Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
2003 GROH-et-al Einleitung
2003 GROH-et-al Einleitung
Einleitung
Naturkatastrophen – wahrgenommen, gedeutet, dargestellt
Als am frühen Morgen Jeronimo Rugera die Glocken von Santiago de Chile
hörte, die seine Geliebte zur Hinrichtungsstätte begleiteten, rissen plötzlich
heftige Erdstöße den Spanier, der sich gerade in seiner Verzweiflung zu
erhängen versuchte, gewaltsam aus seiner Gefängniszelle ins Freie.
Zitternd, mit sträubenden Haaren, und Knieen, die unter ihm brechen wollten,
glitt Jeronimo über den schiefgesenkten Fußboden hinweg, der Öffnung zu, die
der Zusammenschlag beider Häuser in die vordere Wand des Gefängnisses ein-
gerissen hatte. Kaum befand er sich im Freien, als die ganze, schon erschütterte
Straße auf eine zweite Bewegung der Erde völlig zusammenfiel. Besinnungslos,
wie er sich aus diesem allgemeinen Verderben retten würde, eilte er, über Schutt
und Gebälk hinweg, indessen der Tod von allen Seiten Angriffe auf ihn machte,
nach einem der nächsten Thore der Stadt. Hier stürzte noch ein Haus zusam-
men, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße;
hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und
trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade ge-
hoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier
lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte,
hier schrieen Leute von brennenden Dächern herab, hier kämpften Menschen
und Thiere mit den Wellen, hier war ein muthiger Retter bemüht, zu helfen; hier
stand ein Anderer, bleich wie der Tod, und streckte sprachlos zitternde Hände
zum Himmel. Als Jeronimo das Thor erreicht, und einen Hügel jenseits dessel-
ben bestiegen hatte, sank er ohnmächtig auf demselben nieder. Er mochte wohl
eine Viertelstunde in der tiefsten Bewusstlosigkeit gelegen haben, als er endlich
wieder erwachte, und sich, mit nach der Stadt gekehrtem Rücken, halb auf dem
Erdboden erhob. Er befühlte sich Stirn und Brust, unwissend, was er aus seinem
Zustande machen sollte, und ein unsägliches Wonnegefühl ergriff ihn, als ein
Westwind, vom Meere her, sein wiederkehrendes Leben anwehte, und sein Auge
sich nach allen Richtungen über die blühende Gegend von St. Jago hinwandte.
Nur die verstörten Menschenhaufen, die sich überall blicken ließen, beklemmten
sein Herz; er begriff nicht, was ihn und sie hierhergeführt haben konnte, und
erst, da er sich umkehrte, und die Stadt hinter sich versunken sah, erinnerte er
sich des schrecklichen Augenblicks, der er erlebt hatte.1
1 Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili, hrsg. von Roland Reuß. Frankfurt a.M. 1993,
S. 11-14.
12 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen
So erlebte und überlebte der Spanier Rugera 1647 das »Erdbeben von Chili«
in Heinrich von Kleists Erzählung von 1807. Zwar handelt es sich hier um
eine Fiktion, doch läßt sich die wiedergegebene Sequenz auch als literarische
Imagination eines Naturkatastrophenerlebnisses zu Beginn des 19. Jahrhun-
derts lesen.2 Sie kann Aufschluß darüber geben, wie Erfahrungen von Natur-
katastrophen zu dieser Zeit in der Literatur dargestellt wurden. Die imagi-
nierten Ereignisse in Santiago de Chile zählen damit auch zur Geschichte der
Darstellung und Wahrnehmung katastrophaler Naturereignisse.
Erdbeben, Überschwemmungen und Sturmfluten, Waldbrände, Hagel,
Stürme, Dürre und Epidemien gehören zum ewigen Lied vom Menschenda-
sein. Wo solche oder ähnliche Gefahren regelmäßig auftreten und das gesell-
schaftliche Leben prägen, handelt es sich oft um bewußt – meist um ökono-
mischer Vorteile willen – in Kauf genommene Risiken. Risikominimierung
kann als die zentrale Strategie von Subsistenzökonomien angesehen werden,
d.h. von Gesellschaften, wie sie auch in Westeuropa bis an die Schwelle der
Moderne existierten – und weltweit sogar noch bis in unser Jahrhundert.
Zum Ruin oder Risiko gehörten auch, wenn nicht sogar in erster Linie, Na-
turkatastrophen, die den »Ernteertrag« der ökologischen Nische, in der un-
sere Vorfahren als Jäger-Sammler, Bauern oder nomadisierende Viehzüchter
lebten, drastisch reduzierten. Dagegen halfen nur oft recht komplizierte
Regeln, die zur Unternutzung oder Unterproduktivität der Carrying capacity
und zu einem komplexen Netz sozialer Ressourcen mit der Möglichkeit
jederzeitiger Aktivierung führten. Sie haben unsere Gattung insgesamt die
vielen großen und kleinen Katastrophen ihrer langen Geschichte überleben
lassen.3
Trotz dieser zeitlichen Tiefendimension sind Naturkatastrophen lange
Zeit alles andere als bevorzugte Gegenstände für historisch arbeitende Kul-
turwissenschaften gewesen. Nehmen wir nur die Geschichtswissenschaft, so
fehlte es bis in die jüngste Zeit offenbar an Ansätzen, mit denen Naturkata-
strophen wieder mehr ins Blickfeld gerückt werden konnten – oder, besser
gesagt: aus dem völligen »Jenseits« historischer Forschung in ihr »Diesseits«.
Dies hat ebenso mit der Ausdifferenzierung von Natur- und Geisteswissen-
schaften wie mit der Geschichte des Fachs zu tun. Der Historismus des
19. Jahrhunderts ließ mit dem älteren universalhistorischen Ansatz auch die
Integration von Naturphänomenen hinter sich. Der Blick auf das Indivi-
duum Mensch als Akteur der Geschichte grenzte Naturgewalt als Zufall aus.
2 In der Literaturwissenschaft dient Kleist Erzählung auch als (Lehrbuch-)Exempel für unter-
schiedliche methodische Ansätze. Vgl. hierzu David E. Wellbery (Hrsg.), Positionen der Lite-
raturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists Das Erdbeben in Chili. Mün-
chen 1985 (4. Aufl. 2001).
3 Vgl. Dieter Groh, Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität
und Mußepräferenz – die zentralen Kategorien von Subsistenzökonomien, in: ders., Anthro-
pologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt am Main 1992 (2. Aufl. 1999), S. 54-113;
sowie Rolf Peter Sieferle/ Ulrich Müller-Herold, Überfluß und Überleben. Ruin und Luxus in
primitiven Gesellschaften, in: GAIA 5 (1996), S. 135-143.
Einleitung 13
Auch die noch relativ junge Umweltgeschichte war lange Zeit den Natur-
katastrophen nicht sonderlich zugeneigt. Ihr Interesse galt vorwiegend lang-
oder mittelfristigen Entwicklungen, nicht den oft blitzartigen Ausbrüchen
von Naturgewalten. Die Klimageschichte konzentrierte sich in den vergan-
genen Jahrzehnten auf die Ermittlung langer Datenreihen, um den Klima-
wandel vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu dokumentieren. Seitdem für
Mitteleuropa umfassende Ergebnisse vorliegen,4 rücken hier zunehmend die
sozial- und kulturgeschichtlichen Konsequenzen von Klimaveränderungen in
den Mittelpunkt wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. In der Diskussion um
die Folgen der Kleinen Eiszeit standen diese Aspekte zwar von Anfang an –
seit den Arbeiten von Emmanuel Le Roy Ladurie5 – mit zur Debatte. Dies
betraf allerdings zunächst vor allem den Einfluß des Wetters auf die Preis-
entwicklung von Grundnahrungsmitteln mit agrar- und sozialhistorischen
Konsequenzen. In Deutschland hat Hartmut Lehmann die Frage nach den
frömmigkeitsgeschichtlichen Auswirkungen aufgeworfen.6 Die Debatte um
den Zusammenhang von Kultur- und Klimawandel hat vermutlich noch
längst nicht ihren Höhepunkt erreicht.
Anfang der achtziger Jahre konnte Arno Borst noch die Selbstausschal-
tung der Historiker aus der wissenschaftlichen ebenso wie der öffentlichen
Diskussion über Naturkatastrophen beklagen.7 Seitdem hat sich einiges ver-
ändert. In den heutigen Umweltdebatten werden Naturdesaster häufig als
Hinweise auf einen möglichen Klimawandel gedeutet. Um längerfristige Ent-
wicklungen in den Blick nehmen zu können, wendet sich die wissenschaftli-
che Klimaforschung zunehmend auch den Katastrophen der Vergangenheit
zu, was sich z.B. in der ständig wachsenden Zahl immer wieder aktualisierter
historischer Erdbebenkataloge niederschlägt. Auch in den Kulturwissen-
schaften, insbesondere in der Geschichtswissenschaft, hat sich inzwischen
vieles bewegt. Mit sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen lassen sich
II
(Hrsg.), Coping with the Unexpected [wie Anm. 11]). Auf der zweiten Konferenz in Prag
2003 werden es insgesamt drei Sektionen sein, zwei davon unter dem Titel Cultural Impacts of
Natural Disasters. Für den nächsten Welthistorikerkongress in Sydney 2005 wird im Rahmen
des Schwerpunktthemas Humanité et nature dans l’histoire (Humankind and Nature in History) eine
weitere Sektion über Les catastrophes naturelles et leurs suites (Natural Disasters and How They Have
Been Dealt With) organisiert.
14 Einige Definitionen bei: Anders Wijkman/ Lloyd Timberlake, Die Rache der Schöpfung.
Naturkatastrophen: Verhängnis oder Menschenwerk? München 1986, S. 30f. und 170; Josef
Nußbaumer, Die Gewalt der Natur. Eine Chronik der Naturkatastrophen von 1550 bis heute.
Grünbach 1996, S. 15.
15 Z.B. Körner (Hrsg.), Stadtzerstörung (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 9-11 und S. 37 Anm. 4.
16 Christian Pfister, Naturkatastrophen und Naturgefahren in geschichtlicher Perspektive. Ein
Einstieg, in: ders. (Hrsg.), Am Tag danach (wie Anm. 11), S. 11-25, hier S. 15.
16 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen
17 Ebd., S. 16.
18 Der früheste bisher bekannte Beleg ist Joseph Friedrich Nowack, Über rechtzeitige Warnungen
vor Naturkatastrophen. Eine Erdbebentheorie. Wien 1905; so der Hinweis bei Pfister, Na-
turkatastrophen (wie Anm. 16), S. 15 und S. 24 (Anm. 32).
19 Das ergibt eine chronologische Durchsicht verschiedener Auflagen deutscher Wörterbücher
(u.a. Wahrig, Duden, Paul/Betz) und einschlägiger Konversationslexika. Ein Längsschnitt
durch die Auflagen des Brockhaus etwa ergibt, daß erst die 17. Aufl. im 13. Bd. (gedruckt
1973) das Lemma »Naturkatastrophe« aufführt.
20 So in Anlehnung an eine Formulierung in der 14. Aufl. des Brockhaus, Bd. 10. Leipzig 1898,
S. 230.
21 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller hrsg. von Wolfhart
Henckmann. Hamburg 1990, § 25, S. 99.
22 Vgl. auch Jutta Nowosadtko/ Ralf Pröve, Einleitung. Wahrnehmung und Verarbeitung von
Katastrophen, in: Münch (Hrsg.), Erfahrung (wie Anm. 11), S. 211-216, hier S. 212f.; und
Geneviève Massard-Guilbaud, Introduction – The Urban catastrophe: Challenge to the social,
economic, and cultural order of the city, in: dies./ Platt/ Schott (Hrsg.), Cities (wie
Anm. 12), S. 9-42, hier S. 11-13.
Einleitung 17
Artikels in der 8. Auflage: »Die Geologen bezeichnen damit [d.i. als ›Revo-
lution‹] solche Katastrophen auf der Erde, wodurch der natürliche Lauf oder
das natürliche Verhältnis der irdischen Dinge eine bedeutende Veränderung
erleidet, z.B. wenn durch große Wasserfluten, Erdbeben u.s.w. die Oberflä-
che der Erde anders gestaltet wird.«27
Noch Georges Cuvier stand in der Tradition der erdgeschichtlichen The-
orien des 18. Jahrhunderts, als er seinen Discours sur les révolutions de la surface
du globe schrieb,28 um zwischen den großen, erdumspannenden Umwälzun-
gen und den kleineren Katastrophen zu unterscheiden. Seine Katastrophen-
theorie war, beim Wort genommen, eigentlich eine Revolutionstheorie. Erst
im Rückblick wurde Cuviers Entwurf auf den Begriff »Katastrophe« ge-
bracht und auf diese Weise, bis heute nachhaltig, für die Wissenschaftsge-
schichte reformuliert.29 In der Geologiegeschichte spricht man heute vom
Katastrophismus in den konkurrierenden Spielarten des Vulkanismus und
Neptunismus, wonach entweder Feuer (auch als Auslöser von Eruptionen)
oder Wasser das primäre Movens der Erdgeschichte sei.30 Eine Vorausset-
zung für die begriffliche Umbelegung war, daß der Katastrophismus noch
vor Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Uniformitarismus in Frage gestellt
wurde, der an die Stelle plötzlicher, gewaltiger Naturereignisse langsam ver-
laufende geologische Prozesse als Agenten der Erdgeschichte setzte.31 Damit
büßten in den Geowissenschaften umwälzende Naturereignisse ihre Funk-
politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart
Koselleck, Bd. 5. Stuttgart 1984, S. 653-788, hier S. 775.
27 Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie (wie Anm. 23), Bd. 9, S. 252. Weiter heißt es:
»Solche Revolutionen haben zwar auch ihren Grund in den allgemeinen Naturgesetzen, er-
scheinen aber doch in ihren Wirkungen als etwas von der gewöhnlichen Ordnung der
Dinge Abweichendes, wodurch manches bisher Bestandene aufgehoben oder zerstört wird.
Diese Bedeutung des Wortes hat man auf die moralische Welt übertragen. So sagt man von
einem Menschen, dessen Denkart und Gesinnung sich plötzlich ganz verändert hat, es sei
zum Guten oder zum Bösen, daß eine Revolution in ihm vorgegangen sei. Dergleichen Re-
volutionen können sich nun auch in der politischen Welt ereignen; denn Völker und Staaten
sind als moralische Personen zu betrachten, die in Ansehung ihrer innern sowohl als äußern
Beschaffenheit sich ebenso sehr verändern können als Individuen. Eine Veränderung dieser
Art heißt eine politische Revolution oder eine Staatsumwälzung.« Vgl. ganz ähnlich schon die
5. Aufl., Bd. 8. Leipzig 1820, S. 238.
28 Georges Cuvier, Discours sur les révolutions de la surface du globe et sur les changemens
qu’elles ont produit dans le règne animal. 3. Aufl. Paris 1825.
29 Beispielhaft dafür ist Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Werke, Bd. 3.
Leipzig – Berlin 1924, S. 244.
30 Zur Kontroverse zwischen den Neptunisten und den Vulkanisten: Charles Coulston Gillispie,
Genesis and Geology. A Study in the Relations of Scientific Thought, Natural Theology,
and Social Opinion in Great Britain, 1790-1850. New York 1959, S. 41-97; Reijer Hooykaas,
Natural Law and Divine Miracle: The Principle of Uniformity in Geology, Biology and
Theology. 2. Aufl. Leiden 1963, S. 1-32; S. Warren Carey, Theories of the Earth and Uni-
verse. A History of Dogma in the Earth Sciences. Stanford 1988, S. 45-62; A. Hallam, Great
Geological Controversies. 2. Aufl. Oxford 1989, S. 1-29; und Peter J. Bowler, Evolution. The
History of an Idea. Berkeley u.a. 1989, S. 39-49.
31 Vgl. Gillispie, Genesis and Geology (wie Anm. 30), S. 121-148; Carey, Theories of the Earth
(wie Anm. 30), S. 57; und Hallam, Controversies (wie Anm. 30), S. 30-64.
Einleitung 19
III
Der Schwerpunkt der Beiträge dieses Sammelbandes liegt auf der europäi-
schen Geschichte von der Antike bis heute. Wahrnehmungsmuster werden
untersucht von Katastrophen in der west- und oströmischen Antike über
mittelalterliche Pestwellen und frühneuzeitliche Agrarkrisen in Mitteleuropa
bis hin zu Überschwemmungen im russischen Petersburg zu Beginn des
19. Jahrhunderts und zu süditalienischen Erdbeben am Ende des 20. Jahr-
hunderts. Darüber hinaus werden in einem Beitrag über die Darstellung von
Naturkatastrophen im chinesischen Fernsehen auch außereuropäische Per-
spektiven einbezogen.
32 Vgl. Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung. Frankfurt a.M. 1979,
S. 103: »Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt
keine Katastrophen.« Das Zitat wird im Beitrag von Christian Pfister aufgegriffen (in diesem
Band).
20 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen
in der Hoffnung, Gott werde die Betroffenen schon schützen, käme einer
schweren Unterlassungssünde gleich, die ihrerseits wiederum harte göttliche
Strafen zur Folge haben könnte.35
Deutungsmuster von Naturkatastrophen bieten darüber hinaus die Mög-
lichkeit, zu den ihnen zugrunde liegenden Naturvorstellungen vorzudringen.
Das demonstrieren die unterschiedlichen Sintflutdeutungen im 17. und
18. Jahrhundert.36 Nach dessen Übernahme vom theologischen Diskurs in
einen naturwissenschaftlichen wird das biblische Überschwemmungsdrama
auf der einen Seite verstanden als ein Akt globaler Zerstörung, so in der
Heiligen Theorie der Erde 1681 von Thomas Burnet, auf der anderen Seite aber
als ein Vorgang der Katharsis, der Neuschöpfung und des Neubeginns, wie
bei den Sintflutgeologen John Woodward, Johann Jakob Scheuchzer und
vielen anderen Physikotheologen der europäischen Frühaufklärung um 1700.
Die unterschiedlichen Verständnisweisen der mosaischen Flutgeschichte
referieren dabei auf divergierende, konträre Naturverständnisse. Während
Burnets Auslegung der Genesisflut letztlich der Ansicht dient, wir Menschen
lebten heute in einer weitgehend ruinierten Natur, rechtfertigt Scheuchzers
Sintflutmodell die optimistischere Vorstellung, der Mensch werde gegenwär-
tig von einer geordneten, gleichgewichtigen und harmonischen Natur beher-
bergt. In diesem Naturverständnis werden auch die lokalen Naturkatastro-
phen von ihrer straftheologischen Deutung getrennt und in einen naturte-
leologischen Zusammenhang gebracht, wonach Erdbeben, Vulkanausbrüche
oder Hagelstürme – insgesamt gesehen – einen natürlichen Nutzen hätten
und für die Aufrechterhaltung der Gesamtökonomie der Natur notwendig
seien.37
Läßt sich einerseits festhalten, daß Naturkatastrophen in größeren Deu-
tungszusammenhängen auftauchen, so läßt sich gleichfalls fragen, ob nicht
auch umgekehrt Naturkatastrophen in der Lage wären, solche semantischen
Strukturen in Schwingung zu versetzen oder vielleicht sogar vollständig auf-
zubrechen. Der frühaufklärerische Optimismus, wie er sich bereits in der
Sintfluttheorie Scheuchzers zeigt und dann im Leibnizschen Diktum von der
besten aller möglichen Welten gipfelt, ist hierfür ein gutes Exempel. Denn
hartnäckig hält sich bis heute die Forschungsmeinung, das große Erdbeben
von Lissabon 1755 habe dieses ungetrübt optimistische Weltbild in seinen
Grundfesten erschüttert, ja unwiederbringlich zum Einsturz gebracht.38 Da-
bei wird immer wieder vor allem auf die optimismuskritischen Schriften
Voltaires zum Lissaboner Erdbeben, dem Poème sur le désastre de Lisbonne
(1756) und Candide (1759) verwiesen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich
jedoch, daß Voltaires Abkehr vom naturtheologischen Optimismus in seiner
Klage über die Toten von Lissabon selbst wiederum zum Gegenstand hefti-
ger Kritik geworden ist. So etwa wird in den Briefen zwischen Albrecht von
Haller und Charles Bonnet ein vernichtendes Urteil über Voltaires Erd-
bebengedicht formuliert:
Meiner Ansicht nach ist er [Voltaire] eines der unglücklichsten Wesen auf dieser
Erde. Er wäre es schon durch seinen traurigen Unglauben; ein Mensch, der das
Universum zeichnet wie es im Lissabon-Gedicht und in Candide dargestellt ist,
für den ist die ganze Natur in Schwarz gekleidet. Aber dass er sie uns so dar-
stellt, verzeihe ich ihm nicht.39
Allein die Reaktionen im deutschsprachigen Protestantismus auf das Lis-
saboner Erdbeben demonstrieren eine breite Vielfalt an unterschiedlichen
Deutungen.40 Selbst die frühaufklärerische Erdbebentheodizee erlebt in den
»Sismotheologien« der 1760er und 70er Jahre noch einmal eine Spätblüte.
Die Lissaboner Katastrophe führt also nicht etwa zum Einsturz eines Deu-
tungsmusters, sondern vielmehr zur Vervielfältigung und Differenzierung
der Interpretationsangebote. Insofern könnte man aus systemtheoretischer
Perspektive Naturkatastrophen zu Ereignissen der Kontingenz zählen, wel-
che imstande sein können, »Lärm« und »Irritationen« hervorzurufen, und auf
diese Weise Variationen in (Teil-)Systemen der Gesellschaft zu erzeugen. So
wird das Erdbeben von Noto 1693 im Rahmen der Katastrophenbewälti-
gung in der sizilianischen Stadt zum Auslöser einer grundlegenden Reorgani-
sation im Funktionsbereich rechtlicher Entscheidungsverfahren.41 Die Be-
schäftigung mit Naturkatastrophen bietet damit auch die Möglichkeit, Zufäl-
liges und Kontingentes als geschichtsrelevante Faktoren in die Historiogra-
phie aufzunehmen.
das Denken in Bewegung. Berlin 1994. Kritisiert wird diese These dagegen bereits von Ruth
Groh und Dieter Groh, Religiöse Wurzeln der ökologischen Krise. Naturteleologie und Ge-
schichtsoptimismus in der frühen Neuzeit, in: dies., Weltbild und Naturaneignung. Zur Kul-
turgeschichte der Natur. Frankfurt a.M. 1991 (2. Aufl. 1996), S. 11-91, hier S. 49f.
39 Charles Bonnet an Albrecht von Haller, 27.03.1759: »C’est à mon avis un des Etres les plus
malheureux qui soyent sur la surface du Globe. Iseroit désja par sa triste incrédulité. Un
homme qui peint l’Univers, comme il est peint dans le Poeme sur Lisbonne et dans Can-
dide, voit toute la Nature tendue de noir. Mais ce que je ne lui pardonne pas, c’est de nous
la montrer ainsi.« In: Otto Sonntag (Hrsg.), The Correspondence between Albrecht von Hal-
ler and Charles Bonnet. Bern u.a. 1983, S. 161; hier nach der Übersetzung bei Martin Stuber,
Gottesstrafe oder Forschungsobjekt? Zur Resonanz von Erdbeben, Überschwemmungen,
Seuchen und Hungerkrisen im Korrespondentennetz Albrecht von Hallers, in: Pfister
(Hrsg.), Am Tag danach (wie Anm. 11), S. 39-54, hier S. 49.
40 Vgl. Löffler, Lissabons Fall (wie Anm. 9).
41 Michele Luminati, Erdbeben in Noto. Krisen- und Katastrophenbewältigung im Barockzeital-
ter. (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, Bd. 27) Zürich 1995.
Einleitung 23
Dieser Aspekt führt zugleich zum Kern der noch immer umstrittenen
und beunruhigenden Frage, ob Naturhazards, insbesondere Erdbeben vor-
hersagbar seien oder nicht. Heutige Seismologen sind sich uneins darüber, ob
Eruptionen der Erde prinzipiell nicht zu prognostizieren seien, oder ob die
momentane Unvorhersagbarkeit lediglich epistemisch bedingt sei und Prog-
nosen mit verbesserten Methoden zukünftig sehr wohl einmal möglich sein
könnten. Gegner der Vorhersagbarkeit verweisen auf das chaotische Verhal-
ten der Erdkruste, was tatsächlich derzeit selbst Berechnungen von Lang-
zeitwahrscheinlichkeiten extrem anfällig für Fehlkalkulationen werden läßt.
Jochen Zschau vom Geoforschungszentrum in Potsdam hält dagegen, daß
aus dem chaotischen Verhalten allein nicht die Unvorhersagbarkeit folgen
müsse und daß alles auf den Grad des Chaos ankomme.42 Die Aussage
Zschaus befriedigt jedoch nicht, da das Problem nur begrifflich verlagert
wird. Denn alles kommt jetzt darauf an, wie der Begriff »Chaos« verstanden
wird. Ist damit eine undurchschaubare, aber letztlich doch noch auf (nur
eben äußerst schwer zu berechnende) Naturgesetze zurückführbare Komple-
xität gemeint, oder aber ein komplexer Zusammenhang, der (zumindest
partiell) überhaupt nicht mehr irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten, Regelhaf-
tigkeiten oder Wahrscheinlichkeiten gehorcht. Daß mit diesem Einwand das
Problem selbst nicht gelöst, sondern wiederum nur ein weiteres Mal verlagert
wird, nämlich auf die Problematik des Begriffes »Naturgesetz«, unterstreicht
einmal mehr den konstruktiven Charakter unserer Erkenntnis. Für unseren
Gegenstandsbereich etwa muß man in Rechnung stellen, daß der Begriff
»Katastrophe« in den seltensten Fällen überhaupt in den Quellen auftaucht –
nicht zuletzt deshalb, weil er erst im 19. Jahrhundert eine negative semanti-
sche Aufladung erfahren hat, und es sogar erst in modernen Zusammenhän-
gen üblich geworden ist, darunter ein Ereignis zu verstehen, das durch
Plötzlichkeit, Instantanität und Destruktivität gekennzeichnet ist. Kompli-
zierter wird die Sache noch, bezieht man auch außereuropäische Katastro-
phensemantiken in ihren jeweiligen historischen Horizonten mit ein.
1989 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das folgende
Jahrzehnt zur »International Decade for Natural Disaster Reduction« erklärt.
Entscheidend für die Genese gegenwärtiger Naturkatastrophenbilder ist
jedoch, daß sich in den gesellschaftlichen Diskursen der letzten zwanzig
Jahre das Verhältnis von Natur und Mensch grundlegend gewandelt hat.
Letzter ist mehr und mehr von der Rolle des Opfers in die des Täters einge-
rückt. Umwelt und Klima gelten nunmehr auch als potentielle Vorboten
einer vom Menschen mitverursachten Umweltverschlechterung. Zu diesem
Wandel gehört es, daß katastrophale Ereignisse oft als Racheakte der Natur
bezeichnet werden. Bei der Untersuchung von Naturdesastern unterscheidet
man deshalb zumeist auch zwischen »natürlichen« und menschengemachten
42 »Von einer genauen Erdbebenvorhersage sind wir noch weit entfernt«. Interview mit dem
deutschen Erdbebenexperten Prof. Jochen Zschau zur Situation in der Türkei, G.O. – Wis-
sen Online, in: www.g-o.de/kap3/3aba0026.htm (20.02.2003).
24 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen
IV
43 Vgl. Ruth Groh/ Dieter Groh, Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt, in: dies., Die Außenwelt
der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur 2. Frankfurt a.M. 1996, S. 85-141.
Einleitung 25
44 Vgl. Jan Assmann, Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen
Erinnerung, in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000,
S. 185-209, hier bes. S. 188-190.
26 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen
ten die Zeichen mißdeutet und waren dem Rat in Mt. 24.16 (»alsdann fliehe
auf die Berge...«) zu früh gefolgt.
Naturkatastrophen sind eine Herausforderung für Herrschaft und ihre
Legitimation, um so mehr, wenn sie metaphysisch begründet ist. Hinter der
zunehmenden Sakralisierung des Kaisertums Justinians steht eine massive
Kritik, die Prokop – unter Verweis auf eine Serie von Katastrophen – in
seinen Anekdota evozierte. Fast zeitgleich, Ende des 6. Jahrhunderts, bringt
Gregor von Tours den Merowingerkönig Chilperich mit dem Hinweis auf
Naturkatastrophen und Wunderzeichen in Verruf – metaphysische Evidenz
für den Mißstand des Reichs unter diesem Herrscher. Dabei ist Gregor, wie
Christian Rohr aufweist, sonst ein eher naturkundlich zurückhaltender Au-
tor. Die Suche nach Schuldigen ist ein infames Bewältigungsmuster, das auch
vor Heiligenbildern nicht zwingend Halt macht.45
Nur scheinbar wendet sich der Blick auf das Volk um, wenn die allge-
genwärtige Sünde als Erklärung herhält. Denn dieses »Schwert« ist so zwei-
schneidig wie das der weltlichen Gerechtigkeit: Es kann sich schnell gegen sie
selbst wenden, und Mißstand – oder das, was als solcher wahrgenommen
wird – fällt auf die zurück, denen Verantwortung für gesellschaftliche Ord-
nung zugeschrieben wird. Darum stehen Sittenmandate, diese typischen
Reaktionen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Obrigkeiten, in einer
Doppelperspektive: Man kann sie als Versuche moralischer Ursachenbe-
kämpfung, aber auch als öffentliche Demonstration herrschaftlicher Hand-
lungsfähigkeit in legitimatorischer Absicht betrachten. Es wirkt für beide
Seiten entlastend, wenn das straftheologische Modell an Bedeutung verliert,
was sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert beobachten läßt. Aber ist es je
völlig verschwunden?
Auch Pierre de Boisguilbert (1646-1714), dessen Schriften zur »politi-
schen Ökonomie« von Christian Strube im Kontext der klimabedingten
Hungerkatastrophe von 1693/94 gelesen werden, identifizierte die Machtha-
benden als Schuldige und operierte mit der Kategorie des Bösen. Gleichzeitig
entwickelte er eine zukunftsweisende Krisentheorie. Manfred Jakubowski-
Tiessen weist am Beispiel von Sturmfluten zwischen dem 16. und 19. Jahr-
hundert auf das anhaltende Nebeneinander, Miteinander und Gegeneinander
konkurrierender Deutungen hin. Klar getrennt bestehen sie vermutlich nur
in gleichsam idealtypischen Rekonstruktionen. Auch die Wissenschaftsge-
schichte ist mittlerweile so weit, sich endgültig von Modellen zu verabschie-
den, die sie in eine lineare Ordnung bringen. Das 18. Jahrhundert, so zeich-
net sich ab, war mehr von der Pluralität als von der Ablösung verschiedener
Theorien geprägt. Da ist das traditionelle Exempeldenken, mit seinen religiö-
sen Topoi im biblisch geprägten Geschichtsbewußtsein, in dem bei Über-
schwemmungen und Sturmfluten jedesmal die Sintflut wie ein böser Alp-
traum wiederkehrt. Die Erinnerung ist Teil der Naturdeutung. Zugleich
45 Siehe hiezu das aus den Memoiren von Saint-Simon zitierte Beispiel eines spontanen Bilder-
sturms in dem Beitrag von Christian Strube (in diesem Band, S. 86).
Einleitung 27
48 Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935). Frank-
furt a.M. 1980.
Einleitung 29
stürze von Piuro (Plurs) 1618 und Goldau 1806 als Elementarereignisse im
künstlerischen Denkbild.49 Betont wird, daß die Authentizität selbst naturali-
stisch komponierter Momentbilder tatsächlicher oder imaginierter Katastro-
phen nicht auf Eindrücke der Außenwelt, sondern auf Expressionen der
Innenwelt beruhen.50 Das gilt in besonderem Maße für die pathetisch-thea-
tralischen Inszenierungen des Goldauer Bergsturzes, die ganz im Zeichen
der Ästhetik des Erhabenen stehen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
auch und gerade extreme Naturereignisse ins Zentrum der Landschaftsmale-
rei rückte.51 Es entwickelte sich ein eigenes topologisches Reservoir an bild-
sprachlichen Ausdrucksformen katastrophaler Naturereignisse: von gelbrot
leuchtenden Feuereruptionen über dunkelblau schäumenden Wasserwirbeln
bis hin zu den piktogrammhaften, gezackten Gewitterblitzen. Zwei Höhe-
punkte dieser ästhetischen Sublimierung des Katastrophalen stellen sicherlich
die Gemälde The Fall of an Avalanche in the Grisons (1810)52 und Snow Storm:
Hannibal and his Army crossing the Alps (1812)53 von William Turner dar: Wäh-
rend das eine Gemälde – in konzentrierter Klarheit und »erdrückender«
Einfachheit – den Niedergang einer Lawine zeigt, die einen riesigen Fels-
brocken auf eine Holzhütte niederstürzen läßt, vermittelt das andere Ge-
mälde – in tosender Expressivität – den Kampf zwischen Mensch und Na-
tur, zugleich als Metapher des Kampfes zwischen den Menschen in Gestalt
der Karthager und der sie bedrängenden Salassier.
Indem die Katastrophe als Ereignis ein Vorher und Nachher setzt, wird
die Zeitlichkeit zu einem besonderen Thema bildlicher Repräsentationen
solcher Vorkommnisse. Weber verweist hier etwa auf den 1618 bei Johann
Hardmeyer in Zürich erschienenen anonymen Einblattdruck mit einer Radie-
rung zum Bergsturz von Piuro. Das immer wieder nachgestochene duale
Schichtklappbild zeigt mit Hilfe eines angeklebten Deckblattes die Trümmer-
stätte ante quem und post quem. Nicht immer liegen derartigen Bildkonzeptio-
nen und Bilderfolgen die lineare Doppelsequenz »Intaktheit – Destruktion«
zugrunde. Zwei Gemälde von Jan Asselijn etwa zeigen die Zerstörung des
Muiderdeiches, der während einer Sturmflut in der Nacht vom 4. auf den
5. März 1651 in der Nähe von Amsterdam brach, sowie die anschließenden
Wiederaufbauarbeiten (Abb. 1 und 2). In den Bildwerken der Voyages pittores-
ques des 18. Jahrhunderts kommen unterschiedliche Temporalitätsmuster
zum Ausdruck, wie Peter Geimer an den Arbeiten von Jean-Pierre-Louis-
49 Vgl. zum Goldauer Bergsturz die Beiträge Bruno Weber und Christian Pfister in diesem
Band.
50 Vgl. grundlegend Ruth Groh/ Dieter Groh, Natur als Maßstab – eine Kopfgeburt, in: dies.,
Die Außenwelt der Innenwelt (wie Anm. 43), S. 85-141.
51 Zur Ästhetisierung von Naturkatastrophen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert siehe
auch den Ausstellungskatalog: Jenns E. Howoldt (Hrsg.), Expedition Kunst: Die Entdeckung
der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt. Hamburg – München 2002.
52 Für eine Abbildung siehe William Turner. Licht und Farbe. Eine Ausstellung in Zusam-
menarbeit mit Tate, hrsg. von Georg-W. Klötzsch. Zürich 2001, S. 115 (Nr. 45).
53 Ebd., S. 116f. (Nr. 46).
30 Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen
1. Jan Asselijn (zugeschrieben), Bruch des Muiderdeiches bei Sturmflut in der Nacht auf
den 5. März 1651 (um 1651); Berlin, Gemäldegalerie
Reziprozität wird im Laufe des 19. Jahrhunderts ersetzt durch die Solidarität
im Rahmen der Schicksalsgemeinschaft Nation, die freilich erst langsam im
Entstehen war. Ein Schweizer Spezifikum ist die recht frühe, nach dem
2. Weltkrieg einsetzende Globalisierung des Solidaritätsraums im Falle von
Naturkatastrophen.
Funktional in ähnlicher Weise wirkt die Oderflut 1997 in Deutschland,
die von Martin Döring analysiert wird. Hier bildet sich aus den katastrophen-
artigen Überschwemmungen rasch ein Projektionsfeld gesamtdeutscher
Identität – ein Vorgang, der sich anläßlich der Ereignisse im Sommer 2002
mutatis mutandis wiederholt. Der Verfasser zeigt überzeugend und weit über
seinen Fall hinausgehend, daß Katastrophen Leerstellen bilden, die einen
Erklärungsnotstand offenbaren. Im Gegensatz zu den Ereignissen von 1962
in Norddeutschland angesichts der Flutkatastrophe offenbart die mediale
und mentale Verarbeitung ein anderes Naturbild: 1962 war es noch der kul-
turkritischen Tradition verpflichtet, und es ergab sich eine Schere zwischen
Praxis – Perfektionierung der Technik – und Diskurs; 1997 wird nicht nur
materiell ein Krieg gegen die Natur geführt. Ein äußerliches Zeichen, das
sich 2002 wiederholen wird: der Einsatz der Bundeswehr.
zum »hölzernen« Moskau bildete, als Babel und Sitz des Antichrist Peter
(nach Jeremia 51,24f.) interpretierten.
Auf den ersten Blick wehrt sich die Fallstudie von Thomas Hauschild
über die Gegend am Vulture zwischen Bari und Neapel gegen die Dichoto-
mie von Chaos und Ordnung. Kultur ist dort im wahrsten Sinne des Wortes
»brüchig«, d.h. ständig von Erdbeben bedroht. Und zwar, wie die Statistik
der letzten 1 000 Jahre lehrt, im Durchschnitt in jeder Generation. Die Eth-
nologie einer Erdbebenkultur, die das durch Naturkatastrophen verursachte
Chaos gesellschaftlich verarbeiten muß, um in einer unwirtlichen Gegend zu
überleben, rekonstruiert die vielfältigen Überlebenstechniken zwischen
Volkskultur und zum Teil noch magisch durchsetzter Religion im Rahmen
einer phänomenologischen Vorgehensweise.