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Interpretation der Parabel

“Auf der Galerie” von Franz Kafka


Die Parabel “Auf der Galerie” von Franz Kafka beschreibt das Gefangensein des Einzel-
nen in seiner durch äußere Strukturen und Verhaltenserwartungen vorgegebenen Rolle,
die ihm verbietet, seine eigentlichen Gefühle zu zeigen.
Die Parabel ist in zwei Absätze unterteilt. Der erste Absatz steht im Konjunktiv
(“würde”, Z.4, “fortsetzte”, Z.7, “eilte”, Z.8 ...). Kafka beschreibt eine hypothetische
Situation: Eine Kunstreiterin tritt in einem Zirkus auf. Es geht ihr gesundheitlich
schlecht, sie ist “hinfällig” und “lungensüchtig” (Z.1), und auch das Pferd “schwankt”
(Z.2), scheint sich also zu überanstrengen.
Dieser hypothetische Auftritt nimmt kein Ende, er dauert “monatelang ohne Unter-
brechung” (Z. 3) und setzt sich “in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft”
(Z.6.) fort, denn das Publikum ist “unermüdlich” (Z.2) und der Zirkusdirektor “er-
barmungslos” (Z.3). Das Adjektiv “erbarmungslos” impliziert, dass die Reiterin unter
der Situation leidet. Zwar führt sie ihre Kunststücke vor, wie sie soll: “Küsse wer-
fend, in der Taille sich wiegend” (Z.4), aber auch die Beschreibung der Geräusche, die
sie wahrnimmt, erzeugen den Eindruck einer feindlichen Umgebung, die für die Reit-
erin zunehmend unerträglich wird: Das “Brausen des Orchesters und der Ventilatoren”
(Z.6) steigert sich in der atemlosen Aneinanderreihung von Hauptsätzen förmlich zum
Getöse, das in Zeile 8 seinen Höhepunkt findet - mit dem “Beifallsklatschen der Hände,
die eigentlich Dampfhämmer sind”. Plötzlich unterbricht Kafka hier den Konjunk-
tiv: “sind” ist das einzige Verb im einfachen Präsens. Hier schimmert durch, dass
die Situation gar nicht wirklich hypothetisch gemeint ist, sondern “eigentlich” (Z.8)
ein tatsächliches Verhältnis umschrieben wird. “Dampfhämmer” symbolisieren lauten
Krach und regelmäßig-kontinuierliche maschinelle Gewalt. An diesem Höhepunkt der
Unerträglichkeit kommt die mögliche Rettung für die Reiterin. Ein “junger Galeriebe-
sucher” läuft in die Manege und ruft “Halt!”. Wenn es so wäre - “vielleicht eilte” (Z.7)
er dann hinab.
“Da es aber nicht so ist”, dieser Satz beendet den hypothetischen Auftritt des er-
sten Absatzes und leitet den zweiten Absatz ein, der eine andere Version des Auftritts
beschreibt - jetzt im Indikativ und antithetisch zum ersten Absatz: Die “hinfällige, lun-
gensüchtige” Kunstreiterin ist jetzt eine “schöne Dame” (Z. 12) und der Direktor ist
nicht “peitschenschwingend” und “erbarmungslos” sondern präsentiert sie und gibt sich
bewundernd. Die Beschreibung seines Verhaltens gegenüber der Reiterin ist zutiefst
ironisch. Natürlich ist sie nicht “seine über alles geliebte Enkelin” (Z. 15), natürlich
1
braucht ein Zirkusdirektor keine “Selbstüberwindung” (Z. 17) für das Peitschenzeichen;
er ist schließlich die Situation gewohnt und wird kaum mehr staunen über “ihre Kun-
stfertigkeit” (Z. 19). Nein, der Direktor verstellt sich, er muss eine Show verantstalten,
das ist die Aufgabe eines Zirkusdirektors. Und auch die Kunstreiterin veranstaltet eine
Show, indem sie ihre Arme ausbreitet, um “ihr Glück mit dem ganzen Zirkus” zu teilen
(Z. 26) - zu übertrieben positiv ist die Beschreibung. Ihre eigentlichen Gefühle sehen
anders aus.
Und vielleicht - die kurze Unterbrechung des Konjunktivs mit “sind” (Z.8) lässt
diese Deutung zu - entsprechen sie genau der Beschreibung des ersten Absatzes: Die
Reiterin ist wirklich “getrieben” vom Direktor, es geht ihr tatsächlich gesundheitlich
schlecht, ihr Auftritt scheint ihr unendlich lang und das Klatschen dröhnt ihr in den
Ohren wie “Dampfhämmer”. Aber sie darf es nicht zeigen. “Die Show muss weiterge-
hen!” Illusion und Täuschung gehören zum Zirkus. Die Reiterin wird im Moment ihres
Auftritts reduziert auf die Rolle, die sie zu spielen hat, ihre eigentliche Identität und ihre
persönlichen Gefühle sind belanglos. Dieser Zwang, in der Rolle zu bleiben, resultiert
aus der Verhaltenserwartung des Publikums: Die Leute wollen unterhalten werden und
nicht belästigt mit persönlichen Problemen, schließlich haben sie Eintritt bezahlt.
Und so kann der Retter, der “junge Galeriebesucher” aus dem ersten Absatz, nicht
aktiv werden: Die Verstellung ist perfekt, es ist kein fassbarer Grund da, um einzuschre-
iten. Aber er scheint unbewusst zu spüren, wie es wirklich um sie bestellt ist: “Das
Gesicht auf die Brüstung” gelegt, “weint er ohne es zu wissen” (Z.28).
Die Parabel lässt sich psychologisch noch weitergehend deuten: Menschen ver-
stellen sich häufig, um Verhaltenserwartungen zu erfüllen, und unterdrücken ihre wahren
Gefühle: “Immer nur lächeln! Und wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an!” So in-
terpretiert steht das Zirkungspublikum mit seinen Erwartungen für die Gesellschaft mit
ihrer Moral und ihren Normen. Es ist im ersten Absatz unpersönlich dargestellt, wird
mit dem “Brausen des Orchesters und der Ventilatoren” gleichsam Teil einer Maschine,
Teil der äußeren Struktur “Zirkus”, die die Reiterin in ihre Rolle zwingt.
Die Reiterin und der Zirkusdirektor können aufgefasst werden als Teile eines ges-
paltenen Ichs. Die Reiterin entspräche dem Freudschen “Es”, den eigenen Trieben und
Wünschen, der Direktor dem “Über-Ich”, das geprägt ist von der gesellschaftlichen
Moral - und entwicklungspsychologisch besonders von den Erwartungen der Eltern.
Kafka hatte bekanntlich eine schwierige Beziehung zu seinem Vater. Der Zirkusdirek-
tor kann deshalb auch dafür stehen: Den Vater, dessen Erwartungen Kafka mit sich
herumträgt und denen er folgen muss, wie seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse auch
aussehen mögen. Der äußere Zwang, den der Direktor der Parabel auf die Kunstreiterin
ausübt, ist eigentlich ein Zwang innerhalb des eigenen Ichs.
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