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Die vier Tage des ersten Kapitels in Verbindung mit dem dritten Tag der Hochzeit ergeben sieben
oder sechs Tage. Die Kommentare sind in dieser Frage uneins. Auf jeden Fall scheint mir hier ein
Anklang an den Schöpfungsbericht Genesis 1 (sechs Tage) bzw. Genesis 1 und 2 (sieben Tage) vor-
zuliegen, zumal schon der Prolog Joh 1,1-18 deutlich an Genesis 1 anknüpft. Demnach würde das Jo-
hEv Jesus und seine Wirksamkeit als neue Schöpfung verstehen. Dies wäre ferner ein Hinweis dar-
auf, dass auch die Apokalypse, die ja ebenfalls auf eine neue Schöpfung zuläuft, von demselben Ver-
fasser wie auch das Evangelium stammt.
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Es erschien 1985 unter dem englischen Originaltitel "The Priority of John". Erst 1999 kam die deut-
sche Übersetzung interessanterweise auf Betreiben eines Professors für Ostkirchenkunde auf den
Markt. Die griechischsprachige Kirche nennt Johannes seit dem 4. Jahrhundert "den Theologen"
schlechthin.
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deutsam erinnert zu werden."3 Der tagebuchartige Stil zu Beginn des JohEv könnte also
ein Indiz dafür sein, dass sich hier ein Augenzeuge (siehe Joh 21,24) daran erinnert, wie
alles begann. Auch das Weinwunder in Kana gehört noch in diese früheste Zeit; es ist
der "Anfang der Zeichen" (Joh 2,11).
Das Weinwunder geschah wie die Auferstehung am dritten Tag. Das zeigt: Das erste
Zeichen blickt bereits auf das letzte voraus. Die Auferstehung geschah am dritten Tag
nach der Versuchung am Kreuz. Ähnlich die Hochzeit. Auch sie geschah nach einer
Versuchung, denn der dritte Tag bezieht sich hier auf die Rückkehr Jesu aus der Wüste
bei Bethanien (siehe Joh 1,23.28). Diesen Wüstenaufenthalt füllen die Synoptiker mit
den bekannten vierzigtägigen Versuchungen Jesu. In beiden Fällen, am Anfang und am
Ende der Wirksamkeit Jesu, handelt es sich also um eine große Freude nach schwerer
Bedrängnis.
Es gibt weitere Hinweise darauf, dass das Weinwunder die Auferstehung anzeigen soll-
te. So sagt Jesus: "Meine Stunde ist noch nicht da." (Joh 2,4). Historisch ist damit ge-
meint, dass sich Jesus als Gast auf dieser Hochzeit um den Wein zumindest vorerst
nicht kümmern musste. Doch darüber hinaus bezeichnet die Stunde im JohEv die Ver-
herrlichung durch die Erhöhung am Kreuz (Joh 12,27; 17,1). Daher ist Jesu Wort, dass
seine Stunde noch nicht da sei, typisch johanneisch vieldeutig. Wer nur den Wortsinn
hört, verfehlt den Geistsinn. Ferner ist darauf zu achten, dass Jesus durch die Wandlung
des Wassers in Wein seine Herrlichkeit offenbarte (Joh 2,11); auch hier ist an die letzte
große Wandlung im Leben Jesu zu denken; an seine Verherrlichung, sprich Vergöttli-
chung. So ist das erste Zeichen Alpha und Omega in einem. Noch war Jesu Mission den
Juden, die immerhin die Ankunft eines Messias erwarteten, mehr oder weniger verbor-
gen. Der Täufer hatte Verheißungsvolles von diesem in der Gegend bekannten Jesus aus
Nazareth gesagt (siehe Joh 1). Man lud ihn zu einer Hochzeit ein, - und dort enthüllte er,
was die Anwesenden freilich nicht verstanden, sein künftiges, welterlösendes Schicksal.
Er offenbarte in diesem Zeichen seine Herrlichkeit.
Der Evangelist nennt es den "Anfang der Zeichen" (Joh 2,11); dabei verwendet er das-
selbe Wort, mit dem er auch seine Frohbotschaft als Ganze beginnen läßt: "Im Anfang
war das Wort usw." Gemeint ist jeweils nicht bloß der zeitliche Anfang, sondern das
Prinzip, die Grundlage, die Ursache. Das Weinwunder ist daher nicht nur, wie meist
übersetzt wird, "das erste Zeichen". Es ist der Inbegriff des gesamten Wirkens und aller
Zeichen Jesu. Es zeigt die große Vergeistigungswirksamkeit Jesu an.
Dass die Wandlung von Wasser in Wein etwas Prinzipielles des Wirkens Jesu anzeigt,
mag auch daraus ersehen werden, dass das Wasser im JohEv häufig eine Rolle spielt. Er-
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John A. T. Robinson, Johannes - Das Evangelium der Ursprünge, Wuppertal 1999, 174.
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innert sei an die folgenden Sachverhalte der Kapitel 1 bis 7: Der Täufer und Fischer als
Jünger (Joh 1), das Weinwunder in Kana (Joh 2), die Wiedergeburt aus Wasser und Geist
(Joh 3), das Gespräch am Jakobsbrunnen mit dem Motiv des lebendigen Wassers (Joh 4),
die Heilung am Teich Bethesda (Joh 5), Jesu Gang auf dem Wasser (Joh 6) und das Was-
serwort anläßlich des Laubhüttenfestes (Joh 7). Und in den Abschiedsreden nennt sich
Jesus den wahren Weinstock. Damit schließt das Evangelium gewissermaßen so wie es
beginnt: mit der Wandlung von Wasser in Wein. Denn die Aufgabe des Weinstocks ist
die Veredelung des Wassers.
Wein ist im inneren Sinn der Einfluß des Geistigen. Für diese Deutung gibt es einige
Anhaltspunkte im Text des JohEv: Die Stunde (Joh 2,4) ist die, in der Jesus zum Vater
geht, von wo er den Geist der Wahrheit (Joh 15,26) sendet. Nach Joh 2,9 weiß der Spei-
semeister nicht, woher der Wein ist. Gleiches gilt nach Joh 3,8 für den Geist: "Der
Geist/Wind bläst, wo er will; du hörst seine Stimme/sein Sausen, aber du weißt nicht,
woher er kommt und wohin er geht." Echte Spiritualität ist unergründlich; ihr göttliches
Woher bleibt unerkannt. Wer im Wein die Gabe des Geistes erkennen kann, dem zeigt
sich ein Zusammenhang der Kapitel 1 bis 3: Zuerst weist der Wassertäufer auf den
Geistträger (Joh 1,29-34), dann offenbart dieser seine Herrlichkeit als Geistspender, in-
dem er das Wasser der Taufe in den Wein des Abend- oder Hochzeitsmahls wandelt (Joh
2,1-11) und schließlich spricht er von der Wirkung des Geistes, das heißt von der Wie-
dergeburt aus Wasser und Geist (Joh 3). Das Weinwunder besagt: Aus Wissen soll
Weisheit werden; aus Glaubenswissen Lebensweisheit, echte Spiritualität. Oder mit
Swedenborgs Worten gesagt: "Der Herr machte Wasser zu Wein. Das bedeutet, er mach-
te das Wahre der äußeren Kirche zum Wahren der inneren Kirche, indem er das Innere,
das im Äußeren verborgen war, aufschloss." (AE 376).
Das Geistwirken Jesu zielt auf das innere Verstehen der äußeren Begriffe und Rituale.
Diese Vorformen oder Gefäße des Geistigen wurden durch die "sechs steinernen Was-
serkrüge für die Reinigung der Juden" (Joh 2,6) angedeutet. Sie stehen zunächst für die
äußeren Reinigungspraktiken zur Zeit Jesu; dann aber auch für unsere Begriffsbildun-
gen, mit denen wir glauben, den inneren Läuterungsprozeß zu erfassen. Jesu Wandlung
des Wassers in Wein knüpft an die vorhandenen Krüge an. Sie sind also nicht nutzlos;
so sind auch unsere Vorstellungen, die wir uns vom Wiedergeburtsgeschehen bilden
nicht nutzlos, obgleich sie das Geheimnis nur sehr vorläufig darstellen können. Jesus
knüpft an diese Krüge und dieses Wasser der Reinigung an. Indem er aus genau diesem
Wasser Wein macht, sagt er: Dieser Wein ist eure Reinigung. Denn in der Tat: Die Ver-
geistigung der Begriffsbilder ist nicht nur ein Erkenntnisgewinn. Wo das mehr oder we-
niger kühle Glaubenswasser zu Wein wird, da hüpft das Herz, da jubelt die Seele, da
kehrt Freude in das Haus ein. Da geschieht das wahre Abendmahl, denn die reinigende
Kraft des Weines bewirkt die Vergebung der Sünden (Mt 26,28).
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Die Mutter Jesu ist die Kirche. Swedenborg hat sehr schön beobachtet, dass Jesus Maria
nie seine Mutter nannte (LH 35). Gleichwohl nennt sie der Evangelist so (Joh 2,1). Die
Kirche kann den göttlichen Geist nicht gebären. Vielmehr gilt: Aus der Wirksamkeit des
göttlichen Geistes ersteht die Kirche in uns. Dennoch hat es den Anschein als sei die
Kirche die Mutter Jesu. Sie hat eine hinweisende Funktion, indem sie sagt: "Was immer
er euch sagt, das tut." (Joh 2,5). Schenken wir diesem Ruf der Kirche Gehör; dann wird
aus Seelenwasser Geistwein.
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Divinum Naturale … quoad verum.
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Zahlen ohne Buchstabenkürzel beziehen sich auf die "Himmlischen Geheimnisse".
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einer kirchlich gebundenen Sprache bewegen werde. Man soll aber wissen, daß das
göttliche Wort, die Heilige Schrift oder Bibel, im innersten Grunde nichts anderes ist als
der göttliche Logos (Johannesprolog), der im Anfang aller Dinge schon gesprochen (Ge-
nesis 1) und in der großen Zeit der Zeiten als das fleischgewordene Wort das Urwesen
Gottes ausgelegt hat (Joh 1,18). Daher zielt die höchste Interpretationsstufe der Heiligen
Schrift auf die Verherrlichung des Herrn (glorificatio Domini); diese Sinnebene berühre
ich im folgenden jedoch nicht.
Deswegen wird das Göttlich Natürliche nicht als die eigentliche Gottnatur vorgestellt,
sondern auf die Erfahrbarkeit des göttlichen Einflusses in der menschlichen Natur re-
duziert. Die drei Erzväter, also Abraham, Isaak und Jakob, bezeichnen dann die stufen-
weise Bewußtwerdung der Gotteskraft (Abraham) vermittelt durch die Ratio (Isaak) in
der menschlichen Erfahrungswelt (Jakob und Esau). Dort ist erkennbar, sofern man sich
von der Vernunft6 leiten lassen will, daß das Gute und Wahre die natürlichen Ausläufer
einer transzendenten Wirklichkeit sind; andernfalls wären sie der Willkür, Beliebigkeit
und Definitionsmacht der Menschenwelt unterstellt und ausgeliefert. Man kann ahnen,
daß das Gute und Wahre ewige Werte sind, wenngleich ihr konkreter Inhalt immer wie-
der neu bestimmt werden muß; als ewige Forderung an uns Menschen können sie ihren
Ursprung nicht in der Zeitlichkeit haben. Das Göttlich Natürliche ist also in der alle
Menschheitsepochen durchziehenden Frage und Suche nach dem Guten und Wahren
greifbar.
Wieso bezeichnet ausgerechnet Jakob, der Betrüger, das Wahre? Wäre es nicht ange-
messener, wenn er für das Falsche stünde? Diese Alternative ist keine wirkliche, denn
jeder Mensch hält sein Falsches für wahr. Vor Gott sind Wahrheit und Falschheit ewig
unvereinbar; in der Menschenwelt aber wird diese Wahlmöglichkeit oft nur unzurei-
chend und verschwommen wahrgenommen. Man nimmt es mit der Wahrheit nicht so
genau, so daß die größten Irrtümer zur allgemein anerkannten Überzeugung einer Zeit
gehören können; auch im individuellen Leben können Selbstbetrug und Phantasiewel-
ten einen ganzen Lebenslauf beherrschen, ohne daß die betreffende Person es merkt.
Zudem zeigt ein Blick in die Jakobserzählungen, daß er keineswegs nur als Betrüger
dargestellt wird. Gewiß, Esaus Entsetzen nach dem Segensbetrug hat Jakobs Namen für
alle Zeiten mit der Anfrage verbunden: "Heißt er etwa deswegen Jakob, weil er mich
nun schon zweimal hintergangen hat?" (Gen 27,36). Nomen est omen! Jakob und das
hebr. Verb für hintergehen, betrügen usw.7 lauten gleich. Aber Jakob ist nicht nur der
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Vernunft kommt von vernehmen. Sie ist die Fähigkeit das Wahre höherer Welten wie von ferne zu
vernehmen.
7
Der Name Jakob wird in Genesis 25,26 von "Ferse" und in Genesis 27,36 von "hintergehen / jmd.
ein Bein stellen" (Swe.: supplantare von planta = Fußsohle) abgeleitet. In beiden Fällen spielt der
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Betrüger; es heißt auch: "Jakob war ein sittenreiner Mann (Swe.: vir integer), der in Zel-
ten wohnte" (Gen 25,27). Das hier mit "sittenrein" übersetzte hebr. Wort dient auch zur
Charakterisierung des frommen Hiob (Hiob 1,1.8; 2,3) und in leicht veränderter Form8
zur Charakterisierung des untadeligen Noah (Gen 6,9) und des rechtschaffenen Abram
(Gen 17,1). Den interessierten Leser verweise ich auf Swedenborgs Ausführungen über
dieses Wort in 612, 1994 und 3311. Aufhorchen läßt auch, daß Jakob in Zelten wohnte;
Zelte bezeichnen das Heilige der Liebe und des Gottesdienstes (3312). Jakob versinn-
bildlicht also den in der ethischen Wahrheit wohnenden und lebenden Menschen.
Diese makellose Persönlichkeit hat jedoch ihre Schattenseiten. Aufschlußreich ist Ja-
kobs Selbstcharakterisierung: "Ich bin ein glatter Mann (Swe.: vir levis)" (Gen 27,11).
Ein Mann ohne Ecken und Kanten. Vor solchen anständigen Leuten sollte man sich in
Acht nehmen! Ganz ähnlich wie im Deutschen hat nämlich auch im Hebräischen das
Wort glatt die Nebenbedeutung "einschmeichelnd", beispielsweise im Psalter: "Ihre
Kehle ist ein offenes Grab, (aal)glatt ist ihre Zunge." (Ps 5,10). Jakob ist also eine ambi-
valente Gestalt; doch gerade in dieser Doppelwertigkeit ein guter Spiegel, um sich der
Brüche, die durch die eigene Existenz gehen und gerade auch bei religiösen Menschen
zu finden sind, bewußt zu werden.
Fußbereich eine Rolle, der auch sonst in den Jakobserzählungen immer wieder in den Blick genom-
men wird; diese schon im Namen angelegte Beziehung zum Fußbereich macht Jakob zum Sinnbild
des Natürlichen (so Swedenborgs Terminologie) bzw. des Fortschrittes in Auseinandersetzung mit
dem Irdischen (Erdverhaftung des Fußbereiches). Dabei ist der (unbewußte) Irrtum und der (bewuß-
te) Betrug allgegenwärtig, denn die Außen- oder Sinnenwelt ist der Ursprung aller Falschheiten;
hierzu ist vor allem Swedenborgs Interpretation der Schlange von Genesis 3 heranzuziehen. Auch
die Schlange ist hautnah mit dem Erdbereich verbunden.
8
Jakob und Hiob werden als hebr. "tam", Noah und Abram als hebr. "tamim" (nicht Plural von "tam"!)
bezeichnet. Mit M.Kahir, Das verlorene Wort, 1960, könnte man die Konsonantenverbindung TM als
"Vollendung der Form" (formale Vollendung) deuten.
9
Das Motiv der untergeschobenen Braut ist in den Märchen weit verbreitet; siehe: W.Golther, Die un-
tergeschobene Braut, in: Handwörterbuch des deutschen Märchens I (1930/33) 307 - 311.
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Welt, mit der wir nolens volens viele Kinder zeugen, obwohl doch unsere ganze Liebe
der himmlisch schönen Rachel gilt.10
Den inneren Sinn von Rachel und Lea können wir aus Genesis 29,16f ersehen, denn
dort werden die ungleichen Töchter Labans charakterisiert: "Laban hatte zwei Töchter:
der Name der älteren war Lea; der Name der jüngeren war Rachel. Die Augen Leas wa-
ren schwach; während Rachel von schöner Gestalt und schönem Aussehen war." Es ist
leicht einzusehen, daß die Augen des Körpers auf der seelisch-geistigen Ebene dem
Verstand entsprechen. Leas Vermögen zu verstehen war schwach ausgebildet. Sweden-
borg übersetzt das hebr. Wort mit debilis = geschwächt, entkräftet, gebrechlich, ge-
lähmt, verkrüppelt usw. Die Grundbedeutung scheint schwach oder kraftlos zu sein. Die
Kraft und Stärke des Verstandes sollte die Fähigkeit sein, Wahrheiten klar und deutlich
zu erfassen. Diese Fähigkeit ist bei Lea nur schwach entwickelt. Leas Augen bezeichnen
daher das vom Weltlicht getrübte und somit geschwächte und beschränkte Verständnis
des Wahren. Swedenborg sieht in Lea ein Sinnbild der "äußeren Kirche" (409) bzw. der
"Neigung (affectio) zum äußeren Wahren" (3782). Die äußere Kirche schöpft ihr ganzes
Wissen aus Überlieferungen, konkret aus Texten, besonders aus den kanonischen Tex-
ten der Bibel. Die schwachen, matten und erloschenen Augen Leas deuten auf die bei
vielen Exegeten kaum noch vorhandene Fähigkeit hin, den Lebenssinn der heiligen
Überlieferungen wahrzunehmen und auszulegen. Das hebr. Wort für Auge bedeutet üb-
rigens auch Quelle. Leas Quelle ist die Heilige Schrift; schwach ist sie, solange man nur
ihren historischen Sinngehalt ausschöpfen, ihren Geistsinn aber nicht sehen will. In der
äußeren Kirche herrscht das Interesse an der äußeren Wahrheit (affectio veri exterioris,
3782), sei es in der historischen Forschung11, sei es bei den Fundamentalisten; dieses
Interesse bezeichnet Lea.
Rachel ist von schöner Gestalt und schönem Aussehen. Die hebr. Worte für Gestalt und
Aussehen sind vom Verb sehen abgeleitet. Wiederum wird unsere Aufmerksamkeit auf
die Wahrheitserfassung gerichtet; diesmal jedoch nicht auf die Augen als das Organ des
Sehens, sondern auf die Wahrnehmungen als solche. Rachels Wesen pflanzt sich näm-
lich in Josef, der intuitiven Wahrheitserfassung, fort; er wird mit genau denselben Wor-
ten wie seine Mutter beschrieben: "Josef war von schöner Gestalt und schönem Ausse-
hen." (Gen 39,6). Die schöne Gestalt und das schöne Aussehen beschreiben die aus dem
10
In einem Jenseitswerk Jakob Lorbers sagt Jakob: "Vierzehn Jahre diente ich um die himmlische Ra-
chel, und siehe, Du [Herr] gabst mir die welthäßliche Lea." (RB I,79,21). Rachel bezeichnet hier also
den Himmel und Lea die Welt.
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Ich bin freilich nicht der Meinung, daß die historische Forschung wertlos ist. Sie ist Grundlagenfor-
schung, auf die die geistige Exegese aufbauen kann. Man sollte also nicht eine Einseitigkeit (die Fi-
xierung auf den historischen Sinn) durch eine andere (die Fixierung auf den geistigen Sinn) erset-
zen; das Ergebnis könnte wilde Allegorese sein. Die Berechtigung der historischen Forschung be-
steht darin, daß der wehrlose Text gegenüber seinem Ausleger stark gemacht wird.
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Nach 4985 bezieht sich die Gestalt auf das Wesen (essentia), also die innere Form, während sich das
Aussehen auf das Dasein (existentia), also die Erscheinungsform, bezieht.
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Affectio ist aus ad und facere zusammengesetzt; es meint daher für mein Empfinden das Angetan-
oder Angeregtsein des Geistes aus der Lebensliebe. Die folgende Deutung geht in diese Richtung.
14
Siehe GLW 1: "Die Liebe ist das Leben des Menschen."
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In den meisten Übersetzungen wird das hebr. Wort hier leider nicht mit Geburt übersetzt. Meist fin-
det der Leser "Entstehungsgeschichte" oder ähnliche Ausdrücke. Das Studium der altorientalischen
Bildsymbolik zeigt jedoch, daß man sich das Verhältnis von Himmel und Erde als ein geschlechtli-
ches vorstellte. Siehe Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testa-
ment, 1996, 25. Auch in den folgenden Stellen kann der Bibelleser sehr verschiedene Ausdrücke
vorfinden. In der Übersetzung von Hermann Menge beispielsweise findet man: Entstehungsge-
schichte, Geschlechtstafel, Geschichte, Stammbaum, Abstammung und Nachkommen. Man sei sich
also der Tücke von Übersetzungen bewußt! Eine gewisse Abhilfe bietet die gleichzeitige Lektüre
mehrerer Übersetzungen.
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Swedenborg versteht diese erste Toledotformel als Überschrift (siehe 89). In den meisten Kommen-
taren wird sie jedoch als Unterschrift des sog. ersten Schöpfungsberichtes Genesis 1,1-2,4a verstan-
den. Problematisch ist diese Sicht jedoch allein schon deswegen, weil die Toledotformel sonst immer
Überschrift ist. Da jedoch das göttlische Schaffen von Genesis 1,1 in diese ersten Toledotformel auf-
genommen ist, scheint mir die Schöpfung des geistigen Menschen die Grundlage der Geburten des
himmlischen Menschen zu sein.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 10
Diese Übersicht zeigt, daß es berechtigt ist, die Genesis als das Buch der Geburten zu
bezeichnen; von daher bekommen nun die Geburten der Mütter Israels in Genesis 29,31
bis 30,24 ein besonderes Gewicht. Daher einige Bemerkungen zum spirituellen Sinn
von "geboren werden". Aus der Traumforschung ist bekannt, daß ein neuer Lebensab-
schnitt durch einen Geburtstraum angekündigt werden kann. Durch die Geburt wird ein
neues Leben ins Dasein entlassen. Die Heilige Schrift handelt vom Leben und der Ein-
hauchung des Lebens in die noch toten Formen: "Jehovah Gott formte (töpferte) den
Menschen aus Lehm vom Boden und blies seiner Nase den Lebensodem ein; so wurde
der Mensch zur lebendigen Seele." (Gen 2,7). Mit diesen Worten beginnt die Geschichte
des Adam; doch auch seine Tragik: die Todverfallenheit. Deswegen mußte Jesus in die
tote Welt kommen, um ihr das neue Leben einzuhauchen: "Nachdem er (Jesus) das ge-
sagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist!" (Joh
20,22; vgl. ergänzend Joh 6,63). Das Leben ist das große Thema der Heiligen Schrift;
daher ist es angemessen unter der biologischen Geburt die geistige zu verstehen, die
Neugeburt (von neuem geboren werden: Joh 3,3). Die Neuoffenbarung bevorzugt diesen
Ausdruck; während der sonst übliche juristische, nämlich die Rechtfertigung (iustifica-
tio), praktisch bedeutungslos ist. Swedenborg kann sogar schreiben: "Die Kirchenchri-
sten wissen heutzutage so wenig über die Wiedergeburt, weil so viel von die Sünden-
vergebung und Rechtfertigung gesprochen wird." (5398). Lassen wir uns also vom Buch
der Geburten leiten; lassen wir uns die Augen dafür öffnen, daß es um die Gestaltwer-
dung des neuen Lebens aus Gott geht. Diese Gestaltwerdung ist das Thema des nun zu
behandelnden Textabschnittes Genesis 29,31 bis 30,24.
Aus der Strukturanalyse (siehe Abbildung) ist ersichtlich, daß die Geburten einem rela-
tiv festen Schema folgen: 1.) die formelhafte Erwähnung der Empfängnis und Geburt, 2.)
der Namenssatz und 3.) die Namensgebung (übrigens immer durch die Mutter)17. Wenn
man dies als das Normalschema ansieht, dann fallen Unregelmäßigkeiten bei Ruben
(erst Namensgebung, dann Namenssatz), bei Gad und Ascher (die Empfängnisformel
fehlt), bei Dina (der Namenssatz fehlt) und bei Josef (zwei Namenssätze) auf. In der
Strukturübersicht sind auch die Zwischenteile (rechte Spalte) zu sehen. In der folgen-
den Auslegung werden ich mich auf die Namenssätze konzentrieren; dennoch sollen
auch einige der Unregelmäßigkeiten und Zwischenteile in den Blick genommen werden.
Ausführlichkeit ist jedoch schon aus Platzgründen nicht möglich.
17
Die Namensgebung durch die Mutter erfolgt im AT 26 mal. Außer im vorliegenden Textabschnitt
noch in Gen 4,25 durch Eva, in Gen 16,11 durch Hagar, in Gen 19,37f durch die beiden Töchter No-
ahs, in Gen 35,18 durch Rachel, in Gen 38,3.4.5 durch Schua, in Ex 2,10 durch die Tochter des Pha-
raos, in Ri 13,24 durch die Frau Manoachs, in 1.Sam 4,21 durch die Frau Pinchas, in Jes 7,14 durch
die Jungfrau oder junge Frau, in 1.Chr 4,9 durch eine unbekannte Mutter und in 1.Chr 7,16 durch
Maacha.
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Es wäre interessant, die zwölf Jakobssöhne mit den zwölf Jüngern zu vergleichen. Dazu existiert eine
Arbeit von J. E. Elliott, die in den Neukirchenblättern von 1965 bis 1967 veröffentlicht worden ist.
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In Ruben ist auch das hebr. Wort für Sohn enthalten. Daher vermutet Claus Westermann, die ur-
sprüngliche Bedeutung sei "sehet, ein Sohn!" (BK I/2 577). Swedenborg schreibt in Adversaria 691:
"Ruben est filius visionis (Sohn des Sehens)".
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Der Glaube, der geglaubt wird.
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Der Glaube, durch den geglaubt wird.
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hier mit afflictio (Anfechtung) übersetzt. Auf der Buchstabenebene bezieht sich das
Elend oder die Trübsal Leas darauf, daß sie von ihrem Mann nicht geliebt wird. Dem
entspricht auf der geistigen Ebene die relative Wertlosigkeit oder Minderwertigkeit des
nur Äußerlichen. Durch ihre Geburten will Lea diesen Mangel ausgleichen; die sehn-
lichst herbeigewünschte Überwindung des Verhaßtseins (Gen 29,31) durchzieht ihre
Geburten: "Nun wird mein Mann mich lieben" (Gen 29,32 nach der Geburt Rubens);
"Jehovah hat gehört, daß ich verhaßt bin" (Gen 29,33 nach der Geburt Simeons); "Nun
endlich wird mein Mann mir anhänglich sein" (Gen 29,34 nach der Geburt Levis). In der
Liebesäpfelepisode schreit Lea ihr ganzes Leid hinaus: "Ist es nicht genug, daß du (Ra-
chel) mir meinen Mann genommen hast?" (Gen 30,15). Und dann die letzte Geburt Leas.
Bringt sie endlich die Erfüllung ihrer unerfüllten Liebe? Lea hofft: "Diesmal wird mein
Mann mir beiwohnen" (Gen 30,20 nach der Geburt Sebulons).
Leas Leid wird mit Jehovahs Erbarmen beantwortet. Es fällt nämlich auf, daß die Leage-
burten Ruben, Simeon und Juda mit Jehovah verbunden sind, von dem dann erst wieder
im zweiten Namenssatz für Josef die Rede sein wird. Dazu muß man wissen, daß der
hebr. Gottesname Jehovah, vom Verb sein abgeleitet, das Sein (Esse) und die Seinsquali-
tät oder das Wesen (Essentia) Gottes (3910) bezeichnet; das Sein Gottes aber ist das Le-
ben (840) und dessen Pulsschlag in Ewigkeit ist die sich erbarmende Liebe (2253), die
sich gerade der Verachteten annimmt. Es war der Leastamm Juda, der nach dem baby-
lonischen Exil die Geschichte des Gottesvolkes weiterführen (daher spricht man von
"Juden") und den Erlöser aller Menschen hervorbringen sollte.
Simeon Namenssatz: "Denn Jehovah hat gehört, daß ich verhaßt bin, und gab mir auch
diesen" (Gen 29,33), läßt uns den zweiten Sohn Leas als die Gestaltung des Hörens er-
kennen. Schon in der Alltagssprache hat hören die Bedeutung von gehorchen (von: hor-
chen); so in der Wendung: "auf jemanden hören", oder im Sprichwort: "Wer nicht hören
will, muß fühlen"; ebenso in "Gehorsam" und in "gehören" (= dem Willen angehören).
Die Entsprechung liegt daher auf der Hand: Simeon bezeichnet den Glaubensgehorsam
(fides voluntate: 3871), der der Glaubenseinsicht (Ruben) folgt.
Zu beachten ist, wie sehr die ersten beiden Namenssätze aufeinander bezogen sind;
worin sich die Zusammengehörigkeit von Sehen und Hören ausdrückt. Beide beginnen
mit "Denn gesehen/gehört hat Jehovah". Es folgt jeweils ein Hinweis auf Leas erbärmli-
chen Zustand ("mein Elend" / "daß ich verhaßt bin"). Der Schluß des Simeonsatzes
weist durch die Partikel "auch" ("und gab mir auch diesen") auf den Rubensatz zurück.
Der (intellektuelle) Glaube muß Zustimmung im Willen finden; sonst ist er kein Glaube.
Erst dieses Geschwisterpaar macht uns vor Gott zu Priestern; Levi kann geboren wer-
den:
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 14
"Diesmal nun wird mein Mann mir anhangen, denn ich habe ihm drei Söhne geboren."
(Gen 29,34). Anhangen ist ein Ausdruck der Liebe, freilich nicht der kräftigste; daher
bezeichnet Levi nur die Nächstenliebe (charitas). Die Zahl drei deutet dennoch eine ge-
wisse Vollendung an, denn im tätigen Liebesdienst kommt der Mensch der äußeren Kir-
che an sein vorläufiges Ziel und wird fähig, die in seinem Leben wirksam gewordene
Gotteskraft der Liebe zu preisen; das ist Juda: "Diesmal will ich Jehovah preisen / beken-
nen." (Gen 29,35).
Die ersten vier Leageburten stellen eine Steigerung dar: vom "Wissen des Wahren"
(Ruben: 3882) über das "Wollen des Wahren" (Simeon: 3882) zur tätigen Liebe (Levi)
und dem darin empfundenen Gefühl der Liebe zum Herrn (Juda). Dieses Aufsteigen ist
für Jakob eine Erfüllung seines Traumes von der Himmelstreppe, auf der Engel Gottes
auf- und niederstiegen (Gen 28,12). Auf diesen Zusammenhang weist Swedenborg indi-
rekt in 3882 hin.
Man sollte meinen, daß mit Juda (der Liebe zum Herrn) die höchste Vollendung erreicht
ist. Doch bisher sahen wir nur Leas Söhne; noch immer ist Rachel wie tot in uns (Gen
30,1).
ten des natürlichen Menschen nur durch Versuchungen durchsetzen, in denen sie sich
als stark erweisen muß.
Von diesen Geschehnissen profitiert nun auch Lea und kann den Stillstand im Gebären
(vgl. Gen 29,35b mit 30,9) überwinden. Durch Silpa kommt sie zu Gad und Ascher. Der
Namenssatz für Gad lautet: "Es kommt ein Haufe (Venit turma)." (Gen 30,11). Das hier
mit turma (ein Haufen, Schwarm) übersetzte hebr. Wort wird heute mit "Glück" wieder-
gegeben, so daß man üblicherweise "Glück auf!" oder ähnliches lesen kann. Welche
Gründe könnten demgegenüber für Swedenborgs Verständnis sprechen? In Genesis 49
(Jakobs Sprüche über seine Söhne) ist Gad mit hebr. gedud (Heerschar) verbunden (Gen
49,19). Das hebr. Verb g-d-d bedeutet abschneiden und angreifen; von daher eröffnet
sich sowohl ein Zusammenhang zur Heerschar als auch zum Glück als dem Beschiede-
nen (von abschneiden). Möglicherweise sieht Swedenborg auch einen Zusammenhang
zwischen Gad und hebr. gadol (groß). Es könnten also sprachliche Verbindungslinien
zwischen Schar und Glück bestehen. Außerdem scheinen innere Beziehungen zu exi-
stieren. Immerhin interpretiert Swedenborg Gad im höchsten Sinn als die Allmacht der
göttlichen Liebe und die Allwissenheit der göttlichen Weisheit (3934). Liebe und Weis-
heit herrschen aber als Göttliche Vorsehung (GV 1), die wir Menschen als Glück (oder
Unglück) erleben. Nach Swedenborg ist das Glück "die Vorsehung im Äußersten der
Ordnung" (6493). In Jesaja 65,11 bezeichnet Gad offensichtlich die Glücksgottheit.
Wenn Swedenborg in Gad die Werke sieht (3934), dann darf man nicht vergessen, daß
(ebenfalls nach Swedenborg) bis in alle Einzelheiten der Werke hinein die Vorsehung
(Glücksgottheit) wirksam ist (GV 251). Aus dem Gesagten folgt, daß Gad die Werke des
geglückten Tages bezeichnet. Dieses Glück kann sich im Leben einfinden, wenn wir un-
sere Werke nicht mehr in der Selbstbegrenzung verrichten. Daher bezeichnet Gad auch
das sinnvolle Tun (usus), vgl. AR 352; denn in der Öffnung für einen Lebenssinn, den
wir uns nicht selber ausdenken können, öffnen wir uns der Lebensmacht des Guten und
Wahren, so daß sich die Werke des geglückten Tages durch uns verwirklichen können.
Die Folge ist Glückseligkeit, die Geburt Aschers; sein Namenssatz lautet: "In meiner
Glückseligkeit, denn glücklich preisen werden mich die Töchter." (Gen 30,13). Welche
Töchter? Jakobs Frauen haben bisher nur Söhne zur Welt gebracht. Man kann antwor-
ten: Die Töchter des Landes; oder sich auf den inneren Sinn besinnen, wonach die Töch-
ter Emotionen (seelische Bewegungen) darstellen (daher übrigens auch die altorientali-
sche Institution der Klageweiber).
Vielleicht liegt hierin auch der tiefere Grund, warum bei den Geburten von Gad und
Ascher die Empfängnisformel fehlt. Das unverhoffte Glück als Ereignis (Gad) und als
Gefühl (Ascher) kann eben nicht wirklich empfangen und festgehalten werden, sondern
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 16
sich nur durch uns verwirklichen (geboren werden). Das Glück vermittelt dem äußeren
Menschen erstmals das Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht.
Leas Vollendung
Halten wir den bisherigen Stand der Entwicklung fest! Lea empfindet den Lustreiz des
inneren Lebens (Überwindung der Selbstbegrenzung) und Rachel setzt sich in den
Ringkämpfen (Versuchungen) mit ihrer Schwester allmählich durch. In dieser Situation
stößt Ruben (das Glaubensbewußtsein) in den Tagen der Weizenernte (beim Einholen
seiner Gedanken- oder Glaubensaussaat) auf Liebesäpfel (das Mittel zur Förderung der
ehelichen Liebe). Die Verbindung mit Jakob (natürliche Erstreckung des göttlichen Ein-
flusses) soll nun intensiviert werden. Rachel hat an den Liebesäpfeln ebenso großes In-
teresse wie Lea. Es kommt zum Ausgleich: Lea darf bei Jakob liegen; doch Rachel erhält
die Kraft zur unio mystica22. Lea wird vollendet; Rachel aber wird auferstehen.
Nach der Liebesäpfelepisode wird Gott als der Erhörende bezeichnet (Gen 30,17a und
22), denn, wie oben gesagt, hören bezieht sich auf den Willen und dieser auf die Liebe.
Lea empfängt Issaschar und ruft aus: "Gott hat meinen Lohn gegeben, weil ich meinem
Manne meine Magd gegeben habe." (Gen 30,18). Issaschar ist der Lohn. Das Lohn- oder
Verdienstdenken ist der äußeren Kirche offenbar nicht völlig auszutreiben. Man beachte
im Namenssatz das zweimalige Vorkommen von "geben" (Prinzip: do ut des): Gott hat
gegeben, weil (aufgrund der Tatsache, daß) ich gegeben habe. Lea hat ihre Magd gege-
ben und nimmt jetzt ihren Lohn entgegen. Wir sahen, daß die Silpageburten die Werke
des geglückten Tages und das dementsprechende Glücksgefühl darstellen, weswegen
der Lohn hier nicht das selbsterarbeitete Heil sein kann. Vielmehr meint Issaschar die
Einheit von Wollen und Denken, die sich einstellt, wenn wir Gott walten lassen. Das ist
der Lohn des Selbstverzichtes; Leas fünfter Sohn. Die Zahl fünf ist seit jeher eine mysti-
sche Zahl (das Seelenpentagramm); es ist die Seelenvollendung, die Lea erreicht. Das ist
wenig23 im Vergleich zur vollständigen Verwandlung Rachels (ihr Tod bei der Geburt
Benjamins).
Durch die Geburt Sebulons kommt Lea zur Vollendung. Der Namenssatz lautet: "Be-
schenkt hat mich Gott, mich mit gutem Geschenk. Diesmal wird mein Mann mir bei-
wohnen, denn ich habe ihm sechs Söhne geboren." (Gen 30,20). Sebulon bezeichnet die
22
In 3942 bringt Swedenborg die Liebesäpfel mit der ehelichen Liebe in Verbindung. Dieser ungemein
bedeutungsreiche Ausdruck impliziert auch die unio mystica. Swedenborg schreibt: "Die wahre ehe-
liche Liebe ist die Einheit (unio) zweier Gemüter, die eine spirituelle Einheit (unio spiritualis) ist."
(10168). In 1013 schreibt er, daß die unio mystica (dort verwendet er diesen Ausdruck) allein durch
Liebe geschieht. Das Urbild der unio mystica ist die Einheit des Vaters und des Sohnes (unio mystica
in 2004).
23
Nach Swedenborg bezeichnet die Fünf als Hälfte der Vollzahl Zehn "etwas bzw. wenig" (649).
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 17
Beiwohnung des Seelenbräutigams. Beiwohnen ist ein bildlicher Ausdruck für die eheli-
che Verbindung (3960: vgl. auch den deutschen Sprachgebrauch); zugleich ist angedeu-
tet, daß Lea nun zur Wohnung des Herrn geworden ist. Denn das hebr. Wort sebul kann
den Himmel als die Wohnung Gottes (Jes 63,15) und den Tempel (beth sebul: 1 Kön
8,13) bezeichnen. Zu beachten ist auch, daß nicht einfach vom einem Geschenk, son-
dern vom guten Geschenk gesprochen wird; es ist also das Geschenk der Verbindung
mit dem Guten der Liebe. Swedenborg übersetzt das in der gesamten Heiligen Schrift
nur hier vorkommende Wort säbäd (ebenfalls ein Anklang an Sebulon?) mit dos, das
auch Mitgift, Brautschatz usw. bedeutet; also ein weiterer Hinweis auf die Heirat. Die
Zahl Sechs (die Hälfte der Vollzahl Zwölf) bezeichnet die Vollendung der äußeren Kir-
che; also die halbe Vollendung der Gesamtkirche aus Rachel und Lea.
Dina ist die einzige Tocher. Daher bezeichnet sie die Kirche als Zusammenfassung der
bisherigen zehn (Vollzahl) Geburten. Zugleich ist sie die siebente Geburt Leas; auch die-
se Zählung verleiht ihr die Qualität der gottesdienstlichen Heiligung (der siebente Tag
ist der Tag des Herrn). Ihr Name bringt sie, wie schon ihren Bruder Dan, mit der Vor-
stellung von Recht und Gericht in Verbindung. Was hat das mit Kirche zu tun? Sehr
viel, wenn man sich Begriffe wie Thora (das Mosegesetz), Sünde, Rechtfertigung (iustifi-
catio), Jüngstes Gericht, Kirchenrecht usw. in Erinnerung ruft.
Rachels Auferstehung
Nun endlich öffnet Gott Rachels Mutterleib (Gen 30,22). Die Formel "den Mutterleib öff-
nen" steht in der gesamten Heiligen Schrift nur hier bei Rachels Erstgeburt und in Ge-
nesis 29,31 bei Leas Erstgeburt.24 Das hebr. Wort für Mutterleib ist von einem Verb ab-
geleitet, das zärtlich lieben und erbarmen bedeutet. Mutterschoß bedeutet im Hebräi-
schen die Eingeweide als Sitz des zarten Mitgefühls. Daher entspricht er "dem Guten
der himmlischen Liebe" (AE 865). Swedenborg erläutert das mit den Worten: "Daß der
Mutterleib das innerste Gute der Liebe bedeutet, beruht darauf, daß alle Zeugungsorga-
ne sowohl beim männlichen, als auch beim weiblichen Geschlecht, die eheliche Liebe
bedeuten, und der Mutterleib ihr Innerstes, weil hier die Leibesfrucht empfangen wird
und fortwächst, bis sie geboren wird; er ist auch wirklich das Innerste der Zeugungs-
glieder; von daher stammt auch die mütterliche Liebe, die Zärtlichkeit genannt wird."
(AE 710). Der Mutterleib bezeichnet also die Liebe, die uns empfänglich macht (schwan-
ger werden läßt); daher ist er auch ein Bild für die Kirche (4918).
24
Das gilt selbstverständlich nur für den hebräischen Grundtext. Dort findet sich tatsächlich nur hier
rächäm (Mutterleib) mit patach (öffnen) verbunden. Es gibt freilich eine ähnliche Formulierung,
nämlich rächem mit päthär (Durchbruch) = "Durchbruch des Mutterleibes", die Swedenborg in Ex
13,2.15; 34,19 mit "apertura uteri" (Eröffnung des Mutterleibes) übersetzt.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 18
Aus diesem Schoß der sanften Geistesliebe erleuchtet uns Rachels Frucht. "Gott hat
meine Schmach eingesammelt" (Gen 30,23), sagt sie; von der Unfruchtbarkeit des Todes
(siehe Gen 30,1) hat er mich erlöst. "Weil die Mutter (in alten Zeiten) die Kirche be-
zeichnete und die Söhne und Töchter ihr Wahres und Gutes …, deshalb war es Schimpf
und Schmach für die Frauen, unfruchtbar zu sein" (AE 721 mit Belegstellen). Josef be-
zeichnet das ewige Licht des Geistes: "das Göttlich Geistige, das vom Göttlich Menschli-
chen des Herrn ausgeht" (4669); das Göttlich Wahre, das wir in der christlichen Traditi-
on den Heiligen Geist nennen (NJ 306). Dieses Licht des ewigen Morgens ist wahre Spi-
ritualität ("Spirituale in sua essentia non aliud est": 4669), ist das erlösende, freima-
chende (Joh 8,32) Licht der Liebe. Dieser Josef kann nicht ohne Benjamin leuchten.
Deswegen sprach Rachel ein zweites Mal: "Jehovah füge mir noch einen Sohn hinzu!"
(Gen 30,24). Denn in Josef fühlen wir immer auch schon Benjamin; unser höchstes
Glück, das uns den Tod bringen wird. Wir sehen in den beiden Namenssätzen den
Wechsel von Elohim (Gotteslicht) auf Jehovah (Liebes- und Lebenswärme), den Über-
gang in die reine Liebessphäre.
Auf ihrem Weg mit Jakob wird Rachel noch viel erleben. Die Theraphim (Hausgötter) ih-
res Vaters wird sie stehlen und im Kamelsattel verstecken. Auf dem Weg nach Bethle-
hem (Haus des ewigen Lebensbrotes) bei der Geburt Benjamins wird sie alles Irdische
ablegen und in die himmlische Freiheit des Geistes übergehen. Wer ist Benjamin? Im
Sterben nannte sie ihn Benoni (Sohn meines Schmerzes oder meiner Trauer: 4591).
Doch sein Vater nannte ihn Benjamin (Sohn der rechten Seite). In Psalm 110,1 heißt es:
"Spruch des Herrn an meinen Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich hinlege dei-
ne Feinde als Schemel deiner Füsse." Das Neue Testament erkennt in diesem zur Rech-
ten Sitzenden Jesus.
chen übersetzt und blieb bis heute auf dem Büchermarkt. Danach lässt sich der äussere
Lebensweg von Jung-Stilling in vier Abschnitte gliedern.
(1) Jugendzeit im Siegerland. Jung-Stilling wächst in einer Grossfamilie von Handwerkern
und Bauern im Siegerland auf, einer der ältesten Bergbauregionen in Europa. Nach
sorgfältiger Erziehung daheim besucht er die Grundschule und Lateinschule. Von klei-
nauf steht der frühreife Hochbegabte als Handreicher im Köhlerhandwerk dem Grossva-
ters zur Seite, lernt beim Vater die Schneiderei und arbeitet als Schulmeister, Vermes-
sungsgehilfe sowie in der Landwirtschaft in seiner Heimat.
Auf nahezu allen Gebieten bildet sich der wissensdurstige und bis zu seinem Lebensen-
de lerneifrige Jung-Stilling weiter. Der Knabe ist durch die häusliche Erziehung beson-
ders auch mit der christlichen Frohbotschaft wohl vertraut. Er beantwortet die Gnade
der Erlösung mit einem festen, lauteren und treuen Glauben. Die Familie ist reformier-
ter Konfession, und Jung-Stilling blieb zeit seines Lebens in diesem religiösen Umfeld.
Der katholische Glaube blieb im letztlich fremd. Was er vom Luthertum kannte, ist nur
Stückwerk geblieben.
(2) Reifung im Bergischen Land. Das wirtschaftliche Klima im Siegerland ist um 1760
verhältnismässig schlecht. Demgegenüber erfreut sich das benachbarte Bergische Land
einer Phase günstiger industrieller Entfaltung. Getragen wird diese von der eisenverar-
beitenden Industrie sowie von zahlreichen Textilfabriken im Talgebiet der Wupper. Vie-
le Menschen wandern in das Bergische Land ein, darunter so mancher Siegerländer.
Auch Jung-Stilling entschliesst sich in seinem 22. Altersjahr, als Wandergeselle ins
Bergische zu ziehen.
Den Schneidergesellen entdeckt einer der damals bedeutenden Gewerbetreibenden an
der Wupper: der Fabrikant, Gutsbesitzer, Viehzüchter, Grosshändler und Transportun-
ternehmer Peter Johannes Flender (1727–1807). Er macht Jung-Stilling zum Hauslehrer
seiner Kinder und zu seiner rechten Hand im Geschäftlichen. Flender ist wie Jung-
Stilling reformierten Bekenntnisses; er entstammt väterlicherseits dem Siegerland. Got-
tesdienstbesuch und Gebet bei Tisch sind eine Selbstverständlichkeit. Religiöse Fragen
beschäftigen Flender immerzu. Er liest entsprechende Bücher; zweimal in der Woche ist
der Pfarrer am Abend sein Gast. Jung-Stilling bleibt sieben Jahre im Hause Flender. Er
bezeichnet diese Zeit als seine ökonomischen Studienjahre. Jung-Stilling, ländlicher
Herkunft, wächst daneben hier auch in die kultivierte Lebensart des städtischen Bürger-
tums hinein.
Bereits 30 Jahre alt, verlässt Jung-Stilling das Haus Flender, um in Strassburg Medizin
zu studieren. Er hatte sich im Selbststudium bereits die Grundlagen dieser Wissenschaft
angeeignet. Dazu wirkte er in seiner Freizeit als Laienarzt bei Augenkrankheiten; Jung-
Stilling erhielt von einem Bekannten seines Onkels eine Handschrift mit entsprechen-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 20
Heidelberg, im Jahre 1806 dann nach Karlsruhe. Diesmal zieht seine dritte Ehefrau mit
ihm. Jung-Stilling war 1790 in Marburg ein zweites Mal Witwer geworden.
Karlsruhe ist um diese Zeit ein Mittelpunkt wieder aufblühender Kultur im Südwesten
Deutschlands. Das badische Herrscherhaus hatte sich klug an die neue Machtverhält-
nisse angepasst. Karl Friedrich hatte gar seinen Nachfolger einer Adoptivtochter von
Napoleon Bonaparte zum Mann gegeben. Aufgrund dieser Politik wurde er von Frank-
reich mit Gunstbezeugungen überhäuft. Er stieg vom Markgrafen zum Grossherzog auf;
sein Staatsgebiet erweiterte sich beträchtlich durch von Frankreich verfügte Zuweisun-
gen aus anderen deutschen Territorien. Karlsruhe galt als "befreundeter Hof" und war
ob dessen dem unmittelbaren Druck Frankreichs und der rohen Willkür seiner Krieger
entzogen. Jung-Stilling findet damit in Baden die nötige äussere Ruhe zum Arbeiten.
Hier in Karlsruhe stirbt Jung-Stilling im April 1817, zwei Wochen nach dem Hinschied
seiner dritten Ehefrau. In Karlsruhe liegt Jung-Stilling auch begraben; das Grabdenkmal
befindet sich heute auf dem (neuen) Hauptfriedhof. Bei seinem Heimgang waren ihm
bereits sieben Kinder in das Jenseits vorangegangen. Sie alle sah Jung-Stilling samt ih-
ren Müttern gelegentlich einer Verzückung im Himmel, wo sie sich der Seligkeit erfreu-
en.
Schriften) in "sein System" hinein gemischt. Dazu fehlt ein Inhaltsverzeichnis, und die
an den Schluss gestellten "Anmerkungen über vorgehendes philosophisches System"
stehen teilweise in Widerspruch zum Hauptteil. Jung-Stilling räumt freilich selbst ein,
dass "sein System" noch "ausserordentlich viel Unverdautes und Baufälliges" habe. So
ist es nicht verwunderlich, dass dieses Buch selbst von den Widmungsträgern (Dalberg,
Herder, Kant) mit Kopfschütteln aufgenommen wurde.
buch) "die richtige Erkänntniß von Gott, von der Natur, besonders von dem Menschen,
und von dem Verhältniß desselben zu Gott, und den daher entspringenden Pflichten ge-
gen den Vater im Himmel, und gegen den Nächsten. Aus der wahren Aufklärung folgt
also reine und thätige Liebe gegen Gott und seinen Mitmenschen."
Man kann sich leicht vorstellen, dass Jung-Stilling für die tonangebende Schicht der Phi-
losophie und Aufklärungs-Theologie als altmodischer Unbelehrbarer galt. Auf vielfache
Weise wurde er angefeindet. Andererseits aber scharten sich gläubige evangelische
Christen aus vielen Ländern um ihn. Für sie galt er als Bewahrer der unverfälschten
christlichen Botschaft. Jung-Stilling bediente seine Anhänger durch eine Vielzahl from-
mer Schriften, in denen er das Vertrauen auf das Heilswirken Gottes an jedem einzel-
nen Menschen stärkte.
Jenseitsvorstellungen
Die zu Jung-Stillings Zeiten herrschende Aufklärungsphilosophie hatte für ein Leben
nach dem Tod wenig übrig. Andrerseits war – ausgelöst vor allem durch die grosse
wirtschaftliche Not in breiten Volksschichten infolge der Kriege – vielenorts eine End-
zeitstimmung aufgekommen. Im Zuge dessen sprossten in manchen christlichen Krei-
sen krause, wirre Lehren über Tod und Jenseits auf. Auch "Seher" jeder Art meldeten
sich zu Wort, oft genug mit der Behauptung, von Geistern aus dem Jenseits belehrt
worden zu sein. Beides, sowohl die Leugnung der jenseitigen Welt als auch die über-
triebene Geisterseherei, veranlassten Jung-Stilling, sich vor allem in seinem letzten Le-
bensabschnitt mit diesen Dingen näher zu beschäftigen. Hatte er zu seiner Zeit in Mar-
burg bereits die "Szenen aus dem Geisterreich" herausgegeben, so folgte 1808 in Buch-
form die "Theorie der Geister=Kunde": ein Werk, dass auch ins Englische, Niederländi-
sche und Schwedische übersetzt wurde. Darin sowie in entsprechenden Stellen seiner
Volksschriften legte Jung-Stilling seine Schau der Jenseits dar.
(1) Raum und Zeit. Jung-Stilling leugnet weder die Zeitlichkeit noch die Räumlichkeit
des Wirklichen. Die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegenden Dinge füllen tatsäch-
lich einen Raum aus. Der Wahrnehmung von Gestalt, Abstand, Ausdehnung, Lage, Ent-
fernung und Bewegung entspricht etwas Gleichartiges in der Wirklichkeit. Auch er-
scheint uns nichts als "stehendes Jetzt". Vielmehr erfahren wir die Dinge als fliessend,
beginnend, sich ändern. Wo aber Veränderung ist, da muss ein Nacheinander, also Zeit-
lichkeit sein.
In der Schöpfung (in der Natur) gibt es also Raum und Zeit. Es muss daher nach den
Bedingungen von Raum und Zeit sowohl geurteilt als geschlossen werden, und das Er-
gebnis ist wahr. Gott freilich und die von ihm erschaffenen Geister sehen die Welt an-
ders. Für sie gibt es weder Raum, noch Zeit, noch ein kopernikanisches Weltsystem.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 24
Daher darf man das nur den körperlichen Wesen (den Menschen, Tieren, Pflanzen und
der Materie) anhaftende raumzeitliche Sosein nicht auf die Geisterwelt übertragen. Aus
der Sicht des Schöpfers ist das Weltall weder körperlich, noch im Kräftespiel, noch in
Bewegung, noch genau so geordnet, wie es sich dem forschenden Menschengeist zeigt.
Man warf nun Jung-Stilling vor, er entnehme solche Unterscheidungen den Geheimleh-
ren. Doch steht Jung-Stilling hier voll und ganz in der Überlieferung der christlichen
Theologie. Obendrein bezichtigte man ihn der Leugnung des kopernikanischen Weltsy-
stems. Dabei ging es Jung-Stilling doch darum, Folgerungen aus dem naturwissenschaft-
lichen Weltbild für das Jenseits als unstatthaft aufzudecken.
(2) Engel und Geister. Aus dem Nichts erschaffen hat Gott nicht nur die sichtbare Welt,
sondern auch die Engel. Sie sind reine Geistwesen (Körperlosigkeit), unter sich ver-
schieden (Einzigkeit), mit freiem Willen begabt (Selbstbestimmung) und schauen in
Gottes Angesicht (Seligkeit). Jung-Stilling schreibt den Engeln einen Einfluss in allen
Ebenen der die Welt zu. Sie sind "Werkzeuge, durch welche der Herr die ganze Schöp-
fung, also auch unsre Sinnenwelt regiert." Aber grundsätzlich steht es dem Menschen
nicht an, Umgang mit Engeln zu suchen.
Schutzengel sind Geister, die jedem Menschen von Gott beigestellt sind. Sie wenden Ge-
fahren des Leibes und der Seele von ihren Schützlingen ab, eifern sie zum Guten an und
begleiten sie in die zukünftige Welt. Es muss ihnen eine gewisse Wirkmacht zu Gebote
stehen, wodurch sie auf die Aussenwelt Einfluss nehmen. Wie gross diese ist, bleibt of-
fen. Die von Jung-Stilling angeführten biblischen Beispiele und auch eigene Erfahrun-
gen (sein Schutzengel Siona diktierte ihm die Schrift "Lavaters Verklärung" in die Fe-
der) sind sicher als von Gott erteilte Wirkmacht für einzelne Fälle zu verstehen. Jung-
Stilling geht davon aus, dass die Engel in Bezug auf die Spielweite ihrer Machtbetäti-
gung jederzeit an den göttlichen Willen gebunden sind.
Eine fromme abgeschiedene Menschenseele kann nach Jung-Stilling zu einem engel-
gleichen Zustand aufsteigen. In seinen "Szenen aus dem Geisterreich" zählt Jung-
Stilling beispielsweise die beiden Zürcher Pfarrer Johann Kaspar Lavater (1741–1801)
und Johann Konrad Pfenninger (1747–1792) zu solchen seligen Geistern. Sicher knüpft
Jung-Stilling hier an die altkirchliche (und noch heute von der katholischen und ortho-
doxen Kirche gelehrte) Lehre von den Heiligen an. Es sind dies verstorbene Menschen,
die der Gotteskindschaft teilhaftig wurden. "Sie erkennen im Willen Gottes, in dessen
Angesicht sie leben, besser als wir, was für uns nüzlich ist, und beten gewiß mit vieler
Liebe für uns", meint Jung-Stilling. Grundsätzlich ist er nicht gegen eine Verehrung der
Heiligen, wie sie die frühe Kirche pflegte. Freilich sieht er die Gefahr, dass Heilige –
ebenso wie Engel – sehr leicht in den Mittelpunkt des Glaubens rücken können. Daher
warnt er vor dem Kult der Engel und Heiligen.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 25
(3) Teufel und Dämonen. Ein Teil der Engel hat sich in freier Entscheidung von Gott ab-
gewendet und steht ihm in Feindschaft gegenüber. Dies sind die bösen Geister (Dämo-
nen). Diese "würken zum Verderben, erhitzen die Leidenschaften, und locken zum La-
ster", wie Jung-Stilling ihr Tun kennzeichnet. Der abgefallene oberste Engel, dem die
Leitung der irdischen Dinge oblag, heisst Teufel (Satan, Luzifer).
Nach Jung-Stilling kann der Einfluss des "bösen Feindes" nicht geleugnet, darf jedoch
auch nicht übertrieben werden. Die Erkenntnis des Teufels und der bösen Geister über-
haupt (als frühere Engel) ist geblieben. Sie übersteigt daher die menschliche. Jedoch er-
kennt der Satan nicht das Zukünftige und auch nich die Gedanken (alle Denkerlebnisse)
der Menschen. Er vermag auch keine Wunder zu wirken, sondern höchstens Taten, wel-
che die menschlichen überragen ("Trugwerk", "Blendwerk"). — Gott gestattet dem Teu-
fel, uns zu versuchen. Aber nicht jede Versuchung ist vom Teufel, weil Fleisch und Welt
auch versuchlich sind. Der Satan kann nie zur Sünde zwingen; denn es gibt keine Sün-
de ohne Freiheit. Teufelsbündnisse sind möglich. Niemand freilich, der sich mit einem
bösen Geist verbündet, kann Nebenmenschen schaden, "wenn ihm nicht jemand selbst
die Gelegenheit dazu giebt, und die Gottesfurcht beyseite sezt", wie Jung-Stilling betont.
(3) Himmel und Hölle. Jeder einzelne Mensch ist von Gott berufen, für einige Zeit an sei-
ner Schöpfung auf Erden mitzuwirken. Je nachdem, wie er Gott und seinem Nächsten
an dieser Lebens-Aufgabe gedient hat, wird seine Bestimmung nach dem Tode sein. Die
Gerechten kommen sofort nach ihrem Ableben auf der Erde in den Himmel. Die von
Gott abgewandten Bösen werden in einen jenseitigen Strafzustand versetzt, in die Hölle.
(4) Hades. Die entleibten Seelen all jener, die sich im irdischen Leben nicht grundlegend
für das Gute oder Böse entscheiden haben, kommen in einen Mittelort (Totenreich, Ha-
des, Scheol). Mit dieser Lehre steht Jung-Stilling zwar nicht in Widerspruch zur Ge-
schichte der christlichen Theologie, wohl aber zur reformierten Lehre seiner Zeit. Im
einzelnen macht Jung-Stilling zum Hades acht wesentliche Aussagen.
1. Im Hades reifen die Seelen für kürzere oder längere Zeit entweder zum Himmel oder
zur Hölle heran. Es gibt also im Hades "Gute und Böse, Halbgute, und Halbböse."
2. Die nach dem Tode im Hades angekommene Seele verspürt die Sinnenwelt nicht
mehr. Sinnenwelt meint dabei die irdische Aussenwelt, die durch Empfindungen wie
Licht, Ton, Wärme, Kälte, Geruch oder Geschmack wahrgenommen wird. Sie erkennt je-
doch "die Geister, die im Hades sind."
3. Die Seelen im Hades können vom Geschick noch lebender Menschen (vor allem der
Angehörigen) Kenntnis erhalten. Dies geschieht einmal durch Nachricht von Seelen, die
eben entleibt im Hades ankommen. Zum anderen aber kann auch Wissen vermittelt
werden "aus Anstalten, die in Ansehung unserer im Geisterreich gemacht werden."
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 26
4. Die Seele besitz im Hades die Vorstellung von Raum und Zeit. Jedoch ist ihr nun im
Raum alles nahe und in der Zeit nichts fern. Sie kann deshalb wissen, was in der Ferne
und was in der Zukunft geschieht, "insofern es ihr die Gesetze des Geisterreichs erlau-
ben." Freilich kann sich die Seele irren. In Unkenntnis ihrer Falschheit werden dann
Aussagen als wahr behauptet.
5. An und für sich betrachtet ist der Hades ein leidensfreier Ort. Die eigentlichen Leiden
im Hades sind das Heimweh nach der auf immer verlorenen Sinnenwelt der nun leeren,
entblössten Seele, die auf die Hölle zugeht. Seelen, die auf den Himmel vorbereitet wer-
den, erleiden keine Pein, ausser der, die sie sich selbst machen. So empfinden etwas je-
ne Seelen Leiden, die mit einer nicht abgelegten Begierde aus diesem Leben schieden.
6. Auf noch lebende Menschen können Seelen im Hades nur einwirken, wenn sie sich
mit ihnen in Verbindung setzen können und dürfen. Sie vermögen dann Menschen
auch absichtlich zu täuschen und in die Irre zu führen. Manche machen es sich gar zum
Vergnügen, Menschen zu betrügen.
7. Seelen aus dem Hades vermögen sich grundsätzlich körperlich sichtbar zu machen.
In diesem Falle können sie von vielen Menschen gesehen werden. Jedoch fällt dem Be-
trachter auf, dass es sich um keinen natürlichen, lebendigen Menschen handelt. Dies
geschah beispielsweise massenhaft beim Tode Jesu (Mt 27, 52).
(8) Es ist nützlich und heilsam, für Seelen im Hades zu beten. Niemand ist indessen zu
solchem Gebet verpflichtet.
Zur katholischen Lehre von der Läuterung (in der deutschen Sprache früher auch "Feg-
feuer" genannt) besteht ein wesentlicher Unterschied. Bei Jung-Stilling bereitet der Ha-
des für Himmel und Hölle vor. Nach der altchristlichen und katholischen Lehre von der
Läuterung jedoch sind nur solche Seelen in diesem Zustand, die nach einiger Zeit auch
in den Himmel kommen. — Der arge Missbrauch, der mit dem "Fegfeuer" getrieben
wurde, rechtfertigt nach Jung-Stilling keineswegs, dass die Reformatoren eine Reini-
gung nach dem Tode zur Gänze ausschliessen. Andrerseits widerstrebt es Jung-Stilling
auch, diese Lehre "auf die Canzel zu bringen."
Abschliessende Bemerkungen
Die theologischen Aussagen von Jung-Stilling stehen in keinem planvollen, sorgsam
durchdachten Zusammenhang. Die mangelnde Systematik erklärt sich daraus, dass
Jung-Stilling als Ökonom, Art und Literat die Theologie nicht als sein näheres Aufga-
bengebiet ansah. So nimmt er meistens nur zu einzelnen Fragekreisen Stellung. Dies
geschieht in Büchern (wie etwa seiner Erklärung der Offenbarung Johannis), in Volks-
schriften und Romanen sowie in – vor allem der Seelsorge dienenden – persönlichen
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 27
Schreiben. Jung-Stilling dürfte zeitlebens gut 20 000 Briefe verfasst haben; die Korre-
spondenz belegt besonders im letzten Lebensabschnitt einen Gutteil seiner Zeit. In al-
lem aber steht die praktische Frömmigkeit im Vordergrund. Lehrmeinungen treten
demgegenüber zurück.
Hinzu kommt, dass sich Jung-Stilling selbst stets als Mitglied der reformierten Kirche
sah, wie er mehrmals betonte. Von deren Kernlehren wollte er nicht abweichen — wie-
wohl er das etwa in Bezug auf seine Aussagen zum Wirken der Engel und seine Be-
schreibung des Hades offenkundig tat. Das brachte ihm schon zu Lebzeiten harsche Kri-
tik seitens der Theologen ein. Bis heute hält dies an; und noch im Katalog der Jung-
Stilling-Ausstellung Karlsruhe 1990 zählt ein Theologe und Jung-Stilling-Kenner die
"Theorie der Geister=Kunde" den "abstrusen spiritistischen" Büchern bei. Der Lehre von
Engeln und Geistern gegenüber reagiert man im reformierten Umfeld günstigenfalls mit
milden Lächeln, oft genug mit Entrüstung und Empörung. Dass der unendlichen Vielfalt
der sichtbaren Schöpfung Gottes auch eine Vielfalt in der nichtkörperlichen Welt ent-
spricht, gilt als ausgeschlossen.
Endlich aber hatte Jung-Stilling ein Misstrauen gegen jede Art von Separatismus, ver-
standen hier als Abspaltung von der Volkskirche. In seiner Jugend zuhause und in sei-
ner Zeit im Bergischen Land lernte er religiöse Gemeinschaften kennen, die er in sei-
nem Buch "Theobald oder die Schwärmer, eine wahre Geschichte" schildert. Je mehr
sich diese von der Leitlinie der Kirchenlehre entfernten, desto überspannter und wirk-
lichkeitsferner gestalteten sie sich selbst: das zeichnet Jung-Stilling deutlich nach. Des-
halb schreibt er auch als Motto: "Mittelmaß die beste Straß" in den Untertitel seines
Theobald-Romans.
In seinem letzten Lebensabschnitt verdächtigte man Jung-Stilling, geistiger Vater vieler
damals aufblühender religiöser Gruppen mit schwärmerischer, ja teilweise sogar revolu-
tionärer Lehre zu sein. Er musste sich gegen solche Vorwürfe in einer eigenen Schrift
wehren. Auch das festigte Jung-Stilling in seiner Haltung, die verfasste Grosskirche zu
bestärken und der Glaubensüberzeugung ihrer Vorsteher gemäss Hebr. 13, 7 zu folgen.
Jung-Stilling beeinflusste aber ohne Zweifel die gelebte Glaubenspraxis, die Frömmig-
keit der reformierten Kirche seiner Zeit. Zumindest Rinnsale dieses Stromes sind bis
heute spürbar.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 28
25
Der vollständige Text ist im Internet unter www.rechtfertigung.de abrufbar.
26
Die Absätze der gemeinsamen Erkläruung sind nummeriert. Diese Zahlen werden im Folgenden
verwendet.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 29
Folgende nach: "Die durch die Reformation von der Römisch-katholischen Kirche ge-
trennten Kirchen weichen in mancherlei Punkten voneinander ab; stimmen aber alle in
den Artikeln von der Dreiheit der Personen in der Gottheit, vom Ursprung der Sünde
von Adam her, von der Zurechnung des Verdienstes Christi und von der Rechtfertigung
durch den Glauben allein überein." (KD 17). Und weiter: "Die Römisch-Katholischen
hatten vor der Reformation ganz Ähnliches über die vier obengenannten Artikel gelehrt
wie die Protestanten danach", somit auch "Ähnliches über die Rechtfertigung durch den
Glauben an sie mit dem einzigen Unterschied, dass sie diesen Glauben mit der tätigen
Liebe oder den guten Werken verbunden hatten." (KD 19). Also schon im 18. Jahrhun-
dert entdeckte Swedenborg nach sachlicher Prüfung der maßgeblichen Dokumente,
dass der Unterschied zwischen der römisch-katholischen Mutter und ihren Töchtern aus
der Reformationszeit viel kleiner ist als es die lautstark inszenierte Trennung vermuten
ließ.
Der erreichte "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" wird als ein
"entscheidender Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung" angesehen (Absatz 44).
Gleichwohl hat er nicht die Einheit der lutherischen Kirchen mit der römisch-
katholischen Kirche zur Folge. Warum? Kirchentrennend wirkt heute nicht mehr die
Rechtfertigungslehre; das Konsenspapier zeigt es. Vielmehr ist das eigentliche Hinder-
nis auf dem Weg zur Kircheneinheit die These des Ökumenismusdekrets des Zweiten
Vatikanischen Konzils, wonach die Protestanten "wegen des Fehlens des Sakraments
der Priesterweihe … kein Abendmahl im Vollsinn und seinem Wesen nach feiern".
Selbst in der Papstfrage ist eine Verständigung möglich. Die Reformation hat das Papst-
tum nur als Amt göttlichen Rechts (de iure divino) abgelehnt. Daher könnten die Luthe-
raner den Papst als Bischof von Rom und als Patriarch des Westens anerkennen. Die
Katholiken freilich müssten das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 aufgeben. Kirchentren-
nend wirken also heute vor allem ekklesiologische Grundüberzeugungen.
Swedenborg entlarvte die "Rechtfertigung allein durch den Glauben" als eine falsche
Lehre. Sie und ihre Anhänger stellen sich dem Werden einer neuen wahrhaft christli-
chen Kirche mit aller Macht in den Weg. "Die zwei wesentlichen Lehren (essentialia)
der neuen Kirche (siehe EO 490) werden von denen, die innerlich im Falschen der Lehre
von der Rechtfertigung allein durch den Glauben sind, ganz und gar verworfen." (EO
501). Diese Lehre ist der Drache der Johannesapokalypse (EO 579), der die Geburt der
Geistkirche Gottes gleich bei ihrem Entstehen verschlingen will (siehe Swedenborgs
Auslegung von Offb 12,1-6 in EO 532ff, besonders 542). Die sola fide Konfirmation in
den Köpfen der Theologen und ihres Glaubensvolkes läßt das innere Leben des Geistes
zu einer winterlichen Landschaft erstarren und überdeckt mit eisiger Kälte den allent-
halben im Worte Gottes blühenden Ruf nach einem Christentum der lebendigen Tat.
"Wer weiß es nicht aus dem Worte Gottes, dass jeder nach dem Tode ein seinen Hand-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 30
lungen entsprechendes Leben erlangen wird? Öffne das Wort, lies es, und du wirst es
deutlich sehen, aber halte dabei deine Gedanken fern von der Rechtfertigung allein
durch den Glauben." (GV 128).
Trotz dieser eindeutigen Distanzierung von der Rechtfertigungslehre muss nun aber
doch auf gewisse Gemeinsamkeiten hingewiesen werden. Insoweit das Anliegen des so-
la fide (allein durch den Glauben) das solus Christus (allein Christus) ist, ist diesem An-
liegen aus neukirchlicher Sicht zuzustimmen. "Die Erlösung war ein rein göttliches
Werk" (WCR 123). Der Herr allein ist der Erlöser (EO 279, LH 45). "Die neue Schöp-
fung27 oder Wiedergeburt ist allein des Herrn Werk." (HG 88). "Die Wiedergeburt des
Menschen geschieht allein durch den Herrn und ganz und gar nicht durch den Men-
schen oder Engel" (NJ 185). Kein Mensch kann sich aus eigener Willenskraft aus der
Macht seiner Höllen erlösen. "Denn der Mensch ist nichts als böse, er ist eine Zusam-
menhäufung von Bösem, sein ganzer Wille ist nur böse." (HG 987). "Jeder Mensch wird
von seinen Eltern her in das Böse der Selbst- und Weltliebe geboren … daher wird die
Ableitung des Bösen schließlich so groß, dass das gesamte Eigenleben des Menschen
nichts als böse ist." (HG 8550). Mit Blick auf das lutherische "simul iustus et peccator
(zugleich Gerechter und Sünder)" ist aus neukirchlicher Sicht zu sagen, dass auch der
Wiedergeborene noch immer in seinem Bösen lebt. "Nie wird ein einziges Böses oder
Falsches derart zerschlagen, dass es gänzlich vernichtet ist, sondern alles … verbleibt so
sehr beim Menschen, dass er auch nach seiner Wiedergeburt nichts als böse und falsch
ist." (HG 868). Gegenüber der wiedergebärenden Wirksamkeit des Herrn ist der Mensch
immer nur ein Empfangender. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Sweden-
borgs Vorstellung vom Menschen als einem Aufnahmeorgan. "Der Mensch ist nicht das
Leben, sondern das Aufnahmeorgan (Receptaculum) des Lebens von Gott." (WCR 470-
474). "Der Mensch ist ein gottaufnehmendes Organ (Organum recipiens Dei)."
(WCR 34). "Der Mensch ist nicht das Leben in sich, sondern ein lebenaufnehmendes
Organ (organum recipiens vitae)." (WCR 46128). "Der Mensch ist ein Empfänger des Le-
bens (recipiens vitae), nicht das Leben." (HG 2021). In diesem Sinne ist die Wiederge-
burt ein Geschenk, ja angesichts der völligen Bosheit und Verdorbenheit des menschli-
chen Willens sogar ein "unverdientes Gnadengeschenk" (Absatz 38). In HG 633 spricht
Swedenborg vom "Geschenk der Barmherzigkeit des Herrn". Selbstverständlich kennt
und beachtet auch die neue Kirche die neutestamentlichen Grundlagen. Demnach sind
"die tätige Liebe und der Glaube die Mittel zur Wiedergeburt" (WCR 577). "Jede Wie-
dergeburt wird vom Herrn bewirkt durch das Wahre des Glaubens und ein dementspre-
27
Beachte Paulus: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist
vergangen, Neues ist geworden." (2. Kor 5,17).
28
Vgl. auch HG 3318 mit zahlreichen Verweisstellen.
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chendes Leben." (NJ 203). Im "Glauben, der durch die Liebe tätig ist" (Paulus in Gal 5,6)
sehen auch wir das Heilsmittel. Doch was ist der Glaube seinem Wesen nach? Bei der
Lektüre der Gemeinsamen Erklärung hat man oft den Eindruck der Glaube sei ein gött-
liches Naturereignis, wen es trifft, den trifft es, und die anderen bleiben ohne dieses
wundersame "Geschenk des Glaubens" (Absatz 25).
Rechtfertigung ist nicht der Zentralbegriff neukirchlicher Heilstheologie. Das ist die
Wiedergeburt (regeneratio)29; sie ist mit Swedenborgs Worten gesprochen "das Wesent-
liche des Heils" (essentiale salutis, GT 5740). Die neue Kirche steht damit in der jo-
hanneischen Tradition (siehe vor allem Joh 1,13; 3,3.5), nicht in der paulinischen. Die in
den lutherischen Kirchen mit der Rechtfertigung verbundene sola-fide-Vorstellung blok-
kiert jegliches Wissen um die Wiedergeburt und ihre zahllosen Geheimnisse. Sweden-
borg schreibt: "Die Kirchenchristen wissen heutzutage deswegen so wenig von der
Wiedergeburt, weil sie so viel von der Vergebung der Sünden und der Rechtfertigung
reden" (HG 5398). Denn die wahre Rechtfertigung ist kein im Glauben empfangener
Verbalakt (Gerechtsprechung), sondern erfolgt durch die schrittweise Wiedergeburt (HG
4721). Dabei ist zu beachten, dass die Wiedergeburt nicht durch das Sakrament der
Taufe geschieht. Diese hat keinerlei regenerierende Kraft, sie entfaltet keinerlei magi-
sche Wirkung im Getauften, sondern ist lediglich ein Zeichen dafür, dass der Getaufte
willens ist, den Weg der Wiedergeburt zu gehen (siehe NJ 202-209).
Obwohl auch nach neukirchlicher Auffassung die Wiedergeburt allein das Werk des
Herrn im Menschen ist, kann dieses Werk dennoch nur im Millieu eines mitwirkenden
Menschen realisiert werden. "Die neue Geburt oder Schöpfung wird allein vom Herrn
bewirkt … unter Mitwirkung des Menschen." (WCR 576). "Was soll das göttliche Wirken
im Inneren sein ohne das Mitwirken des Menschen im Äusseren wie aus eigener Kraft
(sicut ab illo)?" (EO 451). "Man muss wissen, dass der Herr, obwohl er alles wirkt und
der Mensch nichts aus sich, dennoch will, dass der Mensch, soweit seine innere Wahr-
nehmung reicht, wie aus sich wirke. Denn ohne die Mitwirkung des Menschen wie aus
sich heraus kann es keine Aufnahme des Wahren und Guten geben und somit auch
keine Einpflanzung und Wiedergeburt. Der Herr gibt nämlich das Wollen, und weil die-
ses dem Menschen wie aus sich heraus erscheint, gibt er ihm ein Wollen wie aus sich."
(OE 911). Die gesamte Heilige Schrift appelliert an das Mitwirken des Menschen und
dennoch wissen "die Armen im Geiste" (Mt 5,3) und bekennen es im Herzen, "dass sie
nichts Wahres und Gutes aus sich heraus haben, sondern ihnen alles umsonst ge-
schenkt werde (gratis donentur)." (HG 5008). Im berechtigten Verkündigungsinteresse
29
Gemeint ist eine geistige Wiedergeburt, nicht die fleischliche Wiedergeburt, die man Reinkarnation
nennt.
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an dieser evangelischen Wahrheit muss man nicht die Mitwirkung des Menschen leug-
nen.
Die Gemeinsame Erklärung spricht sich trotzdem gegen jegliche Mitwirkung des Men-
schen aus. Die Lutheraner bekennen: Der Mensch ist "unfähig, bei seiner Errettung mit-
zuwirken" (Absatz 21). Er kann die Rechtfertigung "nur empfangen" (Absatz 21); damit
ist "jede Möglichkeit eines eigenen Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung"
verneint (Absatz 21). Die Katholiken, die von Mitwirkung immerhin sprechen können,
sehen "in solch personaler Zustimmung" gleichwohl "kein Tun des Menschen aus eige-
nen Kräften" (Absatz 20); Gottes Gnadengabe in der Rechtfertigung bleibe "unabhän-
gig" "von menschlicher Mitwirkung" (Absatz 24). Diese strikte Betonung "der Passivität
des Menschen" wird nun aber doch relativiert, indem vom "Beteiligtsein des Menschen"
gesprochen wird. Weder Lutheranern noch Katholiken gehe es darum, "ein wahrhaftes
Beteiligtsein des Menschen zu leugnen." Uns wird versichert: "Das strikte Betonen der
Passivität des Menschen bei seiner Rechtfertigung hatte auf lutherischer Seite niemals
den Sinn, etwa das volle personale Beteiligtsein im Glauben zu bestreiten, sondern soll-
te lediglich jede Mitwirkung beim Geschehen der Rechtfertigung selbst ausschließen.
Diese ist allein das Werk Christi, allein Werk der Gnade"30. Man muss sich nun freilich
fragen, was das "personale Beteiligtsein" einer rein passiven, in keiner Weise mit-
wirkenden Person überhaupt ist. Ferner wird versichert: "Lutheraner verneinen nicht,
daß der Mensch das Wirken der Gnade ablehnen kann." (Absatz 21). Darf man daraus
schließen, dass der Mensch, sobald er das Wirken der Gnade nicht ablehnt, ihrem Wir-
ken zustimmt? Und was wäre dann, angesichts der strikten Betonung der Passivität, der
Akt einer rein passiven Zustimmung? Wir begegnen, indem wir solche Fragen stellen,
einer von Swedenborg beobachteten Eigenart der altkirchlichen Dogmatik, nämlich ih-
rer kontradiktorischen Redeweise. Sie besteht darin, dass einem Lehrsatz A ein Lehr-
satz B in den Weg gestellt wird, so dass keiner der beiden Lehrsätze in seinen Konse-
quenzen voll und ganz zur Entfaltung kommen kann. Auf diese Weise wird der denken-
de Christ daran gehindert, sich eine klare Vorstellung zu bilden und das theologisch
wohl ausbalancierte Lehrsystem verschwindet gegenüber allen Einwänden abgesichert
im undurchdringlichen Geheimnis des Glaubens.
Indem die neue Kirche keine Scheu hat, die Mitwirkung des Menschen anzuerkennen
und theologisch zu durchdenken, tritt sie auch für die freie Willensentscheidung in gei-
30
Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche
Deutschlands und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes zum Dokument
"Lehrverurteilungen-kirchentrennend?" (13. September 1991), in: Lehrverurteilungen im Gespräch,
hrsg. von der Geschäftsstelle der Arnoldshainer Konferenz (AKf), dem Kirchenamt der Evangeli-
schen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-
Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) (Frankfurt 1993) 84,3-8.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 33
stigen Dingen ein. Dem widersprechend billigen die Kirchen des Rechtfertigungs-
glaubens dem Menschen nur die psychologische Freiheit, die sich ja auch nur schwer
leugnen läßt, zu, nicht aber die "Freiheit auf sein Heil hin". Wir lesen: "Die Freiheit, die
er (der Mensch) gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine
Freiheit auf sein Heil hin." (Absatz 19). Die finstere Konsequenz dieser Amputation des
Menschlichen ist die Prädestinationslehre. Was geschieht mit denen, die das "Geschenk
des Glaubens" (Absatz 25) nicht erhalten? Und falls es alle erhalten, woher nehmen sich
die unfreien Menschen die Freiheit es abzulehnen? Swedenborg durchdenkt diese Pro-
bleme viel gründlicher und kommt zu besseren Lösungen. In der "Wahren Christlichen
Religion" widmet er dem "freien Willen in geistigen Angelegenheiten" (WCR 479 und
öfters) ein ganzes Kapitel.
Aus Sicht der neuen Kirche ist der Glaube nur durch die tätige Liebe und ihre Werke
wahrer und lebendiger Glaube. Seine ganze Kraft und sein ganzes Wesen empfängt der
Glaube aus der tätigen Liebe, deren Erscheinungsform er ist. Swedenborg drückt es so
aus: "Die Trennung der tätigen Liebe vom Glauben ist wie die Trennung des Wesens
(essentia) von der Form. Der gebildeten Welt ist bekannt, dass weder das Wesen ohne
eine Form noch die Form ohne ein Wesen etwas ist, denn das Wesen hat überhaupt nur
durch die Form eine Beschaffenheit und die Form ihrerseits ist nur durch das Wesen ein
etwas, das Bestand hat. Folglich läßt sich von keinem der beiden im getrennten Zustand
eine Aussage machen. So ist denn auch die tätige Liebe das Wesen des Glaubens, und
der Glaube die Form der tätigen Liebe, ganz so wie das Gute das Wesen des Wahren
und das Wahre die Form des Guten ist." (WCR 367). In der Gemeinsamen Erklärung
hingegen erscheinen die guten Werke der tätigen Liebe nur als Anhängsel des Glau-
bens. "Wir bekennen gemeinsam, daß gute Werke … der Rechtfertigung folgen und
Früchte der Rechtfertigung sind." (Absatz 37). Als Folge, Auswirkung oder bildlich ge-
sprochen Frucht31 der Rechtfertigung ist die tätige Liebe dem unabhängig von ihr voll-
zogenen Akt der Gerechtsprechung deutlich nachgeordnet. Die tätige Liebe wurde also
erst vom Glauben getrennt, damit dieser zum "freien Geschenk" (Absatz 25) mutieren
konnte, und anschließend an diesen Glauben wieder angehängt, denn ganz ohne gute
Werke wollte man den Christen mit dem Gottesgeschenk des Glauben in der Sünde nun
doch nicht stehen lassen. So betont man: Der "Glaube ist in der Liebe tätig; darum kann
und darf der Christ nicht ohne Werke bleiben." (Absatz 25). Hierin könnte ein Anknüp-
fungspunkt für ein Gespräch der Neuen Kirche mit den Kirchen der lutherisch-
31
Die Rede von den Früchten der Rechtfertigung beinhaltet die Vorstellung, dass der Glaube der Baum
sei. Dem widersprechend erklärte ein Engel in der geistigen Welt: "Nicht der Glaube ist der Baum,
sondern der Mensch ist der Baum." (EO 417). Und Jesus sagt: "So bringt jeder gute Baum gute
Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte." (Mt 7,17). "Entweder macht den Baum gut,
dann ist seine Frucht gut, oder macht den Baum faul, dann ist seine Frucht faul; denn an der Frucht
wird der Baum erkannt." (Mt 12,33).
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 34
katholischen Rechtfertigungslehre liegen; denn offenbar empfindet man trotz sola fide
ein Unbehagen am actus purus der Rechtfertigung ohne Werke.
In Übereinstimmung mit der lutherisch-katholischen Lehre sieht Swedenborg in der
Verdienstmentalität ein Hindernis, ja ein Übel auf dem Weg zu echter Spiritualität und
Religiosität. "In der Kirche ist bekannt, dass der Mensch durch das Gute, das er tut,
nichts verdienen kann, denn das Gute, das er tut, gehört nicht ihm, sondern dem
Herrn." (HG 3956). "Das Übel (oder das Böse) des Verdienstes ist dann gegeben, wenn
der Mensch das Gute sich zuschreibt in der Meinung, es stamme von ihm, und sich da-
her das Heil verdienen will." (HG 4174). Diesem Irrtum der Heilserwirtschaftung erlie-
gen anfangs freilich alle, die frohgemut den geistigen Weg betreten. "Am Anfang glau-
ben alle, die geistig umgeformt werden, dass das Gute aus ihnen sei und sie sich folg-
lich durch dieses Gute der eigenen Tat das Heil verdienen (erarbeiten)." (HG 4174, sie-
he auch 4145). Wenngleich also die dem Heilsaktivismus des Anfängers anhaftende
Kaufmannsmentalität ein Übel ist, so ist es aber ein noch viel größeres Übel jenes erst-
genannte dadurch zu beseitigen, dass der Aktivismus als solcher beseitigt wird. Kein
vernünftiger Mensch wird das Unkraut in seinem Garten dadurch vernichten, dass er
den Boden vergiftet. Das Tätigsein des äußeren Menschen ist dieser Boden, in den der
Herr das Leben des Geistes einpflanzen will. "Viele verwerfen die guten Werke in der
Meinung, diese seien bei niemandem ohne die Absicht möglich, sich dadurch etwas zu
verdienen. Diese Leute wissen nicht, dass diejenigen, die vom Herrn geführt werden,
nichts sehnlicher wünschen, als gute Werke zu vollbringen, und gleichzeitig nichts we-
niger im Sinn haben als einen durch sie erreichbaren Verdienst." (HG 6392). Die Kauf-
leute werden spätestens dann aus dem Tempel vertrieben, wenn Jesus selbst mit der
Geißel den Tempel reinigt, entweder synoptisch am Ende oder johanneisch gleich zu
Beginn des Weges. Solange jedoch der Jünger des inneren Lebens den Impuls des Gei-
stes noch nicht empfindet, sollte er sich nicht befleissigen das Gute zu tun, sondern das
Böse nicht zu tun; dazu muss er es freilich zuerst erkennen. Das ist die Übung der
Selbstbeschauung und der Umkehr, Buße genannt. Denn "niemand kann das Gute, das
wahrhaft gut ist, von sich aus tun." (LL 9). Deswegen gilt: "Insoweit der Mensch vor
dem Bösen als Sünde flieht, tut er das Gute nicht von sich aus, sondern vom Herrn her."
(LL 18). Ausserdem sollte er ein ihn ansprechendes und berührendes Wort Gottes lesen
und nachsinnend in dessen Tiefen eintauchen und so das Bewußtsein seines äußeren
Menschen den Formen des göttlichen Geistes einformen. Das ist die Übung der reforma-
tio (in der WCR mit Umbildung übersetzt), das heißt der Neuformung des Gemüts. Das
ist nach Swedenborg die Reformation. Auf diese Weise wird der äußere Mensch mit dem
inneren verbunden, ein neues Glaubensbewußtsein erwacht, und der Verdienstwahn
löst sich ebenso auf wie die Nebelschwaden im Lichte der aufsteigenden Sonne. Diese
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 35
Morgenröte (aurora WCR 571) ist im Menschen die Wiedergeburt und ganz das Werk
des Herrn, denn kein Mensch hat die Macht, die Sonne aufgehen zu lassen.
Durch die Verlagerung der Rechtfertigung in das Gebiet des bloßen Glaubens wurde die
Religion aus der Kirche entfernt. Denn "alle Religion ist eine Angelegenheit des Lebens
und ihr Leben besteht im Tun des Guten." (LL 1). Daher verwundert es uns nicht, dass
infolge dieser Hinausbeförderung nun ausserkirchliche Religiosität entsteht und die lee-
ren Kirchen, abgesehen von ein paar leichenblassen Rechtfertigungspredigten, ihrer
Aufgabe als Sozialamt nachkommen in der Meinung, das Reich Gottes sei primär eine
gerechte Weltordnung.
Die Anhänger der Rechtfertigung allein durch den Glauben berufen sich auf Paulus. Zu
untersuchen wäre, ob dem ein richtiges Paulusverständnis zugrunde liegt. Eine solche
Untersuchung muss hier aus verschiedenen Gründen unterbleiben. Doch die folgenden
Hinweise will ich geben. Römer 3,28, eine Aussage, der in der Reformationszeit eine
zentrale Bedeutung zukam, lautet in der Übersetzung von Martin Luther: "So halten wir
es nu / dass der Mensch gerecht werde / ohn des Gesetzes Werk / alleine durch den
Glauben."32 Im griechischen Urtext ist das Wörtchen "alleine" nicht zu finden; Luther
hat es offenbar als einen verdeutlichenden Zusatz im Sinne seines Verständnisses die-
ser Stelle hinzugefügt. In EO 417 berichtet Swedenborg von einem Konzil in der geisti-
gen Welt. Den Ausführungen kann man entnehmen, dass Paulus unter "den Werken
des Gesetzes" wahrscheinlich "die Werke des mosaischen Gesetzes für die Juden" ver-
standen hat, also das Kultgesetz, die Bestimmungen der vorbildenden Kirche. Die Mei-
nung des Paulus wäre demnach in etwa so zu umschreiben: Der Mensch wird von nun
an ohne die Befolgung der kultischen Vorschriften der Thora gerecht, und zwar durch
das lebendige und tatkräftige Vertrauen auf das Heilswirken Christi. EO 417 bietet für
ein noch zu entwickelndes Paulusverständnis der neuen Kirche insgesamt sehr interes-
sante Textbeobachtungen.
Abschließend ein Wort Martin Luthers. In der geistigen Welt besprach er sich mit Swe-
denborg und bekannte seinen Irrtum mit den Worten: "Wundert euch nicht, daß ich
mich auf den allein rechtfertigenden Glauben warf und die tätige Liebe ihres geistigen
Wesens beraubte, den Menschen auch allen freien Willen in geistigen Dingen absprach
und dergleichen mehr, was von dem einmal angenommenen Grundsatz des bloßen
Glaubens abhängt wie der Haken von der Kette. Es war nämlich mein Ziel, von den Rö-
misch-Katholischen loszukommen, und dies ließ sich nicht anders bewerkstelligen und
aufrechterhalten. Ich wundere mich deshalb gar nicht, daß ich mich verirrte, sondern
nur, daß ein Verrückter viele andere zu Verrückten machen konnte." (WCR 796).
32
Zitiert nach: Das Neue Testament Deutsch von D. Martin Luther. Ausgabe letzter Hand 1545/46. Un-
veränderter Text in modernisierter Orthographie. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1982.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 36
33
W. Bauer gibt "gepflastertes Oberzimmer" als die wahrscheinlichere Übersetzung an, obwohl andere
an "ein mit Teppichen od. Speisepolstern belegtes Zimmer" denken (Wörterbuch zum Neuen Testa-
ment, 1971, Sp. 1528).
34
Viele Exegeten bezweifeln sogar, dass das angegebene Mahl ein Passamahl war, denn nach Johannes
war ja Jesus das eigentliche Passalamm, das in dem Augenblick, da die Passalämmer im Tempel ge-
schlachtet wurden, am Kreuz starb. Auf dieses Problem sei hier nur am Rande hingewiesen.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 37
gung, oder bis zu ihrem Ende oder gar bis zum Ende der Welt. Wir erinnern uns an das
Schlußwort des Matthäusevangeliums, wo uns der Auferstandene, nun Allgewaltige,
versichert: "Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20, al-
lerdings mit einem anderen Wort für "Ende"). Graduell verstanden liebte er die Seinen
vollendet, ganz und gar, bzw. bis zu seiner Vollendung (Verherrlichung) oder ihrer
Vollendung (Wiedergeburt). Und räumlich verstanden erstreckte sich seine Liebe bis in
die körperlichen Endbereiche hinein, denn die Füße, um deren Reinigung es im folgen-
den gehen wird, meinen "das Natürliche des Menschen" (HG 10243), das ihn nach un-
ten abschließt und erdet. Jesus wird also durch seine Verherrlichung den Einflussbe-
reich seiner Liebe bis dorthin ausdehnen, um immer und überall, auch in der Hölle, er-
reichbar zu sein.
Die eigentliche Fußwaschungsszene beginnt mit Vers 2 und wird in Vers 12 als abge-
schlossen vorausgesetzt ("Als er nun ihre Füsse gewaschen hatte"), umfasst also Joh
13,2-11. Dieser Abschnitt ist in sich mehrgliedrig. Zu beachten sind zunächst die
Klammer (im folgenden kursiv) und ihre Inhalte (a) und (b) in den Versen 2f. "Und wäh-
rend eines Mahles, (a) als der Teufel dem Judas Iskariot, dem Sohn des Simon, schon ins
Herz gelegt hatte, ihn zu verraten - (b) er wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände
gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott weggeht -, steht er
vom Mahl auf ..." (13,2-4). Die Klammerinhalte befassen sich mit der äußeren Verur-
sachung der Erhöhung durch den Verrat (a) und der dadurch gleichwohl nicht außer
Kraft gesetzten souveränen Gestaltungsmacht des Sohnes (b). Ist der Verrat als Ver-
ursachung oder als Veranlassung zu werten? Kann das Böse Gutes verursachen oder
wird es nur nolens volens in den Dienst des Guten genommen? Jesus ist nicht, auch
wenn es so scheinen mag, das Opfer eines Verrats geworden; vielmehr hat ihm der Va-
ter "alles in die Hände gegeben", womit die Allmacht oder, wie wir oben gesagt haben,
die souveräne Gestaltungsmacht ausgedrückt ist. Die Passion, das Erleiden, ist somit ei-
gentlich eine Aktion. Der Logos, der von Gott ausgegangen ist, gestaltet seine Heim-
kehr, seine reichere Heimkehr, indem er auch die schmutzbelasteten Füße reinigt.
Die Fußwaschung in den Versen 4f deutet mit Signalwörtern auf die Kreuzigung und
die Auferstehung. "Und während eines Mahles … steht er vom Mahl auf und zieht das
Obergewand aus und nimmt ein Leinentuch und bindet es sich um; dann giesst er Was-
ser in das Becken und fängt an, den Jüngern die Füsse zu waschen und sie mit dem
Tuch, das er sich umgebunden hat, abzutrocknen." (13,2.4-5). Das Ausziehen (13,4) und
wieder Nehmen (13,12) des Obergewandes erweist sich nicht zuletzt durch den Bezug
auf Joh 10,17f, wo dasselbe Wortpaar vorkommt, als Metapher für Tod und Auferste-
hung, denn in Joh 10,17f lesen wir: "Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben
(Seele) ausziehe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich zie-
he es von mir aus aus. Ich habe Macht es auszuziehen, und ich habe Macht, es wieder zu
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 38
nehmen ." (10,17f). Der entkleidete Christus (13,4) verweist, auch mit Blick auf Joh
19,23f, auf die Passion. Und das Aufstehen vom Mahl (13,4) deutet wohl die Auferste-
hung an, jedenfalls begegnet uns hier das Verb, das auch das Auferwecken bzw. Aufer-
stehen eines Toten bedeutet. Dass die Füsse das Natürliche, Erdhafte, auch die uns tra-
genden Affekte, bezeichnen, wurde schon gesagt. Für die Einzelheiten, das Leinentuch,
das Wasserbecken usw. verweise ich auf HG 10243.
In den Versen 6 bis 10, noch immer während der Fußwaschung, nimmt ein Dialog zwi-
schen Petrus und Jesus auffallend breiten Raum ein. Petrus ist der Schüler der Glau-
bensfestigkeit; gegenüber Johannes, dem Jünger der Liebe, bleibt der petrinische Glaube
allerdings im Verständnis des väterlichen Herzens zurück. Ja, er erweist sich sogar, na-
türlich in bester Absicht, als Gegner (Satan) des väterlichen Liebewillens. In der synop-
tischen Tradition ist diesbezüglich an die Reaktion des Petrus auf die erste Leidensan-
kündigung zu denken (Mt 16,21-23) und in der johanneischen an den Widerstand des
Petrus gegen die Fußwaschung. Der Glaube stützt sich und bezieht seine Sicherheit aus
der Autorität des göttlichen Wortes. Dieser Glaube wird durch die Fußwaschung, einen
Dienst, den Sklaven, aber nicht Herren zu verrichten haben, in seinem Verständnis der
Gottesmacht der Wahrheit verunsichert. Denn diese Gottesmacht, beispielsweise in Ge-
stalt der Zehn Gebote, soll nach petrinischer Glaubensauffassung das Denken und Wol-
len der Menschen beherrschen, und dieser soll gehorchen und sich auf diese Weise von
seinen Sünden reinigen. Nun aber erweist sich gerade die Gotteswahrheit als diejenige,
die nicht nur gebietet, sondern die anbefohlene Reinigung eigenhändig ausführt. Kann
sie dann noch als anbefohlen angesehen werden? Verliert ein Gebot, das der Gebieter
selbst ausführt, damit nicht die gebieterische Strenge? Der petrinische Glaube begreift
das alles nicht; die Gottesmacht der richtenden Wahrheit wird durch die Gottesmacht
der reinigenden Liebe überwunden. Das ist die Erlösung, der Kosmos wird aus der
Macht der gebietenden Gottheit entlassen und dem Dienst der sich herablassenden Lie-
be übergeben. Damit werden, wie Joh 13,12-20 und das neue Gebot (Joh 13,34f) zeigen,
neue Maßstäbe für das Verhalten innerhalb der Gemeinde gesetzt.
Dass die Fußwaschung als Liebesdienst zu verstehen ist, wurde gleich im ersten Vers
durch das zweimalige Vorkommen von "lieben (agapao)35" angedeutet. Der Glaube
wehrt diese Liebe, wie gesagt, ab, daher ist nun die Stunde des Lieblingsjüngers, der Joh
13,23 erstmals erwähnt wird, gekommen. Aufschlussreich ist die Verwendung und Ver-
teilung von "lieben" im Johannesevangelium. In Joh 3,16.35; 10,17 ist Gott, der Vater,
das Subjekt dieser Liebe; der Vater liebt den Sohn und indem er ihn liebt, liebt er die
Welt. In Joh 11,5 ist erstmals Jesus das Subjekt der Liebe, und ergriffen werden von ihr
35
Im Johannesevangelium begegnen uns zwei Worte für "lieben", nämlich "fileo" und "agapao". Da im
Vorwort "agapao" vorkommt, beschränken wir uns auf diesen Begriff.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 39
Die Abrahamsgeschichte:
Von der Wiedergeburt des Menschen
von Peter Keune
Die Abrahamsgeschichte stellt im inneren Sinn eine bildliche Dokumentation des Rin-
gens Gottes um den Menschen dar. Wie in der gesamten Heiligen Schrift wird auch hier
die Wiedergeburt des Menschen beschrieben, oder - in anderer Sichtweise - die He-
rablassung Gottes in unsere menschliche Ebene. Die Abrahamsgeschichte bildet in ei-
ner noch tieferen Sinnebene auch Gottes Menschwerdung in Jesus Christus vor.
Der Mensch ist ein lebendiges Aufnahmegefäß Gottes. Sein "Ich" wurde mit Vernunft
und freiem Willen ausgestattet und mit der Fähigkeit, sich sogar gegen seinen Schöpfer
begründen zu können. Damit ist er willensmäßig frei. Er kann seinen eigenen Willen
über den Gottes stellen, da er von seinem Schöpfer scheinbar völlig getrennt existiert.
Diese Trennung geht soweit, daß alle tieferen Erkenntnisse über ein innewohnendes
höheres Leben wie von außen durch göttliche Offenbarung erfolgen müssen.
Leider ist das Wort Gottes in der heutigen Zeit äußerlichen Denkens und immer größe-
rer Gottabgewandtheit in Mißkredit geraten. Am Anfang des wissenschaftlich-
technischen Zeitalters durfte daher Emanuel Swedenborg, dessen Berufung durch den
Herrn im Jahre 1745 erfolgte, als "ein Diener des Herrn" den inneren, geistigen Sinn
der Heiligen Schrift durch die Sprache der Entsprechungen aufzeigen. Wie schon oben
gesagt wurde, handelt das "Wort" - wie bei ihm die Heilige Schrift genannt wird - von
den Zuständen der menschlichen Seele, ihren Anlagen, ihren Verirrungen und ihrer
Absonderung von Gott, dessen Erbarmung und Seinen Kämpfen, um die Seele wieder in
ihr eigentliches Vaterhaus zurückzuführen. Erst wenn die Seele sich selbst zu erkennen
vermag und ihre Verirrungen einsieht, kann sie auf eine andere Bahn gelenkt werden.
In der Heiligen Schrift wird dieser Zustand als Wieder- bzw. Neugeburt bezeichnet.
Von solchen Zustandsveränderungen will diese Zusammenstellung berichten und an
Hand der biblischen Abrahamsgeschichte wesentliche Aspekte der Wiedergeburt schil-
dern. Damit soll Mut gemacht werden, sich mit der Bibel zu beschäftigen und sie mit
tieferem Verständnis kennen zu lernen. Sie ist gewissermaßen das Fundament aller Of-
fenbarung, wie die Grundfesten eines Hauses. Deshalb ist auch jede Offenbarung an der
Heiligen Schrift zu messen.
"Und der Herr sprach zu Abram: Gehe aus deinem Vaterland und deiner Freundschaft
und aus deines Vaters Hause in ein Land, das Ich dir zeigen werde." (1.Mose 12,1). Weil
die inneren Lebenszustände nicht greifbar dargestellt werden können, da sie weitge-
hend im Unbewußten wirken und dem Verstand deshalb nicht zugänglich sind, wurden
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 41
sie von alters her in Bilder und Geschichten eingekleidet. Auf diese Weise werden sie
deutlich vor Augen gestellt, wie beispielsweise in der Schöpfungsgeschichte. "Da Gott
den Menschen schuf, machte Er ihn nach dem Bilde Gottes, und schuf sie einen Mann
und ein Weib, und segnete sie, und hieß ihren Namen Mensch." (1.Mose 5,1-2).
Mit diesem ersten Text wird das Wesen des Menschen beschrieben. Er ist als Mann und
Weib zugleich erschaffen, womit die Schrift aber nicht zwei Personen meint, sondern
zwei Eigenschaften, die dem männlichen und weiblichen Prinzip entsprechen. Wir
sprachen von den Menschen als Aufnahmegefäßen der göttlichen Liebe und Weisheit,
und davon, daß sie in selbständiger Willensfreiheit bereit sein müssen, den göttlichen
Einfluß aufzunehmen, damit sie vollendet zu Ihm zurückkehren können. Um ihre Be-
stimmung erkennen zu können, müssen in dem Menschen zuvor Neigungen entwickelt
werden, die der göttlichen Liebe und Weisheit wesensgleich sind. Denn nur Gleiches
kann Gleiches, nämlich die höheren Einflüsse, erkennen. Die ersten fünf Tage der
Schöpfungsgeschichte sind der bildhafte Ausdruck jenes Prozesses, in dem aus einem
nur natürlich denkenden Individuum ein für höhere Erkenntnisse aufgeschlossener
Mensch wird. "Da Gott den Menschen schuf machte Er ihn nach dem Gleichnis Gottes"
bedeutet, Er macht das Aufnahmegefäß "Mensch" so, daß es aus Weisheit und Liebe ge-
staltet ist. Oder anders ausgedrückt, Weisheit und Liebe sind die Grundelemente, aus
denen der höhere Mensch besteht. Da es zwei Wesensbereiche sind, fährt die Schöp-
fungsgeschichte folgerichtig in der Mehrzahl fort: "Und schuf sie als Mann und Weib".
Das männliche Prinzip entspricht dem Vernunftdenken und somit der Weisheit und das
weibliche Prinzip den Neigungen daraus, oder der Liebe. Man könnte jene Stelle auch
anders übersetzen und sagen: Da Gott den Menschen schuf, machte Er ihn ähnlich wie
Sich selbst und gab ihm einen Verstand (Weisheit) und ein Streben nach Liebe. Nun
kommt es darauf an, ob sich diese Anlage im Menschen weiter entwickelt. In der Bibel-
sprache heißt dieser Entwicklungsprozeß "vermehret euch". Der Mensch lebt ein äuße-
res und inneres Leben nach seinen Erkenntnissen und Neigungen und ist fähig - aber
nicht gezwungen - Gottes Wege zu beschreiten. Tut er es, kehrt er zu Gott zurück, und
tut er es nicht, entfernt er sich mehr und mehr von seinem Lebensquell und geht in alle
Not und Finsternis über. Vielleicht fällt auf, daß einmal Liebe und Weisheit (in dieser
Reihenfolge) in Verbindung mit Gott gesagt wird, und einmal Weisheit und Liebe, wenn
es sich um den Menschen handelt. Der Grund ist, weil das Innerste immer zuerst ge-
nannt wird. In Gott ist die Liebe der Grund (Vater) und die Weisheit das von der Liebe
Ausgehende (Sohn). Beim Menschen herrscht anfangs die Neigung zur Wahrheit vor,
welche sich von der Liebe getrennt hat, um im Lauf der Wiedergeburt allmählich wieder
eins zu werden mit der Gottes- und Nächstenliebe im Herzen.
"Da sich aber die Menschen begannen zu mehren auf Erden, und ihnen Töchter geboren
wurden …" (1.Mose 6,1). Wir sprachen kurz von dem Ausspruch "vermehret euch". Dies
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 42
bedeutete, daß die Ausrichtung des Menschen auf vermehrte Erkenntnisse über Gott
und eine zunehmende Liebe zu Ihm ausgerichtet sein sollte. Wie soll man nun verste-
hen, daß ihnen lauter Töchter geboren wurden? Wo blieben die Söhne? Sie werden an
dieser Stelle nicht erwähnt, obgleich sie auch vorhanden gewesen sein müssen, da sie ja
sonst später nicht hätten "Weiber nehmen" können, wie geschrieben steht. Hier bedeu-
ten "Töchter", daß die Menschen Liebes-Neigungen zur Welt entwickelten. Es geht bei
der Nennung von Söhnen und Töchtern nicht um irgend eine Art von Wertigkeit. Die
Mißverständnisse liegen in der Unkenntnis der Entsprechungssprache. Wir wissen:
"Mann" und "Weib" bedeuten Eigenschaften, und stellen in ihrer ehelichen Verbindung
den Menschen als solchen dar. Dieser soll seine Liebe und seine Weisheit verbinden
und auf Gott ausrichten, wie es später durch Moses in den Geboten erneut zum Aus-
druck kommt, und diesem Streben alles andere unterordnen. Solchermaßen wieder in
die Ordnung Gottes zurückgekehrt, fließen ihm die Segnungen Gottes zu. In diesem
Sinne soll er sich mehren und "fruchtbar" sein. Es heißt aber in unserem Text weiter:
"Nun sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen". Hierunter wird ver-
standen, wie die Göttlichen Attribute, nämlich die höhere Vernunft, gepaart mit Weis-
heit und Liebe, sich mehr und mehr der Weltliebe zuneigten und diese sogar in ihre Be-
gierden aufnahmen (sie zu Weibern nehmen). Mit einem gottgefälligen Weib soll der
Mann ehelich verbunden sein. In der Entsprechung stellt sie dann die Liebe zu Gott dar,
allerdings nur in seinem wiedergeborenen Zustand, anderenfalls ist sie seine Neigung
zum "vernunftmäßig Wahren", wie es Swedenborg ausdrückt. (Heute würden wir sagen:
Was uns erstrebenswert erscheint und der Vernunft einleuchtet. Allerdings ist diese
Einsicht sehr vom Entwicklungszustand abhängig. Insofern sind die Entsprechungen
auf unterschiedlichen Ebenen angeordnet). Neigungen, die uns als natürliche Menschen
"reizen", werden in unserem Text mit den Worten ausgedrückt: "... wie sie schön waren,
und nahmen zu Weibern, welche sie wollten". Gerade der letzte Teil rückt die Feinheit
das Aussage ins rechte Licht. "nahmen. zu Weibern, welche sie wollten". Also nicht der
göttlichen Ordnung gemäß, sondern wie sie wollten! So ist es bis heute immer gewesen.
Jeder Mensch muß die Möglichkeit zur Widerordnung haben, um wahrhaft frei zu sein.
Er muß sich von Gott abwenden können. Wahrhaftiges Heil findet er aber nur in der Be-
folgung der Gebote Gottes, die eine Kehrtwendung (Neuausrichtung) bewirken.
Ein anderes Bild macht diese Sachlage vielleicht noch deutlicher: Alles, was Gott je ge-
schaffen hat, ist aus Seinen Gedanken und Ideen geworden, ist demnach Er Selbst. Als
notwendige Folge könnten Seine Geschöpfe keine wirkliche Unabhängigkeit haben, da
sie mit der ihnen gegebenen Intelligenz ihre vollständige Abhängigkeit von ihrem
Schöpfer erkennen. Wie kann Gott Seine Geschöpfe in eine echte Freiheit setzen und sie
damit zu seinen Kindern machen, die als "Du" oder "Gegenüber" Sein Ebenbild sind?
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 43
Um die, auch für einen Gott wahrlich nicht leichte Aufgabe zu lösen, muß Er zwischen
Sich und Seinen Geschöpfen eine Barriere, eine Art Mauer errichten, die Ihn vor Seinen
Geschöpfen verborgen hält. In dieser Anordnung würde es aber zu keiner Begegnung
zwischen ihnen kommen, wenn Er seinen Geschöpfen nicht so etwas ähnliches wie ei-
nen Empfänger eingebaut hätte, mit dem sie sich auf entsprechenden Empfang einstel-
len könnten. Unschwer zu erkennen: Die Mauer ist die Materie und der Empfänger ist
Sein uns innewohnender Geist, der zwar zuerst "wie ausgeschaltet" wirkt, dann aber zu
spielen anfängt, wenn man "daran dreht". Die Gebrauchsanweisung findet sich im geof-
fenbarten Wort Gottes und - nicht zuletzt - in einem inneren Ahnen. Es erscheint ganz
logisch, daß im Kind in der ersten Zeit der Bewußtwerdung Gottes Bild im Innersten
wirkt und erlebt wird, da man in dieser Zeit noch von der Engelwelt umgeben ist. Aber
mit der zunehmenden Unabhängigkeit von dieser Sphäre gewinnen die äußeren Reize
der Welt an Einfluß und die inneren Wahrnehmungen und Ahnungen verblassen. Wir
wären völlig verloren, wenn sich Gott unserer nicht erbarmen würde! Da beim Stand der
Dinge diese Zustände jedoch kommen, hat der Herr schon von "langer Hand" Möglich-
keiten zu unserer "Wiedergeburt" vorbereitet. Mit anderen Worten: Er muß sich dem
Menschen jenseits der Mauer bemerkbar machen (in Erinnerung bringen), verhüllt
zwar und mit aller Vorsicht, um nicht Sein großes Ziel, die freiheitliche Entwicklung des
Einzelnen, zu gefährden. Da dieses für alle Menschen und zu allen Zeiten glei-
chermaßen gilt, ist die Beschreibung der Wege Gottes in uns wesentlicher Bestandteil
der Heiligen Schrift (Gott offenbarte und offenbart sich auf verschiedenste Weise, bis
hin zu Seiner Menschwerdung auf Erden).
Die Abrahamsgeschichte schildert in der äußeren Form einer historischen Begebenheit
einen bedeutenden Entwicklungsprozeß, nämlich wesentliche Aspekte der Verbindung
von Seele und Geist. Wir alle sind Abram (wie sein Name zuerst hieß). Unser Denken
und Wollen ist noch auf die Welt ausgerichtet, d.h. die sinnlichen Eindrücke der äuße-
ren Welt reizen uns mehr, als alles Wissen um ein geistiges Leben. Entsprechend sind
unsere Familienbande in der Welt zu suchen. Der Herr aber arbeitet daran, uns diese
Genüsse schal werden zu lassen. Er wirkt dahin, daß uns ein Interesse um das andere
erstirbt, wir keinen Gefallen mehr daran finden und nach Neuem zu suchen anfangen.
Wenn der richtige Zeitpunkt da ist, wenn wir "weich" geworden sind, erhebt Er seine
Stimme und ruft uns zu: "Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft und
aus dem Hause deines Vaters" - damit ist das Land diesseits der Mauer mit allen seinen
Bindungen gemeint - "in ein Land, das Ich dir zeigen werde." Mit dem Ruf ist ein Ahnen
gemeint, daß es noch etwas anderes geben muß, etwas, was jenseits der bisherigen Er-
fahrungen liegt. Hier rührt uns der Herr an. Es ist gewissermaßen die erste der großen
Verheißungen, die auf unsere wahre Bestimmung hinweist. Damals, wie auch heute
werden wir aufgerufen. Immer! Heute, indem der Herr uns das ganze Panorama Seiner
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 44
Himmel eröffnet hat. Wie anders sind sonst die Werke des großen Sehers aus dem Nor-
den zu verstehen, in ihnen zeigt Swedenborg das große Ziel des Menschen auf. Er weist
nicht etwa bloß darauf hin, er zeigt es buchstäblich, durchschreitet es und berichtet von
"Unaussprechlichem - was er gesehen und gehört hat". In der Abrahamsgeschichte of-
fenbarte sich der Herr in noch mehr verhüllter Weise. - Wie schon gesagt, ist Abraham
in der Folge wirklich Vater vieler Völkerschaften geworden. Die Verheißung bezieht
sich aber in erster Linie auf den inneren Menschen. Religion soll der Ansatzpunkt für
alle anderen Neigungen werden, die "wie Völker" in der Seele ein Eigenleben führen.
Jede unserer Tätigkeiten soll aus der einen Quelle gespeist werden. Darin liegt unsere
Einheit und Stärke.
Verheißung ist aber noch nicht Wirklichkeit. Vorerst heißt es einen steinigen Weg der
Demut betreten, wissend, daß wir aus uns selbst nichts sind, daß alle unsere Kräfte ei-
gentlich von "Ihm" kommen und daß wir eine völlige Bewußtseinsumwandlung durch-
machen müssen. Wir müssen alles "Eigene" unterordnen und Seinen Anweisungen fol-
gen und jedes daraus resultierende Ungemach auf uns nehmen. Daher die lange Wan-
derung unseres Abram, der übrigens in diesem Stadium noch nicht selbständig im Gei-
stigen wandelt, sondern erst Aufgeforderter ist. Daher sein Name Abram ohne "h". Erst
von einem bestimmten Stadium an, wird seine Name durch den Geistlaut "h" in Abra-
ham geändert. In einem weiteren Sinn bezeichnet Abraham den Herrn, bzw. Seine
himmlische Kirche, die Er in uns errichten will. Sein Sohn Isaak stellt die geistige Kir-
che dar und dessen Sohn Jakob die natürliche Kirche im Sinne eines Herabsteigens des
Herrn von dem innersten Himmel bis zur menschlichen Ebene. So läßt uns der Text er-
ahnen, welche Wunder uns der Herr auftun will, wenn wir uns aufmachen, alles Bishe-
rige zu verlassen und in ein neues Land (in einen neuen Zustand) zu ziehen, das Er uns
zeigen wird. Bezeichnenderweise geschieht dieser Ruf, als Therach, der Vater Abrams,
in Haran starb. Sterben ist in der Bibel immer ein Zustandswechsel, indem das Vorheri-
ge abgeödet wurde (starb!). - Der Herr in Seiner göttlichen Liebe und Weisheit tritt mehr
und mehr in unser Leben, um uns dann zu den Himmeln zu erheben. Und Abram ge-
horcht! Er nimmt sein Weib Sarai, seinen Neffen Lot und alle seine Habseligkeiten und
geht den verheißungsvollen Weg nach Kanaan.
Es scheint eine der vielen Wanderszenen zu sein, die bei einem Nomadenvolk gang und
gäbe sind. Nomaden sind wir im Geistigen auch. Mal ziehen wir hier hin, mal dahin,
immer unseren momentanen Launen oder Neigungen folgend, dorthin, wo neue Futter-
plätze (Nahrung für Seele und Geist) sind. Scheinbar wie in einem Irrgarten der Gefühle
gehen wir unseren Begierden und Wünschen nach. Die Wege führen oft von Gott weg,
beschäftigen unseren Gedanken und Sinne, wobei sehr wichtige, kostbare Zeit verloren
geht! Von irgendwo her, aus der Tiefe unseres Seins, kommt dann einmal der Ruf: "So
kann es nicht weiter gehen, es muß Besseres geben". In diesem Ruf ist der Herr auf der
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 45
Suche nach uns und verheißt uns ein neues Leben! In Wirklichkeit braucht man sein
äußeres Leben nicht völlig umzuändern, aber es bekommt einen neuen Geist. "Ich bin
der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir", lautet das erste
Gebot. Alles soll Ihm unterstellt werden! Das ist kein langweiliges Leben, sondern eine
Reise in immer seligere Zustände.
Und noch eins! Noch lange sind wir keine Wiedergeborenen, wenn wir den Ruf ver-
nehmen und ihm Folge leisten wollen. Wir sind vorerst immer noch die Alten. Daher
unser Text folgerichtig heißt: "Also nahm Abram sein Weib Sarai und Lot, seines Bru-
ders Sohn mit aller Habe, die sie sich erworben hatten …" Vorerst bleiben alle unsere
Neigungen erhalten, unsere "Habe". Abrams Brüder waren Nachor und Haran. Abram
bezeichnet in diesem Zustand noch die Eigenliebe des Menschen, seine Brüder Weltlie-
be und die Vergnügungssucht. Alle diese Liebesarten sind stark an die Sinne gebunden.
Aus der Liebe zu den Vergnügungen stammt Lot. Er repräsentierte das, was den Sinnen
gefällt oder dem äußeren Menschen behagt. Mit anderen Worten ausgedrückt, wenn wir
den Weg der Wiedergeburt beginnen, nehmen wir vorerst unsere Eigenliebe mit allen
ihren daraus hervorgehenden Neigungen, den Hang zur Sinnenfreude und den Hang
zur Außerlichkeit mit.
Um es noch einmal klar zu sagen: Durch den Bewußtseinsprozeß, daß es einen Gott
gibt, werden wir noch nicht von unserem "alten Adam" befreit. Die erste Glückseligkeit
des Augenblicks hat noch nichts mit der eigentlichen Wiedergeburt zu tun. Diese ist
nach unseren Lehren ein Akt der zunehmenden Reinigung und Abwendung vom Bösen
und Falschen, welches uns bisher regiert hat. Dieser Prozeß ist nicht auf das irdische
Leben beschränkt, sondern setzt sich auch in der geistigen Welt fort. Hören wir dazu
Swedenborg im Original: "Wenn der Mensch geboren wird, ist er in Ansehung des ane-
rerbten Bösen eine Hölle in kleinster Gestalt. Er wird auch zu einer Hölle in dem Maße
er von dem anererbten Bösen annimmt und demselben noch Böses hinzufügt. Daher
kommt es, daß die Ordnung seines Lebens durch die Anlage von der Geburt her und
durch sein wirkliches Leben der Ordnung des Himmels entgegengesetzt ist. Denn der
Mensch liebt aus dem Eigenen her sich selbst mehr als den Herrn und die Welt mehr,
als den Himmel, während doch das Leben des Himmels ist, den Herrn über alles zu lie-
ben und den Nächsten wie sich selbst. Hieraus erhellt, daß das erste Leben, welches der
Hölle angehört, ganz zerstört werden, d.h. das Böse und Falsche entfernt werden muß,
wenn ein neues Leben, welches das Leben des Himmels ist, eingepflanzt werden soll.
Dies kann aber durchaus nicht in Eile geschehen, denn jedes Böse steht in einem fest
verwurzelten Zusammenhang mit allem Bösen und dessen Falschem. Solches Böse und
Falsche ist unzählig und der Zusammenhang desselben so mannigfach, daß es gar nicht
begriffen werden kann - nicht einmal von den Engeln - sondern vom Herrn allein. Hier-
aus erhellt, daß das Leben der Hölle bei dem Menschen nicht plötzlich zerstört werden
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 46
kann, denn wenn es plötzlich geschähe, müßte er seinen Geist aufgeben, wie auch das
Leben des Himmels nicht plötzlich eingepflanzt werden kann." (HG 9336)
Diese Tatsache findet in der Geschichte der Nachkommen Abrahams ihre äußere Bestä-
tigung, indem es lange Auseinandersetzungen und Kämpfe bis zur Einnahme des Heili-
gen Landes Kanaan gab - genaugenommen bis in die heutige Zeit andauernd - und noch
immer ist kein Ende abzusehen.
"Deinem Samen will Ich dieses Land geben …" Samen sind die besten und reifsten Le-
benskräfte analog allem Guten und Wahren, und damit Ziel unseres Lebens, aus dem
das spätere Himmelreich "bevölkert" werden soll. Der Mensch, solcherart im Umbruch,
ist ganz erfüllt von den neuen Aussichten und möchte sein ganzes Leben dem Herrn
widmen. Widmen, heißt ein Leben nach der himmlischen Ordnung beginnen und damit
dem Herrn eine Bleibstatt im Herzen bereiten. Alle Gebete festigen diesen Zustand. In
der Sprache der Bibel heißt es: "Und er baute daselbst dem Herrn einen Altar."
Weiter heißt es: "Es kam aber eine Teuerung ins Land …" Teuerung geschieht immer,
wenn Warenknappheit herrscht. Auf unserer Station der Wiedergeburt sind wir in den
Zustand gelangt, in dem das neue Leben uns ganz glücklich macht und alles in Ordnung
zu sein scheint. Nun kommt aber "eine Teuerung ins Land"‚ - schildert den Ausverkauf
alter Wahrheiten, die uns in unserem bisherigem Leben als Grundlagen dienten und auf
denen unser neues Leben vorerst einmal fußt. Sie erweisen sich auf Dauer als nicht all-
zu tragfähig. Es ist einfach zu wenig, oder auch das Falsche, um damit ein geistiges Le-
ben führen zu können. Uns fehlen die Kenntnisse über geistige und himmlische Dinge.
Folglich blicken wir uns um, wer da helfen könnte: Bücher, Vorträge usw. In vollen Zü-
gen nimmt man auf. - Diese Verhaltensweisen sind nicht erst heute so, sondern von je-
her menschliche Reaktion. Wer Hunger hat, wird sich nach Nahrung umschauen.
Im geistigen Sinne ist Essen ein Aufnehmen von Kenntnissen aller Art (daher gibt es
auch so verschiedenartige Speisen). Die Art der Speise ist dabei noch völlig wertfrei.
Das alte Ägypten mit seinen Weisheitsschulen und Einweihungsritualen ist ein Entspre-
chungsbegriff für "Wissenschaft". Daher wandte sich Abram auch nach Ägypten mit
seinen Kornkammern. Entsprechungsmäßig geht es um die Befriedigung geistigen
Hungers.
Aber es ist nicht Sache der Religion, lediglich Wissen zu sammeln. Vorhin lasen wir,
was den Menschen vor und nach der Wiedergeburt unterscheidet: Vorher war es ein
Leben der Eigenliebe und nachher ein Leben der Gottes- und Nächstenliebe. Gottes- und
Nächstenliebe sind aber nicht Dinge des Wissens, sondern des Herzens, wie auch das
Land Kanaan beim geistigen Menschen das Gute und Wahre bei ihm bezeichnet. Natür-
lich ist Wissen über himmlische Dinge nicht verwerflich, sondern sehr nützlich. Aber es
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 47
befriedigt auf Dauer nicht, ist nicht Endzweck, daher auch dem Text hier zugesetzt
wird: "dass er sich daselbst als Fremdling aufhielte."
Da es das Ziel aller Wiedergeburtsbestrebungen des Herrn ist, bei uns ein tätiges Leben
der Gottes- und Nächstenliebe anzuregen, wandte sich Abram wieder aus der reinen
Wissenssphäre seinem eigentlichen Ziele zu. Ägypten war äußerst fruchtbringend für
ihn. Gestärkt und ausstaffiert mit allen Grundlagen geistigen Lebens, wie das natürlich
Gute (Dienen), geistige Wahrheiten (wissensmäßige Untermauerung) und neue Impulse
(Liebe für das Geistige), lebte er zunehmend im weisheitsvollen Wirken. Die Bibel
drückt diese Tatsache in ihrer Bildersprache aus: "… war aber sehr reich an Vieh, Silber
und Gold."
Er bewegt sich im "Mittagsland", welches den Weisheitsbereich anzeigt. Unsere Selbst-
liebe, hier als Abram bezeichnet, ist in diesem Stadium noch vorherrschend. Dies zeigt
die Schrift an, indem Abram mit seinem Weibe, Lot und allem, was er hatte, in das Mit-
tagsland zog. Sein noch unwiedergeborenes Weib stellt hier - noch - die Selbstsucht dar,
und der Neffe Lot die Vergnügungssucht, d.h. die Neigung zu den äußeren Reizen. Noch
deutlicher sagt das: "Und allem, was er hatte." Ich glaube, es ist deutlich geworden, daß
wir noch lange die alten Gewohnheiten und Neigungen behalten. Gleiches gilt auch für
uns Freunde des neuen Wortes, bzw. des neuen Verständnisses des Wortes. Nicht die
Tatsache, sich aufgemacht zu haben und in den Lehren Bescheid zu wissen, bringt
schon Wiedergeburt, sondern erst der in langen Umbildungsperioden mit seinen vielen
Anfechtungen vollzogene Wandel. Daher Swedenborg auch von der sogenannten "Neu-
en Kirche" sagt, daß auch sie anfänglich äußerlich sein würde.
Hier noch einige Aussagen Swedenhorgs über diese Kämpfe: "Allein man muß wissen,
daß ohne Versuchung niemand wiedergeboren wird, und daß mehrere Versuchungen
auf einander folgen. Dies aus dem Grund, weil die Wiedergeburt den Zweck hat, daß das
alte Leben des Menschen sterbe, und ein neues Leben, welches das himmlische ist, ein-
fließe. Daraus kann erhellen, daß notwendig ein Kampf stattfinden muß. Denn das Le-
ben des alten Menschen widersteht und will sich nicht zerstören lassen, und das Leben
des neuen Menschen kann nicht eindringen, wenn nicht das Leben des alten zerstört
ist. Hieraus erhellt, daß von beiden Seiten ein Kampf entsteht, und zwar ein heftiger,
weil es sich um das Leben handelt …" (HG 8403). Dieser Text macht auch verständlich,
warum solche "radikalen" Worte des Herrn hinsichtlich der Eroberung Kanaans ausge-
sprochen wurden, was Kritiker der Bibel ohne Kenntnis ihrer Entsprechungsgrundlagen
als Anstiftung zum Völkermord ansehen müssen.
Kämpfe mit den Feinden des Landes bilden im inneren Sinn Auseinandersetzungen in
der eigenen Seele vor. Also die Kämpfe gegen alle niederen Eigenschaften, die unser
Herz besetzt halten, in dem doch alleine Gott wohnen soll. Aber man muß sich auch von
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 48
dem trennen, was bisher als gut und gerecht galt. Dies bezeichnet insbesondere die Auf-
forderung zur Abkehr von der "Familie". - Im folgenden Abschnitt handelt es sich um
die Auseinandersetzung mit Lot, seines Bruders Sohn, der mit Abram bisher immer
mitzog. Im Mittagsland waren beide reich geworden. Das heißt, in der Weisheitssphäre
hatten beide profitiert: Die Eigenliebe, welche im Begriffe war, sich zur Gottesliebe zu
wandeln, und jener Hang zur Äußerlichkeit, dargestellt durch Lot. Man muß den Zu-
stand des mittlerweile gewandelten Abram kennen. Hören wir den Text aus der Schrift,
welcher aus Platzgründen nicht in voller Länge aufgenommen werden konnte: "… Und
er zog weiter vom Südland (Mittagsland) nach Bethel … eben an den Ort, wo er früher
den Altar errichtete. Dort rief er den Namen des Herrn an", also in der Weisheitssphäre
(noch von Ägypten herrührend) erinnert er sich an den Zustand der Gegenwart des
Herrn (er war auf seiner Wanderung schon einmal hier), wo er Ihm einst Gehorsam ge-
lobte und einen Altar errichtete. Eindeutig ein neuerlicher Impuls zur Verinnerlichung.
Dort, also in diesem Zustand, erkennt er sein zwiespältiges Wesen. Da ist einmal seine
neue und große Liebe zu Gott mit ihren Konsequenzen, auf der anderen Seite die äußere
Sinnlichkeit seines Wesens, welche auf die Reize der Welt gerichtet ist. Beide haben
große Herden, bedeutet, daß diese Eigenschaften bedeutsame Lebensbereiche umfassen.
Für den geistigen Weg ist der Hang zum sinnlichen Leben hinderlich. Es ist in Grenzen
zwar nicht falsch, denn in der Welt muß man auch leben, aber das nach außen gerichte-
te Leben muß von dem inneren, geistigen Leben abgegrenzt sein. Die Konsequenz ist
folglich die Trennung. - Wir lesen: "Und das Land mochte nicht ertragen, daß sie beiein-
ander wohnten, denn ihre Habe war sehr groß."
Die Folge in der Geschichte zeigt, daß diese Trennung in beiderseitigem Einvernehmen
und in Freundschaft geschah. Jedem das Seine. Es sind nicht feindliche Bereiche, son-
dern nur unterschiedliche Sphären, die man akzeptieren kann. Abram setzte sich später
sogar sehr für seinen Neffen ein, wie wir gleich sehen werden. Der natürliche Bereich
oder der äußere Mensch wandte sich nach der Trennung bezeichnenderweise in jene
Gegend (Zustand), in der sich Sodom entwickelte und welche später höllisch wurde.
Hier sehen wir den Hang des natürlichen Menschen zu den Begierden des Bösen. Dort
geriet er bald in Verwicklungen, Kriege und Gefangenschaft, woraus er durch Abram
(der geistigen Seite des Menschen) gerettet wurde. "… als nun Abram hörte, daß seines
Bruders Sohn gefangen war, wappnete er seine Knechte, dreihundertundachtzehn, in
seinem Hause geboren, und jagte ihnen nach." Dieser Akt der Nächstenliebe wurde
durch den Oberpriester Melchisedek, der in Salem (später Jerusalem) residierte und den
Herrn darstellt, gesegnet.
Nach dieser kleinen Vorschau über das spätere Schicksal von Lot, kehren wir wieder zu
der Trennung von Lot und Abram zurück. Nachdem diese geschah, war der Weg in das
Heilige Land frei. Alles, was uns an die Materie bindet, muß "auf seinen Platz ver-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 49
wiesen" werden. Wir verstehen: Materie muß sein und ist an und für sich nichts Ver-
werfliches. Wenn wir aber unsere Liebe an sie binden - im Sinne des nicht Los-
Kommens - verhindert sie unsere geistige Entwicklung. Auch der geistige Mensch muß
in der Materie leben, solange er hier auf Erden noch inkarniert ist, und diese fordert von
Zeit zu Zeit auch ihr Recht. Die Hinwendung zur Welt muß aber dem Geistigen unterge-
ordnet werden und diesem dienen, und nicht umgekehrt. - Solcherart befreit von erdge-
bundener Verstrickung, ist es nun möglich, dieses verheißene Land zu durchziehen, wie
es heißt: "In der Länge wie in der Breite". Letztere Ausdrucksweise könnte belanglose
Ausschmückung sein, wenn die Beschreibung nicht in der Bibel als Gottes Wort stünde.
So sollte man wieder die Entsprechungskunde zu Rate ziehen.
Alles Irdische hat Länge, Breite und Höhe und kann auch gemessen werden. Das Land
Kanaan bezeichnet das Himmlische und entzieht sich daher irdischen Maßstäben. Das
Geistige muß sich immer an den Graden seiner Vollkommenheit messen lassen. Also
wieviel Heiliges (Gottes Liebe), wieviel Wahres und wieviel daraus hervorgehendes Le-
bensgutes (Nutzwirkungen hinsichtlich der angewandten Lehre) enthält es? Unser Text
will nun sagen: Erforsche das dir sich öffnende Himmelreich und erkenne die dort herr-
schende Liebe und Weisheit Gottes. Es in Besitz nehmen heißt, es sich aneignen und
zur Lebensgrundlage machen. Dann erst erschließt sich die dritte Dimension: Es sind
die am Anderen erbrachten Dienstleistungen, im Sinne einer neu verstandenen Näch-
stenliebe.
Ist der Wille vollkommen auf die Einnahme des verheißenen Himmelreiches ausgerich-
tet, und hat der Mensch alles Hinderliche zurückgelassen und sich, mit Swedenborg
ausgedrückt, dem Einfluß Gottes geöffnet, kann der Herr seine zweite Verheißung an
ihn richten: "Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor Mir und sei fromm, siehe Ich bin
es und habe Meinen Bund mit dir." So ist die Ordnung Gottes: Zuerst der Herr, dann der
Mensch in seinem Ausgerichtet-Sein. In diesem Zustand kann sich Gott dem Menschen
nahen und gefahrlos einen Bund mit ihm schließen. Nun ist eine feste und von Gott aus
auch ewige Verbindung geschaffen - entsprechend den Zimmerleuten, die einen Ab-
bund machen, wo ein Holz in das andere greift und wodurch ein gegenseitiger Halt en-
steht. Himmelreich ohne den Menschen ist sinnlos, aber auch das Leben des Menschen
ohne Himmel ist es gleichermaßen. Sie brauchen sich gegenseitig. Als äußeres Zeichen
wird dem Abram der Geistlaut "h" eingeprägt. Das "h" ist der Hauch Gottes, Sein Atem,
das Geistfeuer, welches ihn erst zu einem Menschen macht. Der siebente Tag in der
Schöpfungsgeschichte berichtet: "Da machte Gott der Herr den Menschen aus der Erde
vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch
ein lebendiges Wesen." (1.Mose 2,7). - Da die Abrahamsgeschichte auch unsere Ge-
schichte ist, soll dieses Wirken Gottes an uns gleichermaßen geschehen. Der siebente
Tag der Schöpfungsgeschichte schildert, daß Gott "ruhte". Hier handelt es sich nur um
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 50
eine Scheinbarkeit. In Bezug auf den Menschen und die gesamte Schöpfung und deren
Erhaltung, ist Gott ständig tätig. Wie leicht könnte der Mensch wieder in den alten Zu-
stand zurückfallen! Am siebenten Tag ist der Geistlaut der Wiedergeburt, das "h", hin-
zugekommen, wie ein Markenzeichen, daß das Eingepflanzte Fuß gefaßt hat. Wohl kann
der Mensch auch nach dieser Zeit fallen, aber das "h" verhindert ein gänzliches Abdrif-
ten. Es passiert nur ein zeitweises Einkehren in die eigene Hölle.
Wir erinnern uns, daß bei der Schaffung des Menschen von der Mehrzahl die Rede war.
Wir hatten ausgeführt, wie das Weib die Neigungen, oder Liebesausrichtungen des
Menschen darstellt. Durch die erfolgten Läuterungen Abrahams wurden seine Inter-
essen ganz auf das zu erringende Himmelreich gelenkt. Sie wurden in die Ordnung Got-
tes gebracht. Auch Sarai erfährt den Geisthauch in ihrem erweiterten Namen als Sarah!
Dies drückt sich in den Worten des Herrn aus: "Du sollst dein Weib Sarai nicht mehr
Sarai heißen, sondern Sarah soll ihr Name sein."
Welche Feinheiten die Heilige Schrift aufzeigt, kann man auch erkennen, wenn man die
Stelle der Einfügung beim Namen Abram betrachtet. Sie wird in das zweite a gescho-
ben. Der Herr ist immer die "1" und steht hier am Anfang als großes "A" (Der Herr). Das
zweite a (der Geistfunke im Menschen als Sein Abbild) wird um den Geistlaut "h" erwei-
tert (also: a h a) und zeigt, daß dieser Funke das "(Geist)Feuer" entfacht hat.
Abraham und seinem Weibe Sarah, deren Ehe nun eine geistig-himmlische Verbindung
von Liebe und Weisheit darstellt, verkündet der Herr die Geburt eines Sohnes (Isaak).
Dieser bedeutet die geistige Kirche oder die inneren Wahrheiten, die aus solcher Ver-
bindung hervorgehen.
Ist die Wiedergeburt nun abgeschlossen? Nein, da diese einen in die Ewigkeit reichen-
den Prozeß darstellt. Der Mensch, die Stimme Gottes hörend und ihr folgend, soll ja erst
das Land "in Länge und Breite" einnehmen und darin heimisch werden. Um dies zu er-
kennen und recht beurteilen zu können, bedarf es der Innewerdung göttlicher Weisheit.
Diese wurde ihm gegeben: "Denn Ich will Sarah segnen. Auch von Ihr will ich Dir einen
Sohn geben. Völker sollen aus ihr werden und Könige über viel Völker."
Die Geburt des gesegneten Sohnes erscheint bei Berücksichtigung des Alters von Abra-
ham und Sarah erst einmal ziemlich unwahrscheinlich. Jedoch sind die Zahlen in der
Heiligen Schrift unter Entsprechungsgesichtspunkten besonders interessant. Sie stellen
nämlich nicht Zeiträume dar, sondern Zustände. Swedenborg: "… im Wort ist nichts ge-
schrieben, was nicht in einen geistigen und himmlischen Sinn überginge bei den En-
geln; denn die Engel sind in keinen anderen, als geistigen und himmlischen Ideen. Sie
wissen nicht, noch werden inne, was 8 und 6 ist, auch bekümmern sie sich nicht dar-
um, wie alt Abraham war, als Hagar ihm den Ismael gebar. Wenn aber eine solche Zahl
gelesen worden ist, stößt ihnen sogleich auf, was die Zahlen in sich schließen."
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 51
Als Abram aus Haran auf Geheiß des Herrn fortzog ("Geh in ein Land …") und er sich
damit zu einem geistigen Leben wandte, war er 75 Jahre alt. Zusammengesetzt heißt die
Zahl: 7 (göttliche Eigenschaften) und 5 (noch nicht das Ganze - alles wäre die 10). An-
ders ausgedrückt ist es der Beginn des göttlichen Lichtes, aber erst ein Teil davon (5).
Als der Herr später einen Bund mit Abraham machte, war er 99 Jahre alt (In der Zah-
lenmystik werden die einzelnen Zahlen gedeutet), also zweimal die neun, jedesmal der
Zustand ganz kurz vor der Vollendung. In diesem Fall, sowohl in der geistigen, wie in
der himmlischen Entwicklung. Erst in der Fülle der geistigen Reife kann man das Land
"durchziehen in Länge und Breite". Als nach vielen Schwierigkeiten der angekündigte
Sohn doch noch von Sarah geboren wurde, war Abraham 100 Jahre alt. Der Sohn stellt,
wie oben gesagt, das vernünftig Wahre dar, in unserer Geschichte sogar das göttlich
Wahre, oder die geistige Kirche, welche aus der Vereinigung der Weisheit (Abraham)
mit der Liebe zu Gott (Sarah) hervorgegangen ist. Daß Abraham vor der Geburt Isaaks
noch den Sohn Ismael mit der ägyptischen Magd seiner Frau zeugte, war damals ganz
legal, war sie doch als Magd eine Leibeigene ihrer Herrin Sarah. Die Bedeutung liegt na-
türlich in der Entsprechung. Ägypten läßt aufhorchen und auch, daß sie eine Magd war,
also eine Hilfe auf dem Weg zur Wiedergeburt. Ismael ist ein Kind der Weisheit (Ägyp-
ten) und später der Vater der Araber. Abraham war zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt.
Die 8 setzt sich zusammen aus 2x4, welcher Zustand Versuchungen (4) im geistigen
und himmlischen Leben bezeichnet, daher die Verdoppelung. Die 6 ist eine Weiterfüh-
rung von der 5 - also das Fortschreiten der eingeschlagenen Bahn. Das Kind aus der
Liebe zu Gott - und damit die Krönung einer Entwicklung - wird ihm mit 100 Jahren ge-
boren, als das volle himmlische Leben erreicht ist.
Es geht bei diesem Thema darum, daß wir wahr werden mit uns selbst, wahr werden
gegenüber dem Nächsten und wahr werden gegenüber Gott. Es geht um unser geistiges
Leben als die einzige Wirklichkeit. Es geht um unsere Beziehung zu unserem himmli-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 52
schen Vater. Wie ernst meinen wir es, wie ernsthaft verlangt unsere Seele auf seinen
Wegen vorwärts zu kommen?
In der Heiligen Schrift finden wir sein Versprechen: "Suchet, so werdet ihr finden!"
Aber es steht auch geschrieben: "Ihr werdet mich suchen und werdet doch in euren
Sünden sterben." Ein Widerspruch? Oder ist es ein Hinweis darauf, daß es auch ein un-
wahrhaftiges Suchen bei uns Menschen geben kann? Unwahrhaftigkeit ist der beleidi-
gendste Vorwurf, den wir uns gegenseitig machen können; er verletzt unser Herz. Un-
wahrhaftigkeit ist die allgemeinste aller Erbärmlichkeiten. "Ein wahrhafter Mensch ist
das seltenste aller Phänomene", schreibt Faber in seinem Buch.
Ich habe daraufhin die Konkordanz zur Bibel zur Hand genommen und unter den
Stichwörtern "lügen" und "Lüge" nachgeschlagen und dort Hinweise auf sehr viele Bi-
belstellen gefunden. Hier nur einige: "… mit deiner Lüge bringst du dich selbst um dein
Leben" (StD 1,55). "… sie finden Gefallen an der Lüge, mit ihrem Mund segnen sie, doch
in ihrem Innern fluchen sie." (Ps.62,5-6). "… du hast Mich vergessen und auf Lügen ver-
traut" (Jer.13,26). "… wir haben Lüge zu unserer Zuflucht gemacht und in Trug uns ge-
borgen" (Jes. 28,15). "… draußen sind die, die Lüge lieben und tun" (Off. 22,15). "… es ist
die alte Eigenliebe, als der Vater der Lüge und aller Übel aus ihr, die Lüge aber ist die
alte sündige Materie als die sündige Erscheinlichkeit der Eigenliebe, der Selbstsucht,
des Hochmuts und der Herrschsucht" (Lorber, GEJ Bd.6).
Der erste Schritt zur Wahrhaftigkeit ist unsere Erkenntnis, daß sie uns abgeht. Denn
aus dieser Erkenntnis erwächst der Entschluß und das Streben, diese Wahrhaftigkeit zu
erlangen. Ein allgemeines Schuldbekenntnis reicht aber nicht aus! Wir müssen in uns
gehen und unser ganzes Elend und unsere ganze Verderbtheit aufspüren. Swedenborg
spricht "von denjenigen, die sich zwar aller Sünden schuldig bekennen, aber keine ein-
zige bei sich aufsuchen (es kann doch niemand das, was er nicht kennt, fliehen, noch
dagegen kämpfen)" und sagt, "das sich zu allen Sünden bekennen, ist ein Einschläfern
aller und zuletzt ein Sichverblenden". "Alles Böse, das nicht zur Erscheinung kommt,
glimmt fort und ist wie Feuer im Holz unter der Asche, auch wie Eiter in einer Wunde,
die nicht geöffnet wird" (GV 278). Die innerliche Verderbtheit unserer Natur ist der
Rohstoff für unsere Selbsttäuschung. Die Bösartigkeit dieser Verderbtheit liegt in der
Verlogenheit. Und am meisten betrügen wir unser Ich. "… mit deiner Lüge bringst du
dich selbst um dein Leben" (StD 1,55).
Es gibt auf der Welt nichts Schwereres, als sich selbst zu erkennen. Aber wir müssen
uns fragen: Bemühen wir uns ernstlich darum? Sind wir ehrlich bei unserer Gewissens-
erforschung? Wieviel Platz und Zeit hat sie in unserer Tagesordung? Wie steht es mit
Regelmäßigkeit, Genauigkeit und Fleiß? "Nichts ist dem ganzen Menschen heilsamer
als eine zeitweilige innere Sichselbstbeschauung." (Lorber, GEJ I.224.8). "Widmet Mir
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 53
die Vorhänge vor diesem Winkel unseres Ichs und sperren ab. Wie ein Zimmer mit un-
guten Erfahrungen. Aber glauben wir denn, daß der Vater diesen Ort nicht kennt?
Wahrhaft ernst und echt zu sich und anderen sein, dazu gehört: Zu vermeiden unsere
eigenen Handlungen zu besprechen und zu erklären. Warum? Fast nie bespricht je-
mand seine eigene Handlung oder erläutert seine Beweggründe, ohne dabei unwahr zu
sein. Allein das Auslassen des Schlechten, macht die Darlegung des Guten zur Unwahr-
heit. (Beispiel: machen wir unsere Gebetsübungen bekannt, so sollten wir mit unserer
Anhänglichkeit an hübschen Möbeln und gut sitzenden Kleidern nicht hinter dem Berge
halten.) "… habt acht auf eure Frömmigkeit, daß sie nicht laut werde vor den Leuten".
(Matth.6,1-3). Nie tun wir irgend eine Handlung allein aus einem Grund. Bei Anderen
fällt es uns auf. Wir begeben uns in eine Lage, aus der wir ohne Schaden für unsere
Aufrichtigkeit nicht wieder herauskommen. Es bringt uns aber niemand in diese Lage!
Niemand bedarf unserer Erläuterungen über unser Tun. Es kümmert die anderen viel
weniger, als wir gern glauben wollen. In Wirklichkeit steckt Eitelkeit und überhöhte
Selbsteinschätzung dahinter. Wer andere täuscht, täuscht schließlich immer sich selbst.
Die Ehrlichkeit gegenüber Gott. Wir wissen, daß Er uns völlig durchschaut. Wir wissen,
daß unsere jämmerlichen Entschuldigungen und Ausflüchte in ihrer ganzen Häßlichkeit
offen vor Ihm liegen. "Herr, du hast mich erforscht und erkannt, du erkennst meine Ge-
danken von ferne; da ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr nicht schon wüßtest"
(Ps. 139). Aber wir lassen dieses Wissen für uns im täglichen Leben nicht an die Ober-
fläche kommen. Es ist ein schlimmer Gedanke unaufrichtig mit Gott zu sein, und doch
sind wir es in erschreckendem Ausmaß. "Herr, rette meine Seele vor Lügenlippen" (Ps.
120). "… darum ist das Reich fern von uns, denn zahlreich sind unsere Verbrechen,
denn unsere Vergehen sind uns bewußt und unsere Sünde, die kennen wir." "… mit Lü-
genworten schwanger werden und sie aus dem Herzen sprechen". (Jes.59,13). "… denn
Lüge machten wir uns zur Zuflucht, im Truge verbargen wir uns". (Jes. 28, 15).
Nuß der Selbsterkenntnis zu knacken. "… die Selbstliebe bringt mit sich, daß man nicht
geleitet werden will vom Herrn, sondern von sich selbst" (Swed.).
Zweitens, das eigene Ich, das sich selbst betrügt. Eitelkeit ist hier die verbreitetste Ur-
sache. Wir alle überschätzen uns auf die törichste Weise! Z.B. wenn wir uns in Gedan-
ken über uns selbst aufhalten, beginnt sofort die Selbsttäuschung. Das eigene Ich sieht
sich immer falsch! Über uns selbst nachzugrübeln führt uns auf einen neuen Weg zur
Selbsttäuschung und zwar dadurch, daß wir fast ohne es zu merken unsere Gefühle mit
der Wirklichkeit unsere frommen Wünsche mit Taten verwechseln! Die Selbstliebe ver-
steht es mit viel Geschick, ihre Ideale und die Verwirklichung ineinander übergehen zu
lassen, so daß niemand wissen soll, was Theorie und was Praxis ist. Weiter betrügen wir
uns dadurch, daß wir das, was offenbar unrecht ist, beschönigen. Ein fortlaufender
Kommentar heimlicher Selbstentschuldigung geht uns durch den Kopf. Wir geben zu,
gewisse Handlungen oder Unterlassungen sind unrecht. Aber die Verhältnisse liegen
bei uns ganz besonders, wodurch bei uns weniger unrecht ist als bei anderen. Manch-
mal hat unser Temperament Schuld, unsere Gesundheit, unsere Stellung. Manchmal
sind wir gereizt worden. Wir begnügen uns mit leichter Rüge, blicken gleich auf die gu-
ten Seiten unseres Charakters und überhaupt: wer von uns ist schon ohne Fehl? Und
damit sind wir beim Anderen und weg von uns. Mit dieser Methode der Selbsttäu-
schung, versuchen wir eine genauere Bekanntschaft mit unseren fadenscheinigen Moti-
ven aufzuschieben. Wir haben so viel zu tun! Und es ist im geistlichen Leben immer
unklug, sich mehr vorzunehmen, als man leisten kann. Wir haben so viele offenkundige
Fehler zu bekämpfen, so eilt es nicht so sehr mit gründlicher Selbstprüfung. "… denn
das sich zu allen Sünden bekennen ist ein Einschläfern aller und ein sich Verblenden"
(Swed.).
Drittens, man läßt sich von außen durch Dinge oder Personen täuschen. Wir sind min-
destens doppelt so lobsüchtig, als wir wahr haben wollen! Wenn wir auf Lob ausgehen
oder uns doch unmißverständlich darin sonnen, so lassen wir uns durch andere täu-
schen, oft ohne deren Schuld. Die Gier nach Lob ist selbst in den Demütigsten noch un-
begreiflich stark. Wir bekümmern uns fast gar nicht um die Qualität des Lobes. Wie
durstige Kamele in der Wüste das schmutzigste Wasser mit Wonne trinken! Wir geben
dem Lob eine Bedeutung, die uns tief beschämen sollte! Wir bringen andere dazu, uns
zu täuschen, durch die Art, wie wir mit ihnen über uns selbst sprechen. Dies gilt beson-
ders bei frommen Gesprächen und dem Gerede über unseren Charakter. Hier gibt es
nur eine Alternative: Unser inneres Leben viel mehr geheim zu halten oder es viel
schrankenloser zu offenbaren. Der Mittelweg bedeutet lügen. Das Richtige: überhaupt
nicht über sich selbst sprechen! Doch es gibt kaum eine schwierigere Übung christli-
cher Vollkommenheit, als solches Gerede zu lassen, Wir machen die Leute glauben, daß
wir viel edler sind als in Wirklichkeit und veranlassen sie so zu Lob und Bewunderung.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 56
Das ist Selbstbetrug in höchster Form. Auch geistige Bücher sind äußere Dinge, die uns
unecht machen können. Heldenhafte Gedanken sind ansteckend, aber sie versagen den
Dienst für heldenhaftes Tun. Sie geben unserer Religiösität nur eine sentimentale Note.
"… da aber das Tun doch immer noch etwas Ernsteres ist als das alleinige Lesen selbst
des ernstesten Buches, so erklärt sich die Sache von selbst, mit welcher Schwierigkeit
da das Tun wird zu kämpfen haben. Es ist leicht das Hören, und nicht schwer das Lesen
und ebenso leicht das Zuschauen; aber das Selbsttun ist für jedermann von keinem gro-
ßen Reize. Was nützt aber jemandem das Wissen und Nicht-Tun-danach?!" (Lorber)
Wenn ein geistliches Buch uns nicht demütigt und niederhält, so bläht es uns auf und
macht uns unecht.
gen. Er hat seine Seele mit Mystik genährt, und sie dabei verhungern lassen; gewöhnli-
che Frömmigkeit hätte ihr so gut getan. Er fing an, die Heiligen in dem nachzuahmen,
was unnachahmlich ist und endet damit, das religiöse Leben entmutigt aufzugeben. An-
fänglich gierte er nach Übernatürlichem und schließlich findet er die gewöhnlichen
Übungen des Glaubens schwierig.
Die Selbsttäuschung durch falsche Demut. Jedermann fühlt, daß die Demut in besonde-
rer Weise die Tugend der Vollkommenheit ist und jeder will sie erwerben. Wir fangen
an, abfällig von uns zu reden (glauben aber nicht im geringsten daran!) Diese Selbstan-
klagen neigen dazu, geistige Blindheit zu erzeugen. Diese künstliche Selbsterniedri-
gung bringt uns dahin, daß wir uns im Dienste Gottes nur an Niederes heranwagen. Der
Mensch bleibt hinter den Absichten Gottes zurück. Selbsttäuschung untergräbt und zer-
stört die volle Entfaltung des Menschen. So armselig diese Selbsttäuschung auch ist, hat
sie doch ihren Stolz!
Es gibt nun vielfältige Kreuzungen bei diesen Arten der Selbsttäuschung. Man ver-
strickt sich in nichts auf der Welt so sehr wie in Selbsttäuschung. Alle Formen sind
schnell um sich greifende Krankheiten. "Solche, die sich nicht prüfen, sind mit Kranken
zu vergleichen, bei welchen das Blut infolge der Verstopfung der kleinsten Gefäße ver-
dorben ist" (Swed.).
Man braucht ein gewisses Maß frommen Mutes, diese widerliche Erscheinung unserer
gefallenen Natur immer genauer kennenzulernen. "Die Selbstliebe als der erbittertste
Feind Gottes und seiner Vorsehung, diese wohnt im Innern eines jeden Menschen von
Geburt an. Wenn du sie nicht erkennst - und sie will nicht erkannt werden - so wohnt
sie in Sicherheit und bewacht die Pforte, daß diese nicht vom Menschen geöffnet - und
die Selbstliebe dann vom Herrn ausgetrieben werde. Die Pforte wird vom Menschen da-
durch geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht wie aus sich" (Swed.). Daß der Mensch
selbst öffnen muß, erklärt der Vater in der Heiligen Schrift: "Ich stehe vor der Tür und
klopfe an, wenn jemand Meine Stimme hört und die Tür auftut, so will Ich zu ihm ein-
gehen und Abendmahl halten."
Wir müssen die vielen Arten der Selbsttäuschung auch als festes Ganzes betrachten
und dabei fällt auf: ihre unbegrenzte Macht! Andere Versuchungen haben ein begrenz-
tes Feld. Selbsttäuschung muß mehr sein als eine Versuchung. Versuchungen stellen
sich unter bestimmten Umständen ein, und diese Umstände verkünden uns die kom-
mende Versuchung. Selbsttäuschung ist überall. Sie leitet zu bestimmten Vorgehen an,
gibt Beharrlichkeit dazu. Sie ist der Erdboden, der Untergrund für unsere Handlungen
und sie überwölbt sie wie das Firmament. Sie lobt und fördert die Eigenliebe, sie leitet
das Gewissen irre, sie ist nie müde, immer in unserer Gesellschaft.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 58
Das zweite Merkmal: ihre Geschicklichkeit, den Schein des Guten anzunehmen. Es ist
nicht nur ein geschicktes Sich-Drapieren mit den Gewändern der Tugend. Sie trägt sie
beständig! Sähe man ihr die Bosheit an, niemand würde sich täuschen lassen. Die
Selbsttäuschung läßt uns Teufelswerk tun im Glauben es sei Gotteswerk! "Selbstsucht,
die wohl zum Scheine mit dem Lämmergewand der Liebe angetan, inwendig aber ein
reißender Wolf ist, der am Ende alles Edle im Herzen und den Geist zu erdrücken
strebt" (Lorber). Heuchelei hat nur ein kurzes Dasein, es sei denn, daß sie mit einem
gewissen Maß Frömmigkeit gepaart ist. Selbsttäuschung hält sich mit Absicht in der
Nachbarschaft des Guten, um warmgehalten und gepflegt zu werden.
Ein drittes Merkmal für die Selbsttäuschung: sie nimmt mit dem Alter zu. Je mehr sich
das Leben weitet, um so mehr weiten sich unsere Anlagen zur Selbsttäuschung. Noch
ein Merkmal: es gibt ein Ding, und nur dies eine, neben dem die Selbsttäuschung bei-
nahe nicht bestehen kann: Nachhaltiger Schmerz über die Sünde - die Reue. Und eine
schwache Stelle hat die Selbsttäuschung: es schmerzt sie, wenn man sie berührt. Die
Berührung schädigt sie nicht, aber sie zuckt unter ihr zusammen, und durch ihre Emp-
findlichkeit bei Berührung, verrät sie sich.
Wir haben alle gewisse Eigenheiten, Gewohnheiten, Haltungen in unserem Benehmen;
tadelt man sie, ärgern wir uns. Aber warum bleiben wir ganz ruhig, beim Tadel einer
bestimmten Unart, und warum fliegen wir wie Schießpulver in die Luft, wenn eine an-
dere berührt wird? Gewöhnlich verrät sich hier die Selbsttäuschung. Je tiefer wir uns in
die Erkenntnis unserer eigenen Unwahrhaftigkeit versenken, um so näher kommen wir
der erhabenen Wahrhaftigkeit Gottes. Die Erkenntnis unserer Selbsttäuschung kommt
einer Heilung am nächsten. So ist großes Mißtrauen gegen sich selbst ein erstes Heil-
mittel, aber es muß ins Einzelne gehen. Wir müssen uns die Überzeugung beibringen,
daß wir dann am sichersten im Unrecht sind, wenn wir ganz sicher sind, im Recht zu
sein.
Ein weiteres Heilmittel ist das Betrachten der Eigenschaften Gottes. Was wir häufig be-
trachten, ahmen wir unbewußt nach. Unsere große Chance: wir sind in das Bild Gottes
und in Seine Ähnlichkeit geschaffen. Sein Bild liegt in uns, es muß nicht erst geprägt
werden. Origenes nennt dafür folgendes Gleichnis: Das Bild Gottes in der Seele Grund
ist wie ein lebendiger Brunnen. Wenn jemand Erde, das ist irdisches Begehren, darauf
wirft, so hindert und bedeckt es ihn, so daß man nichts von ihm erkennt. Gleichviel
bleibt er in sich lebendig und wenn man die Erde wegnimmt, so kommt er wieder zum
Vorschein. Origenes nimmt dies aus 1. Mose 26: "Abraham grub in seinen Acker leben-
dige Brunnen, die Philister verstopften sie und füllten sie mit Erde … und Isaak grub die
Brunnen wieder aus und sie fanden Brunnen mit lebendigem Wasser". "Und das Licht
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 59
scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfaßt" (Joh 1). Auch in unsere
Finsternis scheint sein Licht.
Was wird uns wahr machen? "Die Selbstliebe bewacht die Pforte, daß diese nicht vom
Menschen geöffnet wird und der Herr die Selbstliebe austreibt. Die Pforte wird vom
Menschen dadurch geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht … Die Erkenntnis der Sün-
de und die Selbstprüfung sind der Anfang der Buße und die Buße ist das erste der Kir-
che beim Menschen. Aber Buße ist nicht seufzen und stöhnen, auch eine gewisse Zer-
knirschung ist nicht Buße! Buße ist nicht möglich ohne Selbstprüfung. Das Böse kann
nicht entfernt werden, wenn es nicht zur Erscheinung kommt; das heißt nicht, daß der
Mensch das Böse tun solle, sondern daß er sich prüfen soll. Sich prüfen heißt: das Böse
anschauen, anerkennen, bekennen und davon abstehen. Damit sich der Mensch prüfen
kann, ist ihm der Verstand gegeben und zwar getrennt von seinem Willen, auf daß er
wissen, verstehen und anerkennen möge, was gut und was böse ist und wie sein Wille
beschaffen ist" (Swed.). "Wer seine Seele finden will, der wird sie verlieren, und wer
seine Seele verliert um Meinetwillen, der wird sie finden" (Matth 10).
Auch das Gleichnis vom Unkraut im Acker bei Matthäus 13 weist auf unsere Aufgabe
hin: es ging ein Mann aus und säte guten Samen auf den Acker und es ging der gute
Same auf, aber mit ihm wuchs auch viel Unkraut auf dem Acker. Daß der Mann in die-
sem Gleichnis der Vater ist und sein Wort der gute Same und der Acker unsere Seele,
ist uns erklärt. Es ist nun unsere Aufgabe, freien Boden zu schaffen, für den einge-
pflanzten guten Samen. Aber ohne seine Hilfe ist uns nichts möglich. "Ohne Mich könnt
ihr nichts tun".
Das Bild von der Fußwaschung haben wir uns an dieser Stelle betrachtet. "Wenn Ich
dich nicht reinige, so hast du keinen Teil an Mir", sagt Jesus zu dem Jünger. "Erforsche
dein Herz an jedem Tag, und findest du dann eine andere Liebe und Neigung in ihm als
die zu mir, so rufe Mich und zeige mir dein Herz, und Ich werde es sogleich reinigen für
Mich und jede unlautere Begierde und Lust aus dir treiben" (Lorber). "Wahrlich, wahr-
lich Ich sage euch, wer nicht durch die Tür in den Schafstall eingeht (der Schafstall ist
die Kirche des Herrn) … Ich bin die Tür und wer durch Mich eingeht wird selig werden
und Weide finden". (Joh 10). "Fürchte dich nicht, denn Ich habe dich erlöst! Ich habe
dich bei deinem Namen gerufen, du bist Mein. Wenn du durchs Wasser gehst, Ich bin
bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuer
gehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen" (Jes
43). Durchs Wasser unseres Eigensinnes und durchs Feuer unserer Eigenliebe müssen
wir gehen - aber: "Fürchte dich nicht, denn Ich bin bei dir" (Jes 43).
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 60
Emanuel Swedenborg
Hieroglyphischer Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheim-
nissen mittels Repräsentationen und Entsprechungen
übersetzt von Thomas Noack
Vorbemerkung. Der Originaltitel lautet, Clavis hieroglyphica arcanorum naturalium et
spiritualium per viam repraesentationum et correspondentiarum. Die Handschrift im
Codex 79 wird in The Royal Swedish Academy of Scienes (Kungliga Vetenskapsakade-
mien), Stockholm aufbewahrt, wo meine Frau und ich sie anlässlich einer Studienreise
im Jahre 1992 einsehen konnten. Das Werk wurde 1784 von Robert Hindmarsh in Lon-
don veröffentlicht und bisher nur in die englische, schwedische und französische Spra-
che übersetzt. Es besteht aus einundzwanzig sogenannten "Beispielen", in denen Swe-
denborg ähnliche Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet. Dem schließen
sich im Idealfall drei Abschnitte an, nämlich erstens Reflexionen über die in den Bei-
spielen vorgestellten Entsprechungen, zweitens Bestätigungen der in den Beispielen
gemachten Aussagen und drittens die Formulierung einiger Regeln. Dieser Dreischritt
stellt, wie gesagt, den Idealfall dar, der aber nicht immer vollständig durchgeführt wird.
Swedenborg schrieb diesen "Hieroglyphischen Schlüssel" 174436, also gegen Ende sei-
ner Krisen- und Übergangszeit vom Naturforscher zum Seher. Beim Nachdenken über
seine Träume, die er schon von 1736 bis 1740 hatte, jedoch sind nur jene der Jahre
1743 bis 1744 aus dem bekannten Traumtagebuch erhalten, konnte er die sich in ihm
formende Lehre von den Entsprechungen und Repräsentationen anwenden. In seinem
Werk "Die Seele" bekundet Swedenborg 1741 seine Absicht einen "Schlüssel zu den na-
türlichen und geistigen Geheimnissen mittels Entsprechungen und Repräsentationen"
zu schreiben, "der uns schneller und sicherer in die verborgenen Wahrheiten führt" und
eine Lehre darstellt, "die der Welt bisher unbekannt war" (De Anima 567). 1744 schrieb
er dann besagten "Schlüssel", der wenig oder nichts mit den ägyptischen Hieroglyphen
zu tun hat, dafür aber einen ersten Entwurf jener Wissenschaft der Entsprechungen
enthält, die dem erleuchteten Bibelforscher und Seher geistiger Welten später klar und
ausgereift vor Augen stand. Im "Hieroglyphischen Schlüssel" ist alles noch Rohmaterial,
auch die Terminologie ist noch im Werden, tastend, gleichwohl von der Ahnung geleitet,
daß auf diesem Wege adamisches Wissen zu finden sei, formuliert der spätere Seher
erstmals Gesetze der Grammatik des Geistes. In den "Himmlischen Geheimnissen", dem
ersten ganz aus der Erleuchtung geschriebenen Werk der Jahre 1749 bis 1756, wird
von ihnen kaum noch die Rede sein; nur der aufmerksame Leser dieses monumentalen
Werkes entdeckt auch dort noch die Spuren und Reste jener einstigen Suche nach den
36
Datierung nach W. R. Woofenden, Swedenborg Researcher's Manuel, 1988, 55.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 61
Regeln der königlichen Wissenschaft der Entsprechungen. Der Seher sieht, der Schüler
aber studiert. Im Jahre 1744 ist Swedenborg noch der Schüler, der die Grammatik des
Geistes lernen will, der zwar schon ahnungsreich weiß, daß alles sinnlich Sichtbare eine
verzweifelte Ähnlichkeit mit den ägyptischen Hieroglyphen hat, die damals noch nicht
entziffert waren, dem aber die Tür in die inneren Geheimnisse noch nicht wirklich auf-
getan wurde. Wagen wir also einen Blick in das Schulheft eines Pioniers der Entspre-
chungswissenschaft. Im Folgenden lesen wir die Übersetzung der ersten drei Beispiele.
Erstes Beispiel37
So lange die Bewegung andauert, dauert auch das Streben (conatus), denn das Streben
ist die bewegende Kraft in der Natur. Das Streben allein ist aber eine tote Kraft.
So lange sich die Tätigkeit fortsetzt, setzt sich auch der Wille fort, denn der Wille ist das
Streben des menschlichen Geistes (mentis) nach Tätigkeit. Aus dem Willen allein folgt
jedoch keine Tätigkeit.
So fortdauernd wie die göttliche Wirksamkeit, ist auch seine Vorsehung, denn die Vor-
sehung ist der göttliche Wille, wirksam zu sein. Aus der Vorsehung allein folgt aber
keine Wirksamkeit.
Die folgenden Begriffe entsprechen einander: 1. Bewegung, Tätigkeit und Wirksam-
keit. Tätigkeit wird allerdings auch der Natur zugeschrieben, weswegen man anstelle
von Bewegung auch Tätigkeit hätte setzen können. Aber Tätigkeit fließt genau genom-
men aus einem Anfang, der von sich aus tätig sein kann bzw. dem ein Wille innewohnt,
also aus dem menschlichen Geist. Tätigkeit, häufiger aber Wirksamkeit, sagt man ge-
wöhnlich auch von der göttlichen Vorsehung aus, auch wenn das kein spezifisch geisti-
ger Begriff ist. 2. Streben, Wille und Vorsehung. Weil (die Bewegung) auf ein Streben hi-
nausläuft, ist (Streben) ein bloß natürlicher Begriff. Der Wille hingegen gehört zum ver-
nunftbegabten Geist und die Vorsehung zum alleinigen Gott. Daß Wille und Streben
einander entsprechen, möge man im Abschnitt über den Willen nachschauen. Daß aber
auch die Vorsehung (in diesem Entsprechungszusammenhang steht), ergibt sich aus
folgender Überlegung: So wie der Wille die gesamte menschliche Tätigkeit in sich
schließt, so schließt die Vorsehung die gesamte göttliche Wirksamkeit bzw. seinen all-
umfassenden Willen in sich. 3. Natur, menschlicher Geist und göttlicher Geist bzw. Gott. In
der ersten Klasse (classe)38 sind alle Begriffe enthalten, die rein natürlich sind; in der
zweiten alle vernunft- und verstandesbezogenen, daher auch die sittlichen, folglich alle
den menschlichen Geist betreffenden; in der dritten die theologischen und göttlichen.
Deswegen entsprechen diese Begriffe einander.
Bestätigung der Leitsätze: 1. Daß die Bewegung so lange andauert wie das Streben ist
ein allgemeiner Lehrsatz der Philosophen, denn sie sagen, in der Bewegung sei nichts
Reales außer das Streben vorhanden. Außerdem sei die Bewegung ein ständiges Stre-
ben. Anstelle von Bewegung kann man auch Tätigkeit setzen, und zwar eine rein natür-
liche Tätigkeit, die aus einer Kraft hervorgeflossen ist oder eine Wirkung zur Folge hat.
37
Beachtenswert ist, dass Swedenborg von Beispielen ausgeht. Er will seinen "Hieroglyphischen
Schlüssel" also nicht aus der Vernunft ableiten, sondern will von Erfahrungen ausgehen.
38
Swedenborg spricht hier noch von "Klassen", später wird er bevorzugt von "Graden" reden, wenn-
gleich der erstgenannte Begriff in den Himmlischen Geheimnissen noch vorkommt.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 63
2. Das Streben ist die bewegende Kraft in der Natur: Einem philosophischen Grundsatz
(Axioma philosophicum) zufolge besteht eine Kraft in einem ununterbrochenen Streben
nach Tätigkeit und ist der Anfang der Tätigkeiten und Veränderungen. Daraus folgt, daß
die bewegende Kraft in einem unaufhörlichen Streben nach Veränderung des Ortes be-
steht. 3. Daß das Streben ohne Bewegung eine tote Kraft ist, folgt auch aus einer der
Wolff'schen Regeln, wonach nämlich eine Kraft tot ist, die nur im Streben besteht, und
eine lebende Kraft mit örtlicher Bewegung verbunden ist. 4. Was den Willen anbelangt,
und zwar den menschlichen, der von einem vernunftbegabten Geist herkommt, der sei-
nerseits Quelle der vernunftbegabten Tätigkeit ist, (muß folgendes gesagt werden): Es
gibt auch beseelte Tätigkeiten (actiones animales), die aus einem Willen hervorfließen,
der dem vernunftbegabten Willen ähnlich ist. 5. Daß die Vorsehung nicht wirkkräftig
gegeben wird, ist aus den Heiligen (Schriften) ersichtlich, denn der menschliche Geist
ist es, der die gesamte göttliche Macht zurückstößt. Man kann aber nicht sagen, die
Vorsehung sei säumig, nur weil sie nicht aufgenommen werde. Wie ja auch der Wille
nicht säumig ist, wenn auch die Tätigkeit noch so sehr ausbleibt.
Regeln: 1. Die erste Klasse nenne ich die natürliche; die zweite die Klasse der ver-
nunftbegabten Lebewesen, sie umfaßt auch die sittlichen Gegenstände; und die dritte
nenne ich die Klasse der geistigen oder theologischen Sachverhalte. 2. Die erste Materie
(Materia principalis) darf nicht durch dieselben Begriffe ausgedrückt werden, sondern
durch andere, einer jeden Klasse eigentümliche, wie diese: Streben, Wille, Vorsehung.
3. Und zwar durch solche Begriffe, die beim ersten Hinschauen (primo intuitu) nicht
dasselbe zu bezeichnen oder darzustellen scheinen. Man begreift nämlich nicht sofort,
daß der Wille dem Streben und die Vorsehung dem Willen entspricht; und daß der ver-
nunftbegabte Geist der Natur und Gott dem vernunftbegabten Geist entspricht usw. 4.
Die rein natürlichen Begriffe müssen durch etwas verstandesbezogenere natürliche Be-
griffe erklärt und definiert werden. Aber die Begriffe der vernünftigen Klasse müssen
durch Begriffe der natürlichen Klasse definiert werden und ebenso die Begriffe der theo-
logischen Klasse durch Begriffe der vernünftigen Klasse. So wird das Streben durch die
Kraft des Tätigseins definiert, der Wille durch das Streben des menschlichen Geistes
nach Tätigkeit und die Vorsehung durch den göttlichen Willen nach Wirksamkeit usw.
5. In vielen Fällen darf man dieselben und ähnliche Begriffe in den einzelnen Klassen
anwenden, andernfalls würde man das Denken allzusehr verdunkeln. Begriffe wie "so
lange", "andauern", "sich fortsetzen", "allein", "ist", "folgt" und "und" sind nämlich kei-
ne wesentlichen Begriffe. Und könnte man sie auch in andere, der jeweiligen Klasse ei-
gentümliche umwandeln, so ist es dennoch besser die gewohnten Begriffe dem Ver-
ständnis zuliebe beizubehalten. 6. Ferner (darf man) die eine Formel der einen Klasse
(in der anderen Klasse) durch mehrere Begriffe und durch Umschreibung ausdrücken,
wie diese Formel: Das Streben allein ist eine tote Kraft. In den folgenden Klassen heißt
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 64
das: Der Wille allein ist ein Streben, dem keine Tätigkeit folgt. D. h. "keine Tätigkeit"
oder "Untätigkeit" ist dasselbe wie "tote Tätigkeit", was aber ungeschickt klingt. So ver-
hält es sich auch in der dritten bzw. theologischen Klasse.
Zweites Beispiel
In der ganzen Natur ist ein wirkendes Prinzip vorhanden, das dem Streben der Natur
eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Beschaffenheit dieses Prinzips die Beschaffenheit
der Möglichkeit des Wirkens, und die Beschaffenheit der Möglichkeit die des Strebens,
und die des Strebens die der Bewegung und daher die der Ursache.
In jedem menschlichen Geist ist die Vorstellung und die Liebe zu einem Endzweck vor-
handen, die dem Willen des Geistes eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Beschaffenheit
der Liebe die des Verlangens, und die des Verlangens die des Wohlwollens und des Wil-
lens, und die des Willens die der Tat und schließlich die der Erreichung des Endzwecks.
Es gibt eine allerreinste Liebe zu uns und für unser Heil, das der Endzweck der Schöp-
fung ist. Sie ist Gottes Vorsehung eingepflanzt. Daher bestimmt die Beschaffenheit die-
ser Liebe die seiner Gnade und Vorsehung, und die der Vorsehung die der Wirksamkeit
und die unseres Heils, welches der Zweck aller Zwecke ist.
Höchst vollkommen ist die Ordnung und die Welt der Gegenstände (mundus repraesen-
tativus), wenn die Vorsehung Gottes, der Wille und die Absicht (Endzweck) des mensch-
lichen Geistes und das Streben und die Wirkung der Natur übereinstimmen. Unvoll-
kommen ist dagegen die Ordnung und die Welt, wenn sie nicht übereinstimmen; und
zwar genauso unvollkommen wie das Ausmaß der fehlenden Übereinstimmung.
Die folgenden Begriffe entsprechen einander: 1. Das wirkende Prinzip, die Vorstellung
eines Endzwecks und die Liebe zum Schöpfungszweck, unserem Heil in Gott. Auf den er-
sten Blick scheint etwas anderes als die Liebe in Gott dem wirkenden Prinzip in der Na-
tur zu entsprechen. Da aber Gott Anfang und Ende von allem ist, kann man in Gott kei-
nen Anfang angeben, es sei denn ihn selbst. Seiner Vorsehung kann man aber einen
Anfang zugestehen, denn sie ist eine werktätige Kraft. Dieser Anfang kann jedoch
nichts anderes sein als seine reinste Liebe zum Menschen und für dessen Heil, dem
Zweck der Schöpfung. 2. Wirkung, (End)zweck und Zweck der Zwecke bzw. Seelenheil. Die
Wirkung gehört in den Bereich der Natur, der Zweck aber in den des menschlichen Gei-
stes, denn der Geist betrachtet eher die Zwecke als die Wirkungen und diese dann nur
als werkzeugliche Ursachen zur Verwirklichung des Zweckes. Das rein Menschliche be-
steht darin, aus einer Wirkung auf den Zweck zu schließen, d.h. allein aus der Gegen-
wart der Dinge weise zu sein, und außerdem nichts Zukünftiges zu beurteilen. Aber im
Menschengeist sind nur Teilzwecke vorhanden und erkennbar. Der Zweck der Zwecke
bzw. der allumfassende Zweck ist allein Gottes Sache. Diesen Zweck gilt es zu beschrei-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 65
ben, um ihn zu verstehen. Er besteht in der himmlischen Gesellschaft der Seelen, d.h.
im Heil des menschlichen Geschlechts. 3. Möglichkeit, Wohlwollen und Gnade. Bekannt-
lich sagt man Wohlwollen vom Menschen und Gnade von Gott aus. Aber was soll man
in der Natur als Entsprechendes annehmen? Zweifellos die mehr oder weniger große
Möglichkeit, die Geneigtheit oder Bereitschaft zum Wirken, d.h. die Leichtigkeit, von der
auch die Möglichkeit abgeleitet wird, die ansonsten "Macht", "Vermögen" usw. bezeich-
net.
Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Natur ein wirkendes Prinzip ist, kann man den
Philosophen entnehmen, welche die Natur bestimmen. Chr. Wolff sagt, die allumfassen-
de Natur oder die Natur wurde schlechthin ein Anfang der Veränderungen in der Welt
genannt. Die Natur ist eine aktive Kraft, eine Bewegerin oder etwas den bewegenden
Kräften Beigeselltes, d.h. dem Streben Beigeselltes, denn das Streben besteht in einer
Kraft, so daß das erwähnte Prinzip dem Streben eingepflanzt sein muß. Auch Aristoteles
sagt, daß Gott und die Natur nichts vergeblich machen, sondern alles um eines Zweckes
willen. Somit gehören das wirkende Prinzip und die Wirkung der Natur an, der Zweck
hingegen Gott. Zweck und Wirkung zugleich gehören jedoch dem Menschen an. 2. Daß
die Liebe zu einem Zweck dem Willen des menschlichen Geistes eingepflanzt ist, ist hinläng-
lich bekannt, denn der Wille kommt praktisch nicht zur Erfüllung, wenn nicht irgendein
Anreiz der Liebe oder das Verlangen nach einem Ziel vorhanden ist. Doch vergleiche die
Stelle über den Willen. 3. Daß in Gott allein der Zweck vorhanden ist und daß die Natur
aus eigener Kraft zur Hervorbringung der Zwecke durch Wirkungen hineilt, kann man der
Tatsache entnehmen, daß Gott über der Natur ist und mit ihr nichts gemein hat. Die Na-
tur ist nämlich zur Hervorbringung der Zwecke der göttlichen Vorsehung geformt und
geschaffen worden, was die Ursache der Entsprechungen und Repräsentationen ist. Der
Schöpfungszweck kann kein anderer sein, als eine allumfassende Gesellschaft der See-
len, die Gott als den Endzweck von allem erkennt.
Regeln: 1. Zwei Prüfungsarten geben uns zu wissen, ob wir die Wahrheit begriffen ha-
ben: Ob die physische Wahrheit in der ersten Klasse tatsächlich enthalten ist, zeigt sich
in der zweiten und dritten, der sittlichen und theologischen Klasse. Und ob die sittliche
Wahrheit (in der zweiten Klasse enthalten ist), zeigt sich in der physischen und theolo-
gischen Klasse. Denn alles muß übereinstimmen und harmonieren, die Wahrheit an
sich bekräftigen, da nämlich ein Entsprechungsverhältnis vorliegt. Wird es irgendwo
verletzt, dann ist das kein Zeichen der Wahrheit, sondern des Irrtums. 2. Noch eine an-
dere Prüfung tritt hinzu. Weil offenbar die Inhalte der drei Klassen so übereinstimmen
können, daß sie neben sich gestellt eine vierte Wahrheit hervorbringen - wie diese: die
Welt der Gegenstände ist vollkommen -, deswegen stimmen die Vorsehung Gottes, Wil-
le und Absicht des Menschengeistes und Streben und Wirkung der Natur überein. So ist
das eine das Urbild (exemplar), das andere das Abbild (typus) und das dritte das Nach-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 66
bild (simulacrum). Alles Göttliche ist urbildlich, die intellektuellen, sittlichen und bür-
gerlichen Dinge sind Abbilder und Bilder, die natürlichen und physischen Dinge hinge-
gen sind Nachbilder. Daher werden sich die Urbilder, die Abbilder und die Nachbilder
vollständig darstellen. Auch besteht ein gegenseitiges Entsprechungsverhältnis und
Harmonie, denn eines wird vom anderen anerkannt und anerkennt es als etwas dieses
eine im Auge Habende.
Drittes Beispiel
Es gibt keine Bewegung ohne Streben, aber Streben ohne Bewegung. Wenn nämlich das
gesamte Streben in offene Bewegung ausbräche, ginge die Welt zugrunde, denn es gäbe
kein Gleichgewicht.
Es gibt keine Tätigkeit ohne Willen, aber Willen ohne Tätigkeit. Wenn der gesamte Wil-
le in offene Tätigkeit ausbräche, ginge der Mensch zugrunde, denn es gäbe keine Waage
der Vernunft, keine Mäßigerin.
Es gibt keine göttliche Wirksamkeit ohne Vorsehung, aber mit Sicherheit eine Vorse-
hung, die nicht werktätig oder wirkend ist. Wenn die gesamte Vorsehung wirkend am
Werke wäre, könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen bleiben, wie sie ist,
denn es gäbe keinen wahren Gebrauch der menschlichen Freiheit.
Entsprechungen: 1. Welt, Mensch, menschliche Gesellschaft. Denn der Mensch wird ein
Mikrokosmos, eine kleine Welt, genannt; und die menschliche Gesellschaft eine große
Welt, französisch Le monde. Damit es eine Welt gibt, ist eine Natur erforderlich; damit
es einen Menschen gibt, ist ein vernunftbegabter Geist erforderlich; damit es eine
menschliche Gesellschaft gibt, muß es Gott geben. Was das Göttliche ist, erkennt man
in der menschlichen Gesellschaft und ganz besonders in der umfassendsten Gesell-
schaft, der himmlischen Seelengesellschaft. 2. Gleichgewicht, Waage der Vernunft bzw.
die Vernunft als Mäßigerin, wahrer Gebrauch der Freiheit. Vieles bändigt und beschränkt
den menschlichen Willen, so daß er nicht in offene Tätigkeit ausbricht. Es gibt Zügel
und Widerstände verschiedenster Art: Unschickliches, Unehrenhaftes, verschiedene
Liebesarten und Leidenschaften, von denen eine die andere zügelt, Furcht, Notwendig-
keiten, Unmöglichkeiten. Damit daher im Geist ein Gleichgewicht herrscht, ist die mä-
ßigende Vernunft, die Klugheit oder wägende Vernunft, erforderlich. Außerdem ent-
spricht auch noch die Gerechtigkeit dem Gleichgewicht, aber nur wo das Gerechte und
Ungerechte Gegenstand der Rede ist. Der wahre Gebrauch der Freiheit ist das eigentli-
che Gleichgewicht der menschlichen Gesellschaft, der Mißbrauch hingegen ist die Zer-
störung des Gleichgewichts. Regierungsformen, Herrschende, Untergebene, Strafen und
Auszeichnungen gibt es einzig und allein zur Zügelung der Freizügigkeit und zur Be-
schränkung, damit man die gestattete Freiheit wahrhaft hat. Wenn nämlich der göttliche
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 67
Wille absolut herrschte, dann gäbe es keine Freiheit der jetzigen Art. Und ohne Freiheit
gäbe es auch das eigentlich Menschliche nicht. Daher würde auch die Gesellschaft nicht
bleiben wie sie ist. Siehe Freiheit.
Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Welt zugrunde ginge, wenn das gesamte Streben
in offene Bewegung ausbräche, hat folgenden Grund: In der ganzen Welt gibt es keine
Substanz, der nicht die Kraft und das Streben nach Tätigkeit, d.h. ihre Natur, inne-
wohnt. Das gilt sogar für die schwereren Körper und Elemente. Daß sich die atmosphä-
rischen Teile ausbreiten wollen, ist bekannt. Aber daß sich die unteilbaren (Teilchen)
gegenseitig zusammen und in Schranken halten - woher das Gleichgewicht kommt -, (ist
ein Prinzip), das ebenso die Teile wie das Ganze betrifft. 2. Ähnlich verhielte es sich mit
der Vernunft, wenn der ganze Wille in offene Tätigkeit ausbräche. Dann ginge nämlich der
Mensch verloren, oder: es gäbe keinen vernunftbegabten Geist, denn der Mensch ist nur
insoweit da als der vernunftbegabte Geist da ist. Das Menschliche besteht daher darin,
seine Begierden und die unsinnigen Anstrengungen, sie auszuleben zügeln zu können.
Wäre daher der Mensch dieser Machtmöglichkeit beraubt, er hörte gänzlich auf zu exi-
stieren. Außerdem sind die inneren Empfindungs- (sensoria interna) oder besser Be-
wegnerven (motoria), wie auch die Körpermuskeln so zusammengestellt, daß ein ge-
meinsames Gleichgewicht aller Teile besteht, wenn alles zugleich auf eine Tat hinaus-
läuft. Tätigkeit fließt nämlich überreichlich aus einer größeren, aus Teilen bestehenden
Kraft unter einer gemeinsamen Kraft. 3. Daß die Vorsehung Gottes nicht wirksam bzw.
wirkend in Erscheinung tritt, ist eine theologische Wahrheit. Gott sieht vor und will das
Heil aller Menschen, aber dieser allumfassende Wille, Vorsehung genannt, bleibt wir-
kungslos, denn es gibt Menschen, die der göttlichen Gnade widerstehen, in denen die
Vorsehung nicht wirkend und wirksam sein kann.
Martin Walser: "Man kann nicht über das reden, was der Sprache entspricht oder nicht
entspricht, ohne Emanuel Swedenborg zu nennen. Er ist der erfahrungsreichste und le-
bendigste Durchdenker dieses Zusammenhangs. 'Die ganze natürliche Welt', schreibt
Swedenborg, 'entspricht der geistigen; daher nennt man alles, was in der natürlichen
Welt aus der geistigen entsteht, etwas Entsprechendes.' 'Der Mensch, welcher Himmel
und Welt in kleinster Gestalt ist, hat sowohl die geistige, wie die natürliche Welt in
sich.' 'Was daher in seiner natürlichen Welt … durch seine geistige Welt … bewirkt wird,
nennt man etwas Entsprechendes.' Die Ursache-Wirkungsfolge ist bei Swedenborg ein-
deutig: von innen nach außen. Die Bibel, sagt er, sei 'in lauter Entsprechungen ge-
schrieben; jedes Wort darin bedeutet eine Entsprechung'. Er sei vom Himmel belehrt
worden, 'daß die Diener der ältesten Kirche auf Erden, welche Menschen des Himmels
waren, nur in Entsprechungen gedacht haben, wobei ihnen die natürlichen Dinge der
Welt, die sie vor Augen hatten, als Ausdrucksmittel dienten; deshalb gehörten sie zu
den Engeln und redeten mit ihnen, und so waren Himmel und Welt durch sie verbun-
den'. Dann seien die Menschen 'allmählich äußerlich geworden und schließlich ganz
materiell, worauf die Lehre von den Entsprechungen verlorengegangen sei ...' Das ist
eine Sprachgeschichte der Religion. Die ist aber unsere Ausdruckssprache schlechthin.
Hergebeten habe ich Swedenborg, weil er unser Inneres, Geist und Seele oder Wasau-
chimmer, so ganz und gar zum Ausdrucksursprung des Sprachlichen gemacht hat. Aber
gegeben hat es das, sagt er, nur in einem Golden genannten Zeitalter, als die Menschen
noch nicht, wie Swedenborg sagt, 'sich durch Selbstliebe und Weltliebe vom Himmel
entfernt haben'. Danach werden die Dinge von 'Entsprechungen' zu 'Erscheinungen',
die Sprache fängt an, sich selber zu entsprechen. Notgedrungen. Selbstbezogenheit, das
ist jetzt ihre Eigenschaft. Je nötiger Gott wäre, um so deutlicher wird jetzt, daß er aus
nichts bestehe als aus Sprache. Statt etwas haben wir Wörter. Schon Jakob Böhme konn-
te nicht umhin, seine Figur so ins Wörtliche treiben zu lassen: '... und durch seinen
Mund bei drei Stunden anders nicht gesprochen, als nur solche Worte: Gott, Kot, Gott,
Kot, und sich vor Gott als Kot geachtet.'
… Swedenborg hatte die seltene Gabe, den Himmel erlebbar zu schildern. Bei der Hölle
fällt das leichter, die Hölle hat von Dante bis Strindberg erregende Darsteller gefunden.
Swedenborg erzählt, als sei er dabei gewesen, wie die feinste Art Engel, die des inner-
sten Himmels, wie diese Engel 'die göttliche Wahrheit' entgegennehmen: 'Diese Engel
vergraben die göttlichen Wahrheiten nicht in ihrem Gedächtnis, bilden sich also auch
kein Wissen aus ihnen, sondern nehmen sie gleich nach dem Hören in sich auf und set-
zen sie in Leben um … Anders die Engel im äußeren Himmel; diese prägen sich die
Wahrheiten erst ins Gedächtnis ein, verschließen sie in ihrem Wissen, holen sie später
wieder daraus hervor und vertiefen sie mit ihrem Verstande; sie richten sich nach ih-
nen, ohne ihre Richtigkeit mit der inneren Erfahrung zu prüfen … Merkwürdigerweise
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 69
werden die Engel des dritten Himmels durch das Gehör und nicht den Gesichtssinn an
Wahrheit vollkommener.' Mir tut das gut, das Gehör so ausgezeichnet zu sehen: der
Sinn, mit dem wir die 'göttliche Wahrheit' beziehungsweise das Wesentliche, nämlich
Sprache, erleben. Und daß wir, was wir so empfangen, nicht als Wissen hörten, sondern
gleich in Leben umsetzen, darf nicht auf den Himmel beschränkt bleiben. Wo das Wis-
sen so in die Schranken gewiesen wird, muß ein anderer Pate herzitiert werden, Sören
Kierkegaard Wir haben zuviel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an." Wie
wahr!
"Die Sprache ist ganz genauso ein Element des Historischen wie des Augenblicklichen.
Sie ist das einzige Universale, das du praktizieren möchtest. Sie hat ein Eigenleben seit
langem, und sie hat ein Eigenleben in dir." So auf den Sprachmenschen Martin Walser
eingestimmt, wollte ich das Eigenleben seiner Sprache hören, sie sei ein "Produktions-
mittel, das versagt, wenn man es beherrschen will", und kaufte seine Novelle "Ein flie-
hendes Pferd". "… diese Geschichte könnte zu dem gehören, das einmal übrigbleibt von
einem Jahrhundert." (Stuttgarter Zeitung).
Eine Novelle über die permanente Selbstverfehlung des modernen Menschen. Studien-
rat Helmut Halm möchte inkognito existieren. Er ist auf der Flucht vor sich selbst: im
Urlaub. Frau Sabine begleitet ihn bei diesem Unternehmen. Da stellt sich ihm das
Schicksal in den Weg: Klaus Buch mit Frau Helene, genannt Hel; angeblich Helmut's
Schulkamerad, Jugendfreund und Kommilitone. Der Urlauber Halm freilich erinnert sich
an nichts, möchte jedoch diese Peinlichkeit nicht preisgeben. So entsteht die Urlaubs-
freundschaft zwischen zwei völlig unterschiedlichen Charakteren. Eigentlich würde
man sich aus dem Weg gehen; aber erstens ist man im Urlaub und zweitens ist man
Mensch, also Anstand bewahren, die Scheinproduktion des gesellschaftlichen Lebens
aufrecht erhalten.
Eine Szene im Restaurant Hecht, nicht die wichtigste, aber für uns interessant: Klaus
Buch "und Hel schauten eine Zeit lang stumm zu, wie Sabine und Helmut die Käseplatte
leerten, Weißbrot aßen, Rotwein tranken. Als Helmut die von Entsetzen geweiteten Au-
gen der Buchs zum dritten Mal durch Aufschauen zur Kenntnis genommen hatte, sagte
er, Hels und Klaus' Zuschauen erinnere ihn an eine Szene aus dem Leben des großen
schwedischen Philosophen Emanuel Swedenborg. Der habe, als er schon über fünfzig
und ein berühmter Mann gewesen sei, einmal allein in seinem Zimmer gegessen. Plötz-
lich habe er in einer Ecke seines Zimmers einen Mann wahrgenommen, der in dem Au-
genblick zu Swedenborg herübersagte: Iß nicht soviel. Und wie hat der Herr Philosoph
reagiert, fragte Hel. Von dieser Stunde an nahm er nur noch eine Semmel in gekochter
Milch zu sich. Und viel Kaffee. Den aber unmäßig süß. Na bitte, sagte Hel. Swedenborg,
Klaus, bitte, merk dir den Namen, der interessiert mich." Danke, Martin Walser! Gut
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 70
gemacht! Hoffentlich merken sich nun auch die Leser Deiner Novelle den Namen Swe-
denborg.
"Ein fliehendes Pferd", so nennt Martin Walser seine Novelle. In der Schlüsselszene, ein
Pferd, in wilder Flucht, rennt durch ein Dorf, sagt Klaus Buch: "Einem fliehenden Pferd
kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei.
Und: ein fliehendes Pferd läßt nicht mit sich reden." In Martin Walser's Novelle sind
gewissermaßen alle auf der Flucht. Der Ausweg kann nur als Katastrophe erlebt wer-
den, - die freilich alle um Himmels willen vermeiden wollen. Nach Walser's Grundüber-
zeugung ist die Beschädigung des Menschlichen gesellschaftlich bedingt; die heute ak-
tuellen Sozialisationsformen lassen dem Individuum keine Chance, zu sich selbst zu
finden.
Martin Walser muß an Swedenborg gedacht haben, als er seiner Gesellschaftskritik den
Titel "Ein fliehendes Pferd" gab. Denn nach Swedenborg steht es für die Dynamik des
Geistes, der seine dynamis nur im Verständnis des Wahren entfalten kann. Der Preis,
den ein fliehendes Pferd für die Flucht vor sich selbst bezahlen muss ist groß. Er heißt:
Leblosigkeit, Untergang im Konventionellen. Gestorben ist jeder, der seine eigene Spra-
che verloren hat.
39
Maguerite Block, The New Church in the New World, 1984, 162. Frau Block stützt sich auf New
Church Review, Vol. 31, p. 290.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 71
Amerika geschrieben hat, erklärt daher die Ähnlichkeiten in beiden Systemen mit einer
gemeinsamen Wurzel und nennt Paracelsus, "dessen gründliche Studenten beide, Hah-
nemann und Swedenborg, waren und dessen Lehre von den 'Signaturen' für einen
Großteil der Ähnlichkeiten zwischen ihren Theorien verantwortlich ist."40 Elinore Pee-
bles weist auf zwei Persönlichkeiten hin, die swedenborgsche Gedanken an Hahnemann
vermittelt haben könnten: "Wir wissen, dass … Hahnemann in Kontakt mit Johann
Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine stand und für sie wohl auch Verordnungen
ausstellte; beide waren mit der geistigen Seite der Philosophie Swedenborgs vertraut
und von ihr angetan."41 Und schließlich sei erwähnt, dass Hahnemann in das erstmals
1810 veröffentlichte "Organon der rationellen Heilkunde" naturphilosophische Gedan-
ken von Friedrich W. J. Schelling einbezog, der ebenfalls von Swedenborg beeinflusst
war. Dennoch hat sich trotz zahlreicher Bemühungen eine direkte Beeinflussung Hah-
nemanns durch Swedenborg bisher nicht nachweisen lassen.
40
M. Block, a.a.O., 162.
41
Elinore Peebles, Homeopathy and the New Church, 472, in: Emanuel Swedenborg: A Continuing Vi-
sion, herausgegeben von Robin Larsen u.a., 1988, 468 - 472.
42
Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der sechsten Auflage, Heildel-
berg: Haug, 1999, § 10. Diese Ausgabe wird im Haupttext zitiert.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 72
der natürlichen Welt, in der alles stofflich und an sich leblos ist, um hier sein Leben
führen und Nutzen schaffen zu können. Da nun das Stoffliche nicht lebt, sondern nur
das Geistige, können wir es als feststehend ansehen, daß alles, was beim Menschen
lebt, seinem Geist angehört und der Körper diesem nur dient – ganz wie ein Werkzeug
der bewegenden Lebenskraft (vi moventi vitae). Zwar sagt man von einem Werkzeug, es
wirke, bewege oder stoße, doch anzunehmen, daß es wirklich das Werkzeug sei und
nicht der Mensch, der dahinter steht und wirkt, bewegt und stößt, ist eine Täuschung."
(HH 432).
Die nach außen sichtbare Krankheit ist ein Entsprechungsbild der seelisch-geistigen
Krankheit. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es Verletzungen des Kör-
pers (Unfälle) gibt, die der Chirurg zu reparieren hat; damit soll aber der Blick geöffnet
werden für ein Verständnis von Krankheit, das diese nicht mit ihrem organischen Aus-
druck gleichsetzt. Die Symptome sind für Hahnemann nur das "nach außen reflectiren-
de Bild des innern Wesens der Krankheit" (§ 7). Er nennt sie auch "Krankheitszeichen"
(§ 19). Diese Sichtweise deckt sich mit dem, was Swedenborg über das Wesen der Ent-
sprechungen zu sagen hat: "Zuerst also soll gesagt werden, was Entsprechung ist: Die
ganze natürliche Welt entspricht der geistigen, und zwar nicht nur im allgemeinen,
sondern auch im einzelnen. Deshalb heißt alles, was in der natürlichen Welt aus der
geistigen heraus entsteht, Entsprechendes. Man muß wissen, daß die natürliche Welt
aus der geistigen entsteht und besteht, ganz wie die Wirkung aus ihrer wirkenden Ur-
sache. Zur natürlichen Welt gehört alles räumlich Ausgedehnte, das unter der Sonne ist
und aus ihr Wärme und Licht empfängt, und zu dieser Welt gehört auch alles, was von
jener aus besteht. Die geistige Welt aber ist der Himmel, und es gehört alles zu ihr, was
in den Himmeln ist. Weil der Mensch ein Himmel und auch eine Welt in kleinster Ge-
stalt ist, nach dem Bilde des größten, darum findet sich bei ihm sowohl die geistige als
auch die natürliche Welt: die innerlichen Bereiche, die zu seinem Gemüt gehören und
sich auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerlichen aber,
die seinem Körper angehören und sich auf dessen Sinne und Handlungen beziehen,
stellen seine natürliche Welt dar. Als Entsprechendes wird daher alles bezeichnet, was in
seiner natürlichen Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlungen, aus
seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen Verstand und Wil-
len." (HH 89f).
tes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man hei-
len nennt." Interessant aus swedenborgscher Sicht ist das von Kent entfaltete Krank-
heitsverständnis. Krankheit ist Unordnung im menschlichen Wesen und verwirklicht
sich dementsprechend von innen nach außen. Kent schreibt: "Alle Krankheit fließt vom
Innersten zum Äußeren"43 (51). "Wenn der innere Mensch krank ist, dann ist es nur ei-
ne Frage der Zeit, bis sich in seinem Körper die Krankheit einstellen wird, weil der in-
nere Mensch den äußeren formt." (67). "Krankheit kann nur vom Zentrum her in den
Menschen einfließen und von da aus auf die äußeren Teile wirken, indem es die Regie
stört, und das ist die ganze Krankheit." (54f). "Alle Krankheitsursachen gründen in der
immateriellen Lebenskraft. Es gibt keine Krankheitsursachen im Stofflichen, die ge-
trennt von der Lebenskraft betrachtet werden können." (111). "Die Krankheiten ent-
sprechen den Neigungen der Menschen, und die Krankheiten der heutigen Menschheit
sind der äußere Ausdruck dessen, wie es innen im Menschen aussieht" (209). "Das Bild
seines eigenen Innern kommt in der Krankheit zum Vorschein." (209). "Die reinen
Krankheiten andererseits, ob erworben oder ererbt, sind jene, die sich aus dem Inner-
sten nach der Peripherie auswirken und dabei den Menschen krank machen." (186).
Das alles steht Swedenborgs Verständnis von Krankheit sehr nahe: "Weil von der Ent-
sprechung der Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß auch alle
Krankheiten im Menschen eine Entsprechung mit der geistigen Welt haben; denn was
in der ganzen Natur keine Entsprechung hat mit der geistigen Welt, das kann nicht exi-
stieren, denn es hat keine Ursache, aus der es entsteht, folglich (auch keine), kraft derer
es besteht." (HG 5711). "Die Krankheiten entsprechen den Begierden und Leidenschaf-
ten des Lebensgeistes (animi). Diese sind auch die Ursprünge der Krankheiten, denn
diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, allerlei Üppigkeit, rein sinnliche Vergnügun-
gen, dann auch Neid, Haß, Rache, Unzucht und dergleichen, was das Inwendigere des
Menschen zerstört; und wenn dieses zerstört ist, leidet das Auswendigere und zieht
dem Menschen Krankheit und dadurch den Tod zu … Aus dem Gesagten kann erhellen,
daß auch die Krankheiten eine Entsprechung haben mit der geistigen Welt, aber mit
den unreinen Dingen daselbst." (HG 5712).
Die Krankheit, die sich schließlich im Äußeren zeigt, also die Gesamtheit der Sympto-
me, ist ein Entsprechungsausdruck des eigentlichen, inneren Krankheitsgeschehens.
Kent: "Wie das Innere ist, so ist auch das Äußere, und das Äußere kann nur so sein wie
die Auswirkungen des Innersten." (208). "Wir haben gesehen, daß wir die Krankheit
durch Sammeln von Symptomen kranker Menschen studieren müssen, indem wir uns
43
J. T. Kent, Prinzipien der Homöopathie, 1996, 51. Eine deutsche Übersetzung von Kents "Lectures on
Homoeopathic Philosophy". Im Folgenden bezieht sich die Seitenzahl im Haupttext immer auf diese
Übersetzung.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 75
auf die Symptome als Sprache der Natur stützen und daß die Totalität der Symptome die
Natur und Qualität der Krankheit darstellt und alles ist, was wir von dieser wissen müs-
sen." (283). "Die Krankheit zeigt sich oder drückt sich aus durch die Totalität der Sym-
ptome, und diese Totalität (welche die Sprache der Natur bedeutet) ist nicht selbst die
Essenz der Krankheit, sie repräsentiert nur die Unordnung des inneren Menschen."
(38). "Alle heilbaren Krankheiten können vom Arzt an ihren Zeichen und Symptomen
erkannt werden." (55). Kent nennt die Symptome die "Sprache der Natur" (321).
Krankheit in diesem Sinne ist ursächlich eine Störung im inneren Menschen, die - wie
ein ins Wasser gefallener Stein - ihre Kreise bis zur Peripherie des materiellen Orga-
nismus zieht. Störungen, die dort nicht aus der Lebenskraft resultieren, nicht von innen
verursacht werden, sollten Verletzungen genannt werden, nicht Krankheiten. Kent
schreibt: "Wenn nur das Äußere des Menschen beeinflußt wird, ist seine Lebenskraft
nur vorübergehend gestört." (133).
eine Aura entwickelt, die verderbt, entsprechend seinem Weg von der Tugend und Ge-
rechtigkeit zum Bösen" (206).
Jeder Kenner hört aus diesen Aussagen Kents die Stimme Swedenborgs sprechen. Den-
noch seien die folgenden Vergleichstexte aus den Werken des Sehers zitiert. Das Gemüt
(mens) definiert er folgendermaßen: "Zwei Anlagen bestimmen das Leben des Men-
schen, Wille und Verstand genannt. Sie unterscheiden sich zwar voneinander, sind aber
doch so beschaffen, daß sie eine Einheit darstellen sollen, und wenn das der Fall ist,
werden sie als Gemüt bezeichnet. Sie bilden daher das menschliche Gemüt, und auf ih-
nen beruht das ganze Leben des Menschen." (NJ 28). Bei wiedergeborenen (geistig re-
generierten) Menschen wird das gespaltene Gemüt wieder eine Ganzheit: "Beim wie-
dergeborenen Menschen bilden Verstand und Wille ein (ganzheitliches) Gemüt." (HG
9300). Das Gemüt (der Mentalbereich) hat seinen Sitz im Gehirn (GLW 273). "Der Wille
zusammen mit dem Verstand ist im Gehirn in seinen Anfängen und im Körper in seinen
Ableitungen" (GLW 403). Kent und seinen Schülern haben sich die Gemütssymtome
von daher als die beherrschenden eingeprägt. Das ist aus swedenborgscher Sicht nach-
vollziehbar, denn die Anfänge des körperlichen Prozesses (Physiologie) liegen in der
Mentalstruktur (Gemüt) des Menschen. Es gibt eine "Entsprechung zwischen Gemüt
und Körper" (GLW 273). "Weil der Mensch ein Himmel und auch eine Welt in kleinster
Gestalt ist, nach dem Bilde des größten … darum findet sich bei ihm sowohl die geistige
als auch die natürliche Welt: die innerlichen Bereiche, die zu seinem Gemüt gehören
und sich auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerlichen
aber, die seinem Körper angehören und sich auf dessen Sinne und Handlungen bezie-
hen, stellen seine natürliche Welt dar. Als Entsprechendes wird daher alles bezeichnet,
was in seiner natürlichen Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlun-
gen, aus seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen
Verstand und Willen." (HH 90).
Swedenborg geht von der Leiblichkeit des Geistigen (Geistleiblichkeit) aus, die auch bei
Kent zum Vorschein kommt. Im folgenden Text erwähnt Kent die innere Lunge:
"Schwindsucht ist ein tuberkulöser Zustand der Lunge, der aber seinerseits die Folge
von Störungen des inneren Menschen ist, die in der 'inneren' Lunge wirken, lange vor
dem Zusammenbruch der Gewebe." (70). "Als wissenschaftliche Homöopathen müssen
wir erkennen, daß die Muskeln, Nerven, Bänder und die anderen Teile des menschli-
chen Körpers ein Bild sind, das dem einsichtigen Arzt den inneren Menschen offenbart.
Man kann nicht vom toten Körper her das Leben verstehen, sondern muß den Körper
vom Leben her begreifen." (18f). Die geistige Leiblichkeit, die sich unsichtbar unseren
materiellen Augen während des Erdenlebens entwickelt (Prozess der Wiedergeburt),
tritt nach der Trennung des Geistlebens von der materiellen Leiblichkeit (also nach dem
sogenannten Tod) in Erscheinung. Aufgrund jahrzehntelanger spiritueller Erfahrungen
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 77
versichert uns Swedenborg: "Die Gestalt des menschlichen Geistes ist die menschliche.
Mit anderen Worten: der Geist ist auch hinsichtlich seiner Gestalt Mensch." (HH 453).
Dieser geistigen Leiblichkeit gelten die homöopathischen Heilbemühungen; der materi-
elle Körper profitiert lediglich davon.
stieß und verschmähte, derselbe setzte ein solches Leben bis in sein Greisenalter fort.
Überdies war er auch dem Wohlleben ergeben, und wollte niemand Gutes tun und einen
Dienst leisten, außer um seiner selbst willen, und hauptsächlich seines ehebrecheri-
schen Treibens wegen. Derselbe war (nach seinem Tod) einige Tage bei mir; er erschien
unter den Füßen, und als mir die Sphäre seines Lebens mitgeteilt wurde, erregte er,
wohin er nur kam, in den Knochenhäuten und den Nerven daselbst einen Schmerz, so
namentlich in den Zehen an der linken Fußsohle; und als ihm zugelassen wurde, weiter
hinaufzudringen, auch in den Teilen, wo er jeweils war, hauptsächlich in den Knochen-
häuten der Lenden, ferner in den Häuten der Brustbeine unter dem Zwerchfell, wie auch
in den Zähnen von innen her. Während seine Sphäre wirkte, verursachte er auch dem
Magen eine große Beschwerde." (HG 5713f).
44
Ich habe an dieser Stelle die Übersetzung von Dr. med. Jost Künzli von Fimmelsberg berücksichtigt,
weil hier der Zusammenhang mit Swedenborgs Welt der Wirkungen deutlicher wird.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 79
von Krankheiten sein können. In diesem Milieu kann sich die schon vorher, ursächlich
vorhandene Krankheit verwirklichen oder auswirken. Kent: "Sobald der Mensch ein lie-
derliches Leben führt, ist er anfällig für äußere Einflüsse und je liederlicher er lebt, de-
sto anfälliger wird er für die Atmossphäre, in der er lebt. Wenn er liederlich denkt, dann
lebt er auch liederlich und macht sich krank durch schlechte Gewohnheiten im Denken
und Handeln. Diesen gestörten Gemütszustand hat Hahnamann sehr sicher erkannt,
denn er lehrt uns immer wieder, daß besonders auf den Gemütszustand zu achten ist."
(68). "Der Mensch wird nicht aus äußerem Anlaß krank. Weder durch Bakterien noch
durch die Umgebung, sondern aus Ursachen, die in ihm selbst liegen." (39). "Die Un-
ordnung kommt von innen, aber viele Störungen, die diese Unordnung verschlimmern,
kommen von außen." (56). "Bazillen sind keine Krankheitsursache, sie kommen immer
erst im Gefolge der Krankheit." (70). "Der Einsatz der feinsten Präzisionsinstrumente
ermöglicht uns das Erkennen der feinsten Krankheitsauswirkungen, die das Ergebnis
der immateriellen Dinge sind, wie zum Beispiel die Bakterien, die feinste Form tieri-
schen oder pflanzlichen Lebens. Aber die Ursache der Krankheit ist millionenfach subti-
ler als diese und ist dem menschlichen Auge unerreichbar. Die feinsten sichtbaren Din-
ge sind nur Auswirkungen der noch viel feineren Dinge, so daß die Ursache bei letzte-
ren bleibt." (114). "Bakterien können Ursachen enthalten, weil die Ursachen bis ins Äu-
ßere hinaus wirken. Aber die erste Ursache ist nicht der Bazillus, dieser selbst hat seine
Ursachen." (166).
Die Homöopathie heilt, indem sie beim Kranken Substanzen ergänzt. Die Potenzierung
der Materia medica dient ihrer Substanzialisierung. Kent: "Wir potenzieren unsere Mit-
tel auch um zu ihrem feinstofflichen Gehalt vorzudringen, das heißt, zum Wesen und
der Qualität des Mittels selbst. Damit ein Mittel homöopathisch wird, muß es zur Quali-
tät und zur Wirkung der Krankheitsursache ähnlich sein." (111). Nach Swedenborg liegt
aller Materie ursprünglich Substanz zugrunde: "Das Materielle hat seinen Ursprung im
Substanziellen (materialia suam originem ducunt ex substantialibus)" (EL 207). "Das
Substantielle ist der Anfang des Materiellen." (EL 328). Die Krankheit entsteht auf der
seelisch-substantiellen Ebene und pflanzt sich von dort aus nach unten fort. Homöopa-
thisches Heilen will den Kranken dort erreichen, wo er ursächlich krank ist.
Die Weisheit der Alten sah im Geist die Ursache der Materie. Die Neuzeit hingegen
sieht in der Materie die Ursache für den Geist und leugnet jede Form von Metaphysik.
Swedenborg ebenso wie die Homöopathie und ihre großen Denker werden erst dann ei-
ne Renaissance erleben, wenn der Geist wieder als das anerkannt wird, was er ist: die
Ursache aller Dinge.
Verbindung als eine Tatsache meines Lebens zu akzeptieren, und als ich heranwuchs,
ging ich anderen Leuten damit auf die Nerven, bis eines Tages ein Verwandter, der uns
besuchte, sagte: "Hört auf meine liebe Cousine, eine gute Swedenborgianerin und Hah-
nemannianerin! Hört man sie so reden, dann könnte man glauben, Homöopathie lasse
Tote auferstehen."
Danach erwarb ich etwas mehr Zurückhaltung und begann mit Constantin Hering über-
einzustimmen, dem "Vater der amerikanischen Homöopathie," der "Herings Gesetz"
formulierte und 1850 geschrieben haben soll: "Während die Swedenborgianer aus gu-
tem Grund eine homöopathische Behandlung bevorzugen dürften, gibt es überhaupt
keinen Grund, warum alle Homöopathen Swedenborgianer sein sollten."45 Er fühlte,
dass es die Wissenschaft nicht nötig hatte, sich selbst durch eine religiöse Lehre zu be-
weisen und es daher auch nicht versuchen sollte. Dennoch war er, als ein Mitglied der
Neuen Kirche in Philadelphia, jederzeit bereit, die philosophischen Ähnlichkeiten zu
diskutieren, wie es auch viele seiner Kollegen waren.
Über diesen Gegenstand gibt es einige interessante Broschüren in der Bücherei der
Swedenborg School of Religion in Newton, Massachusetts. Insbesondere eine, "A Defen-
se of Homeopythy against its New Church Assailants"46 (Eine Verteidigung der Homöo-
pathie gegen ihre neukirchlichen Gegner), ist von besonderem Interesse. Hering ebenso
wie Richard de Charms lieferten Beiträge dazu. Dr. William Holcombe, der später ein
Mitglied der Neuen Kirche in Cincinnati wurde, nahm die negative Position sehr nach-
drücklich ein, indem er schrieb, dass er viele Jahre lang ein allopathischer Arzt gewesen
sei und die Absicht habe, ein solcher für den Rest seines Lebens zu bleiben. Dennoch
wurde er 1851 ein homöopathischer Arzt, der nun mit derselben Leidenschaft zu ihrer
Verteidigung schrieb und, gemäß seiner Biographie, so gründlich konvertierte, dass er
als der "Vater der südlichen Homöopathie" bekannt ist.
Constantin Hering wurde von der medizinischen Vereinigung beauftragt, die Homöopa-
thie als einen medizinischen Irrweg zu entlarven, aber er musste Deutschland verlas-
sen, als ihn seine Nachforschungen veranlassten, diese Heilweise tiefergehend zu stu-
dieren und schließlich genau die Wissenschaft zu praktizieren, die er in Verruf bringen
sollte. Klugerweise ging er nach Amerika. De Charms erzählt uns, dass Hering, ein Lu-
theraner, von einem lutherischen Geistlichen beschuldigt wurde, mit den Worten, "dass
er als ein Homöopath, den Teufel mit Beelzebub, dem Obersten der Teufel, austreibe."47
45
Constantin Hering, in Richard de Charms, Homeopathy and the New Church, Broschüre in der Bü-
cherei der Swedenborg School of Religion, Newton, Mass.
46
Richard de Charms, A Defense of Homeopathy against its New Church Assailants (Philadelphia: New
Jerusalem Press, 1854).
47
ebenda S. 6.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 83
Vor vielen Jahren, als mein Interesse an diesem Gegenstand erwachte, überraschte
mich die Entdeckung der großen Anzahl homöopathischer Ärzte, die, mit meinen Wor-
ten gesagt, "unkirchliche Swedenborgianer" waren. Denn, obgleich nur eine Minderheit
aktive Kirchenmitglieder waren, glaubten sehr viel mehr, dass die Vertrautheit mit
Swedenborgs Schriften hilfreich in der Ausübung ihrer homöopathischen Therapien sei.
Indem ich über Homöopathie schreibe, besonders für jene, die womöglich wenig von ihr
wissen, scheint es sinnvoll, mit der Einführung des Gründers dieser Wissenschaft zu
beginnen. Samuel Hahnemann wurde in Meißen in Sachsen 1755 als das älteste Kind
einer großen und armseligen Familie geboren. Sein Vater, ein Prozellanarbeiter, scheint
besondere Qualitäten bei seinem Sohn erkannt zu haben. Er ermutigte sein Interesse an
der Natur, gab ihm Unterricht im Denken, lehrte ihn, nach Gründen in allen Dingen zu
schauen und unterstützte seinen Wunsch, Arzt zu werden.
Hahnemann arbeitete sich durch zwei Jahre vormedizinischer Studien, indem er einem
wohlhabenden Griechen Deutsch und Französisch lehrte und englische Bücher ins
Deutsche übersetzte. Mit einigen finanziellen Schwierigkeiten brachte er sich durch die
letzten zwei Jahre an der Universität Erlangen. Als er 1779 die Abschlussprüfung be-
stand und zu praktizieren begann, beherrschte er zusätzlich zu seiner Muttersprache
Deutsch, nach den Angaben von William Harvey King48, Lateinisch, Griechisch, Eng-
lisch, Hebräisch, Syrisch, Italienisch, Arabisch und Spanisch. Er verfügte außerdem
über Kenntnisse des Chaldäischen und, wie einige noch hinzufügen, des Sanskrit. Da er
zunehmend unzufrieden war mit den drastischen medizinischen Behandlungen, die
damals gang und gäbe waren, und befürchtete, den Kranken mehr zu verletzen als zu
helfen, gab er vorübergehend seine medizinische Praxis auf und wechselte zur Chemie,
eine sich neu entwickelnde Wissenschaft. 1784 war Hahnemann gut bekannt als Che-
mielehrer für seine sowohl originellen als auch manchmal kühnen Experimente.
Während dieses beruflichen Zwischenspiels, bekam er den Auftrag, die Materia Medica
des schottischen Arztes William Cullen ins Deutsche zu übersetzen. In diesem Werk
fand er eine ihm allzu phantastisch erscheinende Erörterung der Art und Weise, wie
Chinarinde bei der Behandlung von Malaria wirke. Daher entschied sich Hahnemann
ein Experiment durchzuführen, indem er selbst eine Dosis dieser Arznei nahm. Zu sei-
ner großen Überraschung entdeckte er, dass sie in ihm die Symptome der Malaria her-
vorbrachte. Hahnemann war so sehr beeindruckt, dass er daraufhin begann, mit ande-
ren Arzneien zu experimentieren. Hahnemann fand heraus, dass das Arzneimittel in je-
dem Fall bei einer gesunden Person die Symptome der Krankheit hervorbrachte, die es
bei einer kranken heilte.
48
William Harvey King, The History of Homeopthy and Its Institutions (New York: Lewis, 1905), Bd. 1,
S. 24.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 84
Dadurch überzeugt, eine sichere Methode der Behandlung von Krankheiten gefunden
zu haben, beschritt er einen Weg, von dem er nie mehr abwich. Diese neue medizini-
sche Methode nannte er Homöopathie (griech. ähnliches Leiden) und wählte als ihr Mot-
to "Similia similibus curentur" (Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden). Hah-
nemanns spätere Forschung in Medizingeschichte deckte einige Beziehungen zu dieser
Theorie oder diesem Ansatz in den Schriften hinduistischer Weiser (ca. 2000 v. Chr.) bis
hin zu Hippokrates (ca. 460 v. Chr.) auf.
Kurz zuvor entdeckte Hahnemann, warum sich die Ähnlichkeitstheorie nicht durch-
gesetzt hatte. Zuerst experimentierte er, indem er kleine Dosen der medizinischen Sub-
stanzen gesunden Familienmitgliedern und Freunden gab, die sich freiwillig bereit er-
klärt hatten, geprüft zu werden, und anschließend ihre Reaktionen aufzeichnete, die sie
in Form von Symptomen produzierten. Dann verordnete er die passende Medizin jenen
Patienten, deren Symptome denen entsprachen, die bei der gesunden Person verursacht
wurden. Die meisten benutzten Arzneien waren mehr oder weniger giftig und Hahne-
mann wußte, dass der Körper versuchen würde, sie so schnell wie möglich auszuschei-
den, aber dann verdünnte er sie bis zu dem Punkt, wo sie vertragen werden konnten. Er
fand heraus, dass die Patienten, obgleich sie sich manchmal für kurze Zeit besser fühl-
ten, nicht wirklich geheilt wurden und die Krankheit immer noch aktiv war, sobald die
Substanz wieder abgesetzt wurde. Unter Beibehaltung seiner grundlegenden Voraus-
setzung fuhr er fort zu experimentieren. Dabei entdeckte er zufällig den folgenden Zu-
sammenhang: Wenn ein Fläschchen mit einer verdünnten Arznei scharf gegen eine har-
te Oberfläche geschlagen wurde, was er Verschüttelung nannte, und der Inhalt einer
gesunden Person verabreicht wurde, dann hatte die gleichwohl noch immer giftige Arz-
nei in ihrer verdünnten Form einen viel weiteren Aktionsumfang entwickelt. Er setzte
diesen Prozess mehrfach fort: Zuerst fügte er einem Teil des rohen Arzneistoffes neun
Teile eines Verdünnungsmittels hinzu und unterwarf den Behälter dann der Verschütte-
lung. Diese Verdünnung nannte er eine Einerpotenz. Dann verdünnte er einen Teil die-
ser Mischung mit neun Teilen eines Verdünnungsmittels und erhielt nach der Verschüt-
telung eine sogenannte Zweierpotenz. Bei der Fortsetzung dieses Prozesses erreichte er
eine 30er Potenz, in der keine Spur mehr der ursprünglichen Arznei nachweisbar war.
Gleichwohl blieben ihre medizinischen Eigenschaften erhalten und waren sehr erhöht.
Die Verschüttelung, die ursprünglich mühsam eigenhändig getan wurde, wird jetzt
durch hochentwickelte Maschinen erledigt, und die Energie kann in die Tausende er-
höht werden.
Jüngste Forschungen in England lassen schließen, dass die molekularen Muster auch
bei zunehmender Verdünnung dieselben bleiben aber die verborgene Energie anwächst.
Jetzt werden Versuche gemacht, um herauszufinden, welche Art von Energie beteiligt
ist und warum sie zunimmt.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 85
49
Samuel Hahnemann, Organon of the Art of Healing, übers. von R. E. Dugeon, 1. Auflage (Philadel-
phia: Hahnemann Publishing Society, 1810).
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 86
50
Ebenda, übers. von William Boerike, M. D., 6. Auflage (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1922), S. 103.
Organon § 16.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 87
Im 16. Jahrhundert schrieb ein englischer Arzt, dass "unsere Körper nicht durch ver-
dorbene und ansteckende Ursachen verletzt werden können, außer dass in ihnen ein
bestimmter Stoff ist, der geeignet ist, sie zu empfangen, andernfalls würden alle Men-
schen krank werden, sobald einer krank wird."51 Und in unseren Tagen sagte der kürz-
lich verstorbene René Dubos, ein Mikrobiologe am Rockefeller Institut for Medical Re-
search nach einer vorurteilsfreien Prüfung der ganzen Mikrobentheorie von Krankhei-
ten, dass "der Mensch immer eine große Anzahl von potentiell gefährlichen Mikroben
beherbergt und in seinen Geweben alles für ihr Leben Erforderliche hat. Die meisten
von ihnen bleiben wahrscheinlich schlafend, aber einige werden sich schließlich trotz
der Anwesenheit von spezifischen Antikörpern ausbreiten, wenn die normale Physiolo-
gie des Körpers gestört wird."52 Er setzte einen Zustand des biologischen Gleichge-
wichts zwischen Mensch und Mikrobe voraus, der instabil wird durch eine Abweichung
vom normalen Zustand, eine emotionale, eine ernährungsbedingte, eine umweltbeding-
te oder eine Abweichung aufgrund ausgiebiger und massiver Behandlung mit Medika-
menten.
James Tyler Kent fügte eine Anzahl von Hahnemanns verstreuten Angaben zusammen
und fand heraus, dass die Erklärung für die offensichtliche Unfähigkeit der geistartigen
Kraft, den materiellen Organismus immer im Gleichgewicht zu halten - wobei er an-
nahm, dass dies in einer längst vergangenen Zeit möglich war -, darin bestehen muss,
dass die Menschheit es während vieler Generationen dem Bösen und Falschen erlaubt
hat, sich einzuschleichen, womit es zu schwierig wurde, die guten Einflüsse in der Vor-
herrschaft zu halten. Noch und noch erinnert er uns daran, dass Gesundheit vom Gei-
stigen zum Körperlichen fließt, d.h. vom Innersten zum Äußersten und von oben nach
unten. Swedenborg sagt dasselbe in den "Himmlischen Geheimnissen", indem er fest-
stellt, dass "der Einfluss" immer vom inneren zum äußeren verläuft (HG 6322).
Außerdem fasst Kent den Sinn mehrerer Paragraphen der verschiedenen Ausgaben des
Organons mit den folgenden Worten zusammen: "Falschheiten, die mit dem harmoni-
schen Einfluß im Konflikt geraten, werden im physischen Organismus durch ihre natür-
lichen Entsprechungen gesehen, und das sind die Symptome, die uns sagen, welche
Medizin sie entfernen wird und es der immateriellen Lebenskraft, welche alle Teile des
Körpers durchdringt, erlaubt wieder für die himmlischen Einflüsse empfänglich zu sein.
Daher ist Gehorsam gegenüber den geistigen und natürlichen Gesetzen die absolute Be-
51
British Homeopathic Journal
52
Aus einem Gespräch mit René Dubos, M. D. (später erschien es im British Homeopathic Journal), in
dem er eine Abhandlung von John Caius aus dem Jahre 1552 zitiert.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 88
dingung für Gesundheit sowohl in der Seele als auch im Körper. Jede Abweichung mag
geistige und natürliche Krankheit bringen."53
Kent sagt uns, Hahnemann war der Meinung, dass es drei Grade in der Kraft gebe und
alle Objekte in der natürlichen Welt ihnen entsprechen. Swedenborg bringt das so zum
Ausdruck: "Die ganze natürliche Welt entspricht der geistigen Welt" (HH 89). Hahne-
manns philosophische Schriften zeigen ein teilweises Verständnis von Swedenborgs
Lehre des universalen Menschen (Maximus Homo), obgleich er beide Begriffe nicht be-
nutzt. Er spricht eher davon, dass jede Person eine Vergegenständlichung des "kollekti-
ven geistigen Menschen" ist und glaubt, dass jeder Teil eines Individums seine natürli-
che Entsprechung mit diesem geistig vergegenständlichten Menschlichen hat.
Swedenborg sagt in den "Himmlischen Geheimnissen", dass das wahre Prinzip der Hei-
lung die göttliche Liebe ist, die vom menschlichen Wesen des Herrn und einem Leben
des göttlich Wahren bis zu den höllischen Geistern in den Leibern der Menschen ge-
bracht wurde, so dass diese Geister veranlasst werden zu weichen. Er fügt hinzu: "Dies
hindert jedoch nicht, dass der Mensch auf natürliche Weise geheilt werden kann, denn
mit solchen Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen." (HG 5713).
Hahnemann unterscheidet zwischen dem langsamen Prozess der Heilung oder Hem-
mung des Fortschreitens von (1) chronischen Krankheiten und der Beschäftigung mit
(2) Krankheiten auf der natürlichen Ebene, die die geistige Kraft nicht so gründlich stö-
ren. Den chronischen Krankheiten muss auf der geistigen Ebene begegnet werden und
sie müssen so weit als möglich durch immaterielle Kräfte überwunden werden, die
durch Potenzierung (Verdünnung und Verschüttelung) entwickelt werden. Die an zwei-
ter Stelle genannten Krankheiten durch niedrigere Potenzen der medizinischen Sub-
stanzen, aber immer noch durch eine immaterielle Kraft. Kent fühlte, dass das Durch-
schreiten einer homöopathischen Behandlung chronischer Krankheiten, wie von Hah-
nemann besprochen, dem Wiedergeburtsprozess analog war, so wie er durch Sweden-
borg beschrieben wurde. Vor nicht langer Zeit schrieb Dr. Twentyman im British Ho-
meopathic Journal: "Man nahm an, dass Kent ein reiner Hahnemannianer war, aber das
war er selbstverständlich nicht. Er war eine Synthese von Hahnemann und Sweden-
borg."54
Vor einigen Jahren folgerten Forscher in England, dass Hahnemanns Infinitesimaldosen
Energie waren, obgleich es nicht klar war, was für eine Art von Energie oder wie sie
sich entwickelte. In seinem Organon stellt Hahnemann fest: "Die Lehre von der Teilbar-
53
James Tyler Kent, M. D., Lectures on Homeopathic Philosophy (Lancaster, Pa.: Examiner Printing
House, 1900).
54
British Homeopathic Journal (July-October 1956), S. 260.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 89
keit der Materie lehrt uns, dass Energie nie geteilt wird bis zu dem Punkt, wo sie aufhö-
ren würde, etwas zu sein und alle Eigenschaften des Ganzen teilen würde."55 Sweden-
borg schrieb in der "Ehelichen Liebe": "Alles Geteilte ist mehr und mehr vielfach, nicht
aber mehr und mehr einfach, weil das immer wieder Geteilte immer näher kommt dem
Unendlichen, in welchem auf unendliche Weise alles ist." (EL 329). Und in der "Wahren
Christlichen Religion": "Dies stimmt auch überein mit der Weisheit der Alten, wonach
alle Dinge bis ins Unendliche teilbar sind." (WCR 33).
Es gibt keine Aufzeichnung, dass Hahnemann jemals irgendeiner kirchlichen Organisa-
tion angeschlossen war, aber er nannte seine Arbeiten eine "von Gott gegebene Philo-
sophie". Seine Schriften zeigen einen festen Glauben an die Entsprechung der natürli-
chen mit den geistigen Dingen. Sein medizinisches System ist sicher von dieser Vor-
aussetzung aus entwickelt.
Wie Swedenborg war auch Hahnemann ein Mensch, der seiner Sache ganz hingegeben
war. Dennoch war er, als er in Paris 88jährig starb, ernüchtert, enttäuscht und unfähig,
die Tatsache zu akzeptieren, dass seine langjährige Forschung und logische Argumenta-
tion von so vielen seiner Zeitgenossen verworfen oder verspottet wurde.
Obwohl ihr Gründer ernüchtert war, wird Homöopathie heute in vielen Staaten der gan-
zen Welt praktiziert und anerkannt. Gleichwohl ist die Homöopathie in den Vereinigten
Staaten, wo eine materialistische und mechanistische Vorgehensweise die Medizin seit
den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts dominiert hat, bis vor kurzem allgemein igno-
riert worden.
Auf der organisatorischen Ebene ist die Geschichte der Swedenborgkirche ähnlich ge-
wesen. Beinahe bis ans Ende des 19. Jahrhunderts gab es, über das ganze Land ver-
streut, viele neukirchliche Gemeinschaften und Gruppen, die Swedenborg rezipierten.
Während desselben Zeitraums gab es homöopathische Schulen und Krankenhäuser in
beinahe jedem Staat. In den späteren Jahren des 19. Jahrhunderts gab es 70.000 prakti-
zierende Homöopathen und einige Millionen homöopathische Patienten. Sowohl die
Homöopathie, als auch der Swedenborgianismus verloren jedoch nummerisch im frühen
20. Jahrhundert an Boden, ein Trend, der bis vor kurzem angedauert hat. Jetzt gibt es
ein unterschwelliges Interesse an Hömöopathie im ganzen Land und ebenso neue Zei-
chen eines Wechsels und einer verstärken Wirkung nach außen bei den Swedenborgia-
nern. Vielleicht geht unsere Kultur jetzt durch ein Wiedererwachen der geistigen Di-
mension entgegen.
Informierte Swedenborgianer haben traditionellerweise wenig Schwierigkeit, eine medi-
zinische Philosophie zu akzeptieren, die auf der immateriellen, unsichtbaren und akti-
55
Hahnemann, Organon, Dudgeon Hg., S. 301.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 90
vierten Kraft des Geistes basiert. Ihre Interpretation durch Kent und seine Analyse der
geistigen Entsprechungen, die zwischen homöopathischen Heilsubstanzen und den Or-
ganen des Körpers bestehen, ist sehr lesenswert. Es ist oft gesagt worden, dass er
glaubte, Swedenborgs Wissenschaft der Entsprechungen sei in Harmonie mit dem, was
er die Jahre hindurch gelernt hatte und ihm eine Hilfe in der Bestimmung der Wirkun-
gen seiner Verordnungen war.56
Wir können das illustrieren, indem wir als Beispiel Swedenborgs Erklärung der Ent-
sprechung zwischen Gold und dem menschlichen Herz anführen. Gold entspricht der
Liebe: "Das Herz im Worte Gottes bezeichnet den Willen und auch das Gute der Liebe ...
Daher werden dem Herzen auch Neigungen zugeschrieben, obgleich sie weder in ihn
sind, noch aus ihm hervorgehen." (HH 95). Vor einigen Jahren bestätigte eine For-
schung am Massachusetts Institute of Technology die mögliche Verwandschaft be-
stimmter Metalle mit bestimmten Organen. Sie bemerkten, dass ein nennenswerter
Prozentsatz von Gold im Herzen gefunden werde und keine Spur davon in irgendeinem
anderen Organ. Homöopathen benutzen potenziertes Aurum (Gold) bei der Behandlung
einiger Herzbeschwerden.
Es gibt noch viel mehr Ähnlichkeiten in den Schriften Swedenborgs und Hahnemanns,
und jeder, der geneigt ist, sie weiter zu vergleichen, wird unweigerlich ein Interesse an
diesen Zusammenhängen entwickeln. Ich habe mich manchmal dabei ertappt, dass ich
über diese Entsprechungen regelrecht verblüfft war. Wie konnten sie entstehen? Durch
die Vorstellung einer allgemeinen, den Dingen zugrundeliegenden Wahrheit? Oder gibt
es eine auffindbare, historische Verbindung zwischen Swedenborg und Hahnemann?
Wir wissen, dass sich die zwei Männer nie trafen, aber Hahnemann in Berührung war
mit Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine und möglicherweise auch für sie
Rezepte ausgestellt hatte; beide waren vertraut mit der spirituellen Seite der Philoso-
phie Swedenborgs und von ihr angetan. Jahre hindurch haben viele Leute versucht, eine
Antwort zu finden, aber wenn nicht einige unübersetzte Briefe oder andere Papiere ans
Tageslicht kommen, wird eine tatsächlich belegbare Verbindung ein Geheimnis bleiben.
In diesem Punkt jedoch sind wir sicher, wenn wir sagen, dass jeder Mensch auf seine
eigene Weise sich von ähnlichen Wahrnehmungen tiefer geistiger Realitäten, die das
ganze Universum durchdringen, Anregungen holt. Für solche Menschen, deren Heran-
gehensweise an das Leben weiterhin geistige Realitäten einschließt, mag eine hochent-
wickelte geistige Philosophie von dem einen genommen werden und ein zusammen-
hängender Zugang zur Gesundheit und Heilung von dem anderen. Swedenborg und
56
Thomas L. Bradford, Life and Letters of Hahnemann (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1895).
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 91
Hahnemann müssen als wichtige Führer und Quellen der Inspiration erscheinen, da un-
ser Jahrhundert versucht, seine geistigen Wurzeln wiederzuentdecken.
57
Den folgenden Einblick in frühe Verbindungen und Kontroversen der Homöopathie mit der Neuen
Kirche in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts entnehmen wir dem Buch von Maguerite
Block, The New Church in the New World, 1984, S. 161-165.
58
Dr. Wm. H. Holcombe, The Truth about Homeopathy, S. 8f; New Jerusalem Messenger, Bd. 39, S. 168.
59
New Church Review, Bd. 36, S. 207; New Church Life, Bd. 22, S. 113-115.
60
New Church Messenger, Bd. 108, S. 96, 175.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 92
61
New Church Review, Bd. 31, S. 290.
62
Morris Fishbein, The Medical Follies, S. 31-34.
63
Newchurchman, Bd. 2, S. 509-513.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 93
der allgemeinen Entsprechung des Wassers empfohlen. Ungefähr ein halbes Jahrhun-
dert ist vergangen seit die Prinzipien des letzteren der Welt zuerst bekannt gemacht
wurden in Gestalt einer Wissenschaft und sich Neukirchenleuten empfahlen, wie man
nun sehen kann, hauptsächlich daher, dass es den Ursprung aller Krankheiten auf im-
materielle, geistige Ursachen zurückführt … Swedenborg sagt: 'Die Krankheiten ent-
sprechen den Begierden und Leidenschaften des Gemüts (animi). Diese sind auch die
Entstehungsgründe der Krankheiten, denn diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, al-
lerlei Üppigkeit, rein sinnliche Vergnügungen, dann auch Neid, Haß, Rache, Unzucht
und dergleichen, was das Inwendigere des Menschen zerstört; und wenn dieses zerstört
ist, leidet das Auswendigere und zieht dem Menschen Krankheit und dadurch den Tod
zu.' (HG 5712) … Wenn der Einfluss des Lebens wilder und grausamer Tiere, giftiger
Pflanzen und Mineralien in die natürliche Welt frei und ungehindert ist, dann wird na-
türliche Krankheit nicht vorkommen, denn dieses Leben fließt frei durch das Gemüt, da
es ja nach seiner eigenen äußersten Form, entweder auf der tierischen, der pflanzlichen
oder der mineralischen Stufe, strebt. Diese Form allein kann es aufnehmen, ohne die
Gewalt, die ihr durch ein Leben, das wesentlich von ihrem eigenen Leben abweicht, an-
getan würde. 'Daher sehen wir', Swedenborg zitierend, 'dass alle Objekte und Gegen-
stände der natürlichen Welt als eine Art Sicherheitsventil dienen, wenn der Ausdruck
erlaubt ist, zum Schutz des natürlichen Lebens des Menschen. Ohne diese könnte er
nicht einen Augenblick existieren.' … Wenn sich eine Krankheit gezeigt hat, 'dann wird
es notwendig, um den natürlichen Körper wieder zur Aufnahme seines eigenen Lebens
herzustellen, also einen Zustand der Gesundheit herbeizuführen, dass die Sperre über-
wunden wird, dass die Neigung, die eingesperrt ist, und nun in den natürlichen Körpers
als ihr äußerstes Aufnahmeorgan fließt, wieder abwärts in ihr ureigenstes Aufnahmege-
fäß fließt und den natürlichen Körper verläßt, der nur ein aufnehmendes Organ seines
eigenen, ihm angemessenden Lebens ist. Um das zu bewirken, muss das Äußerste des
Krankheit oder der bösen Neigungen, das im Körper tätig ist, um etwas Aufnehmendes
zu formen, in dieselbe Ebene eingeführt werden, um das unordentliche Leben aufzu-
nehmen.' Quecksilber produziert dieselben bösen Wirkungen wie Syphilis, Ähnliches
heilt Ähnliches, daher heilt Quecksilber Syphilis."64
In einem Artikel mit der Überschrift "Have the Principles of Homoeopathy an Affinity
with the Doctrines of the New Church?" (Haben die Prinzipien der Homöopathy eine
Ähnlichkeit mit den Lehren der Neuen Kirche?) erläutert Rev. Richard de Charms seine
Theorien der Verbindung. "Es ist nicht wahr, dass eine Krankheit durch eine andere
ähnliche Krankheit ausgetrieben wird. Wie wir gezeigt haben, ist das nicht die Theorie
einer hömöopathischen Heilung. Die Theorie ist, dass die bösen Geister der Hölle, die
64
Ebenda, S. 520, 532, 541f.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 94
65
New Church Repository, Bd. 3, S. 506.
66
Ebenda, S. 542-544.
67
New Church Messenger, Bd. 2, S. 112.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 95
Dr. Charles S. Mack, Professor am Homoeopathic Medical College der Universität Michi-
gan und später ein neukirchlicher Geistlicher, widmet in seinem Buch "Philosophy in
Homoeopathy" mehrere Seiten der Beziehung der Homöopathie zu Swedenborgs Philo-
sophie. Sein Glaube ist, dass "die Theorie der Homöopathie gänzlich annehmbar zu sein
scheint für den Glauben, dass wir Empfänger des Lebens von der ersten Quelle des Le-
bens sind und, wenn Heilung vorkommt, Empfänger der Gesundheit, die Krankheit er-
setzt."68
68
Dr. C. S. Mack, Philosophy in Homeopathy, S. 90-99.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 96
Schon nach einigen Tagen spürte er eine Veränderung in seinem Befinden; es stellten
sich Symptome ein, die er ganz sorgfältig und penibel aufschrieb. Sein alter gesunder
Zustand, wie er ihn von sich selber kannte, verschwand, und Befindensveränderungen
auf allen Ebenen stellten sich ein. Er war erschöpft, sein sonst ruhiges Wesen verwan-
delte sich in nervöse Reizbarkeit, Unruhe und depressive Stimmung. Im Kopf hatte er
das Gefühl, als ob das Gehirn gegen den Schädel schlüge. In den Gliedern spürte er
Taubheitsgefühle und Zittern.
Nach ein paar Tagen schaute er sich diese Symptomenauflistung an und stellte zu sei-
ner Überraschung fest, daß er Symptome entwickelte, die einem Wechselfieber täu-
schend ähnlich waren. Er setzte die Arznei ab und die Symptome verschwanden nach
einigen Tagen. Sein alter gesunder Zustand kehrte auf allen Ebenen zurück. Das konnte
aber auch nur ein Zufall sein, und so fing er nochmals an, die Arznei einzunehmen, und
wieder stellten sich nach ein paar Tagen diese Befindensveränderungen ein. Es setzte die
Arznei erneut ab und alle Veränderungen verschwanden und der alte gesunde Zustand
kehrte zurück.
Um sicher zu gehen, gab er die Chinarinde gesunden Verwandten und Bekannten, und
zu seinem Erstaunen stellten sich bei allen "Prüfern" mehr oder weniger stark diese
speziellen Befindensveränderungen ein. Wurde die Arznei abgesetzt, so verschwanden
alle Symptome und der jeweils alte gesunde Zustand kehrte zurück. Hahnemann notier-
te auch die Symptome der anderen "Prüfer" ganz penibel und erstellte so ein Prüfungs-
protokoll der Chinarinde bei Prüfung am gesunden Menschen.
Angeregt durch diese Entdeckung erwachte sein Forschergeist und nun begann er eif-
rig, alle damaligen Arzneisubstanzen auf ihre Möglichkeit, das gesunde menschliche
Befinden zu verändern, zu untersuchen. Er "prüfte" alle Substanzen an sich, seinen
Freunden und Bekannten.
Für die Prüfung benutzte er ganz geringe Mengen der Ursubstanz, die täglich mehrmals
eingenommen wurden, bis sich deutlich wahrnehmbare objektive und subjektive Befin-
densveränderungen einstellten. Alle auftretenden Befindensveränderungen, die sich auf
der geistigen, emotionalen und körperlichen Ebene einstellten, wurden genau protokol-
liert und ausgewertet. Nachdem er viele der damals üblichen Arzneien genau geprüft
und "Prüfungsprotokolle" erstellt hatte, begann er auch Substanzen zu prüfen, die noch
nicht als Arznei verwendet wurden, um deren Potential, das menschliche Befinden zu
verändern, zu erforschen. Die Prüfung der Tollkirsche z. B. erbrachte folgende charakte-
ristische Befindensänderungen: Hochroter Kopf, weite Pupillen, durstlos trotz trockenen
Mundes, starke Unruhe, Halluzinationen, Halsschmerzen und Ohrenschmerzen rechts,
starkes Herzklopfen usw. Die Sammlung an Prüfungsprotokollen sämtlicher Arzneien
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 98
stelle er zur "Reinen Arzneimittelprüfung" zusammen und stellte fest: Jede Arznei macht
krank! Jede, ohne Ausnahme.
Ein Gesunder, der eine Arznei einnimmt, wird zum Arzneikranken mit arzneispezifischer
Symptomatik! Wird die Arznei abgesetzt, so verschwindet diese Arzneikrankheit und der
alte gesunde Zustand kehrt zurück. Das nennt man Arzneimittelprüfung. Als Hahnemann
ungefähr 60 - 80 Arzneien auf ihre ihnen innewohnende Wirksamkeit hin geprüft hatte
und so über ein sehr genaues Arzneiwissen verfügte, eröffnete er seine Praxis, denn er
wollte nun sehen, was er mit diesem Wissen praktisch anfangen konnte.
Kam eine Mutter mit einem hochfiebernden Kind, so schaute sich Hahnemann sehr ge-
nau diese Befindensveränderungen an. Zeigte dieses Kind z. B. einen hochroten Kopf,
erweiterte Pupillen, Unruhe, Halsschmerzen, Ohrenschmerzen und Halluzinationen, so
fragte er sich: "Bei welcher Arzneieinnahme ging es mir ähnlich, wie nun diesem kran-
ken Kind? Bei der Tollkirschenprüfung fühlte ich mich ähnlich wie sich dieses Kind
jetzt fühlen muß. Er gab nun dem Kind die Tollkirschenurtinktur in ganz geringer Dosis
mehrmals am Tag. Das Kind reagierte sehr heftig auf die Arznei, denn das Fieber stieg
noch einmal an, die Schmerzen und auch die Unruhe wurden stärker, aber schon nach 1
- 2 Tagen klangen alle Krankheitserscheinungen ab und das Kind wurde auf allen Ebe-
nen wieder gesund. So arbeitete er nun täglich mit Dutzenden Patienten, indem er sich
immer wieder genau ihre Befindensveränderungen schildern ließ und überlegte, bei
welcher Arznei er ähnliche Prüfungssymptome entwickelte, wie sie nun dieser kranke
Mensch schilderte. Als er Hunderte von Patienten erfolgreich behandelt hatte, gab es für
ihn keinen Zweifel mehr an seiner Heillehre und er formulierte sie das erste Mal öffent-
lich, indem er die Grundgesetze zur Heilung von kranken Menschen aufführte.
1. Grundsatz: "Ähnliches werde mit Ähnlichem geheilt."
Eine Arznei, die einen kranken Menschen gesund macht, muß bei Prüfung am Gesun-
den ein ähnliches Erscheinungsbild hervorrufen!
2. Grundsatz: "Prüfung der Arznei am Gesunden"
Die Arzneien dürfen nicht am kranken Menschen geprüft werden, weil sein Organismus
schon krankhaft gestört ist und so keine reinen Arzneireaktionen zu erwarten sind.
Auch sollten kranke Menschen nicht noch zusätzlich belastet werden. Der gesunde
Mensch stellt sich zu Verfügung, damit dem kranken Menschen geholfen werden kann.
3. Grundsatz: "Verwendung von potenzierter Arznei"
Und wie kam es nun dazu? Hahnemann nahm an Anfang noch ganz geringe Dosen der
Ursubstanz (in unserem Fall die Tollkirschentinktur) und verabreichte sie mehrmals
täglich, nach dem Ähnlichkeitsprinzip ausgewählt, dem Kind mit dem hohen Fieber. Es
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 99
Hahnemann jedoch ließ sich nicht beirren. Sein Ruf als wundersamer Heiler ging nun
schon weit über Deutschlands Grenzen hinaus und viele Patienten aus aller Welt pilger-
ten zu ihm, um von ihren Krankheiten befreit zu werden. Hahnemann fing an, alle mög-
lichen Substanzen aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierreich auf ihre Fähigkeit zu prü-
fen, das menschliche Befinden zu verändern. Alle Stoffe wurden auf eine C 30 hochpo-
tenziert und erst dann von den Prüfern eingenommen. Er potenzierte auch Substanzen,
die in der Ursubstanz, auch in größeren Mengen genossen, keinerlei Arzneikraft auf-
wiesen - und mußte wieder zu seinem Erstaunen feststellen, daß sie, in der C 30 einge-
nommen, eine große Kraft besaßen, das menschliche Befinden zu verändern.
James Tyler Kent schreibt: "Die Kraft kommt von innen, von einem Zentrum her: Des-
halb potenzieren wir unsere Medikamente höher und höher, um eben diesem Zentrum
näher zu kommen, denn je näher dem Zentrum, desto intensiver ist die Kraft. In diesem
Sinne wird das Medikament durch die Potenzierung immer stärker. Materiell wird das
Medikment immer schwächer."
Was geschieht aber bei dem so umstrittenen Potenzierungsprozess? Man kann sich das
folgendermaßen vorstellen: Hinter jeder Materie steht ja die geistige Kraft, die das Äu-
ßere formt. Swedenborg sagt: "Alles materiell Sichtbare hat seine Ursache im dahinter-
liegenden Geistigen." Durch den Verdünnungs- und Verschüttelungsprozeß wird nun
das Geistige oder die Information vom Informationsträger gelöst. Die grobe Außenschale
wird nach und nach entfernt und die dahinterliegende Kraft kann sich mehr und mehr
entfalten. Diese Kraft wird nun an einen neutralen Informationsträger gebunden (Alko-
hol-Wassergemisch oder Milchzucker). Diese von der materiellen Bindung losgelöste
Arzneikraft vemag nun, unmittelbar auf die seelische Ebene einzuwirken.
Hahnemann fand also heraus, daß eine nichtstoffliche Arznei heilen konnte, sofern sie
nach dem Ähnlichkeitsprinzip verordnet wurde. Daran gab es nichts zu rütteln, denn
die täglichen schnellen und sanften Heilungen waren Beweis genug. Jetzt setzte er wie-
der seinen logischen Verstand ein und kam zu dem Schluß: "Wenn eine nichtstoffliche
Arznei heilend wirkt, so muß die Quelle der Erkrankung (logischerweise) auch im
nichtstofflichen Bereich liegen."
Diesen nichtstofflichen Bereich nannte er Lebenskraft oder Dynamis. Nicht der Körper ist
der eigentliche Träger der Krankheit, sondern die Kraft, welche diesen Körper geschaf-
fen hat, ihn unterhält, Störungen reguliert und ihn nach dem Tode wieder verläßt. Die
Lebenskraft kann man nicht sehen, messen oder anfassen, man erkennt sie nur an den
Manifestationen, die sie im Körper hinterläßt. Krankheiten können wir niemals sehen,
ebensowenig wie wir das Leben selbst sehen können. Die Lebenskraft ist nicht direkt
nachweisbar, denn sie steht hinter der Chemie und die organische Chemie entsteht nur
durch diese dynamische Kraft. Normalerweise spürt man die Tätigkeit der Lebenskraft
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 101
nicht. Kommt es aber zu einer Verstimmung, so sagt man: "Ich spüre …" Die Funktionen
der Organe, wie des Magens, der Leber, der Nieren usw., spürt man normalerweise
nicht; in dem Moment aber, wo im immateriellen Bereich (Lebenskraftebene) eine Stö-
rung vorhanden ist, sagt man: "Ich spüre meinen Magen, Übelkeit, Schmerzen usw."
Erst die Störung dringt zum Bewußtsein vor; wenn alles normal ist, spürt der Mensch
nichts! Beginnt man mit den heutigen diagnostischen Geräten eine Untersuchung, wür-
de man zu diesem Zeitpunkt noch kein Ergebnis erhalten, organisch ist alles in Ord-
nung, aber der Patient hat schon Befindensveränderungen gegenüber seinem gesunden
Zustand. Der Prüfer spürt durch die künstliche Arzneikrankheit Befindensveränderun-
gen, und der gesunde Mensch spürt bei Eintreten der natürlichen Krankheit Befindens-
veränderungen.
Ein häufiges Beispiel: Ein Patient beklagt Magendruck, Übelkeit, Empfindlichkeit gegen
bestimmte Nahrungsmittel usw. Er geht zu einem Schulmediziner, aber der kann nichts
entdecken. So wird der Patient nach Hause geschickt ohne Ergebnis. Der Patient fühlt
sich immer noch nicht wohl, die Beschwerden bleiben oder werden immer schlimmer.
Jedes Jahr geht er zur Untersuchung ohne Ergebnis. Jahre später entdeckt man ein Ma-
gengeschwür, das nun endlich medikamentös behandelt werden kann. Das Magenge-
schwür ist nicht die Krankheit, sondern das Endresultat der Krankheit! Die sichtbaren
Zellstrukturveränderungen, die man mit den heutigen Geräten messen kann, sind das
Endresultat der Krankheit, nicht aber die Krankheit selbst. Veränderungen in den Emp-
findungen verraten uns den Beginn der Erkrankungen, noch bevor Zellstrukturverände-
rungen sichtbar sind. Nicht die Magengeschwüre sind die Krankheit, sondern der Prozeß
der Entstehung des Magengeschwüres. Eine lokale Behandlung dieses Endergebnisses
berührt die dahinterliegende Störung nicht. Der Patient war schon krank, als er die Be-
findensveränderungen feststellte und sagte: "Ich spüre …" - da beginnt schon die
Krankheit.
Hahnemann arbeitete Tag und Nacht an der Erweiterung seiner Lehre. Er und seine
Schüler prüften immer neue Substanzen auf ihre Fähigkeit, das menschliche Befinden
zu verändern. Je mehr Mittel gefunden wurden, um so mehr Menschen konnte geholfen
werden. Er heilte täglich viele kranke Menschen mit seinen "dynamisierten Arzneien" -
wie er sie nannte - verordnet nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Viele Jahre arbeitete er
sehr erfolgreich in seiner Praxis, bis er einige Male bei hartnäckig chronisch kranken
Menschen beobachtete, daß die Krankheit nach anfänglicher Besserung immer wieder
in alter Stärke zurückkehrte. Er wollte aber nicht nur kurzfristig heilen, sondern
schnell, sanft, sicher und vor allem dauerhaft. An der Wahl der Arznei konnte es nicht
liegen, da zumindest jedesmal eine kurzfristige Besserung eintrat. An dem Ähnlich-
keitsprinzip konnte es auch nicht liegen. Aber woran lag es dann? Um der Sache auf
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 102
den Grund zu gehen, fing er nun ganz penibel an, die chronisch kranken Patienten ge-
nauestens zu befragen. Er nahm die Gesamtheit der Symptome des chronisch kranken
Patienten auf, und zwar vom Beginn bis zu ihrem Jetztzustand. So erhielt er ein umfas-
sendes Bild der vorherrschenden Krankheit. Auch die Krankengeschichte der Vorfahren
nahm er genauestens unter die Lupe. Hahnemann erstellte 12 Jahre lang über jeden
chronisch erkrankten Patienten ein umfangreiches Krankenjournal mit allen Aufzeich-
nungen. Er verglich alle Patientenberichte miteinander, arbeitete gemeinsame Züge
heraus und vereinigte alles zu einem großen Ganzen.
Hahnemann erkannte ganz bestimmte Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Ver-
erbungsmuster, die er in drei große Gruppen einteilte. Er nannte sie die Psora, Sykosis
und Syphilis. Alle zusammen wurden unter dem Begriff "Miasmen" oder auch "Ver-
schmutzungen" zusammengefasst. Er stellte fest, daß die Neigungen zu bestimmten
chronischen Krankheiten schon vom Geburt an im Menschen verankert sind und nicht
durch äußere Einflüsse hervorgerufen werden. Die Miasmen prägen das Individuum
und bestimmen die inneren Neigungen zu bestimmten chronischen Leiden und Emp-
fänglichkeiten für bestimmte äußere Krankheitseinflüsse!
Beispiele für Miasmen: Die Psora = der konstitutionelle Zustand des Mangels, der
Hemmung oder der Organunterfunktion. Die Sykose = der konstitutionelle Zustand der
Überschwenglichkeit, Ausuferung oder der Organüberfunktion. Die Syphilis = der kon-
stitutionelle Zustand der Zerstörung, Degeneration und Aggression oder der pervertier-
ten Organfunktion.
In Bezug auf die Haut bedeutet das: Ein Mensch, der unter dem psorischen Miasma ge-
boren ist, neigt zu trockenen, schuppenden und leicht unterdrückbaren Hautausschlä-
gen (Organunterfunktion). Ein Mensch, der unter dem sykotischen Miasma geboren ist,
neigt zu Wucherungen wie Warzen, Polypen, Fibrome, Kondylomen, Muttermalen usw.
(Organüberfunktion). Ein Mensch, der unter dem syphilitischen Miasma geboren ist,
neigt zu Geschwüren, Rhagaden, Fissuren usw. (zerstörende oder pervertierte Organ-
funktionen)
Hahnemann erkannte, daß diese erblichen "Verschmutzungen" (Miasmen) immer eine
Grunderkrankung als Ursache hatten, die sich dynamisch an die Lebenskraft heftete
und so als Organschwächen und innere Empfänglichkeiten für Krankheiten an die
Nachkommen weitergegeben wurde.
Miasmen machen also erst für bestimmte Krankheiten empfänglich und prägen die Fol-
gekrankheiten nach Unterdrückung eines Lokalübels durch allopathische Arzneien. Die
Miasmen sind die Prägungen des Menschen durch seine Vorfahren, Umwelt und Le-
bensweise. Der Mensch wird immer so krank, wie seine vererbte Prägung es zuläßt.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 103
Kent schreibt (immer zitiert aus: "Zur Theorie der Homöopathie: Kents Vorlesungen
über Hahnemanns Organon"): "Man kann in vielen Familien Charakteristika und Be-
sonderheiten im Erbgang weitergehen sehen. Zuerst die subjektiven Symptome, später
objektive, durch welche sich die Anfangsstadien jeder Krankheit ausdrücken. Aber
während sich bei einem Familienmitglied die pathologische Anlage Schritt für Schritt
zum Krebs entwickelt, kann dieselbe Anlage bei einem anderen Familienmitglied zur
TBC führen usw. - aber wie gesagt aus derselben Anlage." "Nachkommen bekommen
nur die innere Krankheit, nicht mehr die äußeren Manifestationen."
Den Miasmen liegt immer eine bösartige und aggressive Erkrankung zu Grunde, die
keinerlei Selbstheilungstendenz aufweist und erst mit dem Tod des Patienten erlischt.
Bei seinem Studium der chronischen Krankheiten beobachtete Hahnemann, daß der Be-
ginn des Krankseins fast immer in der Behandlung eines Lokalübels lag.
Hahnemann fand z. B. heraus, daß Patienten, die an der Lungenschwindsucht erkrank-
ten, in jüngeren Jahren alle einen Bläschenausschlag, hauptsächlich zwischen den Fin-
gern hatten, welcher mit den damals üblichen Salben unterdrückt wurde. Da stellte sich
ihm die Frage: "Was hat die Unterdrückung einer Krankheit mit der Krankheit zu tun,
die nachher folgt?" In der Homöopathie sind die Bakterien und Viren nur die Auslöser
nicht aber die Ursache einer Erkrankung. Wären die Bakterien und Viren die eigentli-
che Ursache, so müßte sich unabdingbar jedes Individuum anstecken, was jedoch nicht
der Fall ist. Die Ursachen der Erkrankungen sind immer die inneren vererbten Emp-
fänglichkeiten.
Dazu Kent: "Die Bakterientheorie will uns glauben machen, die göttliche Vorsehung hät-
te diese unendlich kleinen Wesen geschaffen, den Menschen krank zu machen." "Die
Bakterien mögen noch von der Ursache enthalten, da die Ursachen bis in die sichtbaren
Endzustände fortwirken, aber die wahre, tiefste Grundursache ist nicht in ihnen, die
Bakterien selbst haben eine Ursache." "Nicht von äußeren Ursachen wird der Mensch
krank, nicht von Mikroben noch sogar von Umwelteinflüssen, sondern nur von Ursa-
chen, die in ihm selbst liegen. Begreift der homöopathische Arzt dies nicht, so fehlt ihm
eine echte und wahre Vorstellung von der Krankheit. Entgleisung, Störung im Inner-
sten, im leitenden Zentrum - ein Zuwenig oder Zuviel - das ist die erste Etappe zur
Krankheit, darauf folgen dann die ersten äußeren Anzeichen, und zwar zuerst in Form
subjektiver, später dann objektiver Symptome. Alle Krankheiten auf Erden sind nur das
Spiegelbild dessen, was im Innern des Menschen ist. Wäre es nicht so, wäre er nicht
empfänglich für Krankheit, könnte er nicht entwickeln, enthüllen, was in ihm ist. Das
Bild dessen, was im Inneren ist, kommt bei der Krankheit heraus. Wie der Mensch
denkt, so sein Leben." Menschen z. B., die eine Neigung zu Durchfall haben, infizieren
sich schon damit, wenn im letzten Haus in der Straße jemand an Durchfall erkrankt ist.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 104
Die gleichen Menschen können in einen Raum mit 50 Menschen, die eine Bronchitis
haben, gehen, ohne sich anzustecken.
Es gibt in der heutigen Zeit niemanden mehr, der ohne starke miasmatische Belastung
auf die Welt kommt. Durch die jahrhundertealte Unterdrückung von Krankheiten wer-
den diese Miasmen immer vielfältiger, bösartiger und auch aggressiver. Kent: "Die Mi-
asmen, welche die menschliche Rasse heutzutage krank machen, sind durch allopathi-
sche Behandlung noch tausendfach komplizierter gemacht worden." (Kents Erkenntnis
um 1900!)
Jedes Individuum kommt mit einer bestimmten Stärke an Lebenskraft auf die Welt und
mit einer bestimmten Stärke der mitgebrachten Miasmen (die sich an die Lebenskraft
als störendes und zerstörendes Element anheften). Jeder von uns hat seine individuelle
Neigung zu chronischen Krankheiten. Der eine neigt zu Rheuma, der nächste zu Asth-
ma, wieder der nächste zu Diabetes usw.
Kent: "Wir haben zwei Dinge auseinander zu halten, den akuten Zustand, durch die
Krankheit hervorgerufen und den darunterliegenden chronischen Zustand, den natürli-
chen Zustand jedes Patienten, der unter Miasmen geboren ist."
Warum erkrankt einer an dieser, der andere an jener chronischen Erkrankung? Wir
sind immer nur so gesund wie unsere Vorfahren! Normalerweise hält die Lebenskraft
die Miasmen in "Schach" sie schlummern in der Tiefe und können nicht erwachen.
Deshalb sind Kinder normalerweise sehr gesund und neigen eigentlich kaum zu chroni-
schen Krankheiten, da ihre Lebenskraft noch ungetrübt ist. Erst im Alter, wenn die Le-
benskraft auf natürliche Weise nachläßt, beginnen die chronischen Leiden hervorzubre-
chen. Aber wie sieht es heutzutage aus? Wie viele chronisch kranke Kinder gibt es in
dieser Generation, sprich, wie viele Kinder gibt es eigentlich noch, die nicht schon vom
Säuglingsalter an chronisch krank sind? Die Miasmen werden von Generation zu Gene-
ration stärker und die Lebenskraft sinkt im Gegensatz dazu!
Hahnemann begann alle seine Mittel dahingehend zu untersuchen, welche auslöschen-
den Wirkungen sie auf diese vererbten Miasmen besitzen und teilte die gesamten Arz-
neien auch in diese Gruppen ein. Es gibt somit die psorischen, sykotischen und syphili-
tischen Arzneien. Hatte er einmal das vorherrschende Miasma beim Patienten erkannt,
so nahm er eine Arznei, die die Kraft besaß, auf diese Miasmen schwächend einzuwir-
ken und erzielte dadurch dauerhafte Erfolge bei der Heilung von - aus allopathischer
Sicht - unheilbar kranken Menschen.
Alle Maßnahmen, welche die Lebenskraft schwächen, lassen die Miasmen hervorbre-
chen. Schwächend auf die Lebenskraft wirken: schlechte Lebensweise, Nahrungs- und
Umweltgifte, wenig Schlaf, Allopathie, Impfungen, Kummer usw. Gute Ernährung, gute
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 105
Lebensweise wirken stärkend auf die Lebenskraft, aber nicht schwächend auf die Mi-
asmen. Einzig und allein die Homöopathie vermag direkt auf die vererbten Verschmut-
zungen reinigend und schwächend einzuwirken. Die Patienten werden im Laufe der
Therapie immer belastbarer. Hahnemann widmete den Rest seines Lebens nur noch der
Erforschung und Therapie der chronischen Krankheiten und starb im hohen Alter von
88 Jahren 1843 in Paris.
Wie findet der Homöopath das ähnlichste Arzneimittel für den Patien-
ten?
Ein Patient mit Asthma kommt in die Praxis. Zuerst erfragt der Homöopath die lokalen
Asthmasymptome. Wie zeigen sich die genauen individuellen Befindensveränderungen
bei diesem Patienten? Zu welcher Tageszeit ist die Atemnot am schlimmsten? Was bes-
sert die Beschwerden? Wann traten das erste Mal diese Atemnotsymptome auf usw.? Al-
les wird genauestens abgefragt und festgehalten. Dann wird die gesamte Krankenge-
schichte aufgenommen. An welchen Krankheiten leidet der Patient noch? Was für
Krankheiten hatte er schon in seinem Leben? Es wird versucht, die chronologische Rei-
henfolge präzise nachzuvollziehen! Welche Nahrungsmittelverlangen und -abneigungen
hat der Patient? Welche individuellen Persönlichkeitsmerkmale sind vorhanden, z. B.
auf der emotionalen Ebene? Welche Ängste bestehen, welche Impulse? Wie ist das
Temperament? Wie ist das persönliche Lebensumfeld? Welche Probleme gibt es im täg-
lichen Leben? Gibt es auf der geistigen Ebene Probleme? Wie ist es mit der Konzentrati-
on usw.? Welche chronischen oder schweren Erkrankungen tauchen in der Familie und
bei den Vorfahren auf? Ungefähr 1 - 2 Stunden dauert so eine erste Befragung des Pati-
enten. Jede individuelle Information, die die Persönlichkeit charakterisiert, ist für den
Homöopathen wichtig und führt ihn zu dem ähnlichsten Mittel. Es ist oft nicht einfach
für die Patienten, die Beschwerden genau zu beschreiben, da im allgemeinen solche in-
dividuellen Symptome keine Beachtung finden. Jede Information, die der Homöopath
von dem Patienten erhält, ist wie ein Teil eines Puzzles, das nach der Befragung sorgfäl-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 106
tig zusammengesetzt werden muß bis ein ähnliches Bild entsteht, wie es bei der Prü-
fung am Gesunden (beschrieben in den Prüfungsprotokollen) aufgetaucht ist. Die Arznei
wird nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip ausgesucht. Der Patient erhält nun seine per-
sönliche Arznei in einer C 30 oder C 200 in Form von kleinen Milchzuckerkügelchen
als einmalige Gabe verabreicht. Der Patient wird fragen, was er denn ab nun regelmäßig
einnehmen solle und wird die Antwort erhalten - "vorerst nichts mehr!" - Und hier sto-
ßen wir bei den Patienten wie auch bei der Schulmedizin auf große Skepsis. Um dieses
zu verstehen, wollen wir noch einmal zusammenfassen und uns die zwei verschiedenen
Therapierichtungen betrachten. Zuerst einmal die uns geläufige Allopathie (Schulmedi-
zin).
heit übergestüplt, die nach Absetzen der Arznei wieder verschwindet und der "alte Zu-
stand" (in unserem Fall die Halsentzündung) kehrt zurück. Dieses Spiel kennen wir von
der normalen Medizin zur Genüge, weshalb die Wartezimmer voll sind mit Patienten,
deren Erkrankungen ständig wieder auftreten oder besser gesagt "zurückkehren". Die
Patienten meinen, daß sie sich beim Wiederauftreten der Halsentzündungen erneut an-
gesteckt hätten, aber nach Absetzen der gegensätzlichen Arznei kehrt die alte Halsent-
zündung wieder zurück, um endlich ausgeheilt zu werden. Die Patienten mit wiederauf-
tretender Halsentzündung, Bronchitis, Ohrenentzündungen usw. plagen sich immer mit
ein und derselben Krankheit herum. Bleiben allerdings nach einer gegensätzlichen The-
rapie die Beschwerden dauerhaft verschwunden, so taucht dieselbe Krankheit später auf
einer tieferliegenden Schicht wieder auf, mit gleicher Stärke und gleicher Hartnäckig-
keit (dies wird aber von der Schulmedizin als "neue" Krankheit angesehen). Es nützt
nichts, die gegensätzliche Arznei nur einmal einzunehmen, da die gegensätzliche Arz-
neikrankheit immer stärker sein muß, als die vorherrschende natürliche Krankheit.
Dies wird durch das mehrmals täglich und wiederholte einnehmen der grobstofflichen,
gegensätzlichen Arznei erreicht. Die natürliche Krankheit verschwindet während der
Einnahme langsam und es kommt zur Unterdrückung. Setzt man das Antibiotikum zu
früh ab, so bleiben die Halsschmerzen bestehen. Die allopathische (gegensätzliche) The-
rapie muß deshalb immer so lange eingenommen werden, bis der alte kranke Zustand
verschwindet. Die Allopathie macht sich dieses Gesetz der Wirkung der künstlichen
Arzneikrankheit für eine scheinbare Heilung zunutze. Patienten mit chronischen Leiden
müssen fast ohne Ausnahme ständig eine Arznei einnehmen, denn wenn sie die Arznei
absetzen, kehrt der alte kranke Zustand zurück. Es hat sich an der eigentlichen Krank-
heit nichts verändert. Die Symptome verschwinden nur, solange die gegensätzliche
Arznei eingenommen wird. Die sogenannten Nebenwirkungen, die sich bei langem Ge-
brauch einstellen, sind die eigentlichen "Prüfungsymptome", die bei Prüfung am Ge-
sunden klarer herauskommen würden. Wird eine gegensätzliche Arznei zu lange ein-
genommen, kommt es u. U. auch zu irreparablen Organschäden!
Wir kennen dieses Problem auch bei den chronischen Kopfschmerzen (Migräne), die
mit Schmerztabletten kurzfristig beseitigt werden. Klingt die Arzneikraft der Schmerz-
tablette ab, kommt der Kopfschmerz unerbittlich zurück und eine neue Tablette muß
eingenommen werden. Am eigentlichen Zustand ändert sich auf Dauer nichts! Da es oft
nach Monaten und Jahren zu einem Gewöhnungseffekt kommt, muß die Dosis ständig
erhöht werden, um eine stärkere Arzneikrankheit zu erzeugen. Als "Nebenwirkungen"
(Arzneiprüfungserscheinungen) treten dann Magengeschwüre und Nierenleiden auf.
Der Patient wird aufgefordert, diese Tabletten nicht mehr einzunehmen und der alte
Kopfschmerz kehrt zurück (meist noch sehr verstärkt), und dazu gesellt sich ein Magen-
und Nierenleiden. Jede Arznei macht krank!
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 108
Bei der Rheumabehandlung war es üblich, Goldspritzen zu verabreichen mit dem Erfolg,
daß der alte kranke Rheumazustand verschwand (allerdings nur, solange die Spritzen
verabreicht wurden). Nicht selten traten Gemütsveränderungen (als unerwünschte Ne-
benwirkungen), wie schwere Depressionen mit Selbstmordneigung, auf, und zwar mit
dem Bedürfnis, sich aus dem Fenster zu stürzen. Liest man in den Prüfungsprotokollen
der reinen Arzneimittellehre unter "Gold", so findet man genau diese Gemütsbeschrei-
bungen wieder. Jeder Homöopath weiß, daß hier eine künstliche Arzneikrankheit er-
zwungen wird. Der Patient tauscht das schwere Rheumaleiden gegen ein schweres (le-
bensgefährliches) Gemütsleiden ein.
Ein wahrer Therapeut kann nur ein Ziel haben, nämlich die völlige Arzneifreiheit des
Patienten, nie aber die Abhängigkeit von Arzneien. Bei ständiger Arzneieinnahme - evtl.
über Monate und Jahre kann nie von Heilung gesprochen werden. Wahre Heilung ist
dann gegeben, wenn sich der Patient auf einer stabilen Gesundheitsebene befindet, oh-
ne ständig eine Arznei einzunehmen. Aber wie wirkt nun die homöopathische Arznei,
und warum geben die Homöopathen nur eine einmalige Dosis einer C 30 oder C 200?
sermaßen "betriebsblind" für die natürliche chronische Krankheit und hatte keine Mög-
lichkeit dagegenzusteuern.
Nur wenn der Arzneireiz stärker ist, als die vorherrschende natürliche Krankheit, er-
kennt die Lebenskraft den Reiz als äußeren "Krankheitseinfluß" an und beginnt mit den
heilenden Abwehrmechanismen. Durch die verschiedenen Potenzierungsstufen haben
wir die Möglichkeit, die Reizkraft zu bestimmen. Es gibt keine Arznei, die heilt! Es gibt
nur eine heilende Reaktion der Lebenskraft auf einen ähnlichen Arzneireiz!
Mit der einmaligen Gabe unserer Arznei in der Potenzierung C 30 oder C 200 setzen
wir eine Initialzündung und reizen die Lebenskraft zur Abwehrreaktion gegen unsere
künstlich gesetzte Arzneikrankheit. Ist erst der Reiz gesetzt, so beginnen die Regulie-
rungen der Lebenskraft, die sich dann über mehrere Tage bis zu einigen Wochen hin
erstrecken können. Der Patient beginnt, die Auswirkungen der Arznei zu spüren, es
stellen sich jetzt Befindesveränderungen ein, die er möglichst genau aufzeichnet, damit
der Homöopath diese Reaktion kontrollieren kann. Nur durch die Kontrolle der Befin-
densveränderungen, die unter dem Gesichtspunkt ganz spezieller Heilgesetze betrach-
tet werden, kann der Homöopath erkennen, ob er wirklich die ähnlichste Arznei ge-
wählt hat. Er wird sich die Befindensveränderungen im Gemütsbereich, im Gefühlsbe-
reich und im körperlichen Bereich genauestens vom Patienten schildern lassen. Er muß
jetzt genau beleuchten, ob die Reaktionen im Sinne der Gesetze erfolgen und der Pati-
ent so zu einer stabileren Gesundheitsebene geführt wird. Hat der Homöopath nicht die
ähnlichste Arznei, sonders aus Versehen eine Arznei gewählt, die dem Patienten nicht
ähnlich ist, so kann u. U. auch diese Substanz zur Unterdrückung der Beschwerden füh-
ren, denn dann wirkt auch die potenzierte Substanz allopathisch. Denn nicht die Arznei
ist homöopathisch, sondern die Verordnung!
Unser Beispiel: Der Patient mit dem Asthma berichtet nach einiger Zeit, daß seine
Atembeschwerden leichter werden, er jetzt aber einen Hautausschlag zu beklagen hat.
Hier weiß der Homöopath, daß er eine gute und ähnliche Arznei verordnet hat, denn die
Reaktion geht von innen nach außen, von der Lunge zur Haut. Von einem "edlen" zu ei-
nem "unedlen" Organ. Die Lebenskraft kann jetzt die Krankheit zentrifugal nach außen
hin ableiten. Dies wäre ein optimaler Heilungsverlauf. Auch der Hautausschlag wird
nach weiterer Behandlung verschwinden, und zwar ohne eine nachfolgende Krankheit
auf einer anderen Ebene zu erzwingen. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, un-
tersteht diesem Gesetz, denn sie arbeitet von innen nach außen, d. h. von ihrem Kern
aus. Das "Leben" ist innen und nicht außen.
Kent: "Die Entwicklung einer Krankheit, ebenso gut wie der Heilungsprozeß, verfolgt
eine bestimmt Linie, die von einem Ausgangspunkt an zum Endpunkt verläuft: vom
Menschen zu seinen Organen und nicht umgekehrt von den Organen zum Menschen."
Der Innere Mensch ist der ewige unsterbliche Mensch. Swedenborg sagt: "Der Mensch
ist nicht dadurch Mensch, weil er wie ein Mensch aussieht, sondern weil er das Wahre
zu denken und das Gute zu wollen vermag." Swedenborg sagt sinngemäß: Jede Person
hat ihre spezifische geistleibliche Seinsweise, in der sich ihr "innerer Mensch" darstellt.
Dieser innere Mensch ist während des physischen Lebens im äußeren Menschen als
dessen inneres Modell verborgen. Der leibliche Tod tangiert den inneren Menschen
überhaupt nicht, er ist nur eine Versetzung des Menschen aus der irdischen in eine an-
dere, geistigere Seinsweise, in eine andere Art der Leiblichkeit, die anderen Dimensio-
nen. Die Kontinuität seines Bewustseins erfährt keine Unterbrechung.
2. Gesetz: Heilung verläuft immer von oben nach unten!
Der Patient mit dem Asthma produziert jetzt einen Hautausschlag im Gesicht, der nach
einiger Zeit zu den Füßen wandert. So erkennt der Homöopath, daß auch weiterhin die
Heilung in richtiger Richtung verläuft, bis der Hautausschlag ganz verschwindet.
3. Gesetz: Heilung verläuft in umgekehrter Richtung des Erscheinens, sozusagen ein
Rückwärtsabrollen der unterdrückten Krankheiten!
Beispiel: Der Patient mit dem Asthma berichtet uns beim Erstgespräch, daß er nicht
schon immer an Asthma, sondern davor an chronischer Bronchitis litt, die jahrelang mit
allopathischen Arzneien behandelt wurde. Vor der chronischen Bronchitis plagten ihn
ständige Halsschmerzen, die auch "erfolgreich" allopathisch therapiert wurden. Ganz
früher, als Kind, hatte er chronische Hautausschläge, die durch viele Salbenkuren zum
"Verschwinden" gebracht wurden.
Der Homöopath verabreicht nun sein individuelles Atemnots- und Persönlichkeitsmittel
und danach berichtet der Patient, daß die Atemnot weniger wurde, sich dafür aber die
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 111
alten Symptome der Bronchitis bemerkbar machten. Wieder einige Zeit später hörten
die Hustensymptome auf und er bekam eine sehr starke Halsentzündung, die mit Auf-
treten des ihm bekannten Hautausschlages aufhörte.
Ein Wiederaufrollen der alten Beschwerden zeigt dem Homöopathen, daß hier eine sehr
vitale Lebenskraft vorhanden und eine Heilung noch möglich ist. Bei schweren, fortge-
schrittenen chronischen Krankheiten und bei sehr alten Menschen erfolgt oft eine Bes-
serung ohne das Wiederaufrollen der alten Beschwerden, was auf eine schwache Le-
benskraft hinweist; eine vollständige Heilung ist hier kaum noch möglich. Dieses oft
unangenehme Aufarbeiten der alten Beschwerden ist für die Patienten sehr lästig und
meist unverständlich, für die vollständige Heilung aber dringend notwendig.
Ein Beispiel, wie Krankheiten nach dem Naturgesetz verlaufen: Nehmen wir einmal an,
ein Patient leidet unter Akne. Er geht zum Hautarzt, der ihm nach kurzer Diagnostik ei-
ne Salbe verordnet. Der Patient wendet sie regelmäßig an, und nach einiger Zeit wird
die Haut besser, die Entzündungen bilden sich zurück. Der Hautarzt ist zufrieden, denn
er war erfolgreich und hat geheilt! Nun ist der Patient einige Zeit sehr glücklich, aber
auf einmal "überfällt" ihn ein neues Leiden, es stellt sich eine hartnäckige Bronchitis
ein. Jetzt ist nicht mehr der Hautarzt zuständig, sondern der Lungenfacharzt, der die
Bronchien und Lungen genauestens untersucht und eine Antibiotikabehandlung für
notwendig erachtet. Die Bronchitis ist zwar sehr hartnäckig, aber nach Erhöhung der
Dosis verschwindet auch sie dauerhaft. Auch der Lungenfacharzt ist zufrieden und ent-
läßt den Patienten als geheilt! Wieder geht es einige Zeit gut, doch dann taucht eine lä-
stige Schlaflosigkeit auf. Weder der Hautarzt noch der Lungenfacharzt sind nun zustän-
dig, ein Gang zum Hausarzt wird weiterhelfen. Der Patient bekommt Schlaftabletten, die
auch prompt wirken. Der Hausarzt ist zufrieden, denn sein Patient kann wieder schla-
fen. Zwar muß die Dosis von Monat zu Monat erhöht werden, aber Hauptsache, er kann
wieder schlafen. Auf einmal bemerkt der Patient eine Veränderung in seinem Gemüt; es
stellen sich Ängste ein, die er vorher noch nie kannte; auch die Freunde sagen, daß er
sich irgendwie verändert hat. Ein Nervenarzt wird ihm empfohlen, der auch einige gute
und zuverlässige Psychopharmaka in der Schublade bereit hält.
Jeder Facharzt hat geheilt! Aber was hat die eine Erkrankung mit der vorherigen zu tun?
Findet unser Patient nun den Weg zum Homöopathen, so wird dieser in einer langen
und ausführlichen Befragung (Erstanamnese) Schritt für Schritt die Reihenfolge der Er-
krankungen abfragen und sich alle Symptome genau beschreiben lassen. Besonders die
subjektiven Empfindungen und Ängste müssen vom Patienten genau geschildert wer-
den. Nun erhält er seine individuelle Arznei, welche die Gesamtheit seiner Beschwerden
abdeckt und zum individuellen Charakter paßt. Ist die Arznei gut gewählt, beginnt ein
"Rückwärtsabrollen" oder "Hinauswerfen" der alten Beschwerden - bis hin zur alten
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 112
Akne, die schließlich auch verschwindet. Nun kann endlich die anfängliche natürliche
Krankheit geheilt werden. Es ist für einen Facharzt, der nur ein Organgebiet behandelt,
sehr schwer zu erkennen, daß die Bronchitis z. B. nur die Akne auf der Bronchienebene
ist. Wird ein Hautausschlag durch äußerliche Maßnahmen behandelt, so wird die dahin-
terliegende Krankheitskraft nicht berührt, denn die Krankheit ist der Prozeß der Ent-
stehung des Hautausschlages, und die Hautveränderungen sind nur das Endresultat der
Krankheit. Wird der Hautausschlag zum Verschwinden gebracht, verändert das nichts
an der dahinterliegenden Krankheitskraft, die nun gezwungen ist, sich gegen ein ande-
res (meist lebensnotwendigeres) Organ zu wenden. Kent: "Durch allopathische "Hei-
lung" (Unterdrückung) hat er, was an der Oberfläche und damit relativ harmlos war, in
die Tiefe hineingedrückt, und als Folge dieser wissenschaftlichen Ignoranz befindet sich
der Kranke nun auf dem Pfade zum Tode." Kent: "… innere Übel fließen in äußere Mani-
festationen, die Homöopathie fährt fort, auswärts zu treiben, dadurch wird das Innere,
werden die edleren Organe entlastet und befreit, das Innere wird relativ krankheitsfrei."
Die Bronchien können nur organspezifisch reagieren und daher keinen "Hautausschlag"
produzieren (Wenn sie es könnten, wäre die gesetzmäßige Abfolge leichter erkennbar
und weniger leicht zu übersehen!). Die gleiche Kraft, die diesen Hautausschlag hervor-
brachte, wird nun im Bronchialbereich eine ihm adäquate Erkrankung bewirken, z. B.
eine Bronchitis. Ein leichter Hautausschlag, der unterdrückt wurde, bewirkt auch nur
eine leichte Erkrankung der Bronchien. Eine schwere Neurodermitis, die man mit äuße-
ren Maßnahmen zum Verschwinden gebracht hat, bewirkt auf der Ebene der Atmungs-
organe eine adäquat schwere Erkrankung, z. B. Asthma oder eine Lungenentzündung
(die im Gegensatz zum unterdrückten Hautausschlag beide lebensgefährlich sind!).
"Je schwerer eine unterdrückte Krankheit, desto schwerer ist die nachfolgende innere
Erkrankung." Mit diesem Wissen wird ein Homöopath einen Hautausschlag NIE mit äu-
ßerlichen Anwendungen behandeln, sondern immer die innere Krankheit und Empfäng-
lichkeit beeinflussen wollen. Um diese Krankheitsgesetze noch besser verständlich zu
machen, will ich im Folgenden aus der Sicht der Homöopathie auf die drei Ebenen des
Daseins genauer eingehen. Grundsätzlich müssen wir uns dabei vergegenwärtigen, daß
das Gesetz nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren Dinge beherrscht.
besten auf die Haut), damit der wichtigere, innere Mensch, die emotionale und geistige
Ebene, von dieser Störung nicht berührt wird. Der innere Mensch ist der ewige Mensch,
der vom Tod nicht berührt wird. Dieser innere ewige Mensch muß gesund bleiben! Die
Haut schützt den inneren Menschen.
Laufen die äußerlichen Unterdrückungen zu massiv ab und die ererbten Strukturen las-
sen es zu, so wandert die Krankheit immer weiter nach innen, zu zentraleren Bereichen,
bis sie schließlich die körperliche Ebene verlassen muß und auf den emotionalen Be-
reich überwechselt. (siehe Beispiel beim 3. Heilgesetz). Es können sich Reizbarkeiten,
Unzufriedenheiten, Ängste, qualvolle Ängste, Apathie, Unlust, Depression bis hin zur
Selbtsmordneigung einstellen (siehe das Beispiel Goldtherapie bei Rheumakranken).
Um in der Terminologie von Swedenborg zu sprechen, gibt es somit ein Äußeres, Inne-
res und Innerstes. Das Äußerste des Menschen ist die körperliche Ebene, das Innere ist
die emotionale oder Gefühlsebene und das Innerste ist die geistige oder Verstandesebe-
ne. Diese Dreiheit steht nicht nebeneinander sondern ist ineinander verschachtelt (sie-
he Zeichnung). Alles Geschaffene ist nach dieser "Dreifaltigkeit" aufgebaut. Die körper-
liche Ebene wiederum hat auch ein Äußeres, Inneres und Innerstes. Zum äußeren kör-
perlichen Bereich gehören (von außen nach innen betrachtet): Haut, Schleimhaut, Mus-
keln, Knochen, Bänder, Gelenke usw. Zum Inneren zählt man die edleren Organe. Die
Wichtigkeit eines Organes richtet sich nach der Schädigung, die der Gesamtorganismus
erfährt, wenn das Organ verletzt wird. Von außen nach innen betrachtet zählen dazu
Magen, Darm, Blase, Niere, Lunge, Leber. Zum Innersten auf der körperlichen Ebene
zählen die Hormondrüsen, Herz und Gehirn. Zum emotionalen oder inneren Bereich des
Menschen zählen von außen nach innen betrachtet die Zufriedenheit, Gelassenheit, Ur-
vertrauen, Selbstwertgefühl, Kontaktfähigkeit, Gemeinschaftsempfinden und Liebesfä-
higkeit.
Zum geistigen Bereich zählen von außen nach innen betrachtet das Konzentrations-
vermögen, Gedächtnisfähigkeit, logisches Denken, Vernunft, Selbsterkenntnis und
Gotterkenntnis. Diese Einteilungen sind natürlich nur "Arbeitsmodelle" um die Störun-
gen und den Heilungsverlauf beurteilen zu könnnen. Diese Ebenen korrespondieren
stark miteinander und greifen auch ineinander über.
Der äußerste Bereich des Menschen, die Haut, hat auch wieder ein Äußeres, Inneres
und Innerstes. Das Prinzip des Äußeren, Inneren und Innersten läßt sich beliebig weiter
fortsetzen. Die ganze materielle und immaterielle Schöpfung ist nach diesem Prinzip
aufgebaut. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, hat auch ein Äußeres (Zellhaut),
ein Inneres (Zellplasma) und ein Innerstes (Zellkern). Auch der Zellkern hat ein Äuße-
res, Inneres usw. Die Apfelfrucht besteht auch aus ein Äußeres (Apfelschale), Inneres
(Fruchtfleisch) und Innerstes (Apfelkerne). Der Himmel hat ein Äußeres (unterster
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 114
Himmel), Inneres (Mittlerer Himmel), Innerstes (oberen Himmel). Die Hölle hat eben-
falls ein Äußeres (obere Hölle), Inneres (mittlere Hölle) und ein Innerstes (untere Hölle).
Selbst der Buchstabe hat (wie wir von Swedenborg wissen) ein Äußeres (natürlichen
Sinn), Inneres (geistigen Sinn) und Innerstes (himmlischen Sinn).
Die drei Ebenen des Daseins (nach G. Vithoulkas "Die wissenschaftliche Homöopathie")
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 115
Krankheiten gehören auf die körperliche Ebene! Wird der Lebenskraft durch ständige
Unterdrückungen die Möglichkeit der Ausleitung auf die körperliche Ebene genommen,
so kann sie die Krankheit vom inneren Menschen nicht mehr fernhalten und die
Krankheiten dringen in den inneren Menschen ein. Bei einer guten homöopathischen
Behandlung werden sich die geistigen und emotionalen Beschwerden zurückbilden,
aber gleichzeitig tauchen auf der körperlichen Ebene adäquate Beschwerden auf. Für
viele Patienten ist es schwer, diese Tatsache einzusehen und ihre Notwendigkeit zu
verstehen. Ein "Verpuffen" der Beschwerden ist bei chronisch Kranken nach den Geset-
zen der Natur nicht möglich, sondern nur ein ausleiten, was meist nicht angenehm ist.
Werden auch die Probleme der emotionalen Ebene mit ständiger Einnahme von Psy-
chopharmaka unterdrückt, so zieht sich die Krankheit auf immer zentralere Bereiche
des menschlichen Daseins zurück. Auf der geistigen Ebene kann es nun zu Zerstreut-
heit, Vergeßlichkeit, Konzentrationsschwäche, Stumpfheit, Lethargie, Paranoia, Geistes-
verwirrung und evtl. zu Alzheimer kommen. Man hat festgestellt, daß Patienten mit
Geistesverwirrungen nicht mehr fähig sind körperlich akut krank zu werden. Es sind
keine Ausleitungsprozesse wie Schnupfen, Husten und Fieber mehr möglich. Die
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 116
Krankheit spielt sich hauptsächlich auf der geistigen Ebene, auf der Ebene des inneren
Menschen ab. Kent: "Aber der Kranke von heute wird einer nicht weniger gefährlichen
Therapie unterworfen, nur merkt man lang nichts, da die Drogen seine geistigen Fähig-
keiten herabsetzen." (Ausspruch Kents um 1900!).
Alzheimerkranke Menschen sind oft körperlich relativ gesund, wissen aber nicht mehr,
wer sie sind, wo sie wohnen, können die Angehörigen nicht mehr erkennen! Sweden-
borg: "Der Mensch ist Mensch durch seinen Willen und Verstand!" Was passiert mit
dem inneren Menschen dieser Alzheimerkranken, wenn der innere (hier kranke)
Mensch seinen Körper verlässt? Swedenborg: "... der leibliche Tod tangiert den inneren
Menschen überhaupt nicht, er ist nur eine Versetzung des Menschen aus der irdischen
in eine andere, geistigere Seinsweise". Was eine scheinbare "Heilung" für den Körper
ist, wird zum Unheil für den inneren ewigen Menschen. Die Menschen wollen ein ge-
nußvolles, vergnügliches äußeres Leben - und dazu passen diese lästigen Krankheiten
nicht, die hässlichen Hautausschläge usw. Die Schulmedizin betrachtet den Menschen
von außen her, und ist ein Hautausschlag verschwunden, so ist der Mensch anschei-
nend geheilt. Die Homöopathie betrachtet den inneren Menschen und beobachtet alle
Veränderungen auf der Geistes- und Gemütsebene.
Die homöopathische Therapie besteht nicht im Konsum von Arzneien, sondern ist ein
Weg, den der Patient mit seinem Therapeuten geht. Der Therapeut hat das Ziel, diesen
Patienten ohne regelmäßige Arzneieinnahme in einen freudvollen, zufriedenen und
kraftvollen inneren Gesundheitszustand zu führen. Danach erst kommt auch die Hei-
lung des äußeren Menschen! "Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft
eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht schauen auf
das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Darum werden wir nicht müde, sondern ob
unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneu-
ert. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig!" (2. Kor.
4,16-18).
Ein Homöopath erkennt die Stärke der Lebenskraft an ihrer Fähigkeit, Krankheiten auf
der körperlichen Ebene zu halten. Kommt z. B. ein Patient und berichtet, daß der Haut-
ausschlag durch eine Vitaminsalbe schnell verschwunden ist, weiß der Homöopath, daß
hier eine geringe Vitalität der Lebenskraft vorliegt. Kommt dagegen ein Kind mit Neu-
rodermitis, das schon seit Jahren ohne "Erfolg" mit Cortisonsalbe behandelt wird, so
kann man auf eine starke Lebenskraft, die sich nicht so schnell unterdrücken läßt,
schließen. Zusammenfassung: Werden die äußeren Erscheinungen entfernt, bleiben die
inneren Bedingungen unverändert, und die innere Krankheit schreitet im Laufe der Zeit
weiter zum Zentrum. Wird eine Krankheit, die eine bestimmte Kraft besitzt, äußerlich
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 117
unterdrückt, wendet sich die gleiche Kraft gegen ein anderes meist lebenswichtigeres
Organ. Eine wahrhafte Heilung verläuft immer von innen nach außen.
Auch Swedenborg spricht im Homo Maximus S. 124f von dieser Ausleitung von innen
nach außen: "Dennoch gibt es umherschweifende Geister von der höllischen Rotte, wel-
che gefährlicher sind als andere. Weil diese im Leibesleben gewöhnt waren, in die Nei-
gungen des Menschen einzugehen, um ihm zu schaden, behalten sie auch im andern
Leben diese Begierde bei und suchen auf alle Weise in den Geschmack beim Menschen
einzugehen, und wenn sie in denselben eingegangen sind, besitzen sie sein Inwendiges,
nämlich das Leben seiner Gedanken und Neigungen, denn wie gesagt, solches ent-
spricht, und was entspricht, das wirkt zusammen. Von solchen werden sehr viele heut-
zutage besessen, denn es gibt heutzutage inwendigere Besessenheiten, nicht aber wie
ehemals auswendigere [18. Jhd.] … Jene gefährlichen Geister gehen hauptsächlich dar-
auf aus, daß sie alle inneren Bande lösen, welche sind die Neigungen zum Guten und
Wahren, Gerechten und Billigen, die Furcht vor dem göttlichen Gesetz, die Scheu, der
Gesellschaft und dem Vaterland zu schaden. Es wurde mir auch gezeigt, wie sie wegge-
trieben wurden (die höllischen Geister). Als sie nämlich in die inwendigeren Teile des
Haupts und Gehirns einzudringen meinten, wurden sie durch die Absonderungswege
daselbst abgeführt und zuletzt gegen die äußeren Teile der Haut getrieben. Und hernach
sah man, wie sie in eine Grube, die voll von ausgelöstem Schmutz war, geworfen wur-
den. Ich wurde belehrt, daß solche Geister den schmutzigen Grübchen auf der äußersten
Haut, wo die Krätze ist, somit der Krätze selbst entsprechen." (= Heilung von innen
nach außen!) Durch die allopathischen Behandlungen wird verhindert, diese höllischen
Geister aus dem Inneren hinauszutreiben. Bei Alzheimer z. B. kann der Geist nicht
mehr hinunter bis ins Natürliche hinein wirken! Dieser Mensch hat alle Verstandesfä-
higkeit (Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis) verloren. Es werden nur noch die körper-
lichen Bedürfnisse befriedigt! Hahnemann ging davon aus, daß eine homöopathische
Kur nur dann erfolgreich war, wenn sich am Ende der Behandlung ein Hautausschlag
zeigte - auch bei den Patienten, die nie zuvor unter einen Hautausschlag litten! Auslei-
tung der "höllischen Rotte".
Vom inneren ewigen Menschen aus betrachtet, ist das, was wir üblicherweise "Krank-
heit" nennen (also z.B. Husten, Schnupfen, Fieber), nicht die eigentliche Krankheit, son-
dern vielmehr der Versuch der Lebenskraft, die innere Ordnung wieder herzustellen!
Krankheit ist so betrachtet eigentlich ein Heilprozess! Die Befindensveränderungen, die
wir dabei verspüren, sind eben dieser Versuch der Lebenskraft, die innere Krankheit zu
überwinden um die Ordnung wieder herzustellen! Der juckende und brennende Krätze-
ausschlag auf der Haut ist ein notwendiger Heilprozess für den inneren Menschen!
Durch äußere Behandlung mit Salben und dergleichen kommt es zur Unterdrückung
und die "höllische Rotte" kann ins Inwendige des Menschen vordringen! Das was den
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 118
äußeren Menschen scheinbar krank gemacht hat, ist der Heilprozess des inneren Men-
schen. Die homöopathische Arzneiverordnung unterstützt diesen zentrifugalen Auslei-
tungsvorgang und wird auch die Krätzebläschen zur Ausheilung bringen. Krankheits-
einflüsse können wir nicht spüren. Wir merken nicht, wenn ein grippaler Infekt ein-
fließt, erst wenn wir anfangen zu niesen, Halskratzen usw. sich einstellt, dann erst spü-
ren wir die Krankheit und sagen "Ich glaube, ich werde krank". Tatsächlich aber ist dies
bereits der Versuch, die Krankheit hinauszuleiten. Der eigentliche Abwehrprozeß ist
schon - unbemerkt und unspürbar - im Inneren abgelaufen, noch bevor wir Befindens-
veränderungen unseres gesunden Zustandes bemerken. Diese Befindensveränderung
vom gesunden zum kranken Zustand ist aber schon der Heilungsversuch, die Abwehr-
reaktion der Lebenskraft auf den immateriellen Krankheitseinfluß. Die Zeit vom nicht
spürbaren Einfließen der Krankheit auf der nichtstofflichen Lebenskraftebene ins innere
des Menschen bis zum Zeitpunkt der ersten Krankheitszeichen nennt die Schulmedizin
"Inkubationszeit". Aus homöopathischer Sicht ist "Krankheit" immer ein Heilversuch
des Inneren Menschen. Krankheiten gehören auf die körperliche Ebene! Die Schulmedi-
zin versucht alle Krankheiten auf der körperlichen Ebene zum Verschwinden zu brin-
gen. Ist eine Krankheit äußerlich sichtbar verschwunden, so gilt der Patient als geheilt.
ein Patienten, der an progressiver Paralyse litt (fortschreitende Lähmung), mit Malaria
(Wechselfieber) ansteckte und diese Krankheit sehr heftig durchleiden mußte (trotz sei-
ner schon schweren chronischen Krankheit). Zu seiner Überraschung war die Multiple
Sklerose (fortschreitende Lähmung) nach Abklingen der Malaria vollständig geheilt! Ei-
ne stärkere natürliche Krankheit hat die vorherrschende Krankheit durch das Ähnlich-
keitsprinzip geheilt (Heilung durch Ansteckung einer ähnlichen natürlichen Krank-
heit!). Julius Wagner führte die Malaria- Behandlung bei progressiver Paralyse ein und
erhielt 1927 den Nobelpreis. Das Heilgesetz, das hinter diesem Geschehen wirkte, hat
er nicht erkannt. Er erhielt 1927 für seine Entdeckung den Nobelpreis. So können auch
heute noch Patienten durch Ansteckung von ähnlichen, stärkeren Krankheiten geheilt
werden.
3. Der Patient mit dem chronischen Durchfall wird mit einer ähnlichen Krankheit kon-
frontiert, die nicht stärker ist, als die natürliche vorherrschende Krankheit. Reaktion:
keine Ansteckung und zu keiner weiteren Reaktion.
4. Unser Patient bekommt eine allopathische (gegensätzliche) Arznei verordnet. Durch
die häufige, regelmäßige Einnahme ist die Arznei stärker, als die vorherrschende natür-
liche Krankheit. Reaktion: Die natürliche Krankheit tritt zurück, sie verschwindet
scheinbar. Der Patient bekommt eine künstliche Arzneikrankheit evtl. (je nach Empfind-
lichkeit) mit Prüfungssymptomen. Nach Absetzen der Arznei kehrt die alte natürliche
Krankheit zurück (Scheinheilung mit evtl. arzneispezifischen Prüfungssymptomen =
Nebenwirkungen).
5. Unser Patient steckt sich mit einem akuten katarrhalischen Infekt an. Dieser Infekt
ist eine gegensätzliche Krankheit (sie hat nichts mit dem Durchfall zu tun). Reaktion:
Während der Patient diese akute Grippe mit evtl. Schnupfen und Fieber durchsteht,
verschwindet der alte kranke Zustand und sein Stuhlgang ist normal. Klingen die Grip-
pesymptome ab, so kehrt der alte chronische Durchfall zurück. Diese Grippe hat wie ei-
ne allopathisch gewählte Arznei gewirkt und die natürliche chronische Krankheit un-
terdrückt.
6. Dem Patienten wird eine homöopathische Arznei verordnet, die der vorherrschenden
Krankheit nur in oberflächlichen Teilbereichen, nicht jedoch "der Gesamtheit der Sym-
ptome" ähnlich ist. Reaktion: Es kann zum "Verschwinden" der vorherrschenden
Krankheit kommen, jedoch ohne gleichzeitige Besserung des Allgemeinbefindens auf
der Geistes- und Gemütsebene, eben der Ebene des inneren Menschen. Die natürliche
Krankheit ist nur unterdrückt. Nach Abklingen der homöopathischen Arzneiwirkung
taucht die alte natürliche Krankheit wieder auf. ("Nicht die Arznei ist homöopathisch,
sondern die Verordnung").
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 120
7. Unser Patient kommt mit vielen Menschen zusammen, die eine Bronchitis haben.
Diese Bronchitis ist nicht stärker als sein natürliches Krankheitsleiden (chronischer
Durchfall). Reaktion: Es kommt zu keiner Ansteckung.
Wenn das homöopathische Gesetz ein Naturgesetz ist, so muß es uns auch im täglichen
Leben begegnen.
malmte es zu Pulver und streute es aufs Wasser und gab es den Kindern Israel zu trin-
ken." (Exodus 32).
Zum Schluß möchte ich noch aus Herbert Fritsches Buch "Die Erhöhung der Schlange"
zitieren, in dem er sich einige interessante Gedanken über die Wirksamkeit von ho-
möopathischen Arzneien und dem Ähnlichkeitsprinzipes macht: "Nun beruht aber die
ganze Homöopathie darauf, daß es zahlreiche Kranke gibt, deren Symptome denen der
geprüften Arzneien ähnlich sind, daß also beispielsweise ein Patient mit Belladonna-
Symptomen angetroffen werden kann, welcher nicht Belladonna als Arznei im Leibe
hat. Auch in ihm wirkt Belladonna, jedoch nicht diejenige, die er etwa aus dem Weltbe-
stande des Makrokosmos - von außen her - einverleibt bekommen hätte, sondern dieje-
nige, die er von vornherein latent in sich hatte und die lediglich jetzt, in Form seines
Krankseins, aus den Tiefen seines Menschenorganismus freigeworden ist. So nur kön-
nen wir es verstehen, sonst wäre unerklärlich, daß in der Tat die Symptomengesamtheit
der Erkrankungsfälle der Menschheit in ihren Signaturen den Signaturen der am Ge-
sunden prüfbaren Arzneien entsprechen. Daß der Makrokosmos im Entsprechungsver-
hältnis zum Mikrokosmos Mensch steht, ist Urgut der Initiations-Erkenntnis von Her-
mes Trismegistos über Paracelsus bis zu Swedenborg und bis zur Gegenwart. Man muß
das nur konkret genug nehmen. So konkret wie die Homöopathie es lehrt. Dann sieht
man, daß alles, was das All enthält, auch im Menschen latent vorhanden ist: die Bella-
donna, die Kröte, die spanische Fliege, der Schwefel, das Blei usw. Freilich handelt es
sich bei solchem Im-Menschen-Vorhandensein nicht um ein stoffliches, sondern um ein
Vorhandensein als Schöpfungs-Prinzip, als okkulte "Eingebundenheit". Kommt es aber
dahin, daß sie "eigen-sinnig" werden und mithin gleichsam ins Physische ausbrechen,
dann wirken sie, wie die ihnen jeweils entsprechende Arzneiprüfung am Gesunden, d.h.
sie rufen Symptome hervor, sie machen krank. Das Eigen-sinnig-Werden der dynami-
schen Prinzipien im Menschen, die Wendung ins krankmachend Stoffliche, läßt sich
beweisen. Gibt man Kranken, deren Symptomenbild auf Schwefel hinweist, potenzier-
ten Schwefel als homöopathische Arznei, so zeigt sich, daß die Patienten während der
Heilung ungeheuer zu nennende Mengen Schwefel durch die Haut ausscheiden, bis zu
5,76 Gramm täglich, von der dynamisierten Arznei aus dem Gewebe geschwemmt. Ein
Sieg des Geistes über die Materie. Der unerlaubt materiell gewordene, der eigen-sinnig
"bockende" Schwefel wird aus dem Organismus des Kranken hinausgedrängt. Dadurch,
daß der Schwefel "dumm" wurde, kam es zu den Schwefelsymptomen -: in solchem Sin-
ne darf man sagen, Krankheit ist "Arzneiprüfung". Zugleich aber kam es zu einem Aus-
fall des Schwefels als eines zum Menschen gehörigen dynamischen Prinzipes. Dieses
dynamische Prinzip hat sich auf anarchische Weise in etwas Materielles metamorpho-
siert und fehlt mithin nun im gesunden Zusammenspiel der Dynamis. Die daraufhin "in
Erscheinung tretenden" Symptome besagen nicht nur, daß "dumm" gewordener Schwe-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 122
fel den Organismus vergiftete, sondern sie melden auch den Hunger nach dem an, was
dem Kranken fehlt. "Was fehlt Ihnen?", fragt der Therapeut seinen Patienten. Der The-
rapeut, der angesichts der Sulfur-Symptomatik des Kranken sieht, daß dynamisierter
Schwefel fehlt, verordnet solchen als die passende Arznei. Damit stillt er den Hunger,
den höchst spezifischen Sulfur-Hunger - und stillt ihn nicht durch massive Gaben (denn
davon fehlt ja nichts, es ist im Gegenteil viel zu viel vorhanden), sondern durch Arznei-
"Geist", welcher alsdann den "Sieg über die Materie", über den "dumm gewordenen"
Schwefel erwirkt, indem er ihn ausscheidet. Die Symptome verschwinden dann: die
Symptome, welche sowohl Hunger bekunden (nach dem fehlenden dynamischen Prin-
zip), als auch zugleich "Überfütterung" (mit der Materie, zu der sich dieses Prinzip me-
tamorphosiert hatte). Der Organismus hat das Fehlende wiedererlangt, Heilung = Wie-
der-Ganz-Werdung kann verbucht werden."
Weiter heißt es an anderen Stellen: "Auch Leibbrand kommt zu dem Ergebnis: 'Der
Mensch ist krank.' Er lebt im Grunde genommen aus dem Zentrum seiner Schwäche
und 'Deine Gesundheit ist also entgiftete Krankheit'. 'Überdies tritt Erkrankung stets als
Schicksal auf. Nur in einem vollends sinn-entleerten Weltbild kann man die Meinung
produzieren, so eindringliche Ereignisse wie das Erkranken kämen als peinliche Zufälle
beim allgemeinen Hin und Her des kosmischen Getriebes zustande. Warum gerade ich?,
fragt der Kranke gern. Oberflächliche Ärzte beruhigen ihn dann mit Belehrungen über
biologisches Malheur, z.B. mit Hinweisen auf eine als Unfall zu bewertende Infektion
oder auf Diätfehler. Kann aber der wirklich zum Therapeuten taugen, der nicht spürt,
daß jede Krankheit Ruf ist und damit Forderungen an den Kranken stellt? Daß Erkran-
kungen gegenüber die Einstellung Jakobs zu gelten habe: 'Ich lasse dich nicht, du se-
gnest mich denn!', sehen heute die Besten unter den Ärzten ein. Der Segen, der errun-
gen werden soll, läßt sich volkstümlich dadurch ausdrücken, daß der Geheilte als besse-
rer Mensch aus seiner Erkrankung hervorgehen möge. Und das trifft präzis zu: Ein
Schritt vorwärts in Richtung echter Menschwerdung muß jedes Krank- und Geheiltwer-
den führen.' 'Das therapeutische christliche Mysterienwort 'Ecce homo!' - das ein Nicht-
Christ ausrief, heißt auf Deutsch: 'Sieh da: der Mensch!' Pilatus entdeckte das heilsame
Simile (das individuelle Heilmittel) des Homo sapiens, bevor er dieses Simile der den
Homo sapiens erlösenden Passion preisgab. Nach Maßgabe seiner hochpotenzierten
Durchchristung gerät der Mensch also ins Kraftfeld der Heilung. Im Erlöser wird Gott
dem Menschen ähnlich und damit zu dessen Simile, welches durch ähnliches Leiden
wirkt - Golgatha und sein Passions-Vorspiel sind menschenähnliches Leiden des men-
schenähnlich gewordenen Gottes, aber dieses wieder hat der Mensch zu 'assimilieren',
es hat dem Menschen vom Menschen her an- und eingeähnlicht zu werden, damit es
Heil erwirke." Nicht Gleiches heilt, nicht Gegensätzliches heilt, sondern Ähnliches heilt
Ähnliches!
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 123
Swedenborgs Einfluß
Es ist wahrscheinlich, daß Swedenborg wesentlich häufiger gelesen wurde und viel mehr
Einfluß hatte, als öffentlich zugegeben wurde. Die Zurückhaltung liegt möglicherweise
69
Swedenborg, E.: Opera Philosophica et Mineralia. 3 Vols. Friedrich Hekel, Dresden, Leipzig 1734.
70
Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oeconomia Regni Animalis, 1740 - 1741). 2 Vols.
Übers. von A. Clissold. William Newberry, London 1845. Repr., Swedenborg Scientific Association,
Philadelphia 1955.
71
Swedenborg, E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) 2 Vols. Übers. von J.J.G. Wilkin-
son, William Newberry, London 1843, Repr. Bryn Athyn, Swedenborg Scientific Association, Phil-
adelphia 1960.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 125
Der Transzendentalismus
Swedenborgs philosophische Ideen erreichten um 1784 die Ostküste Amerikas und füg-
ten sich unmittelbar in das damalige intellektuelle Klima in diesem Teil der Neuen Welt
ein. Die intellektuelle Strömung beruhte zu einem großen Teil auf dem Erstarken des
neuen wissenschaftlichen Verständnisses der Natur, aber es blieb auch Raum für tradi-
tionelle Vorstellungen über die fundamentale Einheit der Schöpfung und die alten pla-
tonischen Philosophien. In diese Synthese zwischen dem Wissenschaftlichen und dem
Mystischen fügte sich die Philosophie Swedenborgs harmonisch ein und führte zu einer
neuen Art von Kirchengemeinschaft. Sie wurde "New Church" genannt, die Mitglieder
waren bekannt unter dem Namen "Swedenborgianer".
Die Wurzeln der "New Church" liegen in London (1789). Die "New Church" in den Ver-
einigten Staaten wurde 1792 in Baltimore gegründet, und 1817 wurde in Philadelphia
der erste Konvent der "Church of the New Jerusalem" abgehalten. Auch wenn die mo-
derne Swedenborgsche Kirche noch immer auf der Theologie von Emanuel Swedenborg
aufbaut, muß betont werden, daß Swedenborg selbst während seines Lebens niemals ei-
ne Kirche gegründet hat.
In diesem Milieu war Raum für eine persönliche, christliche Lebensüberzeugung, die
sich mühelos mit der aufkommenden "betrachtenden Wissenschaftlichkeit" der Erleuch-
tung, der Naturphilosphie des frühen Swedenborg, der mystischen Theologie des späten
Swedenborg, neuen Auffassungen über die Literatur usw. verband73.
72
Treuherz, F.: The Origins of Kents Homoeopathy. Journal of the American Institute of Homeopathy 77
(1984) 130-150.
73
Gardiner, H.: Swedenborg´s Philosophy and Modern Science. British Homoeopathic Journal 49
(1960) 195-205.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 126
In diese eklektische Überzeugung paßte die Homöopathie als neue, ursprüngliche Heil-
kunde, die schon früh durch die Swedenborgianer übernommen wurde. Beide Systeme
verschmolzen miteinander. In der Verbindung der Philosophie Swedenborgs mit der
Homöopathie im Amerika des 19. Jahrhunderts spielte Dr. Garth Wilkinson (1812 -
1899) eine entscheidende Rolle74. Wilkinson war ein homöopathischer Arzt, der bekannt
geworden ist, nachdem er als erster - während seiner Ferien auf Island - die heilende
Wirkung der Asche des Vulkans Hecla erkannt hatte (Entstehung von Knochen-
Exostosen). Er nahm daraufhin etwas Hecla-Lava mit nach Hause und potenzierte sie.
Neben seinen Verdiensten als homöopathischer Praktiker hat Wilkinson noch in einem
anderen Bereich Bedeutung erlangt. Er übersetzte Swedenborgs Werke "Arcana Coele-
stia", "Regnum Animale" und "Oeconomia Regni Animalis" erstmals aus dem Lateini-
schen ins Englische75.
Ein Jahrhundert nachdem Swedenborg sie verfaßt hatte, kamen seine Werke mit einer
neuen intellektuellen Strömung und damit mit Vertretern der Homöopathie in Berüh-
rung. Dies führte unmittelbar zu einer "chemischen Reaktion"76. Nach Harris L. Coulter77
war Dr. Garth Wilkinson am Hahnemann-College in Philadelphia ausgebildet worden,
welches 1848 durch Constantin Hering errichtet worden war. Hering war zugleich Mit-
glied der ersten "Society of Swedenborgians" in Philadelphia. Auch Hans Gram, der die
Homöopathie als erster in Amerika eingeführt hatte (1825), Otis Clapp aus Neu England,
John Ellis aus Michigan und die Verleger Boericke und Tafel waren bekannte Sweden-
borgianer. Boericke und Tafel brachten viele homöopathische Bücher heraus, aber auch
alle Übersetzungen der Werke Swedenborgs78. Garth Wilkinson war im übrigen über Hen-
ry James Sr. mit der Homöopathie in Berührung gekommen, einem einflußreichen Verle-
ger und Vater der amerikanischen Schriftsteller William und Henry James Jr. Henry James
Sr. war bereits ein bedeutender Swedenborgianer und ein wichtiger Begründer des
Transzendentialismus als literarischer Strömung an der Ostküste der Vereinigten Staa-
ten79.
Die Beziehungen zwischen den Swedenborgianern und der Homöopathie waren demzu-
folge bereits sehr eng, und es war dann auch selbstverständlich und auch gesellschaft-
lich akzeptiert, sich als Homöopath mit der "New Church" zu verbinden. Die Position
74
Treuherz, F. a.a.O.
75
Swedenborg, E.: Animal Kingdom a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O.
76
Treuherz, F. : a.a.O.; Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984.
77
Coulter, H.L.: Divided Legacy. Vol. 3: Science and Ethics in American Medicine, 1800-1914. North Al-
tantic Books, Richmond/California.
78
Tafel, R.L.: Documents on Swedenborg - Documents Concerning the Life and Character of Emanuel
Swedenborg. 2 Vols., bound as 3. Swedenborg Society, London 1875, 1877.
79
Campbell, A.: The Two Faces ... Robert Hale Ltd. London 1984; Treuherz, F.: a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 127
von Constantin Hering macht deutlich, warum so viele Homöopathen dieser Zeit bei der
Gemeinschaft der Swedenborgianer Mitglied wurden. Ein vielsagendes Zitat von Hering:
"Während die Swedenborgianer aus gutem Grund eine homöopathische Behandlung be-
vorzugen dürften, gibt es überhaupt keinen Grund, warum alle Homöopathen Sweden-
borgianer sein sollten."80
Hering war der Überzeugung, daß Wissenschaft sich nicht zu beweisen hatte, indem sie
eine religiöse Doktrin übernahm. Aber Philadelphia war ein Mittelpunkt der "New
Church". Viele Kollegen Herings und viele seiner Schüler waren mit Swedenborgs Ideen
in Berührung gekommen, und vielleicht war es in dieser Zeit auch durchaus Mode, Mit-
glied dieser etwas elitären, intellektuellen, aber auch gesellschaftlichen Vereinigung zu
sein. Hering war jedenfalls Mitglied der "New Church" von Philadelphia und war jeder-
zeit bereit, die philosophischen Schnittstellen zwischen der Homöopathie Hahnemanns
und der Lehre Swedenborgs zur Diskussion zu stellen.
Es ist übrigens fraglich, ob viele Homöopathen allein aus religiöser Überzeugung Mit-
glied der Swedenborgianischen "New Church" wurden. Es gibt keine Hinweise darauf,
daß die großen Homöopathen in der alltäglichen Organisation der Kirchengemeinschaft
eine Rolle spielten. Wahrscheinlicher ist, daß viele Homöopathen in der Philosophie
Swedenborgs ein ausgearbeitetes System sahen, das ihnen dabei behilflich war, der Ho-
möopathie ein festes Fundament zu geben.
80
Peebles, E.: Homeopathy and the New Church. In: Homeopathy and the Swedenborgian Perspective.
P. 468 - 472.
81
Schmidt, P.: The Life of James Tyler Kent. British Homoeopathic Journal 53 (1964) 152-160.
dto.: Biographie von James Tyler Kent, Zeitschrift für Klassische Homöopathie (ZKH) 6 (1962) 278-
293.
dto.: Biography of James Tyler Kent, BPh, MA, MD, 1849-1916. Voorwoord Final Edition Repertory, p.
3-11.
dto.: A Propos du Kentisme, Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 180-184.
dto.: Le Kentisme et al biographie de J.T. Kent: Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 140-
155.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 128
Nach Aussage des Autors Frederic Schmid82 war Kents zweite Ehefrau Clara Louise je-
doch eine führende Figur der Swedenborgianischen Kirche in Philadelphia, und er ist
durch sie mit Swedenborgs Gedankengut in Kontakt gekommen. Obwohl Garth Wilkinson
als Homöopath und als Übersetzer Swedenborgs Bekanntheit erlangt hatte, gibt es kei-
nen unmittelbaren Beweis dafür, daß Kent die Übersetzungen Wilkinsons wirklich gele-
sen hat.
Der Einfluß seiner zweiten Ehefrau Clara Louise Kent (1856 - 1943) auf Kents Werk darf
nicht unterschätzt werden83: "Das Repertorium wurde in einer durch Clara Louise Kent,
82
Schmid, F.W..: Reflections on the Tombstone of James Tyler Kent. Transactions of the Liga Medico-
rum Homoeopathica Internationalis, Sussex 1982, p.345.
83
Kent, J.T.: Repertory of Homoeopathic Materia Medica. Ind. ed., repr. from 6th Am. ed. B. Jain Publi-
shers, New Delhi.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 129
der geliebten Witwe des berühmten Autors, revidierten Fassung veröffentlicht." Der Au-
tor dieses Aufsatzes entdeckte vor kurzem in der »Swedenborg Library«, Bryn Athyn
(USA), einen Brief, den James Tyler Kent am 13. November 1900 geschrieben hatte. Er
beweist, daß Kent ein Mitglied der swedenborgschen Neuen Kirche in Evanston gewe-
sen ist. Der Empfänger ist Rev. W. F. Pendleton. Kent wohnte »Suite 707, 92 State
Street, Chicago«.84
Laut Treuherz sind Kents "Lesser Writings" in dieser Hinsicht am bedeutendsten. Kents
Verweise auf Swedenborg sind in seinen anderen Werken indirekter Natur85. Kent nann-
te seine Potenzreihe 30, 200, M 10M, 50M, CM, MM "Oktaven in der Reihe der Grade"86
(in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden" und dessen Ideen über
die Unendlichkeit; siehe unten). Kent kommentierte Herings Heilgesetz wie folgt: "Das
Zentrum des Menschen besteht aus Willen, Vernunft und Gedächtnis, und diese beein-
flussen den physischen Organismus. Diese Vorstellung spielt in Anbetracht der Ent-
wicklung der Symptome - vom Innersten zum Äußersten - eine Rolle ... Und diese Vor-
stellung wird praktisch bei der Gewichtung der zu repertorisierenden Symptome ange-
wandt ... Die physischen Organe entsprechen dem Zentrum des Menschen, dem Willen
und der Vernunft."87 (in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden").
Schließlich schreibt Kent in seinen "Lesser Writings": "Durch meine Vertrautheit mit
Swedenborg habe ich erkannt, daß die aus dem Worte Gottes hervorgebrachte Entspre-
chung mit allem, was ich erfahren habe, übereinstimmt."88
Bei der Neuauflage von Kents "Lectures on Homoeopathic Philosophy" erschien unter
anderem ein Vorwort von George G. Starkey: "Dr. Kent war zugestandenermaßen einem
anderen genialen Geist zu Dank verpflichtet, Emanuel Swedenborg, dessen Rang als
Wissenschaftler und Forscher von den führenden Wissenschaftlern und Forschern in
Europa und Amerika nur zögernd anerkannt wird. Mit einer genialen Begabung, die in
einzigartiger Weise die Fähigkeiten der Intuition und des rationalen Denkens verband,
84
Der Wortlaut des Briefes: »My dear Bishop, As the Rev. L. P. Mercer has organised a new society in
Evanston, Mrs. Kent and myself desire to associate with it. We therefore request that you send us let-
ters of dismissal such as it is proper for us to have, that we may unite here. Our first service was
held last Sunday and there were twenty members of the New Church present. Mr. Mercer told me
there were forty New Churchmen in reach of Evanston and he expected to make it his headquarters
shortly. At present we have afternoon service but after the first of the year we expect to have mor-
ning service. Sincerely, J. T. Kent«. Eine Abbildung des Briefes findet man in »Homœopathic Links« 3
(1994) 29 und am Ende dieser Veröffentlichung.
85
Treuherz,F.: a.a.O.; Kent, J.T.: New Remedies, Clinical Cases, Lesser Writings, Aphorisms and Pre-
cepts. Erhart and Karl, Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.
86
Treuherz, F.: a.a.O.
87
Treuherz,F.: a.a.O.
88
Kent , J.T.: New Remedies, Clinical Cases , Lesser Writings, Aphorisms and Precepts. Erhart and Karl
Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 130
schuf Swedenborg neue Grundsätze. Einer davon ist die Lehre von den Reihen und Gra-
den."89 Zudem soll Kent laut Starkey gesagt haben: "Meine ganze Lehre gründet sich auf
Hahnemann und Swedenborg; ihre Lehren entsprechen sich vollkommen."90
89
Starkey, G. G.: James Tyler Kent, voorwoord bij Lectures on Homoeopathic Philosophy. B. Jain Publi-
shers, New Delhi.
90
Starkey, G.G.: a.a.O.
91
Edwards, P.: The Encyclopedia of Philosophy. Vol. 7/8. Macmillan Publishers, 1972.
92
Treuherz, F.: a.a.O.
93
Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oecon. Regni Animalis 1740 - 1741) A. Clissold
a.a.O.
94
Swedenborg E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) J.J.G. Wilkinson, a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 131
Anatomie des Körpers auch als "Königreich der Seele" zu sehen, etwas, das auch in den
Titeln seiner wissenschaftlichen Werke zum Ausdruck kommt.
Swedenborg unterschied drei hierarchische Strukturen im Menschen, die in Form einer
Spirale miteinander verbunden sind. Obenauf stand die Seele mit dem Willen als Trieb-
feder, als Gefühl (für dieses Niveau gebraucht Swedenborg den Begriff "singular", ein-
malig/eigen). Das mittlere Niveau ist die Vernunft, mit dem Verstand und der Absicht
(für dieses Niveau wird der Begriff "particular" gebraucht). Das niedrigste Niveau bein-
haltet die Einbildung, die Erinnerung und das Verlangen und beeinflußt die Körperfunk-
tionen. Dieses Niveau der Psyche wird "general (allgemein)" genannt.
Dieser Bestandteil der Lehre Swedenborgs befindet sich an mehreren Stellen in der Ken-
tianischen Homöopathie wieder: in erster Linie ist es eine Erklärung für die durch Kent
hervorgehobene Notwendigkeit zur Gewichtung der Symptome, mit anderen Worte, zur
Bestimmung, welche Symptome zu welchem Swedenborgschen Niveau der Psyche gehö-
ren. Es ist beinahe unglaublich, feststellen zu müssen, daß die Begriffe "particulars"
und "generals" durch Kent aus dem Menschenbild Emanuel Swedenborgs entlehnt sein
könnten. In Kents ursprünglichen Texten werden die Begriffe "particular" und "general"
eingeführt und ihre Erläuterung in das Repertorium von Margret Tyler und John Weir
übernommen.95
Nach Kent liegt die Essenz des Menschseins in folgendem: "Der Mensch hat Willen und
Verstand, der Leichnam will und weiß nichts. Beides, Willen und Verstand, machen den
Menschen aus. Zusammen ermöglichen sie Leben und Aktivität, sie bilden den Körper
und verursachen alles Körperliche. Wenn zwischen Willen und Verstand Gleichklang
herrscht, ist der Mensch gesund."96
Die "particulars" sind die Symptome, die sich auf dieses Gebiet von "Wille und
Verstand" beziehen. Die Gemütssymptome haben Bezug zu den intellektuellen Funktio-
nen, auf Emotion und Stimmung. Und die "generals" sind die Symptome, die den ge-
samten Menschen ergreifen.
Die hierarchische Einteilung der Psyche in die genannten drei Niveaustufen in Sweden-
borgs "Lehre von den Graden" klingt in Kents "Use of the Repertory" durch97. "Zu be-
rücksichtigende Symptome: Zuerst diejenigen, die sich auf Liebesarten und Abneigun-
gen, Wünsche und Aversionen beziehen (Swedenborgs Seele, das Einzigartige); dann
95
Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory - How to Study the Repertory - How to Use the Repertory, B.
Jain Publishers, New Delhi.;
Tyler, M.; Weir, J.: Repertorising - Ergänzung zum Rpertorium. B. Jain Publishers, New Delhi.
96
Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi
(repr. from 5th ed., 1954), Repr., Thorsons Publishers, Wellingborough 1979.
97
Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 132
diejenigen, die zum vernünftigen Gemüt, dem sogenannten verständigen Gemüt, gehö-
ren (Swedenborgs Vernunft mit dem Verstand); drittens diejenigen, die mit dem Ge-
dächtnis zu tun haben (Swedenborgs Erinnerung, die dritte Ebene)."
In demselben "Use of the Repertory" kommt noch eine ältere Facette Swedenborgs zum
Vorschein: In seinen ersten anatomischen Studien hatte sich Swedenborgs Interesse vor
allem auf das Blut und die Körperflüssigkeiten gerichtet, da er diese als essentiell für
die Körperfunktionen erachtete98. Kent setzt seine Anweisungen für den Gebrauch des
Repertoriums wie folgt fort: "Die nächsten Symptome, die am wichtigsten sind, sind die-
jenigen, die sich auf den ganzen Leib oder sein Blut und die Körperflüssigkeiten bezie-
hen: z. B. sein Empfinden für Hitze, Kälte, Wind, Ruhe, Nacht, Tag, Zeit. Sie beinhalten
beides: Symptom und Modalität."99 Stammen die Bedeutung und die Auffassung von den
typischen homöopathischen Modalitäten aus Swedenborgs frühestem anatomischem
Werk ab?
Die sogenannte Kentsche Reihe von Potenzschritten lehnt sich ebenfalls an eine bedeu-
tende Stelle von Swedenborg an. Dieser hatte eine komplexe Vorstellung von der Unend-
lichkeit, wobei vorausgesetzt wird, daß man sich der Unendlichkeit schrittweise annä-
hern sollte. Der Weg zur Unendlichkeit verlief in bestimmten Stufen oder Graden100.
Nach Kent haben Potenzen ihren Angriffspunkt in einem kranken Körper in Überein-
stimmung mit dem Grad ihrer Verdünnung. Die höchsten Potenzen erreichen das Mit-
telniveau (Gehirn) und vielleicht das höchste Niveau, die Seele. In dieser Vorstellung
werden die Potenzen als Formen mentaler Energie gesehen, ein Gedanke, der in der
klassischen Homöopathie zum Allgemeingut gehört101.
Die Essenz in der Natur des Menschen wird nach Swedenborg durch den grundlegenden
spirituellen Impuls geregelt. Dies stimmt überein mit Hahnemanns Idee, daß Krankheit
durch eine Verstimmung der "Lebenskraft", der Dynamis verursacht wird. Die Sweden-
borgianer betrachteten Krankheit immer als eine Störung des innersten, psychischen
Kerns des Menschen, und darum ist Krankheit immer ein psychisches Problem, mit
Symptomen und Facetten des Gemüts des Patienten und seiner spirituellen Existenz.
Dies stimmt überein mit der prinzipiellen Vorrangigkeit, die Kent in seinen "Lectures"
den psychischen Symptomen des Gemüts zuerkennt102.
98
Gardiner, H.: a.a.O.;Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom, 2 Vols., Übers. von A.Clissold.
William Newberry ... a.a.O.
99
Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory ... a.a.O.
100
Edwards, P. : a.a.O.; Gardiner, H.: a.a.O.; Peebles, E.: a.a.O.
101
Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900 ... a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O.
102
Treuherz, F.: a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 133
Twentyman schloß hieraus im "British Homoeopathical Journal" von 1956 bereits: "Man
nahm an, daß Kent ein reiner Hahnemannianer sei, aber das war er natürlich nicht. Er
war eine Synthese von Hahnemann und Swedenborg."103
Epilog
Die Werke Kents haben auch heute noch große Bedeutung, und es ist erstaunlich, daß
der Einfluß der philosophischen Ideen Emanuel Swedenborgs hierbei so lange ungenannt
geblieben ist. Hierfür könnten die widerstreitenden Auffassungen in der Homöopahtie
verantwortlich gemacht werden, die bemerkenswert viel Interesse gezeigt haben, Swe-
denborg zu verschweigen.
Die Verbreitung der homöopathischen Lehre Kents in Europa verlief möglicherweise
über zwei Wege: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging Margret Tyler in die Vereinigten
Staaten, um bei Kent Homöopathie zu studieren. Zurück in England, ermutigte sie ande-
re homöopathische Ärzte - finanziell unterstützt durch eine Zuwendung ihrer Mutter
Lady Tyler -, bei Kent Studien zu betreiben. Einer der ersten, die hiervon Gebrauch
machte, war Dr. John Weir, der nach seiner Rückkehr 1909 der Entwicklung der Ho-
möopathie in England seinen Stempel aufdrückte104. Der Swedenborgianische Einfluß ist
auch bei Margret Tyler und John Weir unübersehbar vorhanden: In ihrer Schrift "Reperto-
rising" betonen sie das Hierarchisierungsprinzip als "The Grading of Symptoms"105.
Swedenborg gebraucht an einer Stelle die Worte "The Grading of Degrees". Einen zwei-
ten Weg der Verbreitung fand Kents Homöopathie durch Pierre Schmidt vor allem im
französisch- und deutschsprachigen Gebiet106.
Nach dem einflußreichen französischen homöopathischen Arzt Denis Demarque, einem
bedeutenden Gegner Swedenborgs und Kents, ist die Homöopathie in zwei parallele
Strömungen geschieden, von denen die eine durch den Gebrauch eines materialisti-
schen Konzepts gekennzeichnet ist, das das Festhalten an der Gewebelehre, der biologi-
schen Meßbarkeit und den chemischen Reaktionen beinhaltet. Auf der anderen Seite
steht die vitalistische Homöopathie, die an den überkommenen Ausgangspunkten Sa-
muel Hahnemanns festhält107.
103
Twentyman, R.: The Evolutionary Significance of Samuel Hahnemann. British Homoeopathic Journal
64 (1975) 144 - 145. Editorial - The History of Homoeopathy. British Homoeopathic Journal 67 (1978)
2.
104
Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. British Homoeopathic Journal 74 (1985) 1 - 10; Camp-
bel, A.: The Two Faces Of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984.
105
Tyler, M.; Weir, J.: a.a.O.
106
Schmidt, P.: The Life of James Tyler Kent ...a.a.O.; Le Kentisme et la biographie de J.T. Kent ... a.a.O.
107
Demarque, D.: l´Homeopathie Medicine de l´Experience. Editions Coquemard, Angouleme 1968.;
Demarque, D.: La secte et ses incarnations: Le Swedenborgisme at le Kentisme. Homeopathie (1988)
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 134
Demarque spricht sich dafür aus, daß die moderne Homöopathie vollständig freigemacht
werden muß von der früheren Mystik und Philosophie, die zur Entwicklung ihrer Theo-
rie beigetragen haben, die aber jetzt einer Aufnahme der Homöopathie in die moderne
wissenschaftliche Heilkunde im Weg stehen. Demarque erachtet dieses Erbe als nutzlos
und meint, daß dieser Bestandteil am besten verleugnet werden sollte108. Es sollte deut-
lich geworden sein, daß der Autor dieses Artikels hiergegen Stellung bezieht.
Quelle: "Zeitschrift für Klassische Homöopathie" 1 (1995) 19-29. Wir danken der Schriftleitung für
die Abdruckerlaubnis!
28 - 33.; Julian, O.A.: Haffen, M.: Homoeopathic Materia Medica. Chicago 1904. Repr., B. Jain Publi-
shers, New Delhi.; Seror, R.: XLVe Revue de presse homeopathique de langue anglaise. Cahiers de
Biotherapie 90 (1986) 71 - 76.
108
Treuherz, F.: a.a.O.
109
Zur Proskynese vor Jahwe siehe in den Psalmen: "Werft euch nieder vor dem Herrn in heiliger
Pracht." (29,2). "Kommt, wir werfen uns nieder und wollen uns beugen, niederknien vor dem Herrn,
unserem Schöpfer." (95,6). "Zu deinem heiligen Tempel hin will ich mich niederwerfen und deinen
Namen preisen" (138,2).
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 135
hört zu denen (siehe Joh 10,3f), welche die Stimme des guten Hirten erkennen können,
sich ihr anvertrauen und ihm nachfolgen.
Das 10. Kapitel ist mit den vorangehenden schließlich auch wie das Gute mit dem Wah-
ren verbunden. Im 8. Kapitel sagte Jesus, wobei wir wissen müssen, dass das Licht dem
Wahren entspricht: "Ich bin das Licht der Welt." (Joh 8,12), und im 9. Kapitel heilte er
den Blindgeborenen und deutete seine Mission mit den Worten: "Ich bin zum Gericht in
diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind
werden." (Joh 9,39). Das Licht ist immer das Licht einer Quelle, vor allem der Sonne,
und Jesus, insofern er der Sohn und das "Licht der Welt" ist, ist immer der Gesandte des
Vaters, das heißt der göttlichen Liebe. Das innere Licht, das des Mikrokosmos, ist immer
das Licht der Liebe, - liebloses, kaltes Licht ist kein Licht aus dem Herzen des Vaters.
Daher folgt der Offenbarung des Lichtes nun in Johannes 10 die Enthüllung der fürsor-
genden, uns weidenden Liebe. Jesus gibt sich als der gute Hirte und damit letztlich als
der "Vater des Lichts" (Jak 1,17) zu erkennen.
Im Gleichnis vom guten Hirten ist die Tür das Kennzeichen dafür, wer in guter und wer
in böser Absicht kommt. "Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe hineingeht,
sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber." (Joh 10,1). Die Tür, die ja
eigens geschaffen wurde, um den Zugang zu gewähren, ist ein Bild für den vom Schöp-
fer vorgesehenen Zugang zu den Schafen. Derjenige, der diesen, von Anbeginn an vor-
gesehenen Zugang zur Menschenwelt wählt, gibt sich dadurch, dass er dies kann, als
der gute Hirte zu erkennen.
Jesus sagt: "Ich bin die Tür zu den Schafen." (Joh 10,7). Das heißt, durch das men-
schliche Wesen Jesu kommt Gott zu uns Menschen. Unter diesem menschlichen Wesen
verstehen wir zunächst die leibliche Gestalt des irdischen Jesus, dann aber auch dessen
verherrlichte Gestalt und seine Erscheinungsform vor den Engeln. Auch die menschli-
chen Vorstellungen, durch die sich Gott uns nähert, können unter dieser Tür verstanden
werden. Der gute Hirte ist so gesehen daran erkennbar, dass er mit unseren Worten und
unseren Gedanken zu uns spricht, sich also seiner Zuhörerschaft anpasst. Obwohl Got-
tes Gedanken nicht unsere Gedanken sind (siehe Jes 55,8f), redet er doch auf möglichst
einfache, menschliche Weise zu uns. Je komplizierter hingegen jemand die Weisheiten,
die er selber nicht verstanden hat, vorträgt, desto naheliegender ist der Verdacht, dass
dieser Seelenführer, seinen eigenen Ruf als hochangesehener Lehrer der Weisheit pfle-
gen möchte, dass er also ein Dieb und Räuber ist, der sich die Anerkennung seiner Per-
son betrügerisch verschaffen will.
Doch die Schafe können den guten Hirten erkennen. "Die Schafe hören auf seine Stim-
me, und er ruft die eigenen Schafe mit Namen und führt sie hinaus … die Schafe folgen
ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, son-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 136
dern sie werden ihm davonlaufen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen." (Joh
10,3-5). Dieses Sensorium hat sich die Gemeinde immerhin bewahren können, die in-
stinktive Erkenntnis dessen, der es gut mit ihr meint. Der Inhalt der Rede ist dabei be-
langlos, die Unterscheidung des guten Hirten von den schlechten gelingt durch die
Stimme. Den Inhalt göttlicher Offenbarungsreden können wir oft nicht von Grund auf
beurteilen, aber wir können darauf achten, ob in den Worten die Stimme des guten Hir-
ten erkennbar ist, der wir uns dann anvertrauen können, auch wenn wir nicht schon im
vorhinein wissen, wohin sie uns führen wird.
Die selbstlose Liebe des guten Hirten zeigt sich darin, dass er sogar sein Leben für die
Schafe einsetzt (Joh 10,11). Darin unterscheidet er sich von den Lohnarbeitern, denen
das Leben der Schafe nicht das höchste Gut ist. Ihnen geht es primär um den Lohn, um
das Leben der Schafe hingegen nur insoweit, als sich damit Gewinne erwirtschaften las-
sen. "Der Lohnarbeiter, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, der sieht den
Wolf kommen und lässt die Schafe im Stich und flieht, und der Wolf reißt und ver-
sprengt sie. Denn er ist ein Lohnarbeiter, und ihm liegt nichts an den Schafen." (Joh
10,12f). Indem Jesus ganz und gar für die Schafe lebt, ihr Wohlergehen zu seinem Le-
bensinhalt macht, überwindet er die der Menschheit seit dem ersten Brudermord einge-
brannte Natur. Diesen Bezug zu Genesis 4 hat Arthur Schult gesehen: "Im Gegensatz zu
jener Kains-Natur, die da fragt: 'Bin ich der Hüter meines Bruders?' und sich in sich sel-
ber abschließt, ist der gute Hirte aufgeschlossen für alle Nöte seiner Mitmenschen und
opfert sich in selbstloser Liebe für sie auf."110 Abel, nota bene der Schafhirt, wurde von
Kain, der dem Irdischen dient (Ackerknecht), schon zu Beginn der Menscheitsgeschich-
te ausgerottet, so dass seitdem die Verantwortungslosigkeit und Gefühlskälte in Gestalt
der Kainsfrage "Bin ich der Hüter meines Bruders?" die Signatur der gefallenen
Menschheit ist. Jesus, der Abel der neuen Schöpfung, richtete das alte Ideal der Für-
Sorge anstelle der Selbst-Sorge wieder auf. Allerdings konnte die Kainsmenscheit auch
dieses gerechte Opfer, auch diesen hingebungsvollen Lebenseinsatz, wiederum nicht er-
tragen und brachte den neuen Abel um. Doch auf diesen Karfreitag folgte ein Ostermor-
gen.
Dem 10. Kapitel schließt sich die Auferweckung des Lazarus an, welche die bösen Hir-
ten zu dem Entschluss treibt, Jesus töten zu wollen (Joh 11,53). Damit beginnt die Pas-
sionsgeschichte. Das 10. Kapitel ist somit der Höhepunkt der Selbstoffenbarung des Va-
ters in der Gestalt des Sohnes. Jesus offenbart seine Einheit mit dem Vater, ja eigentlich
sogar die Anwesenheit des Vaters in der Leiblichkeit Jesu. Anläßlich des Tempelweihfe-
stes sagt Jesus: "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30) und ebenso, "dass in mir der
Vater ist und ich im Vater bin" (Joh 10,38). Das Tempelweihfest erinnert die Juden an
110
Arthur Schult, Das Johannes-Evangelium als Offenbarung des kosmischen Christus, 1965, 237.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 137
die Wiedereinweihung des Tempels, nachdem der syrische König Antiochus IV. den
Jahwekult bei Todesstrafe verboten hatte. Jesus, der nach Johannes 2 der wahre Jahwe-
tempel ist, bringt hier also zum Ausdruck, dass fortan er die Gegenwart Jahwes in der
Menschenwelt ist. Der gute Hirte offenbart sich vollständig, zunächst seine Liebe, dann
den Grund derselben, nämlich die Anwesenheit des Vaters. Das Urgöttliche hat durch
Jesus, der die Tür ist, die Menschenwelt betreten. Das ist der Höhepunkt der öffentli-
chen Selbstoffenbarung Jesu.
Im Gespräch mit den Jüngern, also im esoterischen Teil des Johannesevangeliums, wer-
den auch später nochmals die Höhen der Gotteserkenntnis erklommen, aber die Offen-
barung des Gesandten vor der Welt hat in Johannes 10 den Gipfel erreicht bzw., wenn
man sich die Reaktion der Juden anschaut (Joh 10,31.39), den Gipfel des Zumutbaren
bereits überschritten. In den Abschiedsreden wird Jesus sagen: "Wer mich gesehen hat,
hat den Vater gesehen." (Joh 14,9). Und Thomas bekennt, den Ausnahmezustand der
Auferstehung vor Augen habend: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28). Und der Auf-
erstandene erwidert, die Zeit der Kirche vor Augen habend: "Selig sind, die nicht sehen
und doch glauben." (Joh 30,29). Damit schließt das Johannesevangelium (siehe Joh
20,30f). Das 21. Kapitel öffnet dann noch ein Fenster in die Zeit der Kirche und zeigt
uns das Schicksal der petrinischen Glaubenskirche und des johanneischen Geistesle-
bens bis zur Ankunft des neuen Jerusalems. Auch das sind Höhepunkte, aber der gute
Hirte ist das Höchste der vorösterlichen Liebesoffenbarung. Sie läd uns zu einem Leben
des Vertrauens ein: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …" (Ps 23,1).
Dabei war man sich am 31. Oktober des noch nicht Heiligen Jahres 1999 doch schon so
einig. In der Gemeinsamen Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der katholi-
schen Kirche über die Rechtfertigungslehre (siehe OT 1/00) sprach man von der "rö-
misch-katholischen Kirche" und den "lutherischen Kirchen". Und nun plötzlich erklärt
die Römerin: "Die kirchlichen Gemeinschaften …, die den gültigen Episkopat und die ur-
sprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht be-
wahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn" (DI 17). Angesprochen dürfen
sich die Kirchen der Reformation fühlen, was allerdings jene evangelischen Kirchenfüh-
rer schmerzt, "die noch zu Jahresbeginn für den zum Heiligen Jahr ausgesprochenen
Ablass ein gutes Wort einlegten und mit dem Papst an die Heilige Pforte pochten, hinter
der sie das ökumenische Paradies wähnten" (Ulrich Körtner). Doch was kümmert solch
ökumenisches Wunschdenken die Römerin, im Heiligen Jahr 2000 blüht sie auf, spricht
Pius IX. selig, dem ihre Päpste die Unfehlbarkeit verdanken, und erklärt die reformato-
rischen Gemeinschaften zu Randerscheinungen des Katholizismus. Soviel Klarheit
macht protestantische Ökumenismuseiferer fassungslos.
Die Römerin ist "die eine heilige katholische und apostolische Kirche" (Konstantinopoli-
tanisches Glaubensbekenntnis). "Die Gläubigen sind angehalten zu bekennen, dass es
eine geschichtliche, in der apostolischen Sukzession verwurzelte Kontinuität zwischen
der von Christus gestifteten und der katholischen Kirche gibt" (DI 16). "Es gibt also eine
einzige Kirche Christi, die in der katholischen Kirche subsistiert [= verwirklicht ist, sie-
he die Dogmatische Konstitution "Lumen gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils]
und vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet
wird." (DI 17). Die Römerin bleibt sich treu. Während manche lutherischen Kirchen
derzeit kaum ein wichtigeres Thema zu kennen scheinen als die Wiedereingliederung
in die historische Sukzession im Bischofsamt, grosse protestantische Kirchen die Frau-
enordination wieder problematisieren, oder in reformierten Gemeinden Veranstaltungen
zum Reformationsfest abgesagt werden, weil man so etwas für ökumenisch unschick-
lich und den katholischen Partnern nicht mehr zumutbar hält, wiederholt die Römerin
unbeeindruckt von diesem Balzgehabe "einige Glaubenswahrheiten" (DI 23), die "zum
Glaubensgut der Kirche gehören" und schon mehrfach in "früheren Dokumenten des
Lehramts vorgetragen" wurden (DI 3). So zum Beispiel am 18. November 1302 in der
Bulle "Unam sanctam" von Bonifatius VIII.: "Wir erklären, sagen und definieren nun
aber, daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem
Römischen Bischof unterworfen zu sein." Höre wohl, protestantische (H)erde! In der
Neuzeit drückt sich die Römerin zwar etwas höflicher aus, doch in der Sache unnach-
giebig. Swedenborgs Wesenschau hat Bestand. "Babylon, die Große, die Mutter der Hu-
ren und der Greuel der Erde" (Offb. 17,5), das ist die Römerin (EO 729), und dies ist ihr
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 139
Wesen: "Unter Babylon werden alle verstanden, die durch die Religion herrschen wol-
len." (JG 54).
Die Biblische Körpertherapie und Seelsorge ist eine Kurzzeittherapie mit sofortiger Anlei-
tung zur Selbsthilfe. Die körperlich therapeutische Arbeit verbindet sich mit der geisti-
gen Zielrichtung: Loslassen der alten, krankmachenden Wege und dafür Hinwenden zur
heilmachenden Beziehung mit dem Schöpfer, bzw. Bewußtmachung, daß der Mensch,
und zwar jeder gleich welcher Religion, Geschöpf Gottes ist, für ein ewiges Leben wun-
derbar gedacht und gemacht. Das Wort aus l.Thess. 5,23-24 beschreibt umfassend Sinn
und Zweck der Therapie: "Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch,
und euer Geist ganz mit Seele und Leib möge in untadeliger Weise für die Wiederkunft
unseres Herrn Jesus Christus bewahrt werden. Getreu ist er, der euch ruft; er wird's
auch tun."
Zu den Fehlhaltungen: Der kranke und leidende Mensch hat meist unbewußt mit geerb-
ten und durch das Leben gewordenen inneren und äußeren Fehlhaltungen zu tun. Ver-
stärkt durch Unkenntnis anatomisch-statischer Ordnungskriterien reichen diese von der
leichten Verspannung bis hin zu ernsten Erkrankungen. Bei vielen Schmerzpatienten
insbesondere, stimmt weder die Gesamthaltung noch die psychophysische Gewichtung,
der Körper ist nicht geweckt, Geist und Seele eingefleischt und in den täglichen Ge-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 140
Nachruf
Im Materialdienst 12/99 der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
erschien ein Nachruf zum Tode von Friedemann Horn. Darin hebt Frau Dr. Gabriele La-
demann-Priemer hervor: "Friedemann Horn war ein Mensch mit einer großen geistigen
Weite, und er war aus tiefem Herzen liebenswürdig … Sachliche Unterschiede, auch kri-
tische Anfragen an Swedenborgs Theologie stellten die menschliche Gemeinschaft nicht
in Frage. Horn redete Unterschiede nicht schön, um einer falschen Harmonie willen. Er
hatte das Bestreben, die Neue Kirche aus der 'Sektenecke' zu befreien und ihr einen
Platz und eine Stimme im Chor der christlichen Kirchen zu verschaffen. So nahm er in
seinen letzten Lebensjahren Kontakt zum Ökumenischen Rat der Kirchen auf. Auch
vorher pflegte Horn ökumenische Beziehungen. Er war viele Jahre Mitglied im Arbeits-
kreis 'PSI und christlicher Glaube' der EZW. Die Beziehungen zu den Mitgliedern des
Arbeitskreises waren herzlich, Horn war eine tragende Säule des Kreises und brachte
viele Anregungen mit … Es hat Horn verletzt, daß gelegentlich die Meinung vertreten
wird, die Swedenborgianer nähmen den Tod nicht richtig ernst oder nicht ernst genug,
weil er für sie 'nur' der Durchgang in die Geistige Welt sei. Fünf Tage vor seinem Tod
saß ich mit Friedemann Horn in Zürich auf einer Bank bei einer Friedhofskapelle nahe
dem Zürichsee. Wir sprachen über Krankheit und Tod. Er strahlte eine heitere Gelas-
senheit aus, aber er stellte zugleich mit tiefem Ernst die Frage: 'Was soll ich antworten,
wenn ich in der Geistigen Welt gefragt werde? - Und ich werde gefragt werden!'"
Neuerscheinung
Einigen Lesern ist Karl Dvorak noch bekannt. Er war ein Kenner der christlichen Pro-
phetie. In zahlreichen Vorträgen und Seminaren hat er sein Verständnis des inneren
Weges und geistige Übungen gelehrt. Aus diesen Tonbändern haben nun seine Freunde
ein Buch zusammengestellt: »Leben und Lehre Jesu Christi: Geistige Entsprechungs-
deutung und Wiedergabe wichtiger Lebenslehren sowie Anregungen zur Tatnachfolge
mit vielen geistigen Übungsanleitungen«. Es kann über Lothar Broß, Krankenhausstr.
10a, D -64823 Groß Umstadt oder Maria Dvorak, Khittelstr. 7/16, A - 3100 St. Pölten
zum Preis vom 39,- DM bezogen werden.
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 145
Interessenten wenden sich direkt an Dr. Florschütz, Mangoldtstr. 19, 24106 Kiel, Telefon 0431 -
542 131.
Die vorliegende Übersetzung der ältesten Schriften des Christentums ist in mehrfacher
Hinsicht neuartig, in den Übersetzungsprinzipien, in der Kommentierung und im Um-
fang und der Anordnung der Schriften. Nach Swedenborg sind im Neuen Testament nur
die vier Evangelien und die Offenbarung im eigentlichen Sinne Gottes Wort (siehe HG
10325). Das Neue Testament dürfte daher nur aus diesen fünf Büchern bestehen. Die
Apostelgeschichte und die Briefe könnten aus neukirchlicher Sicht in einem Ergän-
zungsband "Frühchristliche Schriften" erscheinen. Und das genau ist der Grund, warum
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 147
wir auf die Übersetzung von Berger / Nord hinweisen. Denn hier werden nicht nur die
kanonischen Schriften des Neuen Testaments geboten, sondern auch all die anderen,
die bis zum Jahr 200 nach Christus entstanden sind. Diese Fülle frühchristlicher Schrif-
ten findet man in keiner anderen Ausgabe. Als evangelischer Theologe kann Berger
selbstverständlich Paulus und die anderen Briefe nicht aus dem Kanon entfernen, aber
er relativiert diese Sammlung, indem er auch andere frühchristliche Schriften auf-
nimmt. Die Reihenfolge orientiert sich am Entstehungsdatum der Texte. Diese histori-
sche Einordnung ist bisher nirgends konsequent vollzogen. Nur am Rande sei bemerkt,
dass Berger das Johannesevangelium auf die Zeit gegen Ende der sechziger Jahre des 1.
Jahrhunderts datiert, womit er nach unserer Überzeugung goldrichtig liegt. Die Über-
setzung will das Verständnis der Texte erleichtern, ohne ihre Herkunft aus einer ande-
ren Kultur und Zeit, zu verleugnen. Den einzelnen Texten sind Kommentare vorange-
stellt, die die Entstehungsgeschichte, die theologiegeschichtliche Bedeutung und die
Wirkungsgeschichte erläutern. In den Fußnoten werden Sacherläuterungen und Über-
setzungsalternativen gegeben.
DM plus 10,- DM Seminargebühr. Bei Anfragen und Anmeldung bitte 04131 - 37997 (A.
Kreuch) anrufen.
dischen Königs," erklärt Haverkamp. "Er stand im Zentrum des gesamten Spektrums
der Naturwissenschaften seiner Zeit. Ungefähr mit 56 Jahren befand sich Swedenborg
in einer persönlichen Krise. Er beschreibt seine Visionen aus diesem Lebensabschnitt in
demselben makellosen Latein, das er früher zur Erläuterung seiner naturwissenschaftli-
chen Themen benutzt hatte. Swedenborg entwirft ein verwirrendes Bild des Himmels,
inklusive einer detaillierten Klassifikation der Engel. Dieses Werk, beträufelt mit christ-
licher Inspiration, ist voller überschwenglicher Frömmigkeit.
Blake übernahm viele der Gedanken Swedenborgs, aber im Gegensatz zu Blake ist Swe-
denborgs Beschreibung der Engel staubtrocken. Sein altväterliches Bild von Tugend
verbleicht in eine freudlos korrekte, buchalterische Auflistung neben der selbstsicheren
Imagination des jungen Blake. In der Tat, unverdauliches Gefasel sind Swedenborgs
Texte." Aber diese Tatsache wird Haverkamp nicht davon abhalten, sie zu meistern.
Falls er seinen Weg gefunden hat, wird ein Seiltänzer für drei Viertelstunden über dem
Publikum schweben.
Die Swedenborg-Oper mit dem Titel "Tattooed Tongues" (Tätowierte Zungen), Schnipsel
aus dem Jenseits, ist versuchsweise für Oktober 2001 geplant. Das Werk erfordert zwei
Vokalsolisten, einen elektronischen Chor und 33 Ballerinas. Auf ein gut Teil unter der
Zahl der Schwäne (der 150 Tänzerinnen) hatten Padding und Haverkamp gehofft, aber
das ist besser als nichts. Die Choreographie stammt von Amir Hosseinpour, der auch bei
der Oper "Hiero" von Guus Janssen [Komponist 1951- ] und Friso Haverkamp beteiligt
war.
Klaas Huizing
Das Ding an sich: Ein Kant-Roman
Klaas Huizing , Das Ding an sich: Ein Kant-Roman 2000. 236 Seiten, Kartoniert (auch gebunden
erhältlich) 17,00 DM -124 öS - 16,00 sfr.
Kant und die Folgen, ein in unseren Kreisen nicht unbekanntes Thema. Da mag es in-
teressieren, was Klaas Huizing (geboren 1958), Ordinarius am Lehrstuhl für Systema-
tische Theologie der Universität Würzburg, über das "Ding an sich" zu erzählen weiß.
Der Philosoph Johann Georg Hamann (1730-1788) erhält unter mysteriösen Umständen
eine Scherbe mit dem Abdruck einer menschlichen Hand, wobei ihm berichtet wird, der
Abdruck zeige Adams Hand, mit der er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe.
Hamann zeigt dieses Stück seinem Freund-Feind Kant, und man beschließt, sie zu un-
tersuchen. Die Scherbe widersetzt sich jedoch ersten Versuchen, ihr Material zu erkun-
den. So wird denn der Diener Kants, Martin Lampe, zu verschiedenen Koryphäen der
Zeit entsandt - zu dem Naturforscher Prokop Divisch (1696-1765), der mit Elektrizität
experimentiert, zu den Physikern Denis Papin (1647-1712) und Tiberio Cavallo, die sich
mit Hitze und Dampf bzw. Kälte und Eis befassen, und schließlich zu dem Mediziner
Franz Anton Mesmer (1734-1815), dem Begründer der Lehre vom tierischen Magne-
tismus. Aber alle scheitern daran, das Geheimnis der Scherbe zu enthüllen; sie bleibt
unzerstörbar und wird Kant bei seinem Tode mit ins Grab gegeben.
Huizing gelingt es, Philosophie in das Gewand eines amüsanten und intelligenten Ro-
mans zu verpacken. Die mysteriöse Scherbe, sie ist das Ding an sich, verblüfft, verunsi-
chert den großen Philosophen: "Ist dieses Ding hier die absolute und unzerstörbare Re-
alität? Das kann und darf nicht sein! Darf nicht! Das Ding an sich ist unerkennbar und
wird auf ewig unerkennbar bleiben ... Ist unsere Vernunft nur fähig, diese Wirklichkeit
zu erkennen? Das kann und will ich nicht glauben." (167). Und damit tönt das eigentli-
che Ziel des Romans an; es ist eine Kritik, der "Kritik der reinen Vernunft". Der Alles-
zermalmer, Eingeweihte erkennen darin den kantigen Verstand, kann eben doch nicht
alles zermalmen. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett sollen gewesen sein: "Nicht
alles läßt sich zermalmen." Und Huizing fügt hinzu: "Bisher allerdings hat keiner der
Biographen und Interpreten diese Worte richtig gedeutet." (229). Und wo es in Gestalt
einer unscheinbaren Scherbe so sehr um die den Sinnen und dem Verstand unzu-
gängliche Realität geht, da kann auch ein gewisser Geisterseher nicht allzu ferne sein …
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 153
365 x Lebenskunst
Im Gütersloher Verlagshaus ist "365 x Lebenskunst" in einer Auflage von 5000 Exem-
plaren erschienen. Darin hat Horst Prießnitz Worte für jeden Tag von der Antike bis in
die Gegenwart zusammengestellt. Auch der folgende Text von Helen Keller, aus "Licht
in mein Dunkel" (Swedenborg Verlag) wurde als Wegzehrung für den 4. November auf-
genommen: "Wahrlich, ich habe in den Abgrund der Finsternis geschaut, aber mich ih-
rem lähmenden Einfluß nicht ergeben; im Geiste gehöre ich zu denen, die im Morgen-
licht wandeln. Was hat das zu bedeuten, wenn alle dunklen, entmutigenden Stimmun-
OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 154
gen des menschlichen Gemüts mich überfallen und mich so dicht umwehen, wie die
trockenen Blätter im Herbst? Andere sind vor mir diese Straße dahin gezogen, und ich
weiß, daß durch die Wüste ebenso sicher ein Weg zu Gott führt wie durch erfrischende
grüne Auen und fruchtbare Obstgärten. Auch ich bin tief gedemütigt worden und mußte
mir meine Kleinheit inmitten der Grenzenlosigkeit der Schöpfung eingestehen. Je mehr
ich lerne, desto weniger meine ich zu wissen und je besser ich die Erlebnisse zu werten
weiß, die mir meine Sinne vermitteln, desto deutlicher werden mir deren Mängel be-
wußt und ihre Unzulänglichkeit als Lebensgrundlage. Hin und wieder stehen mir die
Gesichtspunkte des Optimisten und des Pessimisten so geschickt ausgewogen vor Au-
gen, daß ich alle Geisteskraft benötige, um den Halt an einer praktischen Lebensphiloso-
phie nicht zu verlieren, die mir ermöglicht zu leben. Aber ich gebrauche meinen Willen,
erwähle das Leben und weise sein Gegenteil, das Nichts, zurück."
Gerhard Gollwitzer
Im Süden, insbesondere in Stuttgart, verbindet sich mit der Deutschen Sweden-
borg-Gesellschaft auch der Name Gollwitzer. Gerhard Gollwitzer, Bruder des Berliner
Theologen Helmut, war hier lange Vorsitzender und prägende Persönlichkeit. Daher sei
auf das folgende Buch hingewiesen: Helmut Gollwitzer: Skizzen eines Lebens: aus ver-
streuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von Friedrich-Wilhelm Marquardt,
Guetersloh 1998. Der Bruder Gerhard wird mehrmals mit Hinweis auf die "mystische
Theologie Emanuel Swedenborgs" erwähnt.
Bernhard Lang
Bernhard Lang ist uns durch "Der Himmel: Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens",
Frankfurt am Main 1990 bekannt, weil er in diesem Buch Swedenborgs Bedeutung bei
der Geburt der modernen Himmelsvorstellung ausführlich gewürdigt hat. Daher wird es
unsere Leser interessieren, daß Professor Lang nun auch eine Studie für die englische
Ausgabe von Swedenborgs "Himmel und Hölle" geschrieben hat, das im September
2000 bei der Swedenborg Foundation erschienen ist.