeschichte hier nur in Grundlinien umris-
sen werden. Wir gehen dabei vorwiegend von einem Querschnitt durch
deutschsprachige Konversationslexika aus.
Das Kompositum »Naturkatastrophe« ist neueren Datums. Seit Anfang
des 20. Jahrhunderts taucht es vereinzelt auf,18 aber erst in den siebziger
Jahren etabliert es sich als lexikalisches Lemma.19 Seitdem häuft sich auch die
Verwendung des Wortes in Buchtiteln. Dies ist um so überraschender, als
schon sehr viel früher mit dem Schlagwort »Katastrophe« die Vorstellung
eines »unglücklichen Naturereignisses« verbunden wird.20 Bei Jean Paul, in
der Vorschule der Ästhetik, ist auch schon kurz nach der Wende zum 19. Jahr-
hundert von »Katastrophe der Natur« die Rede.21
Die Wortbildung hinkt der Begriffsbildung offensichtlich hinterher, deren
Beobachtung sich darum auf das Lemma »Katastrophe« verlagert. Hier ist
zunächst die dramentheoretische Bedeutung aus der griechischen Antike
vorherrschend.22 Zunehmend etabliert sich eine alltagssprachliche Grundbe-
deutung von »Katastrophe« als Synonym für »Unglück«, »Unheil«, »Verhäng-
nis«. Dieser Prozeß spricht für die Vermutung, daß das Wort erst im Laufe

17 Ebd., S. 16.
18 Der früheste bisher bekannte Beleg ist Joseph Friedrich Nowack, Über rechtzeitige Warnungen
vor Naturkatastrophen. Eine Erdbebentheorie. Wien 1905; so der Hinweis bei Pfister, Na-
turkatastrophen (wie Anm. 16), S. 15 und S. 24 (Anm. 32).
19 Das ergibt eine chronologische Durchsicht verschiedener Auflagen deutscher Wörterbücher
(u.a. Wahrig, Duden, Paul/Betz) und einschlägiger Konversationslexika. Ein Längsschnitt
durch die Auflagen des Brockhaus etwa ergibt, daß erst die 17. Aufl. im 13. Bd. (gedruckt
1973) das Lemma »Naturkatastrophe« aufführt.
20 So in Anlehnung an eine Formulierung in der 14. Aufl. des Brockhaus, Bd. 10. Leipzig 1898,
S. 230.
21 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller hrsg. von Wolfhart
Henckmann. Hamburg 1990, § 25, S. 99.
22 Vgl. auch Jutta Nowosadtko/ Ralf Pröve, Einleitung. Wahrnehmung und Verarbeitung von
Katastrophen, in: Münch (Hrsg.), Erfahrung (wie Anm. 11), S. 211-216, hier S. 212f.; und
Geneviève Massard-Guilbaud, Introduction – The Urban catastrophe: Challenge to the social,
economic, and cultural order of the city, in: dies./ Platt/ Schott (Hrsg.), Cities (wie
Anm. 12), S. 9-42, hier S. 11-13.
Einleitung 17

des 19. Jahrhunderts – unter Verlust des spezifisch dramentheoretischen


Sinnhorizonts – aus dem Gelehrtenvokabular in den allgemeinen Sprach-
gebrauch eingegangen ist. In verschiedenen Lexika trat bereits um 1835 ein
weites Verständnis in den Vordergrund, das von der wörtlichen Übersetzung
aus dem Griechischen (»Umwendung«) ausging. Die 8. Auflage des Brockhaus
erläutert: »Katastrophe heißt so viel als Wendung und bezeichnet daher den-
jenigen Zeitpunkt im Leben des Individuums oder einer Gesammtheit von
Individuen, in welchem das Schicksal derselben eine bestimmte und ent-
schiedene Wendung zum Guten oder Bösen, zum Glück oder Unglück
nimmt.«23 Erst anschließend wird auf Epos und Drama eingegangen. Ähnlich
Piepers Universal-Lexikon, das an vorderster Stelle »Katastrophe« als »plötzli-
che Umkehrung der Dinge, besonders im menschlichen und gesellschaftli-
chen Leben«, erklärt.24 Beide Artikel übertragen die Umwendungsmetapher
nicht nur auf individuelle Lebensläufe sondern auch auf Einschnitte im ge-
sellschaftlichen Dasein. Noch ist aber nicht die Rede davon, daß ein solcher
Einschnitt auch durch ein Naturereignis verursacht sein könne. Eine ent-
sprechende semantische Erweiterung läßt sich erst von der 9. (Bd. 8, 1845)
auf die 10. Auflage (Bd. 8, 1853) des Brockhaus feststellen: 1853 wird am
Ende des Artikels erstmals hinzugefügt, daß »überhaupt auch jede entschei-
dende Wendung in der Entwickelung eines menschlichen Geschicks, eines
geschichtlichen Verhältnisses, ja selbst eines Naturereignisses« als Katastro-
phe bezeichnet werde.25
Der Grund für diese späte lexikalische Konnotation von »Katastrophe«
mit Naturereignissen liegt in der Geschichte des Begriffs »Revolution«. Von
seiner astrologisch-astronomischen Herkunft her steht er – anders als der
dramentheoretische Begriff »Katastrophe« – ursprünglich in naturkundlichen
Kontexten. Im 18. Jahrhundert wandert er in die junge Wissenschaft der
Geologie ein und wird zum Sammelbegriff unterschiedlichster katastrophaler
Naturereignisse. Diese Stellung behauptet er zunächst auch nach einer Serie
semantischer Erweiterungen in philosophische, soziale und politische Kon-
texte von Kants »Revolution der Denkart« bis zur »Französischen Revolu-
tion«. Eine Momentaufnahme, die von der Weite des Revolutionsbegriffs
zeugt, bilden die von der 5. bis zur 8. Auflage des Brockhaus im wesentlichen
übereinstimmenden Artikel. Sie gehen vom erdgeschichtlichen Kontext aus
und von dort zum moralischen, gesellschaftlichen und politischen Zusam-
menhang über. Schon Reinhart Koselleck hat beobachtet, daß »Katastrophe«
und »Revolution« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Paar sich
gegenseitig erklärender Begriffe bilden können.26 So auch am Anfang des

23 Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie für die gebildeten Stände. (Conversati-


ons=Lexikon) 8. Aufl., Bd. 6. Leipzig 1835, S. 135.
24 Universal-Lexikon oder vollständiges encyclopädisches Wörterbuch herausgegeben von
H. A. Pieper, 11. Bd. Altenburg 1835, S. 130.
25 Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon,
10. Aufl. Bd. 8. Leipzig 1853, S. 698.
26 Reinhart Koselleck, Revolution, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
18 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

Artikels in der 8. Auflage: »Die Geologen bezeichnen damit [d.i. als ›Revo-
lution‹] solche Katastrophen auf der Erde, wodurch der natürliche Lauf oder
das natürliche Verhältnis der irdischen Dinge eine bedeutende Veränderung
erleidet, z.B. wenn durch große Wasserfluten, Erdbeben u.s.w. die Oberflä-
che der Erde anders gestaltet wird.«27
Noch Georges Cuvier stand in der Tradition der erdgeschichtlichen The-
orien des 18. Jahrhunderts, als er seinen Discours sur les révolutions de la surface
du globe schrieb,28 um zwischen den großen, erdumspannenden Umwälzun-
gen und den kleineren Katastrophen zu unterscheiden. Seine Katastrophen-
theorie war, beim Wort genommen, eigentlich eine Revolutionstheorie. Erst
im Rückblick wurde Cuviers Entwurf auf den Begriff »Katastrophe« ge-
bracht und auf diese Weise, bis heute nachhaltig, für die Wissenschaftsge-
schichte reformuliert.29 In der Geologiegeschichte spricht man heute vom
Katastrophismus in den konkurrierenden Spielarten des Vulkanismus und
Neptunismus, wonach entweder Feuer (auch als Auslöser von Eruptionen)
oder Wasser das primäre Movens der Erdgeschichte sei.30 Eine Vorausset-
zung für die begriffliche Umbelegung war, daß der Katastrophismus noch
vor Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Uniformitarismus in Frage gestellt
wurde, der an die Stelle plötzlicher, gewaltiger Naturereignisse langsam ver-
laufende geologische Prozesse als Agenten der Erdgeschichte setzte.31 Damit
büßten in den Geowissenschaften umwälzende Naturereignisse ihre Funk-

politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart
Koselleck, Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 653-788, hier S. 775.
27 Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie (wie Anm. 23), Bd. 9, S. 252. Weiter heißt es:
»Solche Revolutionen haben zwar auch ihren Grund in den allgemeinen Naturgesetzen, er-
scheinen aber doch in ihren Wirkungen als etwas von der gewöhnlichen Ordnung der
Dinge Abweichendes, wodurch manches bisher Bestandene aufgehoben oder zerstört wird.
Diese Bedeutung des Wortes hat man auf die moralische Welt übertragen. So sagt man von
einem Menschen, dessen Denkart und Gesinnung sich plötzlich ganz verändert hat, es sei
zum Guten oder zum Bösen, daß eine Revolution in ihm vorgegangen sei. Dergleichen Re-
volutionen können sich nun auch in der politischen Welt ereignen; denn Völker und Staaten
sind als moralische Personen zu betrachten, die in Ansehung ihrer innern sowohl als äußern
Beschaffenheit sich ebenso sehr verändern können als Individuen. Eine Veränderung dieser
Art heißt eine politische Revolution oder eine Staatsumwälzung.« Vgl. ganz ähnlich schon die
5. Aufl., Bd. 8. Leipzig 1820, S. 238.
28 Georges Cuvier, Discours sur les révolutions de la surface du globe et sur les changemens
qu’elles ont produit dans le règne animal. 3. Aufl. Paris 1825.
29 Beispielhaft dafür ist Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Werke, Bd. 3.
Leipzig – Berlin 1924, S. 244.
30 Zur Kontroverse zwischen den Neptunisten und den Vulkanisten: Charles Coulston Gillispie,
Genesis and Geology. A Study in the Relations of Scientific Thought, Natural Theology,
and Social Opinion in Great Britain, 1790-1850. New York 1959, S. 41-97; Reijer Hooykaas,
Natural Law and Divine Miracle: The Principle of Uniformity in Geology, Biology and
Theology. 2. Aufl. Leiden 1963, S. 1-32; S. Warren Carey, Theories of the Earth and Uni-
verse. A History of Dogma in the Earth Sciences. Stanford 1988, S. 45-62; A. Hallam, Great
Geological Controversies. 2. Aufl. Oxford 1989, S. 1-29; und Peter J. Bowler, Evolution. The
History of an Idea. Berkeley u.a. 1989, S. 39-49.
31 Vgl. Gillispie, Genesis and Geology (wie Anm. 30), S. 121-148; Carey, Theories of the Earth
(wie Anm. 30), S. 57; und Hallam, Controversies (wie Anm. 30), S. 30-64.
Einleitung 19

tion als erdgeschichtliche Triebkräfte weitgehend ein. Für die Begriffsge-


schichte dürfte allerdings der Umstand schwerer wiegen, daß der Revoluti-
onsbegriff zunehmend auf das politische Feld eingeengt wurde – zweifellos
als Ergebnis der Französischen Revolution und ihrer »Nachfolgerinnen« bis
1848. Diese semantische Einengung begünstigte gleichsam die Karriere des
Katastrophenbegriffs zur Sammelbezeichnung für Erdbeben, Überschwem-
mungen und andere Extremereignisse, was auch die großen erdgeschicht-
lichen Umwälzungen einschloß.
Obwohl der dramentheoretische Kontext im Laufe der Begriffsgeschichte
zurückgedrängt wurde, bietet er willkommene Anknüpfungspunkte für eine
anthropologisch ausgerichtete Erforschung von Naturkatastrophen in den
Kulturwissenschaften. Das Kompositum ist keineswegs so zu verstehen, als
widerfahre der »Natur« eine Katastrophe. So hat es offenbar Max Frisch
aufgefaßt, wenn er in seinem bekannten Diktum betonte, daß alleine der
Mensch Katastrophen kenne.32 Wir teilen diese Auffassung, verstehen aber
darum das Präfix Natur- als Verweis auf natürliche Abläufe als Ursache ka-
tastrophalen Geschehens, genauer gesagt: als eine Zuschreibung von Verur-
sachung, was keineswegs ausschließt, daß – auf der Kausalkette weiter rück-
wärts – wiederum Menschen als (Mit-)Verursacher identifiziert werden kön-
nen. Das Suffix -katastrophe verweist auf menschliches Drama. Nach diesem
Verständnis ist nur dann von einer »Naturkatastrophe« zu sprechen, wenn
Menschen von ›natürlichen Extremereignissen‹ betroffen sind. Für die Kul-
turwissenschaften stellt der Begriff »Naturkatastrophe« eine willkommene
Mischung von cause und effect dar, die eine Gemengelage weiterer Oppositio-
nen wie Natur und Kultur, Chaos und Ordnung oder Normalität und Ab-
weichung impliziert.

III

Der Schwerpunkt der Beiträge dieses Sammelbandes liegt auf der europäi-
schen Geschichte von der Antike bis heute. Wahrnehmungsmuster werden
untersucht von Katastrophen in der west- und oströmischen Antike über
mittelalterliche Pestwellen und frühneuzeitliche Agrarkrisen in Mitteleuropa
bis hin zu Überschwemmungen im russischen Petersburg zu Beginn des
19. Jahrhunderts und zu süditalienischen Erdbeben am Ende des 20. Jahr-
hunderts. Darüber hinaus werden in einem Beitrag über die Darstellung von
Naturkatastrophen im chinesischen Fernsehen auch außereuropäische Per-
spektiven einbezogen.

32 Vgl. Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung. Frankfurt a.M. 1979,
S. 103: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt
keine Katastrophen.« Das Zitat wird im Beitrag von Christian Pfister aufgegriffen (in diesem
Band).
20 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

Eines der verbreitetsten Wahrnehmungsmuster in der europäischen Tra-


dition ist die straftheologische Deutung, wonach Naturkatastrophen wie
Erdbeben, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche Zeichen göttlichen
Zorns über die Sündhaftigkeit der Menschen sind und als numinose Strafge-
richte gewertet werden.33 Nach dieser Logik, die sich konfessionsübergrei-
fend – insbesondere in zahlreichen Predigten und Flugblättern – findet und
geradezu topischen Charakter besaß, ist der Mensch selbst für sein eigenes
Unglück verantwortlich. Man kann dieses Denken durchaus als Vorläufer
der heute verbreiteten Suche nach anthropogenen Ursachen und ihrer mora-
lischen Aufladung in öffentlichen Medien verstehen und von einer peccatoge-
nen Ursachenforschung sprechen.
Verschiedene Deutungsmuster können gleichzeitig vorhanden sein. Ne-
ben theologischen Auslegungen gibt es in der Prämoderne zeitgleich magi-
sche Interpretationen, die ungewöhnliche Naturphänomene etwa auf Hexen-
zauber zurückführen. Gleichwohl lassen sich bereits seit der Antike immer
wieder naturkundliche Beobachtungen von Erdbeben, Vulkanausbrüchen
u.ä. feststellen. Vor allem aber sorgt der Aufschwung der empirischen Wis-
senschaften seit dem 17. Jahrhundert für großes Interesse an wissenschaftli-
chen Erklärungen katastrophaler Naturereignisse. Theologische Katastro-
phenexegesen verschwinden damit jedoch keineswegs. Nebeneinander treten
»natürliche« und theologische Modelle z.B. in der Auslegung der »Allerheili-
gen-Flut« vom 1. November 1570 in den Niederlanden auf. Die Katholiken
sprachen, angesichts einer Flutkatastrophe, der über 3 000 Menschen zum
Opfer fielen, von einer Strafe Gottes für den antikatholischen Volksaufstand
der Niederländer, während die Protestanten versuchten, die Sturmflut als
ständige natürliche Bedrohung der südlichen Nordseeländer darzustellen.
Konträre Deutungsmuster wurden hier sozusagen kontroverstheologisch
instrumentalisiert.34 Straftheologische Deutungsmuster gehen nicht nur mit
religiösen Handlungsaufforderungen wie Buße- und Reuepostulaten einher,
sondern können auch die Legitimation praktischer Präventionsmaßnahmen
mit einschließen. Deichbaupraktiker des frühen 18. Jahrhunderts sehen die
Sturmflut von 1717 in Norddeutschland als ein Strafgericht Gottes an, ma-
chen aber zugleich auch den schlechten Zustand der Deiche für die verhee-
renden Folgen der Überschwemmung verantwortlich. Dabei werden prakti-
sche Schutzmaßnahmen wie der Bau besserer Deiche religiös-theologisch
gerechtfertigt: Die Vernachlässigung der Deicherhaltung und des Deichbaus,

33 Zum straftheologischen Deutungsmuster vgl. ausführlich Franz Mauelshagen, Wickiana.


Reformierter Wunderglaube im Wandel der Geschichtsschreibung. Zürich 2003; Michael
Kempe, Von »lechzenden Flammen«, »geflügelten Drachen« und anderen »Lufft=Geschich-
ten«. Zur Neutralisierung der Naturfurcht in populärwissenschaftlichen Druckmedien der
Frühaufklärung, in: Franz Mauelshagen/ Benedikt Mauer (Hrsg.), Medien und Weltbilder im
Wandel der Frühen Neuzeit. (Documenta Augustana, Bd. 5) Augsburg 2000, S. 155-178;
ferner den Beitrag von Manfred Jakubowski-Tiessen in diesem Band.
34 Vgl. Raingard Eßer, Fear of water and floods in the Low Countries, in: William G. Naphy/
Penny Roberts (Hrsg.), Fear in early modern society, Manchester u.a 1997, S. 62-77.
Einleitung 21

in der Hoffnung, Gott werde die Betroffenen schon schützen, käme einer
schweren Unterlassungssünde gleich, die ihrerseits wiederum harte göttliche
Strafen zur Folge haben könnte.35
Deutungsmuster von Naturkatastrophen bieten darüber hinaus die Mög-
lichkeit, zu den ihnen zugrunde liegenden Naturvorstellungen vorzudringen.
Das demonstrieren die unterschiedlichen Sintflutdeutungen im 17. und
18. Jahrhundert.36 Nach dessen Übernahme vom theologischen Diskurs in
einen naturwissenschaftlichen wird das biblische Überschwemmungsdrama
auf der einen Seite verstanden als ein Akt globaler Zerstörung, so in der
Heiligen Theorie der Erde 1681 von Thomas Burnet, auf der anderen Seite aber
als ein Vorgang der Katharsis, der Neuschöpfung und des Neubeginns, wie
bei den Sintflutgeologen John Woodward, Johann Jakob Scheuchzer und
vielen anderen Physikotheologen der europäischen Frühaufklärung um 1700.
Die unterschiedlichen Verständnisweisen der mosaischen Flutgeschichte
referieren dabei auf divergierende, konträre Naturverständnisse. Während
Burnets Auslegung der Genesisflut letztlich der Ansicht dient, wir Menschen
lebten heute in einer weitgehend ruinierten Natur, rechtfertigt Scheuchzers
Sintflutmodell die optimistischere Vorstellung, der Mensch werde gegenwär-
tig von einer geordneten, gleichgewichtigen und harmonischen Natur beher-
bergt. In diesem Naturverständnis werden auch die lokalen Naturkatastro-
phen von ihrer straftheologischen Deutung getrennt und in einen naturte-
leologischen Zusammenhang gebracht, wonach Erdbeben, Vulkanausbrüche
oder Hagelstürme – insgesamt gesehen – einen natürlichen Nutzen hätten
und für die Aufrechterhaltung der Gesamtökonomie der Natur notwendig
seien.37
Läßt sich einerseits festhalten, daß Naturkatastrophen in größeren Deu-
tungszusammenhängen auftauchen, so läßt sich gleichfalls fragen, ob nicht
auch umgekehrt Naturkatastrophen in der Lage wären, solche semantischen
Strukturen in Schwingung zu versetzen oder vielleicht sogar vollständig auf-
zubrechen. Der frühaufklärerische Optimismus, wie er sich bereits in der
Sintfluttheorie Scheuchzers zeigt und dann im Leibnizschen Diktum von der
besten aller möglichen Welten gipfelt, ist hierfür ein gutes Exempel. Denn
hartnäckig hält sich bis heute die Forschungsmeinung, das große Erdbeben
von Lissabon 1755 habe dieses ungetrübt optimistische Weltbild in seinen
Grundfesten erschüttert, ja unwiederbringlich zum Einsturz gebracht.38 Da-

35 Vgl. Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717 (wie Anm. 8), S. 92f.


36 Vgl. zum folgenden Michael Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob
Scheuchzer und die Sintfluttheorie. (Frühneuzeit-Forschungen, Bd. 10) Epfendorf 2003;
und ders., Noah’s Flood. The Genesis Story and Natural Disasters in Early Modern Times,
in: ders./ Christian Rohr (Hrsg.), Coping with the Unexpected (wie Anm. 11).
37 Den Übergang von einer theologisch-teleologischen zu einer naturwissenschaftlich-tele-
ologischen, gleichwohl noch metaphysischen Deutung von Erdkatastrophen zwischen
Thomas Burnet (1681) und James Hutton (1795) skizzieren Ruth Groh/ Dieter Groh, Zum
Wandel der Denkmuster im geologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für
historische Forschung 24 (1997), S. 575-604.
38 Etwa noch: Horst Günther, Das Erdbeben von Lissabon erschüttert die Meinungen und setzt
22 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

bei wird immer wieder vor allem auf die optimismuskritischen Schriften
Voltaires zum Lissaboner Erdbeben, dem Poème sur le désastre de Lisbonne
(1756) und Candide (1759) verwiesen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich
jedoch, daß Voltaires Abkehr vom naturtheologischen Optimismus in seiner
Klage über die Toten von Lissabon selbst wiederum zum Gegenstand hefti-
ger Kritik geworden ist. So etwa wird in den Briefen zwischen Albrecht von
Haller und Charles Bonnet ein vernichtendes Urteil über Voltaires Erd-
bebengedicht formuliert:
Meiner Ansicht nach ist er [Voltaire] eines der unglücklichsten Wesen auf dieser
Erde. Er wäre es schon durch seinen traurigen Unglauben; ein Mensch, der das
Universum zeichnet wie es im Lissabon-Gedicht und in Candide dargestellt ist,
für den ist die ganze Natur in Schwarz gekleidet. Aber dass er sie uns so dar-
stellt, verzeihe ich ihm nicht.39
Allein die Reaktionen im deutschsprachigen Protestantismus auf das Lis-
saboner Erdbeben demonstrieren eine breite Vielfalt an unterschiedlichen
Deutungen.40 Selbst die frühaufklärerische Erdbebentheodizee erlebt in den
»Sismotheologien« der 1760er und 70er Jahre noch einmal eine Spätblüte.
Die Lissaboner Katastrophe führt also nicht etwa zum Einsturz eines Deu-
tungsmusters, sondern vielmehr zur Vervielfältigung und Differenzierung
der Interpretationsangebote. Insofern könnte man aus systemtheoretischer
Perspektive Naturkatastrophen zu Ereignissen der Kontingenz zählen, wel-
che imstande sein können, »Lärm« und »Irritationen« hervorzurufen, und auf
diese Weise Variationen in (Teil-)Systemen der Gesellschaft zu erzeugen. So
wird das Erdbeben von Noto 1693 im Rahmen der Katastrophenbewälti-
gung in der sizilianischen Stadt zum Auslöser einer grundlegenden Reorgani-
sation im Funktionsbereich rechtlicher Entscheidungsverfahren.41 Die Be-
schäftigung mit Naturkatastrophen bietet damit auch die Möglichkeit, Zufäl-
liges und Kontingentes als geschichtsrelevante Faktoren in die Historiogra-
phie aufzunehmen.

das Denken in Bewegung. Berlin 1994. Kritisiert wird diese These dagegen bereits von Ruth
Groh und Dieter Groh, Religiöse Wurzeln der ökologischen Krise. Naturteleologie und Ge-
schichtsoptimismus in der frühen Neuzeit, in: dies., Weltbild und Naturaneignung. Zur Kul-
turgeschichte der Natur. Frankfurt a.M. 1991 (2. Aufl. 1996), S. 11-91, hier S. 49f.
39 Charles Bonnet an Albrecht von Haller, 27.03.1759: »C’est à mon avis un des Etres les plus
malheureux qui soyent sur la surface du Globe. Iseroit désja par sa triste incrédulité. Un
homme qui peint l’Univers, comme il est peint dans le Poeme sur Lisbonne et dans Can-
dide, voit toute la Nature tendue de noir. Mais ce que je ne lui pardonne pas, c’est de nous
la montrer ainsi.« In: Otto Sonntag (Hrsg.), The Correspondence between Albrecht von Hal-
ler and Charles Bonnet. Bern u.a. 1983, S. 161; hier nach der Übersetzung bei Martin Stuber,
Gottesstrafe oder Forschungsobjekt? Zur Resonanz von Erdbeben, Überschwemmungen,
Seuchen und Hungerkrisen im Korrespondentennetz Albrecht von Hallers, in: Pfister
(Hrsg.), Am Tag danach (wie Anm. 11), S. 39-54, hier S. 49.
40 Vgl. Löffler, Lissabons Fall (wie Anm. 9).
41 Michele Luminati, Erdbeben in Noto. Krisen- und Katastrophenbewältigung im Barockzeital-
ter. (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 27) Zürich 1995.
Einleitung 23

Dieser Aspekt führt zugleich zum Kern der noch immer umstrittenen
und beunruhigenden Frage, ob Naturhazards, insbesondere Erdbeben vor-
hersagbar seien oder nicht. Heutige Seismologen sind sich uneins darüber, ob
Eruptionen der Erde prinzipiell nicht zu prognostizieren seien, oder ob die
momentane Unvorhersagbarkeit lediglich epistemisch bedingt sei und Prog-
nosen mit verbesserten Methoden zukünftig sehr wohl einmal möglich sein
könnten. Gegner der Vorhersagbarkeit verweisen auf das chaotische Verhal-
ten der Erdkruste, was tatsächlich derzeit selbst Berechnungen von Lang-
zeitwahrscheinlichkeiten extrem anfällig für Fehlkalkulationen werden läßt.
Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum in Potsdam hält dagegen, daß
aus dem chaotischen Verhalten allein nicht die Unvorhersagbarkeit folgen
müsse und daß alles auf den Grad des Chaos ankomme.42 Die Aussage
Zschaus befriedigt jedoch nicht, da das Problem nur begrifflich verlagert
wird. Denn alles kommt jetzt darauf an, wie der Begriff »Chaos« verstanden
wird. Ist damit eine undurchschaubare, aber letztlich doch noch auf (nur
eben äußerst schwer zu berechnende) Naturgesetze zurückführbare Komple-
xität gemeint, oder aber ein komplexer Zusammenhang, der (zumindest
partiell) überhaupt nicht mehr irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten, Regelhaf-
tigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten gehorcht. Daß mit diesem Einwand das
Problem selbst nicht gelöst, sondern wiederum nur ein weiteres Mal verlagert
wird, nämlich auf die Problematik des Begriffes »Naturgesetz«, unterstreicht
einmal mehr den konstruktiven Charakter unserer Erkenntnis. Für unseren
Gegenstandsbereich etwa muß man in Rechnung stellen, daß der Begriff
»Katastrophe« in den seltensten Fällen überhaupt in den Quellen auftaucht –
nicht zuletzt deshalb, weil er erst im 19. Jahrhundert eine negative semanti-
sche Aufladung erfahren hat, und es sogar erst in modernen Zusammenhän-
gen üblich geworden ist, darunter ein Ereignis zu verstehen, das durch
Plötzlichkeit, Instantanität und Destruktivität gekennzeichnet ist. Kompli-
zierter wird die Sache noch, bezieht man auch außereuropäische Katastro-
phensemantiken in ihren jeweiligen historischen Horizonten mit ein.
1989 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das folgende
Jahrzehnt zur »International Decade for Natural Disaster Reduction« erklärt.
Entscheidend für die Genese gegenwärtiger Naturkatastrophenbilder ist
jedoch, daß sich in den gesellschaftlichen Diskursen der letzten zwanzig
Jahre das Verhältnis von Natur und Mensch grundlegend gewandelt hat.
Letzter ist mehr und mehr von der Rolle des Opfers in die des Täters einge-
rückt. Umwelt und Klima gelten nunmehr auch als potentielle Vorboten
einer vom Menschen mitverursachten Umweltverschlechterung. Zu diesem
Wandel gehört es, daß katastrophale Ereignisse oft als Racheakte der Natur
bezeichnet werden. Bei der Untersuchung von Naturdesastern unterscheidet
man deshalb zumeist auch zwischen »natürlichen« und menschengemachten

42 »Von einer genauen Erdbebenvorhersage sind wir noch weit entfernt«. Interview mit dem
deutschen Erdbebenexperten Prof. Jochen Zschau zur Situation in der Türkei, G.O. – Wis-
sen Online, in: www.g-o.de/kap3/3aba0026.htm (20.02.2003).
24 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

(anthropogenen) Anteilen bei der Verursachung. Übersehen wird dabei je-


doch oft, daß auch das »Natürliche« in einem spezifischen Sinn etwas Men-
schengemachtes ist. Nämlich: was unter Natur zu verstehen ist, bestimmt
allein der Mensch. Vorstellungen von der Natur können kulturell sehr unter-
schiedlich ausfallen und sich selbst innerhalb einer Kultur im Laufe der Zeit
mehrfach wandeln.43 Entsprechend gilt auch, daß der Mensch definiert, was
eine Katastrophe ist, und nicht die Natur.
Obwohl wir anerkennen müssen, daß uns die eigene Welt und die der (hi-
storisch) anderen nur mittels Konstruktionen zugänglich ist und deshalb das
Katastrophenverständnis sehr unterschiedlich ausfällt, so wäre andererseits
zu fragen, ob nicht in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Naturkata-
strophen allgemeine Muster festzustellen sind. Manch einer möchte sogar
vermuten, daß es kaum ein festeres Fundament für anthropologische Aussa-
gen geben könne als die extreme existentielle Erdbebenerfahrung, wo einem
buchstäblich feste Fundamente unter den Füßen verloren gehen können. Die
Frage, ob es tatsächlich Universalisierbares im Erleben, Wahrnehmen und
Verarbeiten von Naturkatastrophen gibt oder nicht, kann jedoch nur über
den mühsamen Weg der Erschließung eines wohl nie abzuschließenden Ar-
chivs solcher Katastrophenerfahrungen sinnvoll gestellt werden. Eines jeden-
falls wäre dabei zu beachten: Aus der Erkenntnis, daß wir Menschen die
Welt durch unsere Vorstellungen definieren, folgt nicht, daß alles, was wir
denken und wahrnehmen, Fiktion sei. Vielmehr ist die Welt, die wir vermit-
telt durch unsere Konstrukte erleben, auf unerbittliche Weise real. Mit den
eigenen Begriffen von »Natur«, »Umwelt« und »Katastrophe« kritisch umzu-
gehen, das ist die entscheidende Herausforderung in dieser Realität.

IV

Die Beiträge sind unter Überschriften in Blöcke zusammengefaßt, die dem


Leser durch die Vielfalt der fachlichen Zugänge und der untersuchten Fälle
eine gewisse Orientierung geben sollen. Die Aufsätze sind weder auf diese
Anordnung, noch auf die thematischen Überschriften hin geschrieben wor-
den. Der folgende Überblick bietet darum keine Zusammenfassungen der
Einzelbeiträge, sondern den Versuch einer einführenden synthetischen Lek-
türe.

1. Kognitive Bewältigung – Deutungsmuster


Deutungen von Naturkatastrophen offenbaren das Bedürfnis nach Erklä-
rungen für das Unvorhergesehene. Für den psychischen Haushalt des einzel-
nen und der Gemeinschaft kommt dieser Art der »Bewältigung«, die wir hier

43 Vgl. Ruth Groh/ Dieter Groh, Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt, in: dies., Die Außenwelt
der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur 2. Frankfurt a.M. 1996, S. 85-141.
Einleitung 25

als kognitiv bezeichnen, eine entscheidende Bedeutung zu. Kontingentes


wird zum Vorhersehbaren oder sogar zum Unabwendbaren, Zufall in Not-
wendigkeit, Sinnloses in Sinnhaftes umgedeutet. Erklärungen sind Prozesse
der Sinnstiftung, und Katastrophen sind Zäsuren, die solche Prozesse in
Gang setzen.
Als Konstante zeichnet sich ab, daß eine Haltung, die das Kontingente als
solches hinnimmt und damit eine Akzeptanz des bloßen Ausgesetztseins
fordert, am wenigsten zur Vergemeinschaftung geeignet ist. Konsequent
versteht sich die stoische »Furchtabbau-Therapie« als Lebensform für we-
nige, wie Holger Sonnabend zeigt. Zur Norm erhoben und ins Verhalten
umgesetzt wird sie zum Elitemerkmal philosophischer Weisheit, mit der sich
Ausnahmeerscheinungen wie Plinius der Ältere und der Jüngere vom »Pö-
bel« absetzen, und sei es auf Kosten des eigenen Lebens. Es mag sein, daß
dieser Habitus nur eine literarische (Selbst-)Stilisierung ist. Es könnte sich
aber auch um das handeln, was Thomas Mann einmal in Anlehnung an Ernst
Kris als »zitathaftes Leben« bezeichnet hat und von Jan Assmann als eine
Figur des kulturellen Gedächtnisses analysiert wird. Mit ihr muß man die
Möglichkeit in Betracht ziehen, daß Topoi gelebt sein können, was aus dem
Gegensatz von literarischer Stilisierung und Wirklichkeit herausführt.44 –
Tertium datur!
Unter Deutungsmustern verstehen wir relativ konstante, aber wandlungs-
fähige Denkweisen oder Interpretamente, die daran gebundenen Verhaltens-
weisen eingeschlossen. Die Frage, ob und inwieweit wir es mit konsistenten
und kohärenten Denkgebilden zu tun haben und ob dieser Charakter, in
gesellschaftlichen Binnendifferenzierungen absteigend, verlorengeht, ist je-
weils schwer zu beantworten. Sicher entscheidet die Wandlungsfähigkeit von
Deutungsmustern, ihre Anpassungsfähigkeit an historische Katastrophensi-
tuationen, über ihre Dauerhaftigkeit mit. Es ist nämlich nicht so, daß kata-
strophales Geschehen einfach fertigen Denkfiguren unterworfen würde; viel-
mehr zeitigen Katastrophen Auswirkungen auf Deutungsmuster. Diese Di-
mension leuchtet vor allem der Beitrag von Mischa Meier zu Byzanz im
6. Jahrhundert aus. Eine Serie von Katastrophen, insbesondere in Antiocheia
und Konstantinopel, habe zu »Korrektur und Modifikation« verbreiteter
Deutungsmuster geführt, mit Auswirkungen auf die christliche Eschatologie,
die an sie gekoppelte Zeitrechnung und den byzantinischen Bilderkult. Es ist
schon paradox, daß Naturkatastrophen, die regelmäßig Anlaß zur memoria-
len Vergegenwärtigung des nahe bevorstehenden Jüngsten Tags boten, zum
Ende apokalyptischer Erwartungen führten – weil sie nicht enden wollten.
Diejenigen Überlebenden des Erdbebens von Konstantinopel 557, von de-
nen Agathias berichtet, daß sie sich auf den Weg in die Berge begaben, hat-

44 Vgl. Jan Assmann, Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen
Erinnerung, in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000,
S. 185-209, hier bes. S. 188-190.
26 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

ten die Zeichen mißdeutet und waren dem Rat in Mt. 24.16 (»alsdann fliehe
auf die Berge...«) zu früh gefolgt.
Naturkatastrophen sind eine Herausforderung für Herrschaft und ihre
Legitimation, um so mehr, wenn sie metaphysisch begründet ist. Hinter der
zunehmenden Sakralisierung des Kaisertums Justinians steht eine massive
Kritik, die Prokop – unter Verweis auf eine Serie von Katastrophen – in
seinen Anekdota evozierte. Fast zeitgleich, Ende des 6. Jahrhunderts, bringt
Gregor von Tours den Merowingerkönig Chilperich mit dem Hinweis auf
Naturkatastrophen und Wunderzeichen in Verruf – metaphysische Evidenz
für den Mißstand des Reichs unter diesem Herrscher. Dabei ist Gregor, wie
Christian Rohr aufweist, sonst ein eher naturkundlich zurückhaltender Au-
tor. Die Suche nach Schuldigen ist ein infames Bewältigungsmuster, das auch
vor Heiligenbildern nicht zwingend Halt macht.45
Nur scheinbar wendet sich der Blick auf das Volk um, wenn die allge-
genwärtige Sünde als Erklärung herhält. Denn dieses »Schwert« ist so zwei-
schneidig wie das der weltlichen Gerechtigkeit: Es kann sich schnell gegen sie
selbst wenden, und Mißstand – oder das, was als solcher wahrgenommen
wird – fällt auf die zurück, denen Verantwortung für gesellschaftliche Ord-
nung zugeschrieben wird. Darum stehen Sittenmandate, diese typischen
Reaktionen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Obrigkeiten, in einer
Doppelperspektive: Man kann sie als Versuche moralischer Ursachenbe-
kämpfung, aber auch als öffentliche Demonstration herrschaftlicher Hand-
lungsfähigkeit in legitimatorischer Absicht betrachten. Es wirkt für beide
Seiten entlastend, wenn das straftheologische Modell an Bedeutung verliert,
was sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert beobachten läßt. Aber ist es je
völlig verschwunden?
Auch Pierre de Boisguilbert (1646-1714), dessen Schriften zur »politi-
schen Ökonomie« von Christian Strube im Kontext der klimabedingten
Hungerkatastrophe von 1693/94 gelesen werden, identifizierte die Machtha-
benden als Schuldige und operierte mit der Kategorie des Bösen. Gleichzeitig
entwickelte er eine zukunftsweisende Krisentheorie. Manfred Jakubowski-
Tiessen weist am Beispiel von Sturmfluten zwischen dem 16. und 19. Jahr-
hundert auf das anhaltende Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander
konkurrierender Deutungen hin. Klar getrennt bestehen sie vermutlich nur
in gleichsam idealtypischen Rekonstruktionen. Auch die Wissenschaftsge-
schichte ist mittlerweile so weit, sich endgültig von Modellen zu verabschie-
den, die sie in eine lineare Ordnung bringen. Das 18. Jahrhundert, so zeich-
net sich ab, war mehr von der Pluralität als von der Ablösung verschiedener
Theorien geprägt. Da ist das traditionelle Exempeldenken, mit seinen religiö-
sen Topoi im biblisch geprägten Geschichtsbewußtsein, in dem bei Über-
schwemmungen und Sturmfluten jedesmal die Sintflut wie ein böser Alp-
traum wiederkehrt. Die Erinnerung ist Teil der Naturdeutung. Zugleich

45 Siehe hiezu das aus den Memoiren von Saint-Simon zitierte Beispiel eines spontanen Bilder-
sturms in dem Beitrag von Christian Strube (in diesem Band, S. 86).
Einleitung 27

verdichtet sie sich in Erinnerungsorten – im Meer und in den Bergen als


symbolischen Überresten der biblischen Urkatastrophe. Physikotheologen
wie Johann Jakob Scheuchzer konnten die biblischen Exempel in ihrem
Denken lebendig halten, mußten nicht an der historischen Wahrheit der
Bibel zweifeln, werteten sie aber gegenüber dem straftheologischen Modell
um.46 Angst sollte durch Bewunderung, Buße durch erbauliche Betrachtung
ersetzt werden. Dieses »Gelehrtenprogramm« bietet ein Beispiel dafür, wie
Religion und Wissenschaft zusammengebracht werden konnten. »Natürliche«
Erklärungen konnten sich auch früher schon durch die Akzeptanz eines
zweistufigen Kausalmodells von Erst- und Zweitursachen einen »legalen«
Denkraum verschaffen.
Das straftheologische Deutungsmuster hat im 20. Jahrhundert einen
metaphorischen Wiedergänger in Gestalt der »rächenden Natur«. Zu den
Voraussetzungen dieser Denkfigur gehört ein signifikanter Wandel im Na-
turverständnis, gleichsam von der übermächtigen und gewaltsamen Natur,
die unsere Zivilisation bedroht, zur Natur, der ihrerseits Gewalt angetan und
die durch Zivilisation bedroht wird. Dies ist, in groben Zügen, die Entwick-
lungslinie, die Jens Ivo Engels an Beispielen der Katastrophenbewältigung im
Nachkriegsdeutschland zeichnet. Mit dem konjunkturellen Aufschwung
anthropogener Ursachen in der öffentlichen Auseinandersetzung erscheinen
Naturkatastrophen zunehmend als »Strafen« für gesellschaftliche Fehlent-
wicklungen – nicht selten verbunden mit antimodernistischen Tendenzen.
Dies verbindet Teile der Ökobewegung mit älteren zivilisationskritischen
Perspektiven konservativer Prägung in den fünfziger oder frühen sechziger
Jahren. In beiden Varianten der Kritik wird »Natur« zum Medium einer
gesellschaftlichen Selbstreflexion, die moralisierende Diskurse hervorbringt,
was auch schon für das straftheologische Denkschema galt. Ursachenfor-
schung impliziert in diesem Kontext immer Auseinandersetzung über
Schuldzuschreibungen, die in der Öffentlichkeit bisweilen hart umkämpft
sind und häufig zu einer Frage der Diskursherrschaft werden.

2. Miasmen und Konstellationen


Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob Epidemien zu den Naturka-
tastrophen gerechnet werden sollten. In der Forschung bilden sie einen eige-
nen Diskurs, für den manches von dem, was wir oben über den Forschungs-
stand zum Thema Naturkatastrophen sagten, nicht oder nicht in gleichem
Maße gilt. Die Geschichte der Epidemien ist sehr viel besser erforscht als die
der Naturkatastrophen im allgemeinen. Nun hat etwa David Herlihy – und
er ist nicht der einzige – den »Schwarzen Tod« und die anschließenden Epi-
demien des 14. und 15. Jahrhunderts sogar als die »verheerendsten Naturka-
tastrophen, die Europa jemals heimgesucht haben«, bezeichnet.47 Wir wollen

46 Vgl. hierzu ausführlich Kempe, Wissenschaft (wie Anm. 36).


47 David Herlihy, Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas, Berlin 2000, S. 7.
28 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

uns hier nicht auf diese Autorität zurückziehen. Im wahrnehmungs- und


deutungsgeschichtlichen Zusammenhang ist von größerer Bedeutung, daß
die »Pest« im christlich-straftheologischen Denken über viele Jahrhunderte
ebenso wie Erdbeben oder Überschwemmungen zu den Gottesstrafen ge-
rechnet wurde. Solche Kontinuitäten machen den Vergleich von Katastro-
phen verschiedenen Typs unverzichtbar, ob man sie nun alle als Naturkata-
strophen zusammenfaßt oder nicht.
Umstritten ist bis heute die Frage, ob es sich bei der großen Pest im
14. Jahrhundert um eine – modern gesprochen – ökologische Katastrophe
handelte. In dem Fall wäre die verheerende Geißel das Ergebnis von Klima-
verschlechterung, Mißernten, »Vergetreidung« und Bevölkerungsexplosion
gewesen. Neithard Bulst rekonstruiert die verschiedenen mittelalterlichen
und frühneuzeitlichen Interpretationsmuster, unter ihnen die Miasmentheo-
rien, nach denen das endemische Phänomen auf eine durch ungünstige Pla-
netenkonstellationen hervorgebrachte vergiftete Luft zurückzuführen sei. Als
Teil der Trias Hunger, Krankheit und Krieg – wobei Krankheit und Pest
(pestilentia) meist in Eins gesetzt wurden – galt die Pest als ein Naturphäno-
men, zumindest solange das Miasma als primäre Ursache angesehen wurde.
Dem Beispiel der Pest kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als die
Wahrnehmung dieser Krankheitskatastrophe und den daraus resultierenden
Formen des Umgangs mit dieser Krankheit noch für das 19. und 20. Jahr-
hundert prägend geblieben sind (etwa im Fall der Cholera oder auch von
AIDS). Wie stark das Bild einer Krankheit wie der Syphilis durch bestimmte
Deutungsmuster geprägt wurde, ist seit der wissenschaftshistorischen Pio-
nierstudie von Ludwig Fleck über die Konstruktion wissenschaftlicher Tat-
sachen bekannt.48 Tilmann Walter weist – mit Blick auf medizinische Fach-
texte – für die Frühe Neuzeit ein Konglomerat aus theologischen, astrologi-
schen und humoralmedizinischen Interpretamenten nach, um die rätselhafte
Erscheinung der »Franzosenkrankheit« zu erklären. Werden planetare Kon-
stellationen als Mittel göttlicher Strafpraxis dafür verantwortlich gemacht,
könnte man von der Syphilis als einer »astrologischen Katastrophe« spre-
chen. Als medizinische Katastrophe scheint sie zumindest sozialgeschichtlich
dazu beigetragen zu haben, medizinische Gewißheiten im ausgehenden Mit-
telalter nachhaltig zu erschüttern.

3. Bilder der Erschütterung – erschütterte Bilder


Daß Katastrophenwahrnehmungen in den Kunstmedien Bild und Film nicht
bloß dargestellt, sondern vielmehr als solche erst hervorgebracht werden,
zeigen an verschiedenen Gegenständen und aus unterschiedlichen Blickwin-
keln drei kunsthistorische Beiträge sowie eine medienwissenschaftliche Film-
analyse. Im ersten Beitrag untersucht Bruno Weber Darstellungen der Berg-

48 Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935). Frank-
furt a.M. 1980.
Einleitung 29

stürze von Piuro (Plurs) 1618 und Goldau 1806 als Elementarereignisse im
künstlerischen Denkbild.49 Betont wird, daß die Authentizität selbst naturali-
stisch komponierter Momentbilder tatsächlicher oder imaginierter Katastro-
phen nicht auf Eindrücke der Außenwelt, sondern auf Expressionen der
Innenwelt beruhen.50 Das gilt in besonderem Maße für die pathetisch-thea-
tralischen Inszenierungen des Goldauer Bergsturzes, die ganz im Zeichen
der Ästhetik des Erhabenen stehen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
auch und gerade extreme Naturereignisse ins Zentrum der Landschaftsmale-
rei rückte.51 Es entwickelte sich ein eigenes topologisches Reservoir an bild-
sprachlichen Ausdrucksformen katastrophaler Naturereignisse: von gelbrot
leuchtenden Feuereruptionen über dunkelblau schäumenden Wasserwirbeln
bis hin zu den piktogrammhaften, gezackten Gewitterblitzen. Zwei Höhe-
punkte dieser ästhetischen Sublimierung des Katastrophalen stellen sicherlich
die Gemälde The Fall of an Avalanche in the Grisons (1810)52 und Snow Storm:
Hannibal and his Army crossing the Alps (1812)53 von William Turner dar: Wäh-
rend das eine Gemälde – in konzentrierter Klarheit und »erdrückender«
Einfachheit – den Niedergang einer Lawine zeigt, die einen riesigen Fels-
brocken auf eine Holzhütte niederstürzen läßt, vermittelt das andere Ge-
mälde – in tosender Expressivität – den Kampf zwischen Mensch und Na-
tur, zugleich als Metapher des Kampfes zwischen den Menschen in Gestalt
der Karthager und der sie bedrängenden Salassier.
Indem die Katastrophe als Ereignis ein Vorher und Nachher setzt, wird
die Zeitlichkeit zu einem besonderen Thema bildlicher Repräsentationen
solcher Vorkommnisse. Weber verweist hier etwa auf den 1618 bei Johann
Hardmeyer in Zürich erschienenen anonymen Einblattdruck mit einer Radie-
rung zum Bergsturz von Piuro. Das immer wieder nachgestochene duale
Schichtklappbild zeigt mit Hilfe eines angeklebten Deckblattes die Trümmer-
stätte ante quem und post quem. Nicht immer liegen derartigen Bildkonzeptio-
nen und Bilderfolgen die lineare Doppelsequenz »Intaktheit – Destruktion«
zugrunde. Zwei Gemälde von Jan Asselijn etwa zeigen die Zerstörung des
Muiderdeiches, der während einer Sturmflut in der Nacht vom 4. auf den
5. März 1651 in der Nähe von Amsterdam brach, sowie die anschließenden
Wiederaufbauarbeiten (Abb. 1 und 2). In den Bildwerken der Voyages pittores-
ques des 18. Jahrhunderts kommen unterschiedliche Temporalitätsmuster
zum Ausdruck, wie Peter Geimer an den Arbeiten von Jean-Pierre-Louis-

49 Vgl. zum Goldauer Bergsturz die Beiträge Bruno Weber und Christian Pfister in diesem
Band.
50 Vgl. grundlegend Ruth Groh/ Dieter Groh, Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt, in: dies.,
Die Außenwelt der Innenwelt (wie Anm. 43), S. 85-141.
51 Zur Ästhetisierung von Naturkatastrophen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert siehe
auch den Ausstellungskatalog: Jenns E. Howoldt (Hrsg.), Expedition Kunst: Die Entdeckung
der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt. Hamburg – München 2002.
52 Für eine Abbildung siehe William Turner. Licht und Farbe. Eine Ausstellung in Zusam-
menarbeit mit Tate, hrsg. von Georg-W. Klötzsch. Zürich 2001, S. 115 (Nr. 45).
53 Ebd., S. 116f. (Nr. 46).
30 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

1. Jan Asselijn (zugeschrieben), Bruch des Muiderdeiches bei Sturmflut in der Nacht auf
den 5. März 1651 (um 1651); Berlin, Gemäldegalerie

2. Jan Asselijn, Wiederaufbau des Muiderdeiches (um 1651); Berlin, Gemäldegalerie


Einleitung 31

Laurent Houel und Jean-Claude Richard Abbé de Saint-Non zum Erdbeben


von Messina 1783 aufweisen kann. Letzterer läßt die Leerstelle der Katastro-
phe selbst besetzen, indem das Zeitereignis als ein Riß markiert wird, der die
Zeichnung der noch unzerstörten Stadt Messina zerschneidet.
Ebenfalls die Werke Houels und Saint-Nons miteinbeziehend, konzen-
triert sich Robert Felfe auf Ruinenbilder um 1800 als ikonographische
Schnittmenge des Zusammenspiels von Naturwissenschaften und Kunst. So
lassen viele Ruinenszenarien die Co-Präsenz, das Ineinander von antiken
Altertümern und geologischen Umwälzungen erkennen. Im Frontispiz der
Principles of Geology (1830) von Charles Lyell diagnostiziert Felfe die in der
erdgeschichtlichen Theorie Lyells ansonsten abstrakt gebliebene Aufeinan-
derbeziehung und Ausbalancierung zwischen Naturgeschichte und menschli-
cher Kultur. Das Lukrezische Thema vom »Schiffbruch mit Zuschauer«
aufgreifend, fokussiert Kay Kirchmann am Beispiel der Jahrhundertrück-
blicke auf das Erdbeben von San Francisco 1906 die doppelte Absenz des
Fernsehens im Angesicht der Naturkatastrophe. Gemeint ist damit nicht nur
die Kontingenz des Geschehens selbst, sondern auch die Nicht-Existenz des
Mediums zum fraglichen historischen Zeitpunkt, eine Absenz, die durch eine
Reihe von Inszenierungsstrategien wieder aufgefangen werden soll. Es zeigt
sich hier, daß Wahrnehmung auch durch technische Medien unhintergehbar
mitbestimmt sein kann.

4. Kampf mit der Natur – Integrationsprozesse


Die »Bilder« aus der Schweiz im 19. Jahrhundert, aus China 1998 und von
der Oderflut im Jahre 1997 gleichen sich nur oberflächlich. Schaut man nä-
her hin, dann ist die Funktionalisierung von Naturereignissen zu gesell-
schaftspolitischen Zwecken in zwei Fällen naturwüchsig in einem doppelten
Sinn, in einem Fall, dem Chinas, Ergebnis von politischen Intentionen, wie
der Beitrag von Stefan Kramer zeigt: Propaganda für nationale Einheit und
Legitimation der Partei, die als Bewahrerin von Ordnung gegenüber den
Naturgewalten, die in der sozialen Imagination die Rolle übernehmen, die in
früheren Zeiten in China die Barbaren hatten. Die Identitäts- und Legitima-
tionskonstruktion bleibt jedoch eine fragile, denn nicht das Volk, die Armee
oder die Regierung haben über den Jangtse triumphiert, sondern die Regen-
fälle haben schlicht aufgehört.
Ganz anders der Fall der Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert aus der
Sicht Christian Pfisters: Hier dienen Naturkatastrophen verschiedener Art –
Überschwemmungen, Bergstürze u.a. – gleichsam als funktionales Äquiva-
lent für nationale Identifikationsprozesse auf dem »Schweizer Sonderweg«
der Bildung eines Nationalstaats, der sich nicht über kriegerische und revo-
lutionäre Ereignisse wie im restlichen Europa konstituiert. Schwere Natur-
katastrophen bilden hier Plattformen zur Inszenierung nationaler Identifika-
tionsprozesse, deren steigende Intensität sich am Spendenaufkommen und
medialer Vermittlung und Aufbereitung ablesen lassen. Die Solidarität der
32 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen

Reziprozität wird im Laufe des 19. Jahrhunderts ersetzt durch die Solidarität
im Rahmen der Schicksalsgemeinschaft Nation, die freilich erst langsam im
Entstehen war. Ein Schweizer Spezifikum ist die recht frühe, nach dem
2. Weltkrieg einsetzende Globalisierung des Solidaritätsraums im Falle von
Naturkatastrophen.
Funktional in ähnlicher Weise wirkt die Oderflut 1997 in Deutschland,
die von Martin Döring analysiert wird. Hier bildet sich aus den katastrophen-
artigen Überschwemmungen rasch ein Projektionsfeld gesamtdeutscher
Identität – ein Vorgang, der sich anläßlich der Ereignisse im Sommer 2002
mutatis mutandis wiederholt. Der Verfasser zeigt überzeugend und weit über
seinen Fall hinausgehend, daß Katastrophen Leerstellen bilden, die einen
Erklärungsnotstand offenbaren. Im Gegensatz zu den Ereignissen von 1962
in Norddeutschland angesichts der Flutkatastrophe offenbart die mediale
und mentale Verarbeitung ein anderes Naturbild: 1962 war es noch der kul-
turkritischen Tradition verpflichtet, und es ergab sich eine Schere zwischen
Praxis – Perfektionierung der Technik – und Diskurs; 1997 wird nicht nur
materiell ein Krieg gegen die Natur geführt. Ein äußerliches Zeichen, das
sich 2002 wiederholen wird: der Einsatz der Bundeswehr.

5. Chaos versus Ordnung


Drei Beispiele aus verschiedenen Kulturkreisen und Zeiten demonstrieren
das ewige Thema Natur=Chaos gegen Gesellschaft=Ordnung. Der erste Fall
spielt gegen Ende des 100-jährigen Krieges in Paris. Der »Krieg« marodie-
render Banden ähnelt sich mehr und mehr der Natur an, er wird irregulär.
Diese Durchdringung der Bildbereiche von Krieg und Natur wird ver-
schränkt durch die teilweise Aufhebung der Entgegensetzung von Stadt,
begrenzt durch die Befestigungsmauern, und Wildnis: die durch Hunger und
Kälte geschwächte Bevölkerung wird durch Wölfe – Symbole des Naturzu-
standes bis zu Hobbes! – bedroht und angegriffen. Eine Naturkatastrophe,
freilich z.T. von Menschen gemacht, stellt, wie Stefan Siemer zeigen kann,
ein ganzes kulturelles Bezugssystem in Frage.
Stärker überlagern sich Interpretationsmuster und Ereignisse in dem von
Thomas Grob und Riccardo Niccolosi beschriebenen Beispiel der regelmäßi-
gen Überschwemmungen Petersburgs in dem Jahrhundert seit seiner Grün-
dung bis 1824. Die Opposition von Stadt=Kultur versus Wasser=Natur
gewinnt hier die Dimension einer mythisch-kosmischen Antithese. Der
Kulturkosmos der Hauptstadt eines riesigen Reiches, in dem weitgehend
Natur und Chaos herrscht, zu welcher Jahreszeit auch immer, hebt jedoch
das Naturchaos nur zeitweilig auf: Er wird immer wieder bedroht und signa-
lisiert so zugleich die nie ganz gelingende und stets prekär bleibende Ratio-
nalisierung von Gesellschaft und Staat, die unter westlichen Vorzeichen
standen. Kaum zu verwundern, daß die religiösen und politischen Gegner
Peters sich symbolisch mit der Natur verbündeten und die usurpierende –
westliche – Kultur der neuen »steinernen« Hauptstadt, die ein Gegenbild
Einleitung 33

zum »hölzernen« Moskau bildete, als Babel und Sitz des Antichrist Peter
(nach Jeremia 51,24f.) interpretierten.
Auf den ersten Blick wehrt sich die Fallstudie von Thomas Hauschild
über die Gegend am Vulture zwischen Bari und Neapel gegen die Dichoto-
mie von Chaos und Ordnung. Kultur ist dort im wahrsten Sinne des Wortes
»brüchig«, d.h. ständig von Erdbeben bedroht. Und zwar, wie die Statistik
der letzten 1 000 Jahre lehrt, im Durchschnitt in jeder Generation. Die Eth-
nologie einer Erdbebenkultur, die das durch Naturkatastrophen verursachte
Chaos gesellschaftlich verarbeiten muß, um in einer unwirtlichen Gegend zu
überleben, rekonstruiert die vielfältigen Überlebenstechniken zwischen
Volkskultur und zum Teil noch magisch durchsetzter Religion im Rahmen
einer phänomenologischen Vorgehensweise.

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