Berlin, 1991/1992
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1:1-Abschrift der maschinenschriftlichen studentischen Jahresarbeit bei gleichzeitiger, stillschweigender
Korrektur von Tipp- bzw. grammatikalisch -orthographischen Fehlern (inkl. Anpassung an die neue deut-
sche Rechtschreibung) durch den Verfasser. Die ur sprünglichen Seitenangaben wurden in tiefgestellten
Klammern vermerkt. Keine inhaltliche Aktualisierung oder Änderung am Or iginaltext.
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Zur Transkription
Aus technischen Gründen habe ich im laufenden Text auf die Setzung
‡
diakritischer Zeichen verzichtet und versuchte, zu einer einheitlichen
Schreibweise der Begriffe aus dem Paschto zu gelangen, indem ich die
bereits durch andere Autoren mehr oder minder konsequent benutzte
Transkription ins Englische verwendete.
‡ Für das Literaturverzeichnis wurde dies bei der vorliegenden Abschrift korrigiert.
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Für das Verständnis von Verhalten und Handeln der einzelnen Bevölke-
rungsgruppen in diesem Konflikt macht es sich erforderlich, sich mit
ihren Traditionen und Wertvorstellungen, ihrer Lebensweise und Kul-
tur, ihrer Religion sowie ihren sozio-ökonomischen Lebensverhältnis-
sen zu befassen.
Die Paschtunen, ein durch die Afghanistan und Pakistan trennende Du-
rand-Linie gespaltenes Volk, bilden mit ca. 6 bis 8 Millionen Menschen
die größte ethnische Gruppe innerhalb Afghanistans.1 Ihre Sprache,
das Paschto, gehört zum ostiranischen Zweig der iranischen Sprachfa-
milie. Kultur und Lebensweise der Paschtunen zeichnen sich neben
dem verbreiteten Selbstverständnis der Paschtunen als „echte Afgha-
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Ausgehend von Ehre und Würde als Grundpfeilern der Regeln von
Paschtunwali lässt sich feststellen, dass nicht wenige von ihnen in en-
gem Zusammenhang miteinander stehen, sich teilweise beeinflussen
bzw. bedingen. Ungeeignet erscheint mir der Versuch, einer Wertung
dieser Regeln nach ihrer angenommenen oder tatsächlichen Bedeutung
in einer Rangfolge vorzunehmen. Es gilt zu verstehen, dass alle diese
Prinzipien und Regeln, welche Paschtunwali ausmachen, nicht losgelöst
voneinander wirken (können), gleichfalls ist auch der Einfluss der isla-
mischen Religion allgegenwärtig.
Dies ist z. B. bei tura der Fall. Tura (wörtlich: Schwert) gilt unter ehr-
baren Paschtunen als Ausdruck von Kampfgeist und Kampfbereit-
schaft, wenn es heißt, Freiheit und Stolz zu erhalten und zu verteidi-
gen. Das gilt nicht nur für die Familie, Eigentum o. ä. Gleichzeitig ist
hierin die Pflicht zur Teilnahme am heiligen Krieg, jihad, mit enthalten.
Das Gefühl und Bewusstsein der eigenen Würde, von Mut und Stolz
beinhaltet der Begriff ghairat, was übersetzt bedeutet Selbstbewusst-
sein, Ehrgeiz, Mut und Beherztheit, Eifer, Fleiß und Bescheidenheit.
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Eng verbunden damit ist das allgemeine Prinzip der Gleichheit (musa-
wat / barabarwalay). Trotz unverkennbarer, mehr oder minder starker
sozialer Differenzierung bis zur Gegenwart ist der Glaube an Brüder-
lichkeit und Gleichheit aller Paschtunen in diesen tief verwurzelt. Er
gründet sich vor allem auf oben kurz erwähnte Genealogien, an deren
Anfangspunkt (trotz folgender verschiedentlicher Unterschiede) der
Überlieferung zufolge der sagenhafte Stammvater aller Paschtunen -
Qais - steht. Das Prinzip der Gleichheit findet seine tagtägliche Anwe n-
dung u. a. in den Umgangsformen der Paschtunen miteinander, in de-
ren Bezeugung der gegenseitigen Hochachtung, so z. B. in einem um-
fangreichen Katalog von Begrüßungsformeln und Höflichkeitsfloskeln,
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die jeweils sehr ernst und stets zu beachten sind. Gleichfalls Ausdruck
des Gleichheitsprinzips ist z. B. die Wertschätzung von Bescheidenheit.
Es ziemt sich nicht, in der Öffentlichkeit durch Andeutungen oder offe-
nes Wort seine eigene Person in den Vordergrund zu drängen oder die
eigene Würde über die [8]der anderen zu stellen.
nen Würde und Ehre, die man seinem Gast erweist, wenn man ihm
gern und ehrlich dient und beschützt vor [9]jedwedem Unbill.
Eine besondere Rolle für das Individuum haben als Kern des sozialen
Gefüges innerhalb der paschtunischen Stammesgesellschaft die Familie
bzw. Großfamilie inne. Die Familie ist Hauptkriterium für den sozialen
Rang der einzelnen Person und stellt eine Form der Schutzmöglichkeit
vor der Umwelt dar. Wichtigstes Symbol für die Ehre der Familie und
des (Ehe-)[12]Mannes ist die Frau. Es ist daher die höchste Pflicht eines
Mannes, die Ehre seiner Familie zu bewahren, indem er die Würde und
Unantastbarkeit seiner Frau schützt und verteidigt. Die Position der
Frau in der paschtunischen Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen
Frau und Mann im familiären Umgang miteinander bestimmt das Prin-
zip namus (wörtlich: Reputation, teurer Name, Ehre sowie weibl iche
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Ebenfalls nicht unerheblich für das tägliche Leben der Paschtunen ist
das Prinzip merane (merana), wörtlich: Kühnheit, Mut, Tapferkeit, wel-
ches Willenskraft und Standhaftigkeit als wichtige Eigenschaften einer
Persönlichkeit hervorhebt. Diese Anforderung an den Charakter betrifft
nicht nur den Mann als Oberhaupt und Beschützer der Familie sondern
auch die Frauen und Kinder. Merane verlangt von jedem Paschtunen,
beliebige Schwierigkeiten unter Aufbietung aller verfügbaren physi-
schen und sonstigen Fähigkeiten und Mittel zu überwinden. Der Ur-
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sprung dieses Prinzips ist sicher im Leben unter den zum Teil extrem
schwierigen geografisch-klimatischen Bedingungen der Hindukusch-
Region zu suchen, wo ohne Geschicklichkeit, Klugheit, Kraft und
Einsatzwillen ein Überleben kaum denkbar erscheint.
Wie vielen anderen Ethnien ist auch den Paschtunen das Prinzip der
Achtung des Älteren wichtig und teuer. Es schreibt ein ehrenvolles
Verhalten letzteren gegenüber vor und erstreckt sich zum einen auf die
Ältesten und Weisen, zum anderen beeinflusst es die Beziehungen zwi-
schen und Söhnen, zwischen Brüdern etc. Beispielhaft ist das beson-
ders ehrerbietige Verhalten gegenüber den khan und malik als traditi-
onellen Führern. Die Ehrwürdigkeit der Alten und Weisen beruht im
wesentlichen auf ihrem umfangreichen Erfahrungsschatz, welchen sie
den Jüngeren vermitteln und nicht zuletzt auf ihrer Position als Ober-
haupt der Familie, des Kerns des Sozialgefüges der Stammesgemein-
schaft. Hierarchische Strukturen werden auch hier sichtbar.
Zu den Angaben über die Bevölkerung Afghanistans und die einzelnen ethni-
schen Gruppen:
1
Orywal, Erwin (Hrsg.): Die ethnischen Gruppen Afghanistans. Fallstudien zu Grup-
penidentität und Intergruppenbeziehungen. (Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorde-
ren Orients, Reihe B, Nr. 70) Wiesbaden 1986; S. 19 ff.
2
Klimburg, Max: Afghanistan. Das Land im historischen Spannungsfeld Mittelasiens.
Wien 1966; S. 105.
Klimburg verweist auch darauf, dass sich mit der Bezeichnung „Afghane“ u. U. ein
höheres Sozialprestige verbindet, so z. B. im Raum Peschawar sowie bei den stolzen
Yusufzai (a. a. O.; S. 114)
3
Klimburg, Max: a. a. O.; S. 110.
4
Nyrop, Richard F.; Seekins, Donald M.: Afghanistan - a country study. Washington
1986; S. 108.
5
Ebenda.
6
Klimburg, Max: a. a. O.; S. 120.
7
Snoy, Peter: Die ethnischen Gruppen. - IN: Bucherer- Dietschi, Paul; Jentsch, Chris-
toph (Hrsg.): Afghanistan. Ländermonographie. (Schriftenreihe der Bibliotheka Af-
ghanica No. 4) Liestal 1986; S. 143.
8
Ebenda.
9
Snoy, Peter: a. a. O.; S. 125.
10
Nyrop, Richard F.; Seekins, Donald M.: a. a. O.; S. 108.
11
Katkov, I. J.: Social’niye aspekty plemennoj struktury puštunov. - IN: Afganistan:
istorija, ekonomika, kul’tura. Sbornik statej. Moskva 1989; S. 39.
12
Grjunberg, A. L.; Rachimov, R. R.: Etiket u narodov Afganistana. - [16]IN: Etiket u
narodov perednej Azii. Sbornik statej. Moskva 1988; S. 190.
13
Die Angaben zu den Prinzipien von Paschtunwali sind zusammengefasst nach:
Grjunberg, A. L.; Rachimov, R. R.: a. a. O.; S. 189 ff.
Katkov, I. J.: a. a. O.; S. 39-57.
Klimburg, Max: a. a. O.; S. 105-123.
Rzehak, Lutz: Kodeks cesti u puštunov. - IN: Afganistan: istorija, ekonomika,
kul’tura. Sbornik statej. Moskva 1989; S. 58-72.
Snesarev, A. J.: Avganistan. Moskva 1921; S. 98- 112.
Snoy, Peter: a. a. O.; S. 140 ff.
14
Snoy, Peter: a. a. O.; S. 158.
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15
Klimburg, Max: a. a. O.; S. 115.
16
Rzehak, Lutz: a. a. O.; S. 71.
17
Snoy, Peter: a. a. O.; S. 143
18
Klimburg, Max: a. a. O.; S. 121.