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Berlin, 2005
2
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis 2
Einleitung 5
Einleitung
Trotz der völkerrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Nahrung stirbt jede
Sekunde ein Mensch an den Folgen des Hungers. Das sind mehr als 30 Mil-
lionen Menschen, die jedes Jahr bei dieser tagtäglichen Tragödie ums Leben
kommen. Besonders betroffen sind Kleinkinder, weil Hunger der Verursacher
der jährlich 11 Millionen Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren ist: A l l e
fünf Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen des Hungers.
Einer solchen Realität gegenüber stellt sich die Frage, ob das Recht in der
Lage ist, Hunger und Unterernährung auszurotten, nämlich ob die Verwirkli-
chung des Rechts auf Nahrung überhaupt erreicht werden kann. Ist etwa der
Hunger ein juristisches oder ein politisches Problem? Gibt es Lösungen zur
Frage des Hungers? Könnten wir als Juristen zur Lösung der Frage des
Hungers beitragen? Um die einleitende Fragestellung beantworten zu kön-
nen, vereint diese Magisterarbeit neben den juristischen Aspekten auch dis-
ziplinübergreifende Auffassungen. Auf diese Art und Weise werden im ersten
Teil philosophische, historische und ideengeschichtliche Themen angeschnit-
ten, um so die Frage nach dem Recht auf Nahrung als Menschenrecht be-
antworten zu können. Im zweiten Teil werden die Grundgedanken eines
Rechts auf Nahrung dargestellt, während im drittel Teil auf völkerrechtliche
Fragen eingegangen wird, um die Auslegung des Rechts auf Nahrung im
Kontext des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte vornehmen zu können. Im vierten Teil werden politologische Aspekte
angesprochen und im anschließend letzten Teil Lösungsansätze zur Be-
kämpfung des Hungers dargestellt.
6
Der Konzept der Menschenrechte als solche war zwar in der Antike unbe-
kannt, aber dessen Fundamente wurden in der philosophischen Entwicklung
Griechenlands aufgestellt3. Darum rühren naturrechtliche Ansätze bereits
von den vorsokratischen Sophisten im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt
her4. Die Sophisten konzentrierten sich im Gegensatz zu ihren Vorgängern,
den „Naturphilosophen“, eher auf die menschliche sophía, die „nicht nur die
1
IPwskR
2
Vgl. Oestreich 1968, 9 ff.
3
ebd., 15
4
ebd.
7
Hinsichtlich des Werdegangs der Menschenrechte liegt der Wert der Sophis-
tik darin, dass zum ersten Mal in der griechischen Philosophie der Blick weg
von der Natur und vollständig auf den Menschen gerichtet wurde6.
Der Mensch wurde auch zum Mittelpunkt der Rechtsvorstellungen8. Die So-
phisten lehrten nicht nur, dass alle Menschen frei geschaffen und keiner zum
Sklaven bestimmt wurde – ein subversiver Satz in der griechischen Gesell-
schaft, die sich ja auf das Institut der Sklaverei stützte - sondern auch, dass
das natürliche Recht die positiven Gesetze weitaus überwindet9.
Bei der Philosophenschule der Stoa poikile, gegründet um 300 vor Christi
von Zenon aus Kition, finden sich auch vorangehende Vorstellungen eines
allen Menschen als Menschen zukommenden Rechts10. Oberste Maxime der
Ethik, die im Zentrum des Denkens der Stoa steht, ist die Forderung, mit sich
selbst und mit der Natur in Harmonie zu leben11. Daraus ergibt sich der
Glaube an ein völlig gültiges Weltgesetz, nämlich das sittliche Gleichheits-
prinzip der Menschen, wodurch alle Menschen von Geburt an gleichsetzt und
ihnen gewisse Naturrechte zuerkannt werden12.
5
Fenske 2003, 55 ff.
6
Vgl. Fenske 2003, 162
7
ebd.
8
Oestreich 1968, 15
9
ebd.
10
Vgl. Störig 2002, 218 ff.
11
ebd.
12
ebd.
8
die Sklaven und die Barbaren ein13. Diese neue humane Gesinnungsethik
bewirkte eine Milderung der Sklaverei und die Fürsorge für Bedürftige und
Kranke und legte Fundamente für die Idee einer Menschenwürde14.
Im Georgias wies Sokrates (470 – 399 v. Chr.) die Gerechtigkeit als höchstes
menschliches Gut und als Ziel aller Staatsführung aus. Er bemerkte, dass
ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft existieren kann15.
„Die denkbar höchste Form des sittlichen Lebens ist das sittliche Leben der
Gemeinschaft in einem guten Staat“20, wobei die Gerechtigkeit zum Funda-
ment dieses guten Staates wird21.
13
ebd.
14
ebd.
15
Vgl. Oestreich 1968,15
16
Fenske 2003, 74
17
ebd.
18
ebd.
19
ebd.
20
ebd., 183
21
ebd.
22
Vgl. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 2002, 183 ff.
23
ebd.
9
tet24. Die Oligarchie spaltet den Staat in Arme und Reiche. Werden die Ar-
men immer ärmer, dann vertreiben sie die Machthaber und errichten eine
Demokratie25. Der Drang nach Freiheit wird in der Demokratie immer größer,
so dass diese Freiheit bald zur Zügellosigkeit wird. Gegen diese Ausschwei-
fung muss das Volk die Macht dem Tyrannen übertragen26.
Für Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) ist die Glückseligkeit das höchste Gut des
Menschen. Der Mensch ist vor allem Vernunftwesen und die Tugend besteht
darin, dass der Mensch die Vollkommenheit seiner Vernunft anstrebt29.
Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Tugend. Während die ethische Tu-
gend die Herrschaft der Vernunft über die wollüstigen Triebe bedeutet, rep-
räsentiert die dianoethische Tugend - im Vergleich mit der ethischen Tugend
die höhere - die Vervollkommnung der Vernunft selbst. In dieser Hinsicht lag
die Grundlage allen Rechtes in der gottgegebenen Vernunft des Menschen30.
Wie für Platon ist die moralische Gemeinsamkeit der Bürger in einem auf
Gesetz und Tugend aufgebauten guten Staat auch für Aristoteles die höchste
24
ebd.
25
ebd.
26
ebd.
27
Vgl. Störig 2002, 187
28
Fenske 2003, 80
29
Vgl. Störig 2002, 206 ff.
30
ebd.
10
Form der Sittlichkeit31. Politik ist in dieser Hinsicht nichts anderes als ange-
wandte Ethik32.
Der Staat ist für Aristoteles im Gegensatz zur platonischen Staatslehre kein
einheitliches Wesen, sondern aus Einzelmenschen gebildet33. Der Staat ist
hingegen Bestandteil, eine Untergemeinschaft eines gegliederten Ganzen34.
Der Mensch ist nach der aristotelischen Betrachtung ein politisches bzw. ge-
sellschaftliches Lebewesen, das zur seiner Vervollkommnung die Gemein-
schaft mit anderen benötigt35. Diese Verbundenheit der Menschen miteinan-
der ist nur durch das Recht – die lex naturae - möglich36.
Das natürliche Recht als das wahre Gesetz existiert von jeher, bevor eine
staatliche Gemeinschaft errichtet wurde37. Durch dieses Gesetz, das für
Menschen und Gottheit verpflichtende Norm ist, wird die Ungleichheit der
Völker und Menschen erklärt und die Sklaverei gerechtfertigt38.
Die Stoiker haben die Gleichheit der Menschen durch den Hauptgedanken
begründet, dass neben der realen Gemeinschaft das Reich der Vernunft vor-
handen ist, und in diesem ist jeder Mensch Teilhaber an der Weltvernunft, so
dass also alle Menschen mit Vernunft ausgestattet sind. Ebenfalls sind alle
Menschen von der sittlichen Zielsetzung aus gleichberechtigt39.
Auch für Cicero (106 – 43 v. Chr.) ist der Mensch von Natur aus ein Wesen,
das gesellschaftlich veranlagt ist, und er sieht darin den Hauptgrund für eine
31
ebd.
32
ebd.
33
ebd.
34
ebd.
35
Vgl. Quinton 1994, 302 ff.
36
ebd.
37
ebd.
38
ebd.
39
ebd.
40
Vgl.Oestreich 1968, 17
11
Staatenbildung41. Ein Staat ist demzufolge ein Kreis von Menschen, die ge-
meinsame Rechte für legitim erklären und daraus einen kollektiven Nutzen
ziehen42.
Der Staat ist laut Cicero wie bei Aristoteles eine apriorische Rechtsgemein-
schaft, die über die menschliche Vernunft erfahrbar ist43. Die Ziele dieses
Staates sind grundsätzlich, für Recht und Gerechtigkeit unter den Bürgern zu
sorgen, für Wohlstand und äußere Sicherheit.44
Die Ungleichheiten unter den Menschen, besonders die Sklaverei, sind tödli-
che Krankheiten des Staates45. Darum müssen die positiven Gesetze am
allgemeinen Naturrecht und an Tugenden orientiert werden, denn wenn die
Gesetze nur der reinen Nützlichkeit folgen, gibt es gar keine Gerechtigkeit46.
Durch Cicero wurde die lex naturae aus einem Gegenstand der Philosophie
zu einem Gegenstand des Rechtsdenkens und der Rechtskonzeption. Das
Naturrecht, das im Letzten göttlich begründet wird, bewirkt im Römischen
Imperium eine progressive Abschaffung von Ungleichheiten unter den Men-
schen - beispielsweise für Barbaren, Sklaven und Frauen - wie sie Aristoteles
noch als sittlich akzeptiert hatte47.
41
ebd.
42
Vgl. Quinton 1995, 306 ff.
43
ebd.
44
ebd.
45
ebd.
46
ebd.
47
Vgl. Brieskorn 1997, 31 ff.
48
Oestreich 1968, 18
49
ebd.
12
Den Ansätzen Senecas lag die feste Überzeugung von der Zusammengehö-
rigkeit aller Menschen und von ihrem gemeinsamen Schicksal zugrunde: „Wir
sind Glieder eines Körpers. Die Natur schuf uns alle als Verwandte“50.
Hinsichtlich der Antike kann man zusammenfassend sagen, dass frühe Fas-
sungen des Naturrechts – vor allem bei den Sophisten und Stoikern - in der
griechischen und in der römischen Antike nachgewiesen wurden, welche das
christliche Denken des Mittelalters, das aufklärerische Naturrecht und die
zeitgenössische Begründung der Menschenrechte geprägt hat.
Zur den Hauptbegriffen des Naturrechts der Antike gehört die Vorstellung,
dass dem Menschen vor aller staatlichen Rechtsetzung feststehende Rechte
zustehen, die sich aus seiner Natur bzw. aus seiner Vernunft ergeben. Diese
von der Natur abgeleiteten Rechte des Menschen, also seine Menschenrech-
te, gelten unabhängig von Zeit und Raum, weil die Natur auch unveränderlich
ist. Auch nach dem Ansatz der Vernunft sind alle Menschen gleichwertig.
Eine andere Weltanschauung, die dem Menschen von Natur aus eine gewis-
se ontologische Ausstattung zuspricht, ist das christliche Menschenbild51.
Das einstige Christentum konnte an den Überlegungen der Bibel und des
Stoizismus anknüpfen52.
Zwei zentrale Vorstellungen können von der Bibel abgeleitet werden: Die
Idee der Menschenwürde und die der Gleichheit der Menschen53. Die Kon-
zeption der Gleichheit gründet sich auf die Behauptung, dass Menschen Kin-
der Gottes und demzufolge Brüder und Schwestern in Christus seien54. Die
Gleichheit zwischen den Menschen findet in der Gleichberechtigung von Ge-
schwistern in einer Familie ihre Allegorie55. Dieses Ideal kommt der stoischen
Forderung der allgemeinen Menschenliebe nahe56.
50
ebd.
51
Vgl. Höffe 2001, 85
52
Vgl. www.bpb.de/publikationen/!SFJ2B, 0 , 0, Idee_der_Menschenrechte.html
53
Vgl. Störig 2002, 240 ff.
54
ebd.
55
ebd.
56
ebd.
13
Der Mensch ist darüber hinaus das Ebenbild Gottes und als solches die Kro-
ne der Schöpfung57.Aus dieser Aussage folgt einerseits, dass dem Men-
schen eine Würde und ein Wert zukommen, wie sie in der Schöpfung sonst
nirgends erreicht sind, und andererseits, dass diese göttlichen Herkunft die
prinzipielle Gleichstellung und Freiheit aller Menschen bedingt58.
„Dem Christentum war von vornherein ein übernationaler Zug eigen. Hatte
doch Christus seine Jünger ausgesandt, alle Völker zu lehren. Es kannte
auch von vornherein keine Standesschranken. Christus hatte sich gerade an
die ‚Mühseligen und Beladenen’ gewandt. Die ersten Bekenner des Christen-
tums entstammen in der Masse den unteren Bevölkerungsschichten. Das
Christentum war eine geistige Revolution ‚von unten’ die aber alsbald die
Spitzen des gesellschaftlichen Aufbaus mit ergriff“59.
Wie die Griechen der Antike begreift Thomas von Aquin den Menschen voll-
ständig im Kontext der Gesellschaft und des Staates63. Mit der Definition des
Aristoteles argumentiert Thomas immer wieder, dass „homo naturaliter ani-
mal politicum est“. Darum solle das Handeln des Einzelnen auf das Gemein-
wohl der Gesellschaft gerichtet werden64.
Es sei unmöglich – behauptet Thomas – dass ein Mensch gut sein kann,
wenn er nicht im rechten Bezug zum gemeinen Wohl stehe65.
Die Philosophie der Innerlichkeit von Augustinus (354 - 430), stützt sich auf
den christlichen Glauben. Durch Christus, die Heiligen Schriften und die Kir-
57
ebd.
58
ebd.
59
Störig 2002, 242
60
Vgl. Auprich 2000, 29
61
Vgl. Störig 2002, 285 ff.
62
ebd.
63
Vgl.Fenske 2003, 212 ff.
64
ebd.
65
Störig, 295 ff.
14
che wird den Menschen die göttliche Autorität vermittelt. Die Wahrheit der
Heiligen Schriften ist unfehlbar, weil Gott selbst durch sie spricht. Die Kirche
stellt den Menschen unter die Autorität Christi. Hinsichtlich dieser Autoritäten
- Christus, Heilige Schriften, Kirche - ist jede ungläubige Überlegung unzu-
lässig. Der Glaube wird vorausgesetzt, und die Vernunft folgt.66
Ein wichtiger Denker der Spätscholastik war Giovanni Pico della Mirandola
(1463 - 1494). Pico hebt die Sonderstellung des Menschen in der Gestaltung
des Alls hervor. Gott schafft den Menschen als Schöpfer seiner selbst und
deswegen hat der Mensch die Freiheit, durch eigenes Tätigwerden in freier
Selbstbestimmung sein Wesen selbst zu machen. Der Mensch kann alles
sein, was er will, weil er von Geburt an zu jedweder Lebensform ausgestattet
ist67.
Nach dem Mittelalter wurde die Würde der Menschen jedoch nicht mehr an
dessen Gottebenbildlichkeit fixiert68. Die Epoche des Humanismus und der
Aufklärung wurde durch die Leitbegriffe bestimmt, dass die Vernunft als We-
sensmerkmal des Menschen allgemeingültige Maßstäbe für Gesellschaft und
Politik repräsentiert und dass die Freiheit den Grundsatz des sozialen und
politischen Handels darstellt69.
66
Vgl. Fenske 2003, 138 ff.
67
Vgl. Auprich 2000, 29 ff.
68
Quinton 1995, 327
69
Vgl. Störig 2002, 317 ff.
15
Durch den Humanismus im 16. Jahrhundert wurde der antike Stoizismus mit
seiner Emphase der rationalen Natur des Menschen wiederbelebt70.
Thomas Hobbes und John Locke trugen mit ihren Lehren zur Konzeption der
Idee der Menschenrechte bei71.
Für Thomas Hobbes (1588 - 1679) ist der Mensch grundsätzlich egoistisch,
der nur nach dem eigenen Vorteil strebt. Im Naturzustand, in dem alle Indivi-
duen bloß aus diesem Ziel handeln, herrscht der ununterbrochene Krieg. Aus
diesen Umständen ergibt sich der Wunsch nach Sicherheit, und aus dem
menschlichen Wunsch nach Sicherheit und Rechtsschutz kommt die überge-
ordnete Gewalt des Staates zustande72.
„Hobbes betont, dass der Mensch nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat:
dem Urzustand, das heißt völliger Anarchie; oder der restlosen Unterwerfung
unter eine staatliche Ordnung.“73
Mit der „Zweiten Abhandlung über die Regierung“ (Second Treatise on Go-
vernment, 1690) macht sich John Locke (1632 - 1704) Hoffnungen auf ein
Gemeinwesen - den Staat als Verkörperung der politischen Gewalt - das
nicht nur den Frieden gewährleistet, sondern auch auf den Interessen seiner
Bürger und sozialem Wohlergehen beruht74. Locke legt Wert auf
Gewaltenteilung und grundsätzlich auf „life, liberty und property“, welche als
Grundsätze des zeitgenössischen Grund- und Menschenrechtskatalogs
eingeordnet sind75.
Zur Erklärung der Entstehung des Staates rekurriert auch Locke auf den Na-
turzustand (state of nature) völliger Gleichheit (equality) und Freiheit (free-
dom)76. Diese Freiheit entstammt dem Naturgesetz (law of nature), das den
einzelnen zur eigenen Selbsterhaltung und zur Selbsterhaltung des Mitmen-
schen verpflichtet77. Im Unterschied zu Hobbes wird der Mensch bereits im
70
ebd.
71
Vgl. Quinton 1995, 332 ff.
72
ebd.
73
Störig 2002, 334
74
Vgl. Quinton 1995, 341 ff.
75
ebd.
76
Vgl. Fenske 2003, 324 ff.
77
ebd.
16
Zusammen mit David Hume (1711 - 1776) und Adam Ferguson (1723 -
1816) gehört Adam Smith (1723 - 1790) zu den wichtigsten Vertretern der
„schottischen Moralphilosophie“80. Die Moralphilosophie der „schottischen
Schule“ hat ihre Basis in einer Theorie von den Gefühlen, und sie lehnt alle
Ansätze ab, die auf die Vernunft basieren81. Darüber hinaus versucht diese
philosophische Strömung zu erklären, inwiefern egoistisch agierende Men-
schen entgegen der überwiegenden humanistisch-altruistischen Ansicht zum
Gemeinwohl beitragen können82.
In seinem Werk „Theory of Moral Sentiments“ behauptet Smith, dass die Rol-
le der Moralphilosophie darin besteht, sich den Voraussetzungen des
menschlichen Glücks zu widmen83. Darin liegt eine Abgrenzung von der vor-
herrschenden christlichen Ethik, die Moral mit Wahrheit und Begründbarkeit
in Zusammenhang bringt84.
Smith zufolge ist das Streben des Individuums nach Verbesserung seiner
ökonomischen und sozialen Lage die ausschlaggebende Triebkraft der Sozi-
alisation und der Entstehung von Wohlstand85.
78
ebd.
79
ebd.
80
Vgl. Fenske, Geschichte der politischen Ideen, Frankfurt/Main 2003, S. 364 ff.
81
ebd.
82
ebd.
83
Vgl. Trapp, Adam Smith – politische Philosophie und politische Ökonomie, Göttingen 1987, 53 ff.
84
ebd.
85
ebd.
86
ebd., 65 ff.
17
Smith wurde zum Begründer der Theorie der Marktwirtschaft durch sein
Meisterwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“
(1776)89. In diesem Buch versucht Smith, die Grundlage des Fortschrittes der
Nationen zu erklären, wobei er drei ausschlaggebende Elemente herausge-
funden hat: Freiheit, Eigennutz und Wettbewerb. Fundament seiner Lehre
sind nicht altruistische, sondern egoistisch agierende Individuen, die in ihrem
natürlichen Verlangen nach Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse unab-
sichtlich das Gemeinwohl fördern90.
Smith gilt als Verfechter des Freihandels und Gegner von direkten Staatsein-
griffen in Marktmechanismen. Dabei macht er jedoch einige Einschränkun-
gen: Er behauptet, dass die entwickelte Marktwirtschaft erst in der Lage ist
zu funktionieren, wenn die folgenden Staatsaufgaben richtig wahrgenommen
werden: Verteidigung, innere Sicherheit, Justiz, Verkehrswesen, Bildung,
Gesundheitswesen und die Verhinderung von Monopolen91.
Die Theorie der Marktwirtschaft ist eng mit der Gesellschaftslehre des Libera-
lismus verbunden:
Im „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter
den Menschen“ rekonstruiert Jean-Jacques Rousseau eine theoretische Ur-
geschichte der Menschengattung93.
93
Vgl. Höffe 2001, 178 ff.
94
ebd.
95
ebd., 180
96
ebd., 182
97
Vgl. Fenske 2003, 366 ff.
98
ebd.
19
Alle Dinge sind käuflich. Nur der Mensch hat Würde, nämlich einen Wert jen-
seits aller Nützlichkeit. Der Mensch verdient als Mensch und nicht aufgrund
von Leistungen Wertschätzung104. Alle Menschen sollen darum so miteinan-
der umgehen, dass sie ihrer aller Würde nicht verletzen. Sie sollen sich nicht
als Mittel gebrauchen und auch nicht gebrauchen lassen. Kein Mensch darf
einen anderen Menschen instrumentalisieren. Die Anerkennung der Persön-
lichkeit eines jeden Menschen ist allen Zwecken übergeordnet105. Eine Fas-
sung von Kants Sittengesetz lautet:
„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Per-
son eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst.“ 106
99
ebd.
100
Oestreich 1968, 69
101
Vgl. Höffe 2001, 189 ff.
102
Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, Berlin 1968, 76
103
Vgl. Höffe 2001, 189 ff.
104
ebd.
105
ebd.
106
Höffe 2001, 198
20
Das Sittengesetz ist kein religiöses Gebot, sondern vielmehr das Gesetz der
Vernunft selbst107.
Bei Kant bilden die Freiheit, die Gleichheit und die Selbständigkeit des Men-
schen Grundsätze jeder Gesetzgebung108. Auf der Grundlage eines Ethos
der Menschenwürde verlangt Kant, dass das Recht der Menschen „heilig
gehalten werden müsse, mag es der herrschenden Gewalt auch noch so
große Aufopferung kosten“109.
107
ebd.
108
Vgl. Oestreich 1968, 77
109
ebd.
110
Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653 ff.
111
ebd.
112
ebd., 1658
21
Weil sie allen Menschen in gleichem Maß zusteht, umfasst sie genauso der
Grundsatz der Gleichheit113.
„In the future days, which we seek to make secure, we look forward to a
world founded upon four essential human freedoms.
The first is freedom of speech and expression - everywhere in the world.
The second is freedom of every person to worship God in his own way – eve-
rywhere in the world.
The third is freedom from want – wich, translated into world terms, means
economic understandings wich will secure to every nation a healthy peace-
time life for its inhabitants – everywhere in the world.
The fourth is freedom from fear – wich, translated into world term, means a
worldwide reduction of armaments to such a point and in such a thorough
fashion that no nation will be in a position to commit an act of physical ag-
gression against any neighbor – anywhere in the world.
113
ebd., 1659
114
Vgl. Oestreich 1968, 100 ff.
115
ebd., 105
116
Vgl. Fenske 2003, 499 ff.
117
ebd.
22
Das wichtige an diesen vier Freiheiten ist, dass sie über die Grenzen des
Nationalstaats hinweg gedacht werden119. Jeder Mensch, egal welcher Reli-
gion, Nationalität, Abstammung oder Hautfarbe, soll in den Genuss dieser
Rechte kommen120.
Die dritte Freiheit – die Freiheit von Mangel und Not, überall auf der Welt ist
bedeutsam, weil Roosevelt damit ausspricht, dass es zentrale Aufgabe so-
wohl staatlicher als auch supranationaler Instanzen sein muss, entschlossen
die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen und deren Lebensbedin-
gungen zu verbessern121. Roosevelt ist damit weit von der libertären Position
entfernt, die solche Maßnahmen als moralisch illegitim betrachtet, weil sie
aus ihrer Sicht Eingriffe in die Freiheit bedeuten122.
Auf diese Art und Weise entstanden der Internationale Pakt über bürgerlich-
politische Rechte (IPbpR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), beide 1966 verabschiedet, sowie
eine umfangreiche Vielfalt weiterer Konventionen und Abkommen124.
Schließlich nahmen die meisten Länder der Welt die Grund- und Menschen-
rechte in ihre Verfassungen auf, und andere Menschenrechtserklärungen
wurden im weiteren Verlauf auf regionaler Ebene verabschiedet: 1950 für
Europa, 1969 für Amerika, 1981 für Afrika und 1990 für die islamische
Welt125.
118
www.wwnorton.com/college/history/ralph/workbook/ralprs36b.htm
119
www.phil.euv.frankfurt-o.de/download/2004WS/PolitischePhilosophie/Kapitel09.pdf
120
ebd.
121
ebd.
122
ebd.
123
Vgl. Delbrück, Menschenrechte/Menschenrechtspolitik, 2003, 7080 ff.
124
ebd.
125
ebd.
23
Es ist immer noch umstritten, ob die Geschichte der Grund- und Menschen-
rechte in der Antike beginnt, aber es gibt Gründe, über Antike und Men-
schenrechte nachzudenken, weil das wesentliche Element der Idee der Men-
schenrechte, nämlich die Vorstellung von Gleichberechtigung und Gemein-
wohl, bis in die Antike zurückverfolgt werden kann126.
Von diesem Ausgangspunkt her präsentiert Wolfgang Schmale eine kurz ge-
fasste Geschichte der Menschenrechte:
126
Vgl. Stourzh 2000,5
127
www.univie.ac.at/igl.geschichte/ws2001-2002/ringvo_ws2002_schmale.htm
128
Vgl. Nohlen, Begründungszusammenhang, 2003, 8066
24
Kernthese der Diskurstheorie ist, dass ethische Fragen und damit auch die
Frage der Gerechtigkeit durch praktische Vernunft beantwortet werden kön-
nen. Unter praktischer Vernunft versteht man die menschliche Fähigkeit der
Anleitung und Bestimmung des Willens. Kant bestimmt die praktische Ver-
nunft als das Vermögen, allgemeine ethischen Prinzipien aufzustellen, nach
denen der Wille die Handlungen ausrichten soll129. Darum stützt sich diese
These auf die Tradition der kantischen Ethik und wird grundsätzlich von Jür-
gen Habermas und Robert Alexy vertreten130.
Unter Diskursethik wird derjenige Teil der Diskurstheorie verstanden, der sich
mit praktischen – und folglich ethischen und juristischen in Abweichung von
theoretischen – Fragen beschäftigt131.
Die Diskursethiker interpretieren die Vernunft auf der Grundlage der Sprach-
und Verständigungskompetenzen: die Vernunft ist nur im Rahmen der Spra-
che begrifflich, wobei die Verständigung ein essentielles Element jeder Rede
ist132. Unter dieser Bedingung entwickelt die Diskursethik ein Modell, dessen
explizite normative Bestimmungen aus impliziten normativen Kommunikati-
onsvoraussetzungen abgeleitet werden133.
Die Diskursethik besagt, dass die Menschenrechte als Normen mit universel-
ler normativer Wirksamkeit durch ein bestimmtes Verfahren begründet wer-
129
Vgl. Brieskorn 1997, 154 ff.
130
ebd.
131
Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 ff.
132
ebd., 145
133
ebd.
25
den können134. Als eine Theorie des Verfahrens der vernünftigen Begrün-
dung von Wert- und Verpflichtungsurteilen ist sie darauf gerichtet, ein System
von Diskursregeln zu erarbeiten. Damit wird sie als prozedurale Gerechtig-
keitstheorie gekennzeichnet135.
Diesem Ansatz nach besteht zwischen Legitimität und Wahrheit ein innerer
Nexus136. Der feste Glaube der Menschen an die Geltung ihrer Normen weist
einen innewohnenden Wahrheitsbezug auf137. Die Legitimationsüberzeugun-
gen implizieren den Anspruch universaler und rationaler Wirksamkeit, und
darum sind sie zu überprüfen138. Ausgangspunkt der prozeduralen Legitima-
tions- und Normenbegründung ist der ideale Diskurs als Legitimationsin-
stanz.
„Ein direkter Schluss von den Diskursregeln auf die Menschenrechte ist nicht
möglich. Die Diskursregeln sind nur Rederegeln. Sie einzuhalten, bedeutet
lediglich, den anderen im Diskurs als gleichberechtigten Partner zu behan-
deln. Daraus folgt noch nicht, dass der andere schlechthin, also auch im Be-
reich des Handelns, als Person anerkannt werden muss. Aus einer sprach-
pragmatischen Anerkennung folgt noch keine moralische oder rechtliche An-
erkennung“142.
134
Vgl. Hinkmann 2002, 81
135
ebd.
136
Vgl. Rötgers 1995, 146
137
ebd.
138
Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143
139
Kraemer 1995, 145
140
Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143
141
Hinkmann 2002, 84
142
Alexy, zit. aus Hinkmann 2002, 85
26
Die Regeln des idealen Diskurses, die auch bei der Begründung der Men-
schenrechte eine zentrale Rolle spielen, lauten:
Das transzendentale Argument besagt, dass Freiheit und Gleichheit der Mit-
sprecher Voraussetzungen des Sprechaktes der Behauptung sind147. Be-
hauptungen sind unerlässliche Bestandteile der allgemeinsten Lebensform
der Menschen148. Um einen Sprachakt als Behauptung betrachten zu kön-
nen, muss er mit einem Anspruch auf Richtigkeit verbunden sein. D. h., wer
etwas behauptet, erhebt einen Anspruch auf Richtigkeit und deswegen auf
Begründbarkeit149. Aus dem Anspruch auf Begründbarkeit folgt die Pflicht
des Behauptenden, das Behauptete auf Verlangen zu begründen150. Wer
etwas begründet, gibt vor, den anderen als gleichberechtigten Begründungs-
partner zu akzeptieren151. Wer sein ganzes Leben lang keine Behauptung
143
ebd.
144
Vgl. Edinger 2000, 20
145
Vgl. Hinkmann 2002, 86
146
ebd.
147
ebd., 87
148
ebd.
149
ebd.
150
ebd., 88
151
ebd.
27
Mit der Konzeption der allgemeinsten Lebensform meint Alexy, dass die not-
wendigen Bedingungen des Sprechaktes der Behauptung allen menschli-
chen Lebensformen gemeinsam sind. D. h., jede menschliche Lebensform
hat das Potential und eine gewisse Praxis, verschiedene Interessenkonflikte
argumentativ zu lösen, auch wenn das nicht in jedem Fall geschieht153.
Mit der empirische Prämisse des Interesses an Richtigkeit meint Alexy, dass
der Mensch mit einem sozial wirksamen Interesse an Richtigkeit bzw. Wahr-
heit ausgestattet ist, und damit aus moralischer Überzeugung in jeder Kon-
fliktsituation argumentiert, um zu einer richtigen Lösung zu gelangen154.
Die Konsensthese verbindet die Rechtmäßigkeit der Normen mit der hypo-
thetischen globalen Zustimmung des idealen Diskurses und rechtfertigt
grundsätzlich die Gleichheit der Diskursteilnehmer158. Die Demokratiethese
besagt, dass nur durch demokratische Prozesse die Diskursregeln und damit
152
ebd.
153
ebd., 90
154
Vgl. Brieskorn 1997, 158
155
ebd.
156
Vgl. Hinkmann 2002, 87
157
ebd.
158
ebd.
28
Alexy bekräftigt schließlich diese Sichtweise und weist darauf hin, dass Men-
schenrechte nur dann ordentlich verwirklicht werden können, wenn sie in po-
sitives Recht transformiert und in Bürgerrechte umgewandelt werden161.
Die Vertragsüberlegung ist seit dem Altertum - durch das sophistische Ge-
sellschaftsverständnis –, dem Mittelalter – durch den Herrschaftsvertrag –
und der Neuzeit – durch das Vertragskonzept – nachweisbar164.
Vertragstheorien finden sich bei Thomas Hobbes, John Locke, Jean Jacques
Rousseau und Immanuel Kant165. Die Vertragstheorien gehen davon aus,
dass in einem fiktiv vorstaatlichen Naturzustand alle Menschen zugleich
gleich und frei sind, aber angesichts der allgemeinen Unsicherheitssituation
entstehen die Vertragsverhandlungen166. Die zweckmäßige Rationalität der
Vertragspartner bestimmt die Verfahrensweise und das Ergebnis der Ver-
tragsverhandlungen167.
159
ebd.
160
ebd., 93
161
ebd.
162
Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1660
163
ebd.
164
Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9986
165
ebd.
166
ebd., 1987
167
ebd.
29
Der Vertrag des Kontraktualismus ist bei den Philosophen der Neuzeit kein
historisches Geschehnis, sondern eher ein Gedankengebäude169. Der Kon-
traktualismus ist deswegen keine deskriptive Lehre, durch die historische
Verfahren erklärt werden, sondern ein normativer Ansatz, der eine Begrün-
dung politischer Gewalt formuliert170. Bei den Denkern der Neuzeit ist die
politische Gewalt grundsätzlich begründungsbedürftig171. Die Legitimations-
instanz ist dieser Theorie nach weder Gott noch die Natur, noch die Traditi-
on, sondern eher der freie und rationale Mensch: nur auf seinen rationalen
Willen kann die politische Gewalt begründet werden172.
168
Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653
169
Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1654
170
ebd.
171
ebd.
172
ebd.
173
ebd.
174
ebd., 1655
175
ebd.
30
In diesem Kontext gilt die Kooperation der rationalen Vertragspartner als vor-
teilhaft, jedoch will jeder sich zugleich eine möglichst großen Beteiligung an
Ressourcen sichern180. Unter diesen Umständen entstehen zwei Vertei-
lungsprinzipien, die darin bestehen, dass einerseits allen Bürgern die glei-
chen politischen und zivilen Freiheitsrechte zustehen und andererseits, dass
die sozio-ökonomischen Ungleichheiten nur zumutbar sind, insoweit sie in
einer Ordnung fairer Chancengleichheit auch den am wenigsten Begünstig-
ten zugute kommen181.
176
Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9988
177
ebd.
178
Vgl. Kersting, Vertragstheorien 2003, 1659
179
ebd.
180
Vgl. Kühn 1984, 18
181
Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1662
182
ebd.
183
Edinger 2000, 18
31
sens- und Gedankenfreiheit, die Freiheit der Person und das Recht auf
Schutz vor willkürlicher Inhaftierung184.
• Durch das erste Prinzip wird das Grundgut der Freiheit für alle
184
ebd.
185
Vgl. Kühn 1984, 24
186
ebd.
187
Fuchs-Heinritz/Lautmann 1995, 487
188
Edinger 2000, 19
189
ebd.
190
ebd.
191
Kühn 1984, 22 ff.
32
gesichert
• Sicherstellung der Annehmbarkeit der schlechtest möglichen Position
• Allgemeine Anerkennung, weil jeder Vorteile daraus zieht, damit auch
Stabilität des Systems
• Förderung der Selbstachtung, weil jeder Mensch als Selbstzweck, und
nicht (wie beim Utilitarismus) als Mittel gesehen wird.
Weil Rawls Theorie der Gerechtigkeit nur auf das innergesellschaftliche Insti-
tutionssystem bezogen ist, hat Rawls seine Theorie auf die zwischenstaatli-
che Ebene gedehnt und damit nicht nur die Menschenrechte als verfas-
sungsrechtliche Grundrechte, sondern auch als Komponente des Völker-
rechts zu begründen versucht192.
Dieses Ziel verfolgt Rawls in „The Law of Peoples“, der überarbeiteten Fas-
sung einer Amnesty-International-Vorlesung aus dem Jahr 1993193. In die-
sem Werk erweitert Rawls sein Urzustandsmodell nicht im Sinne eines Indi-
vidualismus auf die globale Ebene mit der Folge, einen universalen
Umverteilungsgrundsatz zugunsten der schlechtest gestellten Menschen zu
verlangen; er formuliert vielmehr einen Prozess in zwei Ebenen, wobei jedes
Volk für sich faire Regeln entsprechend den Grundsätzen der Theorie der
Gerechtigkeit einrichtet194. Anschließend etablieren die Völker gemeinsame
Prinzipien, um miteinander umzugehen:
„(1) Peoples are free and independent, and their freedom and independence
are to be respected by other peoples; (2) Peoples are to observe treaties and
undertakings; (3) Peoples are equal and are parties to the agreements that
bind them; (4) Peoples are to observe a duty of non-intervention; (5) Peoples
have the right of self-defense but no right to instigate war for reasons other
than self-defense; (6) Peoples are to honor human rights; (7) Peoples are to
observ certain specific restrictions in the conduct of war; (8) Peoples have a
duty to assist other peoples living under unfavorable conditions that prevent
their having a just or decent political and social regime“.195
192
Vgl. Hinkmann 2002, 185
193
ebd.
194
ebd., 186
195
Rawls 1999, 37, zit. nach: Hinkmann 2002, 191
33
Tatsächlich ist für einen verhungernden Menschen ein Anspruch auf Aner-
kennung als Rechtsperson nicht viel wert: Ohne faire Nahrungsversorgung,
Ausbildungsmöglichkeiten, eine gerechte Einkommensverteilung, eine fun-
damentale öffentliche Gesundheitsvorsorge und sogar eine angemessene
Arbeitsmarktpolitik, sind die liberalen bürgerlich-politische Rechte für viele
Mitglieder einer politischen Gemeinschaft unwirksam200.
196
ebd., 192
197
ebd.
198
ebd.
199
ebd., 193
200
ebd.
34
„Menschenrechte im strengen Sinn des Wortes können nur Rechte sein, die
dem Menschen als solchem kraft seines Wesens als Träger höchster geisti-
ger und sittlicher Werte zukommen. Sie müssen also als vorstaatlich gege-
bene Rechte bestehen und können durch Positivierung in der staatlichen o-
der zwischenstaatlichen Rechtsordnung nur anerkannt und umschrieben,
nicht verliehen werden“202.
201
Vgl. Brieskorn 1997, 17
202
Friesenhan 1961, 504
203
ebd.
204
ebd., 505
205
ebd.
206
Vgl. Fritzsche, Menschenrechte, Paderborn 2004, 22
207
ebd.
208
ebd.
35
Das Recht auf Nahrung wird als Recht aller Menschen auf Zugang zu pro-
duktiven Ressourcen definiert. Beim Recht auf Nahrung handelt es sich nicht
hauptsächlich darum, mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden, sondern viel-
mehr darum, Menschen die Chance zu ermöglichen, sich selbst zu versor-
gen. Der Staat soll dafür geeignete Rahmenbedingungen gestalten, die es
den Menschen erlaubt, sich selbst zu ernähren211.
Die Erklärung über Fortschritt und Soziale Entwicklung von 1969 betont,
dass es eine Verpflichtung der Staaten ist, „Hunger und Unternährung zu
beseitigen und das Recht auf angemessene Ernährung zu gewährleisten“212.
Die Allgemeine Erklärung zur endgültigen Beseitigung von Hunger und Man-
gelernährung von 1974 weist darauf hin, dass jeder Mensch „das unveräu-
ßerliche Recht darauf hat, von Hunger und Mangelernährung befreit zu wer-
den, um sich frei entfalten und seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten
erhalten zu können“213, und sie betrachtet zugleich, dass die internationale
Gemeinschaft bereits über die erforderlichen Ressourcen verfügt und demzu-
folge in der Lage ist, die angestrebte Zielsetzung zu erreichen214.
209
Alston, 1984, 22
210
Vgl. Eide, Asbjørn 1995, 89
211
http://gpool.lfrz.at/gpool/main.cgi?rq=ed&etid=29&eid=67003&oid=699&th=1
212
UNO, Erklärung über Fortschritt und soziale Entwicklung, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten
Nationen in ihrer Resolution 2542 (XXIV) vom 11. Dezember 1969, II Art.10b:
http:// www. fao. Org/Legal/RTF/intl/intl_e.htm
213
http://www2.gtz.de/right-to-food/deutsch/akteure.htm
214
ebd.
36
Darüber hinaus wurde das Recht auf angemessene Ernährung in der Erklä-
rung über die Rechte der behinderten Menschen von 1975, die Vorschriften
des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Frau von 1979 und der Erklärung zum Recht auf Entwicklung von 1986 be-
kräftigt215.
Überdies bekräftigen die Erklärung über die Rechte des Kindes von 1959
und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 das Recht
jedes Kindes auf eine Lebensqualität, die die seelische, körperliche und so-
ziale Entfaltung des Kindes gewährleistet216.
215
http://www.gtz.de/right-to-food/download/WF_stand_depatte.pdf
216
ebd.
217
ebd.
218
ebd.
37
In der verabschiedeten Erklärung des World Food Gipfels im Juni 2002, wur-
de „the right of everyone to have access to safe und nutritious food“ aner-
kannt, und die UN-Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO
hat zuletzt durch einen Leitlinienkatalog im Jahr 2004 das Recht auf Nahrung
festgeschrieben220.
Obwohl das Recht auf Nahrung, wie schon kurz dargestellt, in zahlreichen
internationalen und regionalen Rechtstexten kodifiziert ist, blieb es lange Zeit
ignoriert, ein Charakteristikum, das es allgemein mit den anderen wirtschaft-
lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte teilte. D. h., das Recht auf
Nahrung wird nur als programmatisches Leitprinzip betrachtet, ohne in der
Praxis eine bedeutende Rolle zu spielen. Das Problem der Umsetzung des
Rechts auf Nahrung ist vergleichbar mit der Realisierung anderer sozialer
Menschenrechte, gegen deren Rechtscharakter Vorbehalte formuliert wer-
den. Weil diese Rechte nicht unmittelbar realisierbar erscheinen, könne es
sich um keine Menschenrechte handeln, sondern vielmehr um politische
Zielvorgaben, die lediglich eines Tages und unter bestimmten finanziellen
Voraussetzungen verwirklicht werden könnten. 221
219
ebd.
220
http.//www.vistaverde.de/news/Politik/0409/27_nahrung.php
221
Vgl. van Hoof 1984, 97 ff.
38
„Trotz Fortschritten sind immer noch über 850 Millionen Menschen unterer-
nährt, und jährlich sterben 10 Millionen, vor allem Kinder unter 5 Jahren, an
den Folgen von Unter- und Mangelernährung. Alle 6 Sekunden stirbt ein Kind
daran. So komplex die Ursachen von Armut und Hunger sind, so vielfältig
präsentieren sich auch die geeigneten Lösungsansätze. Patentrezepte gibt
es leider nicht. Nur eines ist sicher: Hunger ist nicht in erster Linie ein Ange-
bots- oder Produktionsproblem, denn weltweit wird genügend Nahrung her-
gestellt.“223
Schätzungsweise 1,2 Milliarden Menschen müssen pro Tag mit weniger als
einem US-Dollar auskommen. Etwa 1,3 Milliarden Menschen besitzen kein
sauberes Trinkwasser, 2 Milliarden leben unter schlechten sanitären Bedin-
gungen, und die Haushalte von 2 Milliarden – einem Drittel der Menschheit –
haben keinen elektrischen Strom. 852 Millionen Menschen sind unterernährt.
„More than one billion people are chronically hungry. Every year 13 to 18 mil-
lion people die as a result of hunger and starvation.
Every 24 hours, 35 000 human beings die as a direct or indirect result of
hunger and starvation - 24 every minute, 18 of whom are children under five
years of age.
No other disaster compares to the devastation of hunger. More people have
died from hunger in the last two years than were killed in World War I and
World War II together”.225
222
www.verbraucherministerium.de/index-00022AF443241154A9F26521C0A8D8.htm
223
FAO, Landwirtschaft: Horizont 2010, Doc. C 9324, Rom 1993, 1: http:// www. Fao.org/Legal/RTF/intl_e.htm
224
Vgl. Allgemeine Bemerkung Nr. 12 E/c.12/1999/ 5: www.fao.or/Legal/RTF/intl.intl-e.htm
225
United Nations, Right to adequate food as a human right, New York 1995. In:
www.un.org/rights/HRToday/hrbiblio.htm
226
von Blanckenburg 1986, 50
39
227
ebd.
228
ebd., 58 ff.
229
ebd.
230
Horber 2000. In: http: // www.humanrights.ch/cms/pdf/001012_horber.pdf
231
FAO 1977. Zit. nach: von Blanckenburg 1986, 61
40
Die Welt ist voller Überflussbeispiele. Worldwatch hat errechnet, dass jährlich
75 Milliarden Dollar für Luxusgüter wie Make Up, Parfüms, kulinarische Vor-
lieben, Kreuzfahrten oder Eiscreme ausgegeben werden, während für die
Gesundheitsvorsorge von Frauen, die Beseitigung von Hunger und Unterer-
nährung, sauberes Trinkwasser, die Impfung von Kindern und den Kampf
gegen den Analphabetismus 47,3 Milliarden nötig wären. Allein die Gelder,
die dem Mineralwasser und Hundefutter in den Industrieländern zugewiesen
232
www.vistaverde.de/news/Politik/0301/15 hunger.htm
233
Vgl. www.awitness.org/journal/mythen_hunger.html
234
www.worldwatch.or/pubs.drew/2004
235
ebd.
41
werden, könnten das Problem des Hungers und des Trinkwassers von zwei
Drittel der Menschheit lösen236.
236
www.worldwatch.or/pubs/sow/2004
237
Sangmeister, Armut, 2003, 4328
238
ebd.
239
ebd., 4329
240
ebd.
241
ebd.
242
ebd., 4330
243
ebd.
244
ebd., 4331
42
Zur Zeit sind die Entwicklungspolitikexperten sich einig, dass zur Bewältigung
des Armutsproblems in Entwicklungsländern wenigstens zwei Strategien mit-
einander verknüpft werden müssen: (1) eine Wirtschafts- und Finanzpolitik,
die auf Wachstum gerichtet ist; (2) spezielle Programme, um die Verdienst-
möglichkeiten der Armen zu steigern 248.
Ein Kampf gegen die Massenarmut muss als ethischer Imperativ verstanden
werden; aber auch unter funktionalen Kriterien erlangt die Armutsbekämp-
fung ein zentrales Signifikat, weil Ernährung, Gesundheit, Bildung sowie die
Erfüllung anderer Grundbedürfnisse Bedingungsfaktoren von Produktivität
und wirtschaftlicher Dynamik sind250.
245
ebd., 4332
246
United Nations Development Programme, Human Development Report 1991, 90. Zit. nach: Sangmeister 2003,
4334
247
Thibaut 2003, 7997
248
Sangmeister, Armut, 2003, 4335
249
ebd.
250
ebd., 4336
43
Die Landwirtschaft spielt hier eine große Rolle, weil das Ziel der Industrielän-
der darin besteht, eine globale Arbeitsteilung zu verwirklichen253. Unter die-
sen Umständen müssen die Peripherieländer besonders landwirtschaftliche
und mineralische Primärprodukte zum Export produzieren, während die Zent-
ralländer Industriegüter erzeugen. Die Orientierung der Nahrungsproduktion
auf den Export hindert die Peripherieländer daran, die Mangelernährung ihrer
Bevölkerung zu beseitigen254.
251
von Blanckenburg 1986, 63
252
ebd.
253
ebd.
254
ebd., 64
255
von Blanckenburg 1986, 64
44
Frances Moore Lappé und Joseph Collins behaupten in ihrem Buch „Food
First“ (1978), dass jedes Land in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernäh-
ren259. Die Nahrungsversorgung der einheimischen Bevölkerung gelingt den
Entwicklungsländern nicht, weil zwischen der Oligarchie der Entwicklungs-
länder, den multinationalen Konzernen und den Interessenvertretungen der
Industrieländer ein Bündnis besteht260. Eliten und multinationale Konzerne
verfügen über den Einsatz von Land, Arbeitskräften, Kapital, Kredit, Techno-
logie und Forschung ausschließlich, um ihr eigenes Bestreben nach Profit zu
befriedigen261.
„Besonders liegt Collins und Lappé daran, zu zeigen, wie die reichen Natio-
nen ihre internationale wirtschaftliche Machtstellung und auch ihre Entwick-
lungshilfeprogramme nutzen, um eine Kontrolle über die Agrarmärkte der
Dritten Welt zugunsten ihrer eigenen Wirtschaft zu gewinnen. Diese Überle-
gungen führen sie zu dem Schluss, das primär nicht die Entwicklungsländer,
sondern die reichen Länder für den Hunger in der Dritten Welt verantwortlich
sind. Sie folgern daraus, dass zur Lösung des Problems eine stärkere Ab-
koppelung der Entwicklungsländer vom internationalen Austausch erforder-
lich ist und dass dort der Nahrungsproduktion erste Priorität mit dem Ziel der
Selbstversorgung – ‚Food First’ - zuerkannt werden muss“.262
256
ebd., 66
257
ebd.
258
ebd., 67
259
ebd., 68
260
ebd.
261
ebd., 69
262
ebd.
45
Susan George behauptet in ihrem Buch „How the Other Half Dies“ (1976),
dass die Menschen in der Dritten Welt verhungern, weil sie arm sind. Die
Ungleichheiten im Landbesitz werden als Hauptgrund der Armut ausgewie-
sen. Die Lebensmittel sind teuer, weil die Preise vom Landbesitzer und letzt-
lich vom Weltwirtschaftssystem bestimmt werden263.
Die Gründe für Armut und Hunger liegen nicht nur in den betroffenen Län-
dern, sondern auch in den fehlerhaften Normen des internationalen Handels.
Der Protektionismus der Industrieländer hindert die Entwicklungsländer dar-
an, ihre Produkte zu exportieren und damit den Handel als Motor der Ent-
wicklung einzusetzen265.
„So hat die UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in einer
vielbeachteten Studie im letzten Jahr aufgezeigt, dass der Dritten Welt allein
bei den arbeitsintensiven Industrien aufgrund anhaltender Handelsschranken
jährlich 700 Milliarden Dollar an Exporterlösen verloren gehen – von der
Landwirtschaft ganz zu schweigen. Diese Summe entspricht mehr als dem
Doppelten der jährlichen öffentlichen und privaten Mittelflüsse der reichen
Länder und der multilateralen Organisationen in die Empfängerländer“.266
263
ebd., 70
264
ebd.
265
Horber 2000, 2. In: http:// www.humanrights.ch/cms/pdf/00101012_horber.pdf
266
ebd.
46
Verschuldung ist die Bezeichnung für die staatliche Kreditaufnahme auf dem
globalen Kapitalmarkt, deren Gesamtbetrag als problematisch betrachtet
wird, wenn der Schuldendienst eine große Portion an den Exporteinnahmen
ausmacht und die Chancen eines Landes einschränkt, die Devisen für inlän-
dische Investitionen einzusetzen. Zur Verschuldungskrise kommt es, wenn
ein Land zahlungsunfähig wird267.
Seit Anfang der achtziger Jahre hat der explosionsartige Anstieg der Zinssät-
ze dazu geführt, dass die Länder der Dritten Welt nicht mehr in der Lage wa-
ren, ihre Schulden zu tilgen. In dieser Zeit begann der Lebensstandard in den
verschuldeten Ländern drastisch zu sinken, und die Nahrungslage ver-
schlimmerte sich vielfach. 268
Dem Buch „Ökonomie für den Menschen“ von Amartya Sen zufolge ist der
Hunger weniger das Ergebnis von Nahrungsmittelknappheit als vielmehr das
Ergebnis eines Verteilungsproblems im Sinne eines unzureichendes Zu-
gangs zu den Nahrungsmitteln269.
„Menschen leiden Hunger, wenn sie ihr Zugangsrecht auf eine angemessene
Nahrungsmenge nicht wirksam machen können.“270
Sens Ansatz lautet : Hunger und Fehlernährung sind niemals lediglich ein
Problem der Menge an Nahrungsmitteln271. In seiner Analyse und für seinen
Lösungsansatz erscheint der Begriff „entitlement“, der als Verwirklichungs-
chance bzw. Verfügungsmacht über Güter, Dienstleistungen oder Rechte
267
Vgl. Boeck 2003, 9973
268
Vgl. Sangmeister 2003, 5673
269
Vgl. Sen 2003, 9 ff.
270
Sen 2003, 253
271
Wagner, Entwicklung als Freiheit. In: www.inwent.org/ E+Z/1997-2002/ez400-7.htm
47
verstanden wird272. Wenn Menschen verhungern, dann ist der Fakt, dass
Lebensmittel auf dem Markt vorhanden sind, unerheblich. Menschen leiden
an Hunger, obwohl Lebensmittel zu ihrer Versorgung beschaffbar wären273.
272
ebd.
273
ebd.
274
Sen, Zit. nach: www.iz3w.org/i23w/ausgaben/244/LP_s19.html
275
ebd.
276
ebd.
277
ebd.
278
ebd.
48
und menschlichen Kapitals loszulösen, doch schließt sie sehr viel mehr ein
und geht weit über diese Variablen hinaus“279.
Bei der Interdependenz von Freiheit und Entwicklung manifestiert sich die
Freiheit sowohl in
• Prozessen, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermöglichen,
als auch in
• realen Chancen, die die Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Umstän-
de haben283
Individuelle Freiheit hat eine eminente Bedeutung für die Entwicklung. Sie
verstärkt sowohl die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu helfen als auch
auf die Welt einzuwirken, und beides ist für den Entwicklungsprozess uner-
lässlich286.
279
Sen 2003, 350
280
Vgl. Sen 2003, 347
281
ebd.
282
ebd.
283
www.iz3w.org./i23w/ausgaben/244/LP_s19.html
284
ebd.
285
ebd.
286
Vgl. Sen 2003, 50
49
Hier zeigt sich simultan der funktionelle Charakter der Freiheiten, weil ihre
Erweiterung den Aufschwung fördert und die Entwicklung voranbringt287.
Freiheit ist somit Mittel und Zweck der Entwicklung, wobei fünf relevante
Grundfreiheiten unterschieden werden:
Der erste Entwicklungsschritt ist nicht die Bekämpfung von Armut und Elend,
sondern der Vorrang grundlegender Freiheitsrechte289. Obwohl eine Demo-
kratie kein automatisch wirkendes Heilmittel darstellt, erhöht sie die unmittel-
baren Verwirklichungschancen der Menschen, wobei politische und soziale
Partizipation eingeschlossen werden290.
Der freie Zugang zum Markt repräsentiert einen bedeutenden Beitrag zur
Entwicklung291. Besonders wichtig ist der freie Zugang zum Arbeitsmarkt. Die
Verweigerung dieser Freiheit ist ein Mittel, um Menschen in Abhängigkeit zu
halten. Ähnliches gilt für den freien Zugang zu den Warenmärkten: Beson-
ders in der Dritten Welt leiden viele Kleinbauern und Kleinproduzenten
darunter, dass strukturelle Beschränkungen ihnen diese Freiheit blockieren.
Staatliche Eingriffe und Regulierungen sind deswegen nicht nur legitim, son-
dern auch erforderlich292.
Der Marktmechanismus ist nur dann erfolgreich, wenn die gebotenen Chan-
cen einigermaßen gleich verteilt sind293. Um das zu ermöglichen, sind der
Zugang zu angemessener Nahrung, elementarem Schulunterricht, medizini-
scher Grundversorgung ausschlaggebend. Deshalb muss der Marktmecha-
nismus durch eine gerechte Verteilung der sozialen Chancen ergänzt wer-
287
ebd., 51
288
Sen 2003, 52
289
Sen 2003, 181
290
ebd.
291
Vgl. Sen 2003, 139 ff.
292
ebd.
293
Vgl. Sen 2003, 177ff.
50
Soziale Sicherheit, die gleichzeitig Ziel und Mittel der Entwicklung darstellt,
wird durch Sozialversicherungen garantiert298. Diese Mechanismen verhin-
dern, dass die betroffenen Menschen in extreme Armut oder Hungersnot ge-
raten299. Zu dem Bereich der sozialen Sicherheit zählen Arbeitslosenunter-
stützung, ein Mindesteinkommen für Mittellose, Soforthilfen bei Hungersnö-
ten oder befristete Beschäftigungsprogramme, um den Bedürftigen ein Ein-
kommen zu verschaffen300.
Sen versuchte zu beweisen, dass Hunger weniger mit der Menge der produ-
zierten Nahrungsmittel zu tun hat, als mit den ökonomischen Prozessen, die
Angebot, Preis und Einkommen und damit ihre Verteilung bestimmen301.
“The starving person who does not have the means to command food is suf-
fering from an entitelment failure, and the causal antecedents of this may lie
in factors far away from food production as such. In each social and eco-
294
ebd.
295
Vgl. Sen 2003, 196 ff.
296
ebd., 224
297
ebd.314
298
Sen 2003, 120 ff.
299
ebd.
300
ebd.
301
Vgl. Sen 2003, 248 ff.
51
nomic system there are rules governing the rights that people respectively
have to exercise command over food and other necessities.”302
2.2.8. Überbevölkerungsreduzierung
Henry Shue, häufig zitiert als Autor der Verpflichtungstrias des Staates den
Menschenrechten gegenüber, stellt sich in seinem Hauptwerk „Basic Rights“
die Frage, ob das Verhungern (starvation) als Mittel zur Bevölkerungskontrol-
le angewendet wird.
Nach Werner Maihofer ist das Erlebnis der totalen Wehrlosigkeit und der
Hilflosigkeit das, worin die Antastung der Menschenwürde besteht. Nach
dieser Anfassung könnte niemand zwischen der Verletzung der
Menschenwürde eines Folteropfers und der Verletzung der Menschenwürde
eines vom Hungertod Bedrohten unterscheiden304.
302
Sen/Dreze 1989, 274
303
Shue 1980, 98
304
Vgl. Barthel 1991, 17
305
Shue 1980, 101
306
file://F:/Überbevölkerung.htm
307
ebd.
52
Der Begriff der Überbevölkerung ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts von
Thomas Robert Malthus geprägt worden311. Die Bevölkerungstheorie von
Malthus erschien 1798 in seinem Buch Essay on the Principles of Population.
Zentrale Überlegung von Malthus war die Überbevölkerung als Problem der
Ökonomie und der Gesellschaft. Durch wirtschaftliches Wachstum kann die
Bevölkerung wachsen, bis sie an die Grenzen der Tragfähigkeit der Erde
stößt312.
Die Malthussche Katastrophe ist jedoch nicht eingetreten314. Durch den Ein-
satz von Maschinen, Hochertragssorten und Pestiziden wurde ein gewaltiger
Produktivitätsaufschwung möglich, der die Annahme von Malthus widerlegt.
Zwischen 1950 und 1990 hat sich die Weltbevölkerung zwar verdoppelt, aber
die Nahrungsmittelproduktion hat sich vervierfacht. Also existiert Hunger
nicht deshalb, weil es nicht genügend Lebensmittel gibt. Die Produktion
reicht sogar aus, mehr als das doppelte der aktuellen Weltbevölkerung zu
308
ebd.
309
ebd.
310
ebd.
311
Vgl. Schmidt In: Oesterdiekhoff 2001, 438ff.
312
ebd.
313
ebd.
314
www.epo.de/specials/foodmarkets.htm
53
ernähren. Das eigentliche Problem beim Hunger ist nicht die Menge der Nah-
rungsmittel, sondern die Verteilung315.
Bei den großen Hungerkatastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts gab es
weltweit und im betroffenen Land genügend Nahrungsmittel316. 1845 starben
in Irland ungefähr eine Million Menschen den Hungertod, aber nicht deshalb,
weil es zu wenig zu essen gegeben hat. Die irischen Landbauern hatten
Fleisch und Mehl als Steuer an die englischen Landherren und die Kirche
abzugeben. Nur die Kartoffel blieb ihnen als Grundnahrungsmittel. Es kam
zur Katastrophe, als eine Braunfäuleepidemie um sich griff, die fast die ge-
samte Kartoffelernte vernichtete317.
In ihrem Bericht für das Jahr 2003 schätzte die FAO, die Food and Agricultu-
ral Organization (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
Nationen), dass 2001 mehr als 30 Millionen Menschen verhungert sind319.
Vor allem Kinder: Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Hunger in der Welt320.
Die Zahl der Menschen, die im gleichen Zeitraum an chronisch schwerer Un-
terernährung litten, beziffert die UN-Organisation mit mehr als 852 Millio-
nen321. Eine Folge von Unterernährung ist die Blindheit. Seit 1980 erblinden
jedes Jahr im Durchschnitt sieben Millionen Menschen322.
315
ebd.
316
ebd.
317
ebd.
318
ebd.
319
www.hungerseite.com/welternaehrungstag.htm
320
ebd.
321
ebd.
322
ebd.
54
higkeit der Erde bereits erschöpft sei, vielmehr ist der Hunger in der Welt
durch politische Fehlleistungen verschuldet323.
„Längst werden die Vorteile der Marktwirtschaft durch dessen Nachteile auf-
gewogen. Die Finanzmärkte stehen vor dem Zusammenbruch, die Umwelt
droht zu kollabieren. Und weil nicht genug Platz für alle Menschen ist, formu-
liert eine Kommission einen ungeheuerlichen Vorschlag: Die globale Markt-
wirtschaft sei nur zu retten, wenn die Weltbevölkerung auf vier Milliarden
Menschen reduziert wird. Da die Genozidsysteme der Vergangenheit zu pri-
mitiv, kostspielig und ineffizient waren, muss eine andere Lösung her. Die
moderne Opferselektion soll nach Kriterien wie Inkompetenz, Armut und
Faulheit, kurz: Verlierertum erfolgen. Kriege, Seuchen und Hungersnöte sol-
len den Vernichtungsprozess beschleunigen. Die Kommission befürwortet
beispielsweise, das Hungerproblem der Dritten Welt nicht zu lösen, sondern
es zu fördern. Weitere Vorschläge umfassen eine präventive Senkung der
Geburtenrate in Verbindung mit einer drastischen Erhöhung der Sterberate,
um einer Verschwendung der raren Öko-Ressourcen entgegenzuwirken. Als
geeignete Instrumente empfehlen sich Weltbank und Weltwährungsfonds,
die diese Entwicklung mit Marktliberalisierungen ohnehin gefördert hät-
ten...“324
Der „Lugano Report“ von Susan George ist zwar erdacht, aber die im Roman
dargestellte Problemstellung wird längst von der Realität überholt: Menschen
verhungern, verdursten oder erfrieren aus Mangel an Nahrung, Wasser und
anderen Ressourcen. Logisch betrachtet, ist die dramatische Reduzierung
westlicher Entwicklungshilfe ein gezielt eingesetztes Mittel.
323
Vgl. Shue 1980. 99 ff.
324
Zitiert nach: http://www.tadema.de/aktuell/lugano.html
55
325
www.tadema.de/aktuell/lugano.html
326
www.wfp.org
327
www.vistaverde.de/news/Politik/0306/27_kinder.htm
328
ebd.
329
ebd.
330
ebd.
331
ebd.
56
„More than 20 Million low birth-weight babies are born in the develop-
ing world every year. These babies faced icreased risk of dying in in-
fancy, while those who survive often suffer lifelong physical and cogni-
tive disabilities.”332
Bezogen auf den Welternährungsgipfel von Rom im Jahre 1996 und seinen
Beschluss, die Zahl der Hungernden bis 2015 um die Hälfte zu verringern, ist
SOFI 2004 ein Bericht zum Stand der Erfüllung dieser Zielstellung336.
Die Bekämpfung des Hungers ist nicht nur ein ethischer Imperativ, sondern
auch eine ökonomische Notwendigkeit338.
332
www.fao.org/newsroom/en/news/2004/5189.html
333
ebd.
334
ebd.
335
www2.gtz.de/right-to-food/
336
ebd.
337
ebd.
338
www.vistaverde.de/news/Politik/0401/67_hunger.htm
57
Zentrale Bedingung für eine Strategie gegen die Nahrungsdefizite ist ein
wirksames Wassermanagement, weil die Bewässerungslandwirtschaft drei-
mal so hohe Erträge wie die Regenlandwirtschaft erbringt342. Eine weitere
Maßname liegt in der Erweiterung der ländlichen Infrastruktur: von Straßen,
See- und Flughäfen, Lagerhallen, Märkten und Anlagen zur Lebensmittelver-
arbeitung343. Auf diese Art und Weise können die Landwirte Zugang zu mo-
dernen Rohstoffen erlangen und ihre Produktion zu wettbewerbsfähigen
Preisen vermarkten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den Marshallplan, wodurch die europäi-
sche Infrastruktur wiederaufgebaut werden konnte. Und auch die EU hat offi-
ziell das Ziel, den Rückstand der neuen Mitgliedsstaaten in diesem Bereich
zu entlasten. In dieser Hinsicht sollte die Dritte Welt mehr Entwicklungshilfe
für geeignete Infrastruktur dadurch erlangen, dass sie vorankommen kann344.
2.4. Begriffsbestimmungen
339
ebd.
340
ebd.
341
ebd.
342
ebd.
343
ebd.
344
ebd.
58
Ernährung ist das Fundament für die Lebenserhaltung des Menschen. Sie
steuert ausschlaggebend sein körperliches, geistiges und soziales Wohlbe-
finden347. Der bewusste Umgang mit Nahrung ist eine Dimension der
menschlichen Kultur348.
Eine ungenügende oder falsch zusammen gestellte Ernährung wird als Man-
gelernährung bezeichnet349. Fehlerernährung durch zu reichhaltige Nah-
rungszufuhr wird Überernährung genannt350. Die Fehlernährung bzw. der
Mikronährstoffmangel (qualitative Mangelernährung) ist eine häufige Form
unzureichender Ernährung, die in einer Unterversorgung mit Vitaminen und
Mineralien besteht. Überernährung (qualitative Mangelernährung) ist ein Ü-
bermaß an Energie, häufig in Form von Fett, das meist zugleich mit einer
geringen Aufnahme von Vitaminen, Mineralien oder Ballaststoffen auftritt351.
345
Vgl. von Blanckenburg 1986, 73
346
ebd.
347
ebd.
348
ebd., 74
349
ebd., 83
350
ebd.
351
ebd.
352
ebd.
353
ebd., 84
59
Hunger ist eine Empfindung, die bei Nahrungsentzug auftritt, wenn ein be-
stimmtes Glykogenniveau in der Leber unterschritten wird. Das Gefühl ent-
steht im Hypothalamus und wird durch Rezeptoren in Leber und Magen aus-
gelöst. Das Hungergefühl wird durch den Nahrungszufuhr gemildert oder be-
seitigt356.
Eine Hungersnot bezeichnet einen Zustand in einer Region oder einem gan-
zen Land, in dem große Teile der Bevölkerung keine ausreichende Ernäh-
rung erhalten359. Gegenbegriff der Hungersnot ist die Ernährungssicherheit,
d. h. der Zugang aller Menschen zu jeder Zeit zu Nahrung, um ein aktives
und gesundes Leben führen zu können360.
354
ebd.
355
ebd., 85
356
ebd.
357
ebd., 86
358
ebd.
359
ebd., 95
360
http://earthsave.de/printable/zernaehrung/welthunger.html
361
ebd.
60
„Mehr als 10 Millionen Kinder sterben jährlich, bevor sie 5 Jahre alt werden.
99 Prozent von ihnen lebten in Armut, die Hauptursache von Unterernährung
und Krankheit. Etwa zwei Drittel der Kinder - rund 7 Millionen – könnten mit
Nahrungsmitteln und vorhandenen Medikamenten gegen Durchfall, Malaria
oder Lungenentzündung für vergleichsweise wenig Geld gerettet werden“.363
Hier stellt sich die Frage, ob das massive Verhungern auf eine mangelnde
Verankerung dieses Menschenrechts zurückzuführen ist. Deshalb ist Ziel des
folgenden Kapitels, die Stellung des Rechts auf Nahrung im Kontext der völ-
kerrechtlichen Menschenrechtscharta zu analysieren.
362
Partsch 1991, 547
363
www.thelancet.com
61
Die alte Vorstellung, die das Handeln des Staates gegenüber seinen Bürgern
in dessen ausschließliches Kriterium stellte, hat sich nach dem zweiten Welt-
krieg verändert, weil die Menschenrechte internationalisiert wurden. In der
Charta der Vereinten Nationen von 1945 wurde die Achtung der Menschen-
rechte zu einer der Säulen der internationalen Gemeinschaft erhoben, wo-
durch die Nationen der Welt verpflichtet wurden, die Menschenrechte zu res-
pektieren, zu schützen und zu fördern. Die UN-Charta umfasst zwar keine
explizite Menschenrechtsliste, aber die Achtung der Menschenrechte wurde
nicht nur als eines der Grundziele der Vereinten Nationen, sondern auch als
unbedingte Voraussetzung des Weltfriedens proklamiert364.
3.1.1. Entstehungsgeschichte
Im Kontext des Zweitens Weltkrieges und wegen des Kollapses des Genfer
Völkerbundes als Institution der Friedensstrategie dachten führende Politiker
des Anti-Hitler-Bündnisses darüber nach, wie ein dauerhafter Frieden er-
reicht werden könnte. Im Ergebnis dieser Überlegungen entstand die Idee
der Vereinten Nationen (VN) als neue und effizientere Weltfriedensorganisa-
tion365.
Die Atlantik-Charta
Einer der ersten Schritte zur Gründung der VN fand am 14. August 1941 auf
dem Schiff HMS „Prince of Wales“ mit der Unterzeichnung der Atlantik-
Charta durch den amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt
und den britischen Premierminister Winston Churchill statt. Mit diesem Do-
kument wurden eine Serie von Richtlinien zur Aufrechterhaltung des Frie-
dens und der Sicherheit aufgestellt366.
364
Vgl. Blumenwitz 1991, 175 ff.
365
www.unis.unvienna.org./unis/de/library_20040430.html
366
www.derblaueplanetistrund.de/hauptseite/fakten/texte/vereinte_nationen.htm
62
„Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der Premierminister
Churchill, der die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich ver-
tritt, sind zusammengetroffen und halten es für richtig, gewisse Grundsätze
der nationalen Politik ihrer Länder bekannt zu geben, auf die sie die Hoffnung
für eine bessere Zukunft der Welt gründen.
(...)
5. Sie erstreben die größtmögliche wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Völ-
ker mit dem Ziel, allen Menschen bessere Arbeitbedingungen, wirtschaftli-
chen Aufstieg und soziale Sicherheit zu bieten.
6. Nach der endgültigen Zerstörung der Nazi-Herrschaft erhoffen sie die Ges-
taltung eines Friedens, der es allen Völkern ermöglicht, innerhalb ihrer Gren-
zen in Frieden zu leben und der allen Menschen in allen Ländern frei von Not
gewährleistet.“ 367
367
www.mitteleuropa.de/atlantikcharta01.htm
368
Vgl. Weber 1991, 113
369
ebd.
370
ebd.
63
Jalta
Am 11. Februar 1945 deklarierten Roosevelt, Churchill und Stalin nach der
Konferenz von Jalta ihren Entschloss, ein internationales Friedensbündnis
zur Erhaltung von Frieden und Sicherheit zu gestalten372.
„Wir sind entschlossen, so schnell wie möglich, gemeinsam mit unseren Alli-
ierten, eine allgemeine internationale Organisation zur Aufrechterhaltung von
Frieden und Sicherheit zu schaffen. Wir sind der Ansicht, dass dies wesent-
lich ist, um so durch dauernde enge Zusammenarbeit aller friedliebender
Völker Angriffskriege zu verhindern sowie die politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Kriegsursachen zu beseitigen. (...) Durch diese Erklärung be-
kräftigen wir von neuem unseren Glauben an die Grundsätze der Atlantik-
Charta, unser Gelöbnis in der Erklärung der Vereinten Nationen und unsere
Entschlossenheit, im Zusammenwirken mit anderen friedliebenden Nationen
eine Weltordnung des Rechts zu schaffen, gewidmet dem Frieden, der Si-
cherheit, der Freiheit und der allgemeinen Wohlfahrt der Menschheit.“373
Am 25. April 1945 trafen fast 300 offizielle Delegierte von 50 Staaten im O-
pernhaus von San Francisco zusammen374. In zwei Monaten wurde die 111
Artikel zählende Charta verfasst und am 26. Juni 1945 wurde sie im Theater-
saal des „Veteran War Memorial Building“ von San Francisco unterzeich-
net375. Am 24. Oktober wurden die Vereinten Nationen gegründet, nachdem
ihre Charta von der Mehrheit der Unterzeichner ratifiziert worden war376.
Vorrangiges Ziel der Charta der Vereinten Nationen ist die Erhaltung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit377. Um die Entstehung von
Konflikten zu verhüten, die den Weltfrieden in Gefahr bringen, erklären sich
die Mitgliedsstaaten geneigt, bei der Förderung des wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Aufstiegs und der Realisierung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten zusammenzuarbeiten378.
371
www.udhr.org/history/dumbarto.htm
372
www.kssursee.ch/schuelerweb/kalter-krieg/entstehung/jalta-ergebnisse.htm
373
ebd.
374
www.stern.de/politik/ausland/index.html
375
ebd.
376
ebd.
377
Vgl. Randelzhofer 1991, 1151 ff.
378
ebd.
64
Die in der Präambel erklärten Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen
sind in Art. 1 und Art. 2 der UN-Charta niedergelegt.
379
Vgl. Riedel 2004, 13
380
ebd.
381
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte Dokumente und Deklarationen, Bonn 2004, 42
65
Hinsichtlich der UN-Charta stellt sich erneut die Frage, ob diese Ziele nur ein
politisches Programm repräsentieren bzw. ob es bei den Zielen um unmittel-
bar anwendbares Recht geht382. Die Ziele der UN-Charta sind kein unmittel-
bar anwendbares Recht383. Sie sind als Ziele definiert, weil auf ihre Verwirkli-
chung erst hinzuwirken ist384. Ein weiteres Argument dafür ist die systemati-
sche Unterscheidung der Ziele des Art. 1 von den Grundsätzen des Art. 2,
die als verbindliche Rechtsgrundlagen der UN ausgestaltet sind385. Außer-
dem können die Ziele Bedeutung erlangen, falls sie im Zusammenhang mit
verbindlichem Recht der Charta hingewiesen werden, nämlich, sie wirken
sich bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen einzelner Vorschriften
aus, die dafür zugänglich sind386.
Die in Artikel 1 bestimmten Ziele der UN sind: (1.1) die Aufrechterhaltung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit; (1.2) die freundschaftlichen
Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln; (1.3) die Herbeiführung
einer internationalen Zusammenarbeit bei der Lösung wirtschaftlicher, sozia-
ler, kultureller und humanitärer Probleme, (1.4) ein Mittelpunkt zu sein, in
dem die Bestrebungen der Nationen zur Realisierung der gemeinsamen
Endziele vereinheitlicht werden können387.
Art. 1 (3) der UN Charta vom 26. Juni 1945 legt als Ziel die Notwendigkeit
fest, dass die Staatsmitglieder zur Überwindung wirtschaftlicher, sozialer und
kultureller Fragen zusammenarbeiten388.
382
Vgl. Randelzhofer 1991, 1151 - 1158
383
ebd.
384
ebd.
385
ebd.
386
ebd.
387
Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Menschenrechte Dokumente und Deklarationen, Bonn 2004, 42 ff.
388
Vgl. Köhler 1991, 792 ff.
66
Zur Erreichung dieses Zieles sind die entsprechenden Grundsätze des Art. 2
der UN Charta statuiert389. Auch wenn Ziele und Grundsätze der Vereinten
Nationen keine rechtsbindende Verpflichtung sind, stellen sie die
verfassungsrechtliche Grundlage der Aktivitäten der VN dar390.
Das Ziel des Art. 1 (3) erreicht jedoch durch Art. 55 (b) und 56 UN-Charta
den Rang eines rechtlichen Gebots dadurch, dass alle Mitgliedsstaaten sich
verpflichten, die Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer
und kultureller Natur zu fördern391.
Unter denjenigen Normen der VN-Charta, die sich auf wirtschaftliche und
soziale Probleme beziehen, steht Art. 55 (a) und (b) im Mittelpunkt393. Der
Grund dafür besteht darin, dass Art.55 in Verbindung mit Art. 1 die Aufträge
der VN sehr viel konkreter erwähnt und – im Vergleich mit Art.56 – die
rechtsbindenden Pflichten der Mitgliedsstaaten sowie der VN intensiver ak-
zentuiert394.
Art. 55 beruht auf dem Gedanken, dass die Aufrechterhaltung des Weltfrie-
dens neben der Ächtung des Krieges auch Stabilität und Wohlfahrt voraus-
setzt395. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die VN-Charta wesentlich von
der Satzung des Völkerbundes396. Letztere ignoriert den angeführten Zu-
389
ebd.
390
ebd.
391
ebd.
392
ebd.
393
Vgl. Partsch 1991, 544 ff.
394
ebd.
395
ebd.
396
ebd.
67
Die Grundgedanken für eine Konzeption der Sozialen Frage wurden schon in
der Atlantik-Charta niedergelegt398. Sie deklarierte u. a., dass es eines der
Ziele Großbritanniens und der USA ist, eine intensive Zusammenarbeit aller
Nationen zu erreichen und für jedermann wirtschaftlichen Aufstieg und sozia-
le Sicherheit herbeizuführen399. In den Dumbarton Oaks Proposals ist bereits
eindeutig zu erkennen, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der Be-
wahrung des Weltfriedens und dem Zustandebringen von Vorbedingungen
für wirtschaftliche Stabilität und soziale Wohlfahrt beachtet wurde400. Auf der
Konferenz von San Francisco wurde gleichfalls ausdrücklich erklärt, dass die
ökonomische Ausgeglichenheit eine Voraussetzung für die Erhaltung des
Weltfriedens ist401. Zugleich wurde den Dumbarton Oaks Proposals jedoch
vorgehalten, dass die auf die wirtschaftliche und soziale Sphäre bezogenen
Ziele nicht ausreichend ausgearbeitet wurden402. Diesbezüglich wurden
grundsätzlich zwei Korrekturen vorgeschlagen: Zunächst forderte man eine
deutlichere Bezeichnung der sozialen und ökonomischen Ziele. Darüber soll-
ten die rechtsbindenden Pflichten der Mitgliedsstaaten genauer dargestellt
werden403. Funktion des Art. 55 (a) und (b) ist, die Formulierung von Art. 1 (3)
zu bekräftigen und auszubauen. Fakt ist jedoch, dass die Abfassung beider
Normen nicht vollkommen gleich ist404. Bezüglich Art. 55 umfasst die Präam-
bel Abschnitte äquivalenten Gedankengehalts, obwohl auch hier der Wortlaut
nicht ganz übereinstimmt405. Die angeführten Divergenzen im Text der ein-
zelnen Bestimmungen zu wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten ha-
ben jedoch in der Tätigkeit der VN keinen Stellenwert406.
397
ebd.
398
Vgl. Wolfrum 1991, 702 ff.
399
ebd.
400
ebd.
401
ebd., 705
402
ebd.
403
ebd.
404
ebd., 706
405
ebd.
406
ebd.
68
Obwohl sich Art. 55 und 56 der UN-Charta nicht explizit auf das Recht auf
Nahrung beziehen, nehmen sie wegen ihrer Bedeutung in der Praxis der
Vereinten Nationen eine zentrale Stellung ein407. Sie schufen die Basis für
den Kampf um die Durchsetzung dieses Rechts und die Formierung entspre-
chender Organisationen. Kraft Art. 55 der UN-Charta fördern die Vereinten
Nationen die Verbesserung des Lebensstandards, die Vollbeschäftigung und
die Implementierung von Voraussetzungen zum wirtschaftlichem und sozia-
lem Fortschritt408. Art 56 umfasst die Verständigung aller Mitgliedsstaaten
„gemeinsam und jeder für sich mit der Organisation zusammenzuarbeiten,
um die im Artikel 55 dargelegten Ziele zu erreichen“409.
In diesem Sinne wurde öfter betont,
407
ebd.
408
ebd.
409
ebd.
410
Windfuhr 2001, 9
411
Wolfrum 1991, 716
412
ebd.
413
ebd.
414
Vgl. Köhler 1991, 796
69
In diesem Sinne repräsentiert die AEMR „das von allen Völkern und Nationen
zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der
Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemü-
hen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und
Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale
Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung
durch die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten selbst wie auch durch die Bevöl-
kerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete zu gewährleisten“.419
Die AEMR repräsentiert gegenwärtig nicht nur eine moralische Plattform zur
Achtung der Freiheit und Würde von jedermann, sondern auch ein ständiges
Projekt, das die universelle Verwirklichung der Menschenrechte verlangt420.
In der Präambel der AEMR findet man die „Vier Freiheiten“ festgeschrieben,
wie sie nach einer Ansprache des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt
1941 formuliert wurde:
415
ebd.
416
ebd., 795
417
ebd.
418
Vgl. Hailbronner 2004, 214
419
Präambel der AEMR. In: bpb 2004, 54 - 55
420
Vgl. Eide 1992, 5
70
„da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und
Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste
Streben des Menschen gilt“421.
„We have come to clear realization of the fact that true individual freedom
cannot exist without economic security and independence. Necessitous men
are not free men. People who are hungry and out of jobs are the stuff of
which dictatorships are made.”423
Die von Franklin D. Roosevelt dargelegte „freedom from want“ stellt eine re-
volutionäre Innovation in der neuen humanitären Ordnung dar. Traditionelles
Denken wie beispielsweise „Naturrechte“ oder „Bürgerliche Rechte“ wurden
dokumentiert ohne Anspielung auf die Befriedigung grundlegender Bedürf-
nisse424.
Der große Beitrag der AEMR besteht also darin, dass sie die Basis der Men-
schenrechte dadurch erweitert hat, dass sie sowohl die bürgerlich-politischen
als auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte miteinander
interagieren und erstarken lässt425.
“Der einheitliche Menschenrechtskatalog der AEMR wird heute stets als ein
Indiz für die Gleichwertigkeit, die Ungeteiltheit und die Unteilbarkeit der Men-
schenrechte herangezogen.“426
Die Ziele und Grundsätze der UN-Charta zur Lösung wirtschaftlicher und so-
zialer Probleme erfahren ihre Vergegenständlichung im Art 25 (1) der AEMR:
421
bpb 2004, 54
422
Vgl. www.phil.euv-frankfurt-o.de/download/ 2004WS_Politische_Philosophie/Kapitel_09.pdf
423
Eide 1998,2
424
Vgl. Eide 1992, 385
425
ebd., 3
426
Klee 2000, 61
71
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie
Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Woh-
nung, ärztlicher Versorgung und notwendiger soziale Leistungen, sowie das
Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder
Verwirrung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel
durch unverschuldete Umstände.“427
Art 25 (1) AEMR geht über die Garantie eines bloßen Existenzminimums
hinaus, denn er schreibt nicht nur das Recht fest, frei von Hunger zu sein,
sondern auch den Anspruch auf ausreichende Nahrung für Gesundheit und
Wohlbefinden. Die ausreichende Ernährung wird als grundlegend für die
Würde und die freie Entfaltung des Menschen anerkannt430.
Trotz des zentralen Stellenwerts der AEMR konnte nicht erreicht werden,
dass sie als rechtsverbindliches Instrument verabschiedet wurde. Abschlie-
ßend wurde erklärt, die programmatische Substanz der AEMR in verbindli-
ches Vertragsrecht umzusetzen. So wurden 1966 sowohl der Internationale
Pakt über bürgerliche und politische Rechte als auch der Internationaler Pakt
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beschlossen431.
427
Menschenrechte, bpb 2004, 58
428
Vgl. Thibaut 2002, 16 ff.
429
ebd.
430
Vgl. Breining-Kaufmann 1990, 57 ff.
431
Vgl. Riedel 2003, 337
432
Vgl. Krennerich/Stamminger 2004, 5
72
Jahre, bis 1976 ihre erforderliche Ratifikation erfolgte433. Zur Zeit erlangen
beide Pakte einen globalen Rückhalt und Geltung.
433
ebd.
434
Vgl. Menschenrechte, bpb 2004, 59 ff.
435
ebd., 69 ff.
73
Der CESCR (Committee on Economic, Social and Cultural Rights), der für
die internationale Überwachung der wsk-Rechte zuständig ist, bemüht sich,
im konstruktiven Gespräch zu determinieren, ob die wsk-Rechte angemes-
sen angewendet werden und in welchem Ausmaß der Mitgliedsstaat die Um-
436
Vgl. Papenfuß 1993, 30 ff.
437
ebd
438
Vgl. Menschenrechte, bpb 2004, 86
439
ebd, 81 ff.
440
ebd.
441
Vgl. Pohl 2000, 76
442
Menschenrechte, bpb 2004, 65 ff.
443
ebd.
444
Vgl. Tomuschat 1991, 559 ff.
74
a) die Präambel sowie die Artikel 1, 13, 55, 56, 62 und 68 der UN-Charta und
b) Art. 22 bis 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte448.
Der IPwskR ist in fünf Teile gegliedert449. Teil I enthält nur einen Artikel, der
das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkennt450. Teil II bezieht sich mit
Artikel 2 bis 5 auf die allgemeinen Bestimmungen des Sozialpaktes451. Teil III
umfasst die Artikel 6 bis15, die die speziellen Bestimmungen der einzelnen
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bezeichnen452. Teil IV be-
stimmt in den Artikeln 16 bis 25 die Durchsetzungsmechanismen des
IPwskR, die Funktion der UN-Sonderorganisationen und die erforderliche
internationale Kooperation, um die Ziele des Paktes zu erreichen453. Die Prä-
ambel, die ähnlich der des Zivilpaktes formuliert ist, besteht allgemein aus
fünf Absätzen, in denen die Beweggründe zur Entstehung des Sozialpaktes
erwähnt werden454. Im Mittelpunkt der Präambel stehen die Menschenwürde,
der Gleichheitsgrundsatz sowie die Unveräußerlichkeit der sozialen Rechte,
die als Grundlage von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden in der Welt be-
trachtet werden455.
445
ebd.
446
ebd.
447
Vgl. Windfuhr, Parallelbericht Menschenrechte 2001, 26
448
Vgl. Partsch 1991, 583 ff.
449
Menschenrechte, bpb 2004, 59 ff.
450
ebd.
451
ebd.
452
ebd.
453
ebd.
454
ebd.
455
ebd.
75
Teil II457 definiert in den Art. 2 bis 5 die allgemeinen Bestimmungen des So-
zialpaktes. Artikel 2 enthält die Staatsverpflichtungen, die sich aus dem Sozi-
alpakt ergeben. In Art. 3 wird die Gleichberechtigung von Mann und Frau
betont und durch entsprechende staatliche Maßnahmen gewährleistet. Art. 4
bestimmt einen allgemeinen Gesetzvorbehalt, nämlich, die Umstände, unter
denen Einschränkungen bezüglich der garantierten Rechte erlaubt sind. Die-
se Einschränkungsklausel lässt den Mitgliedsstaaten einen gewissen Ermes-
sensspielraum zur Durchsetzung der wsk-Rechte458. Art. 5 umfasst das
Missbrauchsverbot sowie die Günstigkeitsklausel459. Das Missverbrauchs-
verbot verbietet jede Tätigkeit, die darauf abzielt, die wsk-Rechte weitgehend
zu beschränken bzw. abzuschaffen460.
456
Menschenrechte, bpb 2004, 60
457
ebd., 60 ff.
458
Vgl. Pohl 2000, 44
459
Menschenrechte, bpb 2004, 61
460
ebd.
461
ebd., 61 ff.
462
ebd., 65 ff.
76
Schließlich umfasst Teil V463 die Vorschriften, die sich auf Ratifikation und
Inkrafttreten des Sozialpaktes beziehen.
„Each State Party to the present Covenant undertakes to take steps, indi-
vidually and through international assistance and co-operation, especially
economic and technical, to the maximum of its available resources, with a
view to achieving progressively the full realization of the rights recognized in
the present Covenant by all appropriate means, including particulary the
adoption of legislative measures“465.
463
ebd., 67 ff.
464
Vgl. Craven 1995, 106
465
Art. 2 (1) IpwskR, zit. nach: Craven 1995, 106
466
Vgl. Craven 1995, 114
467
Vgl. Pohl 2000, 165
468
ebd.
77
469
ebd.
470
Craven 1995, 115ff.
471
Craven 1995, 131
472
ebd., 130
473
ebd.
474
ebd., 132
475
ebd.
476
ebd., 133 ff.
78
„The phrase ‘by all appropriate means’ must be given its full and natural
meaning (...) each State party must decide for itself which means are the
most appropriate under the circumstances with the respect to each of the
rights…”.478
Mit diesem Abschnitt soll also ebenso wie in den vorhergehenden Satzteilen
den Staaten größtmöglicher Ermessensspielraum bezüglich der Realisierung
der wsk-Rechte gegeben werden479.
Hier stellt sich die Frage, was unter “to the maximum of its available resour-
ces“ und insbesondere unter „resources“ zu verstehen ist, in Anbetracht der
Tatsache, dass der Ressourcenbegriff hinsichtlich des Rechtscharakters des
Art. 2 (1) bei der Realisierung der wsk-Rechte eine zentrale Rolle spielt480.
Nach der subjektiven Ressourcendefinition sind die verfügbaren Ressourcen
diejenigen, die der Staat für die Erfüllung des IPwskR zur Verfügung stellt481.
Diese Interpretation jedoch muss abgelehnt werden, weil ansonsten die Er-
füllung des Sozialpaktes ganz vom Willen des Staates abhängen würde und
somit von einer juristischen Pflicht keine Rede sein könnte. Nach der objekti-
477
Craven 1995, 115 ff.
478
Zit. nach: Craven 1995, 115 ff.
479
ebd.
480
Vgl. Klee 2000, 114 ff.
481
ebd., 124
79
Der Ansatz von Robertson besagt, dass ein Staat fünf unterschiedliche Res-
sourcen hat: menschliche, natürliche, technische, informationelle und finan-
zielle Ressourcen485. Alle diese Mittel stehen dem Staat zur Verfügung, um
die Pflichten des Sozialpaktes umzusetzen486. Nach dem Ressourcenkriteri-
um von UNICEF sind drei Ressourcenkonstellationen zu erkennen: mensch-
liche, organisatorische und finanzielle Ressourcen. Festzuhalten ist an dieser
Stelle, dass praktisch alle Mittel einem Staat zur Verwirklichung des Sozial-
paktes potentiell zur Verfügung stehen487.
Die soll denjenigen Staaten helfen, die auf Grund von Notumständen ihre
Pflichten nicht erfüllen können488. Außerdem bezieht sich dieser Satzteil nicht
nur auf die nationalen, sondern auch auf die internationalen Ressourcen489.
Der Grundsatz der internationalen Hilfe und Kooperation findet sich bereits in
Art. 3 (1), 55 und 56 der UN-Charta und in Art. 28 der AEMR, in Anbetracht
482
ebd.
483
ebd., 125
484
ebd.
485
ebd.
486
ebd.
487
ebd., 126
488
Vgl. Craven 1995, 144 ff.
489
ebd., 148
80
der Tatsache, dass die Verwirklichung der sozialen Rechte eine unbedingte
Kondition für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt darstellt490.
Dieses theoretische Modell wurde ursprünglich von Karel Vasak in den 70er
Jahren formuliert492, und es wird auch von den Vereinten Nationen vertreten.
490
Vgl. Craven 1995, 22
491
Craven 1995, 136 ff.
492
Vgl. Fritzsche 2003, 24 ff.
81
Bürgerrechte bis zur Mitte der 19. Jahrhunderts durch den europäischen
Kontinent und bildeten die erste Grund- und Menschenrechtsgeneration493.
Dazu gehören die bürgerlichen und politischen Abwehrrechte (beispielsweise
persönliche Freiheit und Integrität, Privatsphäre, Gewissens-, Religions- und
Meinungsfreiheit), deren Aufgabe es ist, die Bürger vor staatlichen Eingriffen
zu schützen, und die Gestaltungsrechte (oder Freiheitsrechte, wie z. B.
Wahl- und Stimmrecht, Petitionsrecht, gleiche Ämterzugänglichkeit, Vereins-,
Versammlungs- und Parteienfreiheit), die die Aufgabe haben, die Teilnahme
des Individuums an der politischen Willensbildung der Gesellschaft zu ge-
währleisten494. Zur ersten Generation zählen grundsätzlich die im Internatio-
nalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 enthaltenen
Grundrechte, die sog. bp-Rechte.
Im Laufe der zweiten Industriellen Revolution zeigte sich, dass das Bürger-
tum seine Freiheitsrechte auf Kosten der Besitzlosen durchsetzte. Trotz des
Gleichheitsprinzips wurden Eigentum und Bildung ungleich verteilt. Armut
machte den Genuss bürgerlicher Rechte unmöglich. Allmählich wurde klar,
dass Freiheit sich nur realisieren lässt, wenn Grundbedürfnisse für ein men-
schenwürdiges Leben erfüllt werden.495 So wurde begonnen, soziale Grund-
rechte zu fordern, so dass der Staat verpflichtet ist, soziale Maßnahmen zu
treffen, um einen menschenwürdigen Lebensstandard der Bürger zu garan-
tieren496.
Die Entfaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte bilden die
zweite Generation der Menschenrechte. Zu diesen Ansprüchen gehören vor
allem die im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte von 1966 zusammengefassten „wsk-Rechte“, nämlich: das Recht auf
adäquaten Lebensstandard, angemessene Ernährung, Wohnung, Gesund-
heit, soziale Sicherheit, Arbeit und Bildung497.
493
ebd.
494
ebd., 25
495
Bielefeldt 1998, 97
496
ebd.
497
ebd., 98
82
Die sozialen Rechte richten sich auf die Realisierung der sozialen Freiheit
durch den Staat, sie stellen Teilhaberechte dar, die zu Leistungsverpflichtun-
gen des Staates führen498.
Diskussion
Das Generationsmodell von Karel Vasak von 1975 bemüht sich um eine
chronologische Begründung der Menschenrechte. Nach diesem Modell be-
ginnt die Geschichte der Menschenrechte mit den bürgerlich-politischen Re-
volutionen des 18.Jahrhunderts und folglich mit besonderer Beachtung der
bürgerlich-politischen Rechte.
„All human rights and fundamental freedoms are indivisible and interdepend-
ent; equal attention and urgent consideration should be given to the imple-
mentation, promotion and protection of both civil and political, and economic,
social and cultural rights. The full realization of civil and political rights without
the enjoyment of economic, social and cultural rights is impossible”501.
status passivus
Der status passivus (Zustand der Grundpflichten) ist der Grundstatus. In ihm
ist der Mensch der Staatsgewalt unterworfen. Auf dieser Ebene hat der
Mensch keine Rechte, sondern ist nur Adressat von Verpflichtungen503.
status negativus
501
Zit. in: van Boven 1982, 51
502
www.humboldt-forum-recht.de/3-200/glossar.html
503
www.jwilhelm.de/staats.pdf
84
Die Konzeption der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat geht von
der historischen Erfahrung aus, dass die Macht des Staates eingeschränkt
werden muss. Der Staat verfügt über ein Gewaltmonopol, und für den Bürger
besteht die Gefahr, von der Staatsgewalt unterdrückt zu werden505.
status activus
504
ebd.
505
ebd.
506
Machacek 1991, 24 ff.
85
Der status activus ist der Zustand, in dem das Individuum seine Freiheit vom
und durch den Staat betätigt. Die status-activus-Rechte sind die Rechte des
Einzelnen auf aktive Teilnahme an der politischen Willensbildung. Daher
werden sie auch als Mitgestaltungsrechte bezeichnet507.
status positivus
Der status positivus ist der Zustand der Sozialen Grundrechte, in dem der
Staat die Gewährung von gleichen und angemessenen Lebensbedingungen
für alle sichern soll: Recht auf angemessene Nahrung, Wohnung, Arbeit, Bil-
dung usw. Ihre Wurzeln liegen im Zeitalter der zweiten industriellen Revoluti-
on des 19. Jahrhunderts und stellen eine Antwort auf die Auswüchse des
Kapitalismus und seiner Marktgesetze dar. Sie werden auch als Leistungs-
oder positive Rechte bezeichnet, da für ihre Verwirklichung positive Maß-
nahmen und die Bereitstellung von erheblichen Mitteln seitens des Staates
nötig sind508.
507
ebd.
508
www.jwilhelm.de/staats.pdf
509
ebd.
510
Simma 1995, 194
86
„Die Verletzungen von sozialen Rechten sind in der Tat juristisch schwer
greifbar, weil der rechtliche Gehalt der meisten wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechte – im Vergleich zu den bürgerlichen und politi-
schen – so unklar, so schwierig festzumachen ist. Dies liegt am Umfang und
an den scharfen Konturen dieser Rechte“511.
Diskussion
So gibt es einige soziale Grundrechte, die ihrer formalen Struktur nach keine
Leistungsansprüche sind. Betrachten wir in diesem Zusammenhang das
Recht, Gewerkschaften zu bilden, und das Streikrecht: beide sind nicht Leis-
tungsrechte im klassischen Sinne, sondern Freiheitsrechte. Auch in den bei-
den UN-Menschenrechtspakten findet man das Recht, Gewerkschaften zu
bilden und beizutreten513. In der Literatur werden noch weitere Beispiele für
stark verpflichtende Sozialrechte mit „freiheitsrechtlichen“ Bestandteilen an-
geführt. So werden für den IPwskR der Kinder- und Jugendschutz, das Recht
auf (unentgeltlichen) Grundschulunterricht; Elternrechte und Privatschulfrei-
heit in Verbindung mit dem Recht auf Bildung sowie die Freiheit der For-
schung genannt514.
511
ebd., 195
512
ebd.
513
Artikel 8 im IPwskR und Artikel 22 im IPbpR
514
Papenfuß 1993, 21
87
Falls eine auf Kosten basierende Unterscheidung überhaupt besteht, liegt sie
eher in den verschiedenen Arten der Verpflichtungen, die die beiden Pakte
dem Staat auferlegen“.517
„Evidently, the fulfillment of civil and political rights demand positive obliga-
tions, characterized by the expenditure of resources, and not the mere ab-
sention of the state. It is worthwhile to review the great quantity of resources
515
ebd., 23
516
ebd.
517
Sieghart 1988, 94 f.
88
necessary to effectuate, for example, the right to property. Trough the or-
ganization of distinct public services, the state acts to ensure this ‘negative
obligation’; there is much activity in the civil and criminal justice systems, and
property rights are often part of political platforms. In addition, the state is
involved in inspections of buildings and automobiles, other special registra-
tions, cadastre services, and the setting and control of zoning and the use of
land. (…)
„Yes, there are distinctions, but they are not distinctions between rights. The
useful distinctions are among duties (…) So I want to suggest that with every
basic right, three types of duties correlate:
I. Duties to avoid depriving.
II. Duties to protect from deprivation
III. Duties to aid the deprived.”519
518
Courtis 2005, 6
519
Shue 1980, 52
89
meiden, wie etwa ‚was nützt es einem Hungernden, frei zu sein?’ oder ‚ist ein
Sklave mit vollem Bauch nicht zufrieden?’; oder ‚ist es schlechter, von einem
habgierigen Gutsbesitzer in den Hungertod getrieben oder wegen der Belei-
digung des Staatsoberhauptes erschlagen zu werden?’ Gleichrangigkeit ist
genauso wichtig für die Menschenrechte wie für die Menschen, denn wenn
man erst beginnt, Menschenrechten irgendeine Rangordnung zuzuschreiben,
steht der Weg zum Missbrauch weit offen. (...) Eine derartige Rangfolge
muss daher mit allen Mitteln verhindert werden – und ebenso jede Einteilung,
die dazu führen könnte.“520
In einer Vorlesung zum Öffentlichen Recht wird nur die Statuslehre Jellineks
dargestellt:
„Während ein Unterlassen keine Ressourcen des Staates bindet und keine
Kosten verursacht, ist dies bei einer Rechtspflicht zu einem positiven Tun
anders. Wenn der Staat das Recht auf Arbeit einlösen will, muss er eine Be-
schäftigungspolitik betreiben, die Kosten verursacht. Wenn der Staat das
Recht auf Bildung einlösen will, muss er für eine angemessene Ausstattung
des Bildungswesens sorgen, die Kosten verursacht. Wenn der Staat das
Recht auf Wohnung einlösen will, muss er Wohnungspolitik betreiben. Auch
dies verursacht Kosten.(...) Das Problem besteht darin, dass die Mittel des
Staates begrenzt sind und in einer freiheitlichen Demokratie begrenzt sein
müssen und dass die Forderung nach einem Tun, anders als die Forderung
nach einem Unterlassen, solche Mittel in einem erheblichen Umfang in An-
spruch nimmt“.521
„(The civil and political) on the part of society assumed the form of natural
law as they were presented as eternal needs522 (…) Some authors deny that
economic, social and cultural rights belong to the category of ‘human rights’,
arguing that they cannot be regarded as ‘rights’ in the proper sense. It is just
this view which is defended by those who interpret human rights strictly in
terms of natural law.”523
520
Sieghart 1988, 97
521
zit. nach Vorlesg. Öffentl. Recht I, FU Berlin, 2005, In: www.fu-
berlin.de/jura/veranstaltungen/lehrveranstaltungen/07/ws0405/v_gk_or 1/050103_vorlesung.pdf.
522
Szabo 1982, 15
523
ebd., 19
90
Auf der Grundlage dieses Modells entwickelt Asbøjrn Eide525 in einer Unter-
suchung, die er im Auftrag der Sub-Comission on Prevention of Discriminati-
on and Protection of Minorities für das Recht auf Nahrung formulierte, das
Triade-Modell des „respect, protect und fulfil“. Anhand dieser Triade be-
schreibt Eide die Pflichten, die sich für den Staat auf Grund der Menschen-
rechte ergeben526.
„The obligation to respect requires the State, and thereby all its organs and
agents, to abstain from doing anything that violates the integrity of the
individuals or infringes on her or his freedom, including the freedom to use
the material resources available to that individual in the way she or he finds
best to satisfy the basic needs”527.
So wird auf dieser Ebene zunächst der Staat dazu verpflichtet, ein entspre-
chendes Menschenrecht anzuerkennen und nicht durch eine aktive Handlung
524
www.info-servo.de/menschenpfl.htm
525
Vgl. Klee 2000, 101
526
ebd.
527
zit. nach Klee 2000, 101
91
zu verletzen. Dem Staat ist demnach verboten, in die Freiheit des Indivi-
duums einzugreifen. Dabei reduziert sich der Freiheitsbegriff nicht nur auf die
bürgerlichen Freiheiten: von einer Verletzung eines Menschenrechts kann
dann gesprochen werden, wenn der Staat durch ein Tun (beispielsweise ein
Gesetz) die Freiheit des Individuums in seinem wirtschaftlichen, sozialen o-
der kulturellen Rechten beschneidet. Die Ebene des respect beinhaltet des-
halb überwiegend Unterlassungspflichten des Staates.528
Die respect obligation setzt demnach beim Gedanken der Subsidiarität an:
Jeder Einzelne ist zunächst für das eigene Wohlergehen verantwortlich, be-
vor der Staat unterstützend eingreifen muss. Der Staat soll dadurch Frei-
heitsraum und Eigeninitiative ihrer Mitglieder fördern und ihnen bei der
Wahrnehmung der Aufgaben helfen, die sie selbst übernehmen können.529
Matthew Craven kommentiert hierzu:
„Not only is the individual posited as the primary subject of development, but
common emphasis is placed upon ‘empowerment’ or ‘self-reliance’ as an ob-
jective. Thus the development process is conceived of as being an ‘enabling’
process whereby structural impediments (both social and economic, on a
micro and macro scale) are lifted to allow the individual to define and fulfil his
or her material and non-material needs.”530
Während die respect–Ebene nur eine Nichthandlung fordert, ist schon beim
Protect eine staatliche Handlung notwendig. Eide schreibt dazu:
„The obligation to protect requires from the State and its agents the meas-
ures necessary to prevent other individuals or groups from violating the integ-
rity, freedom of action, or other human rights of the individual – including the
prevention of infringement of the enjoyment of his material resources.”531
528
Vgl. Engels 2000, 56
529
ebd., 57
530
Craven 1995, 120
531
zit. nach Klee 2000, 101
92
Diese Zweite Ebene fordert nun eine Handlung vom Staat. Die protect-
Verpflichtung verlangt vom Staat, dass dieser dafür Sorge trägt, dass alle
Personen ihre verbrieften Menschenrechte tatsächlich genießen können,
auch wenn entweder private Akteure diese gefährden würden – die sog.
Drittwirkung der Menschenrechte – oder der Staat selbst bestimmte Leistun-
gen nicht erbringen will532.
Der Staat ist demnach nicht nur verpflichtet, durch Gesetze die Rechte zu
garantieren, sondern er muss durch seine Organe, die für seine innerstaatli-
che Rechtsetzung primär zuständig sind (Verwaltung, Polizei und Justiz) die-
se Rechte auch schützen535.
532
Vgl. Pohl 2000, 29
533
Craven 1995, 111
534
Klee 2001, 101 ff.
535
ebd.
536
ebd., 103
93
„The obligation to fulfil requires the State to take measures necessary to en-
sure for each person within ist jurisdiction opportunities to obtain satisfaction
of those needs, recognized in the human rights instruments, wich cannot be
secured by personal effort.“537
Auf dieser Ebene setzen die staatlichen Leistungspflichten ein, die „through
assistance or direct provision“ geleistet werden können. Bei der „assistence“
geht es darum, dass denjenigen, die selbst keine Möglichkeit zur Umsetzung
ihrer Rechte haben, Hilfe gewährt wird, damit sie einen solchen Zugang er-
halten. Die „direct provision“ ist demgegenüber eine direkte Geld- oder Sach-
leistung, die vom Staat an diejenigen transferiert wird, die ansonsten keinen
Zugang zu einem bestimmten Gut hätten.538 Die Leistungspflichten be-
schränken sich allerdings nicht auf sogenannte „Bedürftige“: So enthält Art.
13 Abs. 2 (a) IPwskR z. B. die Pflicht, für jeden einen unentgeltlichen Grund-
schulunterricht zu garantieren539. Leistungspflichten sind auch bei den bür-
gerlichen Menschenrechten bekannt: die Erfordernisse der Demokratie (in
Deutschland: Bereitstellen von Wahllokalen, Finanzierung der Parteien – u.
a. der NPD - und Institutionen wie z. B. die Bundeszentrale für Politische Bil-
dung) und diejenigen des Staates wie z. B. die Einrichtung von Gerichten,
sind fulfil-Pflichten.
Auch Kitty Arambulo verweist in diesem Zusammenhang auf die Kosten hin,
die bei der Umsetzung von bürgerlich-politischen Menschenrechten im Be-
reich der Gerichtsbarkeit entstehen können:
„(...) would like to submit that the implementation of certain civil and political
rights by a court with powers of enforcement in many cases entails specific
efforts on the part of the State, such as the financing of an effectively func-
tioning judicial machinery and the upholding of the judiciary’s competence,
independence and impartiality”.540
Zusammenfassend lässt sich auch für die letzte Ebene feststellen, dass sich
die Leistungsverpflichtungen auf beide Menschenrechtsgruppen beziehen
und dass es auch hier keinen Unterschied zwischen sozialen und bürgerlich-
politischen Rechten gibt, da bei beiden Menschenrechtsgruppen für ihre Um-
537
zit. nach Klee 2000, 103
538
Engels 2000, 63
539
ebd.
540
Arambulo 1999, 73
94
setzung und ihren Schutz vom Staat positive Leistungen erbracht werden
müssen.
Um an dieser Stelle nur ein Beispiel zu geben: Art 11 IPwskR, der unter an-
derem das Recht auf angemessene Ernährung normiert, wurde vom ECO-
SOC (Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen) und von der Litera-
tur dahingehend interpretiert, dass er sämtliche drei Verpflichtungsebenen
enthält: Bezüglich der „obligation to respect“ ist jeder Staat verpflichtet, sei-
nen Bürgern bereits vorhandene Nahrungsquellen nicht zu entziehen (wie
etwa durch Landenteignung). Die „obligation to protect“ gebietet dem Staat,
Dritte an eben solchem Tun zu hindern, und im Rahmen der „obligation to
fulfil“ muss der Staat denjenigen, denen nicht genügend Nahrungsmittel zur
Verfügung stehen, Zugang zu Möglichkeiten ihrer Beschaffung oder zu den
Nahrungsmitteln selbst verschaffen. Diese dritte Möglichkeit wird positive
Handlungen des Staates, in der Regel auch in Form der entsprechenden
Ressourcenverteilung, beinhalten.542
Das Recht auf angemessene Ernährung gehört zum Kernbereich der Men-
schenrechte, weil es das einzige Menschenrecht der beiden UN-
Menschenrechtspakte ist, das als grundlegendes Recht bezeichnet wird.
Trotz ihrer privilegierten Verankerung im völkerrechtlichen Vertragsrecht rep-
räsentieren die wsk-Rechte im Allgemeinen und das Recht auf Nahrung im
Speziellen, zurückgestellte Rechte. Die Rechtsqualität der wsk-Rechte wurde
durch folgende Argumente lange bestritten:
541
Nowak 1989, 389
542
Klee 2000, 104
95
b) Ideologische Beweggründe. Das Recht auf Nahrung wird häufig als un-
vereinbare Gewährleistung mit einer freien Marktwirtschaft qualifiziert und
auf ein bloßes Leistungsrecht reduziert.547
c) Komplexe Verpflichtungsgefüge der wsk-Rechte. Die allgemeine Ver-
pflichtungsklausel des Art. 2 des Sozialpaktes, erfordert von den Mit-
gliedsstaaten Achtungs-, Schutz- und Erfüllungspflichten.548
d) Das Recht auf Nahrung ist in Art. 11 des Sozialpaktes deutlich politik-
orientiert, nämlich, spricht Abs.1 von geeigneten Schritten, welche die
Mitgliedstaaten zu unternehmen haben, um die Realisierung des Rechts
auf Nahrung zu garantieren, und Abs. 2 verweist ausführlich auf beson-
dere Programme im Bereich der Ernährungspolitik, welche in Anerken-
543
Vgl. Eide, Asbøjrn, Right to adequate food as a human right, New York 1989, 10 ff.
544
ebd.
545
ebd.
546
ebd.
547
Künnemann 1999, 63
548
ebd.
96
In letzter Zeit kann man ein deutliches Umdenken auf internationaler Ebene
bemerken:
• Innerhalb des ECOSOC (Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Natio-
nen) entstand der Entwurf eines Fakultativprotokolls zum Sozialpakt, mit
welchem die Chance geschaffen werden soll, dass Individuen Verletzun-
gen dieses Paktes vor diesem Organ rügen können. Es fehlt nur am poli-
tischen Willen der Staaten, um diesen Entwurf umzusetzen555.
• Anschließend formulierte der UN-Ausschuss für wsk-Rechte CESCR
1999 die Allgemeine Bemerkung Nr.12 über das Recht auf Nahrung556.
• Durch dieses internationale Instrument ist das Menschenrecht auf Nah-
rung definiert, als das Recht eines jeden Menschen, jederzeit physischen
und ökonomischen Zugang zu Nahrung, oder Mittel zur Nahrungsbe-
schaffung zu haben, die der Menschenwürde entsprechen. Die Verfüg-
barkeit von Nahrung muss gewährleistet werden. Die Nahrung muss frei
549
ebd., 64
550
ebd.
551
ebd.
552
ebd.
553
ebd., 65
554
ebd.
555
Schneider 2004, 13
556
Vgl. CESCER General Comment 12
97
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Wesensgehalt des Rechts auf
angemessene Ernährung sowohl die Angemessenheit und Nachhaltigkeit der
Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln als auch den Zugang zu der Nahrungs-
versorgung beinhaltet.
Das im IPwskR festgesetzte Recht auf Nahrung vom Art. 11 steht im Mittel-
punkt des Sozialpaktes:
Die besondere Bedeutung des Art. 11 IpwskR ergibt sich aus seiner bündi-
gen Formulierung558.
Das Recht auf Nahrung wird als „fundamental“ bezeichnet, weil seine Erfül-
lung eine Voraussetzung zur Nutznießung anderer Rechte darstellt560.
„The human right to adequate food is of crucial importance for the enjoyment
of all rights.“561
Art. 32 Vienna Convention on the Law of Treaties besagt, dass bei der Aus-
legung völkerrechtlicher Verträge unter bestimmten Prämissen auf die Mate-
rialien zurückgegriffen werden kann562.
557
zit. nach Craven 1995, 287
558
Vgl. Alston 1984, 31 ff.
559
ebd.
560
ebd.
561
CESCR, General Comment 12
562
www.univie.ac.at/RI/KONTERM/intlaw/konterm/vrkon_en/html/doku/treaties.htm
563
ebd.
99
Wichtige Inhalte des späteren IPwskR wurden zwischen 1947 und 1954 von
der UN-Menschenrechtskommission verfasst. Abgesehen von der FAO ha-
ben ILO, UNESCO und WHO an den Kodifikationsarbeiten teilgenommen566.
1963 wandte sich der Generalsekretär der FAO an den Dritten Ausschuss
der UN-Generalversammlung, um eine präzisere Definition des Rechts auf
Nahrung und konkretere Maßnahmen zu dessen Durchsetzung zu fordern.
Dank dieser in Gestalt eines Entwurfes angemeldeten Forderung war Absatz
2 zum Art. 11 IPwskR hinzugefügt worden567.
Wie schon angeführt, geht das Recht auf angemessene Nahrung aus der
allgemeinen Wendung im „Right to an Adequate Standard of Living“ hervor,
und der allgemeine Gedanke des Rechts auf Nahrung findet mit dem „right to
be free from hunger“ eine explizite Anerkennung im Art. 11 (2) IpwskR.568 Bei
der Ausarbeitung der Richtlinien war die UN-Menschenrechtkommission der
Ansicht, dass die Bestandteile des Art. 11 (2) IpwskR auf die Vollziehung des
Rechts auf Nahrung verweisen. Einige Mitglieder der UN-
Menschenrechtskommission weisen jedoch auf einen Unterschied zwischen
„right to food“ und „right to freedom from hunger“ hin569.
Erwiesenermaßen bezieht sich Art. 11 einerseits auf das „Recht auf ausrei-
chende Ernährung“ und andererseits auf das Recht, vor Hunger gesichert zu
sein. Während das „Recht auf angemessene Ernährung“ im ersten Absatz
564
Vgl.Alston 1984, 29 ff.
565
ebd.
566
Vgl. Craven 1995, 297
567
ebd.
568
Vgl. Craven 1995, 306 ff.
569
ebd.
100
Ein Grund, diese Abgrenzung zwischen „freedom from hunger“ und „right to
food“ zu behalten, war die Bezeichnung „fundamental“ in Bezug auf den ers-
ten Absatz.572 Kein anderes Recht der beiden Pakte ist auf diese Weise ge-
kennzeichnet. Es wurde festgelegt, dass die Formulierung „fundamental“ be-
sagt, dass das Recht auf Nahrung und damit auf Leben das Basisrecht jedes
Menschen und Grundbedingung für den Genuss aller weiteren Menschen-
rechte ist. Die Charakterisierung dieser Freiheit als „fundamental“ bedeutet
nämlich, dass das Recht auf Nahrung Vorrang vor den anderen Rechten
hat573. Der angeführte Begriff bedeutet nicht, dass die anderen Rechte nicht
wichtig wären, sondern, dass das Recht auf Nahrung ein grundlegendes
Recht darstellt, weil von seinem Nießbrauch die Nutznießung anderer Rechte
abhängt574.
„Any form of malnutrition, or fever due to exposure, that causes severe and
irreversible brain damage, for example, can effectively prevent the exercise
of any right requiring clear thought and may, like brain injuries caused by as-
sault, profoundly disturb personality. And, obviously, any fatal deficiencies
end all possibility of the enjoyment of rights as firmly as an arbitrary execu-
tion.”575
Es ist klar, dass die essenzielle Natur des „right to freedom from hunger“ im
engen Zusammenhang mit der Subsistenz des Menschen steht.576 Das
Recht auf angemessene Ernährung geht dagegen über die substanziellen
Rechte hinaus. Der Terminus „fundamental“ weist darauf hin, dass die Aus-
führung des Rechts auf angemessene Ernährung nur möglich ist, wenn die
570
ebd.
571
Vgl. Alston 1984, 31 ff.
572
Craven 1995, 307
573
ebd.
574
ebd., 308
575
Shue, 1980, 24 - 25
576
Vgl. Craven 1995, 298 ff.
101
Subsistenz gesichert ist, d. h. die staatlichen Maßnahmen sollten sich auf die
Schaffung eines Kerngebietes konzentrieren, in dem die elementaren Nah-
rungsbedürfnisse vollständig gesichert sind577.
In Addition des quantitativen Ausreichens von Nahrung fügt die Idee der „An-
gemessenheit“ ein qualitatives Element hinzu, nämlich, dass die Nahrung
gesellschaftlich akzeptabel und gesund sein sollte. Das Recht auf angemes-
sene Ernährung darf deshalb nicht eng oder restriktiv im Sinne einer Min-
destration an spezifischen Nährstoffen interpretiert werden.578
„The right to adequate food is realized when every man, woman and child,
alone or in community with others, has physical and economic acces at all
times to adequate foods or means for its procurement. The right to adequate
food shall therefore not be interpreted in a narrow or restrictive sense wich
equates it with a minimum package of calories, proteins and other specific
nutrients. The right to adequate food will have to be realized progressively.
However, States have a core obligation to take the necessary action to miti-
gate and alleviate hunger as provided for in paragraph 2 of article 11, even in
times of natural or other disasters”579.
Obwohl die Konzeption der Angemessenheit für das Recht auf Nahrung von
zentraler Wichtigkeit ist, hängt diese Konzeption in starkem Maße von den
überwiegenden ökonomischen, sozialen, kulturellen, klimatischen und ökolo-
gischen Bedingungen eines Landes ab. Die Vorstellung der ausreichenden
Ernährung oder Ernährungssicherheit ist hingegen mit dem Konzept der
Nachhaltigkeit untrennbar verbunden: heutige und zukünftige Generationen
sollen Zugang zu Nahrungsmittel haben580.
3.4.5. Verpflichtungsebenen
Die traditionelle These, wonach alleinig die wsk-Rechte wie z. B. das Recht
auf Nahrung staatliche Leistungen erfordern, wird seit langem als überholt
betrachtet.583 Gemäß der 3-Ebenen-Theorie von Henry Shue und Asbjørn
Eide, erfordern alle Menschenrechte drei Verpflichtungen von dem Staat:584
Weil die Verpflichtung zur Achtung des Rechts auf Nahrung gar keine Res-
sourcen verlangt, ist diese Verpflichtung unmittelbar anwendbar und einklag-
587
bar . Damit können allgemein die Unterlassungsansprüche aus dem Sozi-
alpakt als justiziabel charakterisiert werden.588
Schutzpflichten: Auf einer zweiten Ebene ist der Staat verpflichtet, die Aus-
übung des Rechts gegenüber Dritten zu sichern und zu schützen. Der
581
CESCR, General Comment 12, Par. 7
582
Vgl. Craven 1995, 309
583
Vgl. Künnemann 1999, 79
584
vgl. CESCR, General Comment 12, Par. 14-39
585
ebd.
586
ebd.
587
ebd.
588
Vgl. Windfuhr 2001, 11
103
589
ebd.
590
ebd.
591
ebd., 13
592
ebd.
593
Vgl. CESCR, General Comment 3
594
CESCR, General Comment 12
104
3.4.6. Recht auf Nahrung (Art. 11 IPwskR) und Recht auf Leben (Art.6
IPbpR)
Das Recht auf Nahrung ist auch im Zusammenhang mit zivilen Rechten
thematisiert worden596. Einige Autoren behaupten, dass das Recht auf
Leben, das in Art. 6 IPbpR verankert ist, grundsätzlich den Schutz vor
willkürlicher Tötung umfasst597. Andere behaupten dagegen, dass das Recht
auf Leben auch das Recht auf angemessenen Lebensstandard bzw. auf
angemessene Ernährung einschließt:
Im General Comment 6599 hat der mit der Durchsetzung des Zivilpaktes
betraute Menschenrechtsausschuss festgestellt, dass zum Schutz des
Rechts auf Leben auch positive Maßnahmen erforderlich sind, die ein Mit-
gliedsstaat etwa zur Bekämpfung von Hunger und Epidemien ergreifen sollte,
um die Geburtensterblichkeit zu senken und die allgemeine Lebenserwartung
zu erhöhen:
595
ebd.
596
Vgl. Alston 1984, 24
597
ebd.
598
ebd., 25
599
General Comment 6. In: Kälin/Malinverni/Nowak 1982, 362
105
„Moreover, the Committee has noted that the right to life has been too often
narrowly interpreted. The expression ‘inherent right to life’ cannot properly be
understood in a restrictive manner, and the protection of this right requires
that States adopt positive measures. In this connection, the Committee con-
siders that it would be desirable for States parties to take all possible meas-
ures to reduce infant mortality and to increase life expectancy, especially in
adopting measures to eliminate malnutrition and epidemics”600.
Der ECOSOC ist kraft Art. 7 Abs.1 der UN-Charta eines der sechs Hauptor-
gane der Vereinten Nationen.603 Er ist gemeinsam mit der Generalversamm-
lung dafür zuständig, internationaler Kooperation zur Lösung internationaler
Probleme wirtschaftlicher, sozialer kultureller und humanitärer Natur herbei-
führen. Der Schwerpunkt dieser Funktionen liegt im Bereich des wirtschaftli-
chen und sozialen Aufschwungs der Entwicklungsländer604. Kapitel X der
UN-Charta regelt durch die Art. 61 bis 72 die zentralen Aufgaben und Befug-
nisse des ECOSOC.
Die Befugnisse des ECOSOC zur Durchführung seiner Funktionen sind be-
grenzt. Kraft Art. 62 Abs. 1 UN-Charta kann ECOSOC u. a. der Generalver-
sammlung, den Mitgliedsstaaten und den Sonderorganisationen Empfehlun-
gen unterbreiten. Gemäß Art. 62 Abs. 3 UN-Charta kann er der Generalver-
sammlung Entwürfe für internationale Abkommen im sozialen und wirtschaft-
lichen Bereich vorlegen605.
600
www1.umn.edu/humanarts/peace/docs/hrcom6.htm
601
Schneider 2004, 30
602
ebd.
603
Vgl. Lagoni 1991, 90 ff.
604
ebd.
605
ebd.
106
Andererseits ist der CESCR606 damit beauftragt, die Umsetzung des Interna-
tionalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte durch die
Mitgliedsstaaten zu überwachen, der 1976 in Kraft trat. Er setzt sich aus 18
Mitgliedern zusammen, die vom ECOSOC aus einer Liste von Personen
ausgewählt werden, die von den Mitgliedsstaaten des IPwskR nominiert wer-
den. Der CESCR untersucht Berichte der Mitgliedsstaaten, in denen diese
ihre Maßnahmen zur Umsetzung der wsk-Rechte dokumentieren.607
606
der sog. Wirtschafts- und Sozialrat bzw. UN-Ausschuss für wsk-Rechte
607
Vgl. Partsch 1991, 589 ff.
608
Vgl. Schneider 2004, 13 ff.
609
Vgl. Schütz 1991, 130 ff.
610
ebd.
107
Die Finanzierung erfolgt über einen ordentlichen Haushalt und einen Son-
derhaushalt. Hauptbeitragszahler sind Deutschland, Japan und die USA. Das
Beitragsaufkommen der Entwicklungsländer ist gering. Die FAO verabschie-
dete am 23. September 2004 die „Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung
der allmählichen Verwirklichung des Rechtes auf angemessene Nahrung im
Rahmen der Nationalen Ernährungssicherheit“.614 Die Leitlinien legen aus-
führlich dar, was die Staaten unternehmen müssen, um die Menschen in die
Lage zu versetzen, sich selbst zu ernähren. Sie sehen darüber hinaus die
Errichtung von Sicherungsnetzen für Menschen vor, die sich selbst nicht hel-
fen können oder die am Markt kein genügendes Einkommen erlangen615.
gramm der FAO und der UN gegründet.618 Das WFP mit Hauptsitz in Rom
war als Instrument der multilateralen Nahrungsmittelhilfe gedacht619. Die
Aufgaben des WFP umfassen neben Hilfsprojekten wie Food-for-Work (Ver-
sorgungsprogramme für besonders anfällige Gruppen) die Verwaltung der
International Emergency Food Reserve (IEFR) sowie die Koordinierung der
Nahrungsmittelhilfen. Einziges Organ des WFP ist ein Sekretariat unter dem
Management eines Exekutivdirektors, der vom UN-Generalsekretär in Ab-
stimmung mit dem FAO-Generalsekretär ernannt wird620.
618
Vgl. Wolf 1991 a, 1094 ff.
619
ebd.
620
ebd.
621
Vgl. Wolf 1991 b, 1089 ff.
622
ebd.
623
Vgl. Frankenfeld 1991, 311 ff.
624
ebd.
625
ebd.
109
„Entscheidend im Buch von Stiglitz ist jedoch die Herausarbeitung der verän-
derten Funktion des IWF. Dieser war ursprünglich konzipiert worden, um
Staaten in Krisensituationen mit Liquidität zu unterstützen und um die Stabili-
tät der Weltwirtschaft zu fördern. In den letzten zwanzig Jahren ereignete
sich freilich eine markante und spezifische Verschiebung innerhalb des öko-
nomischen Mainstream-Denkens. Die keynesianischen Überlegungen hin-
sichtlich Marktversagen wurden trotz theoretischer Vertiefung und vielfältiger
empirischer Bestätigung im Zuge eines neoliberalen Denkens weggewischt.
Dieses schaffte auch im IWF, in der Weltbank und in der Welthandelsorgani-
sation (WTO) den Durchbruch, etablierte einen rigiden Marktfundamentalis-
mus und wurde zudem von einem simplen Monetarismus flankiert. Vor die-
sem Hintergrund hat sich der IWF zusammen mit dem US-Finanzministerium
gemäß Stiglitz in Tat und Wahrheit in einen direkten Sachwalter der Interes-
sen des Finanzkapitals verwandelt. Stiglitz konstatiert und kritisiert konse-
quenterweise eine eigentliche Abänderung des IWF-Mandats, die mit einer
grob vereinfachenden Marktideologie bemäntelt wird. Die Forderungen der
Gläubiger aus den Industriestaaten werden auf diese Weise in ungebührli-
cher Weise nahezu vollständig garantiert.“ 627
626
Vgl. Stiglitz 2004
627
Herzog, Nützliches Insiderwissen. In: www.woz.ch/artikel/print_10865.html)
628
Vgl. Stiglitz 2004, 123 ff.
110
„Der ehemalige Chefökonom der Weltbank beschreibt den IWF und die WTO
als arrogante Institutionen, die mancherorts und viel zu oft aus „purer Über-
heblichkeit“ agieren. So zwinge etwa der IWF den armen, verschuldeten
Ländern eine Politik auf, die selbst wohlstandsverwöhnte Staaten nie an sich
selbst ausprobieren würden. Am Beispiel Äthiopiens erläutert Stiglitz, dass
der IWF mit unverständlich rigiden Vorgaben bei der Wirtschaftshilfe irrte und
dass sich die Volkswirte des IWF an theoretischen Konzepten liberaler
Marktwirtschaft regelrecht festklammern, während sie die realpolitischen
Probleme, die ihre Vorschläge verursachten, nicht annähernd zu lösen ver-
mochten“631.
Stiglitz steht außer Verdacht, ein Kommunist zu sein, er fordert vielmehr eine
Abkehr vom sogenannten „Washington Konsensus“, der auf makroökonomi-
sche Stabilität, Minimierung der Rolle des Staates und Liberalisierung der
Märkte setzt. Diesen Ansatz erachtet Joseph Stiglitz als unbegründet, weil
sogar in den USA die Regulierung der Märkte für das ökonomische Wachs-
tum essentiell erforderlich ist.
629
Herzog, Nützliches Insiderwissen. In: www.woz.ch/artikel/print_10865.html
630
Vgl. Stiglitz 2004, 13 f.
631
Böhmer, Christian, Gezügelte Wut eines Wissenden. In: www.politik-buch.de/rezens/rez_stiglitz.htm
632
Seidl-Hohenveldern, Ignaz, Sonderorganisationen. In: Wolfrum, Rüdiger (Hrsg.), Handbuch Vereinten Nationen,
München 1991, 782
111
Der IWF und die Weltbank wurden 1944 in Bretton Woods bei New Hampshi-
re gegründet und deshalb werden sie als Bretton-Woods-Institutionen be-
zeichnet. Der Internationale Währungsfonds wurde errichtet, um wirtschaftli-
che Krisen zu vermeiden bzw. zu überwinden. Erscheint eine akute Krise,
dann stellt der IWF dem betroffenen Land Geld zur Verfügung633 .
Die Gelder des IWF stammen aus den Staatshaushalten der Mitgliedsländer.
Der IWF wurde folglich als eine Solidargemeinschaft der Staaten entworfen,
die von finanziellen Krisen bedroht werden634.
„Die ursprüngliche IWF – Idee bestand darin, die Reserven der Mitgliedsstaa-
ten in einem Pool zusammenzulegen, aus dem jeder einzelne Staat im Falle
einer kurzfristigen Zahlungsschwierigkeit Kredit aufnehmen konnte, um seine
Währung zu stabilisieren“635.
„Ziel des IWF war die Förderung der Stabilität der Währungen durch ge-
ordnete Währungsbeziehungen und damit die Förderung eines ausgewo-
genen Wirtschaftswachstums sowie eines hohen Beschäftigungsgrades.
Diese ursprüngliche Aufgabenzuweisung basierte auf der Einsicht, dass
die Selbstregulierungskräfte des Marktes oftmals nicht störungsfrei funkti-
633
Vgl. www.weed-online.org/themen/iwf/52682.html
634
ebd.
635
Engdahl, William, Wie der IWF das Dollarsystem stützt, Zürich 2003. In: www.swg-
hamburg.de/Im_Blickpunkt/Wie_der_IWF das_Dollarsystem_s/bod
636
www.imf.org/external/np/exr/facts/deu/glanced.htm
112
Der IWF hat derzeit 184 Mitgliedsländer, deren Stimmrecht sich nach ihrer
Kapitaleinlage richtet: USA 18,00%, Japan 6,26%, Deutschland 6,11%,
Frankreich 5,05%, Großbritannien 5,05%. Das Gefüge des IWF teilt sich in
den Gouverneursrat, den Internationalen Währungs- und Finanzausschuss
sowie das Exekutivdirektorium. Das Exekutivdirektorium beschäftigt sich mit
den laufenden Geschäften des IWF638.
Seit 1977 brauchte keines der europäischen Industrieländer mehr Geld vom
IWF zu leihen. Ende der 70er Jahre vertraten einige die Ansicht, dass der
IWF seine Funktion erfüllt habe, ähnlich wie manche sich nach Ende des kal-
ten Krieges hinsichtlich der NATO erklärten. Washington hatte jedoch andere
Pläne mit dem IWF640.
„In den frühen 80er Jahren änderte sich die Rolle des IWF unter dem Druck
der USA dramatisch. Statt als Stabilisierungsfonds für die Industrieländer in
Europa oder Japan zu dienen, wurde der IWF nun das entscheidende In-
strument zur Kontrolle der Wirtschaftspolitik der unterentwickelten Länder. Im
Zuge der ersten lateinamerikanischen Schuldenkrise zu Beginn der 80er Jah-
re übernahm der IWF eine völlig neue Rolle als Polizist, der Dollaranleihen
für private New Yorker und internationale Banken sammelte. Der IWF wurde
637
Wullweber, Helga, Neoliberalismus mit Verfassungsrang? - Eine Geschichte (unter anderem) zum Siegeszug
des Neoliberalismus, Berlin 2005. In: www.rav.de/290405_verfassung_3.htm
638
www.lexikon.izynews.de/de/lexw.aspx?doc=InternationalerW%3%a4hrungsfond
639
Engdahl, William, Wie der IWF das Dollarsystem stützt. In: www.swg-
hamburg.de/Im_Blickpunkt/Wie_der_IWF_das_Dollarsystem_s/bod
640
ebd.
113
die treibende Kraft dessen, was später als „Globalisierung“ bezeichnet wur-
de.“641
1998 kritisierte Joseph Stiglitz als Chefökonom und Vizepräsident der Welt-
bank diese neoliberale Wirtschaftspolitik des IWF, weil Wirtschaftswachstum
nur durch makroökonomische Stabilisierung, Handelsliberalisierung und Pri-
vatisierung nicht zu erreichen ist und weil es um mehr geht als Wirtschafts-
wachstum und die Steigerung des Bruttosozialprodukts, nämlich um ange-
messene Ernährung, um verbesserte Gesundheit und Bildung, um die Auf-
rechterhaltung der natürlichen Ressourcen und einer gesunden Umwelt, um
eine gerechte und demokratische Entwicklung, was einschließt, dass alle
Menschen die Gewinne der Entwicklung genießen, nicht nur die Eliten642.
Was unternimmt der IWF, wenn ein Land sich an ihn wendet, um eine Ver-
schuldung oder eine Finanzkrise zu überwinden? Der IWF handelt stets nach
der gleichen Schablone, sei es Peru, Kongo oder Russland, und trotz unter-
schiedlicher Wirtschaftssysteme, Kulturen und sozialer Standards. Die Erfor-
dernisse des IWF werden öfter auch als der „Washington Consensus“ be-
zeichnet 643.
* fiskalische Disziplin
* Umleitung öffentlicher Ausgaben in Felder, die sowohl wirtschaftliches
Wachstum als auch eine gleichmäßigere Einkommensverteilung versprechen
* Steuerreform (niedrige marginale Steuersätze, breitere Steuerbasis)
* Liberalisierung des Finanzmarktes
* Schaffung eines stabilen, wettbewerbsfähigen Wechselkurses
* Handelsliberalisierung
* Beseitigung von Marktzutrittsschranken / Liberalisierung ausländischer Di-
rektinvestitionen (Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Firmen)
641
ebd.
642
Vgl.Stiglitz, Joseph, Die Schatten der Globalisierung, München 2004, 21 f.
643
ebd., 78 f.
114
* Privatisierung
* Deregulierung des Arbeitsmarktes
* Gesicherte Eigentumsrechte“644.
Will ein Land einen Kredit oder einen Schuldennachlass vom IWF erhalten,
so verlangt der IWF von der jeweiligen Regierung zuerst, ein geheimes „Me-
morandum of Understanding“ mit dem IWF zu unterzeichnen, in welchem sie
sich mit einer Liste von Auflagen bzw. Konditionalitäten - sog. Strukturanpas-
sungsprogramm - einverstanden erklärt. Dieses Memorandum ist die Vor-
aussetzung für jede finanzielle Beihilfe durch den IWF646.
„Bei den globalisierten freien Kapitalmärkten von heute investieren die Ban-
ken in keinem Land, das nicht die offizielle Zustimmung des IWF hat. Daher
besteht die Rolle des IWF in weit mehr als nur dem Gewähren eines Notkre-
dits. Er legt fest, ob ein Land überhaupt Geld erhält, sei es von der Weltbank,
von Privatbanken oder aus einer anderen Quelle.“647
644
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Der Internationaler Währungsfonds und die Entwicklung der
internationalen Finanzbeziehungen von 1945 - 2000. In: www.weltpolitik.net/print/1567.html
645
Vgl. Stiglitz 2004, 104
646
www.koo.at/arbeitsschwerpunkte/weltbank.htm
647
Engdahl, William, Wie der IWF das Dollarsystem stützt, Zürich 2003. In: www.swg-
hamburg.de/Im_Blickpunkt/Wie_der_IWF_das_Dollarsystem_s/bod
115
„Für jede ärmere Nation gibt es eine ‚Country Assistance Strategy’, die nach
Darstellung der Weltbank aufgrund einer sorgfältigen Untersuchung im Land
entworfen worden ist. Stiglitz zufolge besteht eine solche ‚Untersuchung’
durch die Mitarbeiter der Bank aus einer intensiven Überprüfung der 5-
Sterne-Hotels des Landes. Sie wird abgeschlossen, indem die Bank-
Mitarbeiter mit einem bettelnden, kaputten Finanzminister zusammentreffen
und ihm ein ‚Umstrukturierungsabkommen’ zur ‚freiwilligen’ Unterschrift über-
reichen.“649
Die Privatisierung
„Die erste Stufe ist die Privatisierung - die Stiglitz zufolge ‚Korruptisierung’
genannt werden kann. Anstatt dem Ausverkauf staatlicher Betriebe zu wider-
sprechen, sagt er, veräußern nationale Führungspersönlichkeiten fröhlich
ihre Elektrizitäts- und Wasserwerke. Dabei nutzen sie die Forderungen der
Weltbank aus, dass lokale Kritiker ruhig gehalten werden sollen. Und tat-
sächlich, die lokalen Kritiker werden ruhiger bei der Ansicht auf die zehnpro-
zentigen Provisionen, die nur dafür auf Schweizer Bankkonten gezahlt wur-
den, dass einfach der Verkaufspreis des Staatsbesitzes um ein paar Milliar-
den gekürzt wurde. (...) Die US-gestützten russischen Oligarchen beraubten
die industriellen Besitztümer ihres Landes. Der Effekt dieses Korruptions-
plans war die Verminderung des Nationalprodukts um annähernd die Hälfte,
was Wirtschaftsflaute und Hungertod verursachte.“651
Anfang der 90er Jahre stieg die Zahl der Arbeitslosen in Russland von 2 Mil-
lionen auf 60 Millionen652.
648
Stiglitz 2004, 280 f.
649
Palast, Gregor, Die Vier Stufen des IWF zur Verdammnis. In:
www.attac-netzwerk.de/rundbriefe/sandimgetriebe09_01.php
650
Engdahl, William, Wie der IWF das Dollarsystem stützt. In: www.swg-
hamburg.de/Im_Blickpunkt/Wie_der_IWF_das_Dollarsystem_s/bod
651
Gregor Palast, Die Vier Stufen des IWF zur Verdammnis, London 2001. In: www.attac-
netzwerk.de/rundbriefe/sandimgetriebe09_01.php
652
Vgl. Engdahl, William, Wie der IWF das Dollarsystem stützt. In: www.swg-
hamburg.de/Im_Blickpunkt/Wie_der_IWF_das_Dollarsystem_s/bod
116
Als zweite Konditionalität verlangt der IWF, dass das betroffene Land seine
Finanzmärkte liberalisiert, und zwar für ausländische Investoren öffnet. Dies
ermöglicht, dass Spekulanten Vermögenswerte in einer Transaktion spei-
chern, Profit machen, um schnell das Land zu verlassen, während die Wirt-
schaft des Landes hinter ihnen zusammenbricht654.
„Nach der Korruptisierung ist die zweite Stufe des IWF-Plans zur Rettung der
Volkswirtschaften die ‚Liberalisierung der Kapitalmärkte’. In der Theorie er-
möglicht die Deregulierung des Kapitalmarktes dem Investmentkapital frei
zu- und abzufließen. Leider fließt aber das Geld wie in Lateinamerika und
Asien immer nur ab. Stiglitz nennt dies den Kreislauf des ‚heißen Geldes’.
Das Geld kommt zum Zweck der Boden- und Währungsspekulation ins Land
und flieht dann beim ersten Anschein von Problemen. Die Reserven eines
Staates können in Tagen oder Stunden zu Ende gehen. Und wenn dies pas-
siert, verlangt der IWF von diesen Staaten, ihre Zinssätze auf 30, 50 oder 80
Prozent zu erhöhen und damit den Spekulanten einen Anreiz zu geben, dass
sie dem Land seine Kapitalgrundlage zurückbringen. ‚Das Ergebnis war vor-
herzusagen’, sagt Stiglitz über die Flutwellen des heißen Geldes in Asien und
Lateinamerika. Die erhöhten Zinsen verminderten den Wert des Eigentums,
beeinträchtigten die industrielle Produktion und leerten die Staatsschätze.“655
Die „Marktpreis-Forderung“
An dieser Stelle führt der IWF das betroffene Land zur dritten Stufe, und zwar
zur „marktbasierten Preisbildung“, ein Euphemismus für die drastische Preis-
steigerung von lebensnotwendigen Gütern656
„Die dritte Stufe der IWF-Auflagen besteht darin, dass ein Land seine inländi-
schen Preise ‚dem Markt entsprechend’ festlegt - so die verschlüsselte For-
653
ebd.
654
ebd.
655
Palast, Gregor, Die vier Stufen des IWF zur Verdammnis. In: www.attac-
netzwerk.de/rundbriefe/sandimgetriebe09_01.php
656
ebd.
117
Im diesem Punkt kommt das betroffene Land zur vierten Stufe, die der IWF
als „Strategie zur Reduzierung der Armut“ bezeichnet: der Freihandel nach
den Regeln der Welthandelsorganisation und der Weltbank.
Stiglitz vergleicht den IWF-Freihandel mit dem Opiumkrieg. Der IWF verlangt
von den ärmeren Ländern, sie sollten ihre Märkte öffnen. Aber die reichen
Länder halten sich nicht an diese Regeln658.
657
Engdahl, William, Wie der IWF das Dollarsystem stützt. In: www.swg-
hamburg.de/Im_Blickpunkt/Wie_der_IWF_das_Dollarsystem_s/bod
658
Stiglitz, Joseph, Die Schatten der Globalisierung, München 2004, 87 ff.
659
Stiglitz, Joseph, Die Schatten der Globalisierung, München 2004, 89
118
„Dem Recht auf Nahrung stellen aber der IWF, die USA, die WTO, die Welt-
bank und die wichtigsten multinationalen privaten Firmen den ‚Konsens von
Washington’ entgegen. Dieser enthält vier unabänderliche Vorschriften, die in
der ganzen Welt, egal welche Wirtschaft, welcher Kontinent, welche ge-
schichtliche Situation, umzusetzen sind: Privatisierung und Deregulierung,
makroökonomische Stabilität und Haushaltskürzungen. (...) Die Folgen die-
ses Streits zwischen Recht auf Nahrung einerseits und Konsens von Wa-
shington andererseits sind für die Völker der Dritten Welt katastrophal. Die
Institutionen von Bretton Woods, die WTO und das amerikanische Finanzmi-
nisterium verfügen über Zwangsmittel und über finanzielle Mittel, die erheb-
lich stärker sind als die, über die die FAO, das Welternährungsprogramm, die
UNICEF, die Weltgesundheitsorganisation oder auch die Menschenrechts-
kommission verfügen.
660
www.koo.at/arbeitsschwerpunkte/weltbank.htm
661
Ziegler, Jean, Die Schizophrenie der Vereinten Nationen. Ihr Kampf gegen den Hunger hat keine wirksamen
Mittel. Aus der französischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique November 2001. Übersetzung: Marie Dominique
Vernhes. In: www.attac.de/rundbriefe/sandimgetriebe09_01.php?print=yes&id=
119
Was die Entwicklung betrifft, befindet sich die UNO in voller Schizophrenie:
der IWF und die Weltbank, die der UNO angehören, kämpfen ihrerseits um
das effizienteste Funktionieren des Finanzmarktes, der so frei wie möglich
sein soll, und lehnen de facto das Recht auf Nahrung ab. Sie vernichten
ständig die schwachen Fortschritte bei der menschlichen Entwicklung, die
vom UNICEF, von der FAO, vom Welternährungsprogramm, von der Weltge-
sundheitsorganisation und von anderen Organisationen im Süden erzielt
worden sind.“ 662
Schließlich ist der Verfasser der Ansicht, dass „Die Schatten der Globalisie-
rung“ von Joseph Stiglitz zu einem Standardwerk der Rechtswissenschaft
werden sollte, weil es uns dadurch erklärt, warum die Internationalen Organi-
sationen in ihrer Rolle scheitern und wieso sie der Macht der Finanzklasse
erliegen.
662
ebd.
120
ßend untersucht, ob sich ein Recht auf Nahrung mit den jüngsten Gerechtig-
keitstheorien begründen lässt.
Es ist umstritten, dass der Wohlstand auf der Welt sehr ungleichmäßig ver-
teilt ist: Während die 225 Reichsten so viel wie die 2,5 Milliarden Ärmsten
(ca. 45 % der Weltbevölkerung) besitzen, wären ca. 40 Milliarden US $ jähr-
lich erforderlich, um für alle Menschen ausreichend Nahrung, Trinkwasser
und Gesundheitsversorgung bereitzustellen. Das entspricht nur 4 % des
Vermögens der 225 Reichsten. Das Vermögen der 3 reichsten Personen ü-
berschritt das BIP der 48 ärmsten Länder.663 Also ist ein Mangel an Vertei-
lungsgerechtigkeit, nicht Ressourcenknappheit das Zeichen unserer Zeit.664
Mehr als ein Drittel aller Menschen lebt heute unter der Armutsgrenze, d. h.,
der Zugang zu Nahrung, gesundheitlicher Versorgung, Bildung und anderen
lebensnotwendigen Gütern ist ihnen nicht möglich. Die Einkünfte der Men-
schen in Entwicklungsländern sind nicht vergleichbar mit denen der Industrie-
länder. Trotz Kinderarbeit können die armen Familien ihr Einkommen nicht
sichern. Neben Kinderarbeit folgen Prostitution, Krankheiten, mangelnde Bil-
dung und letztlich Analphabetismus und soziale Abhängigkeit. Die hohe Kin-
dersterblichkeit ist eine unvermeidbare Folge mangelhafter Nahrungsversor-
gung und Hygiene665.
663
www.vistaverde.de/news/Politik/03007/21_entwicklung.htm
664
www.ivg.de/dokument_05_op.htm
665
ebd.
666
ebd.
667
Junge Welt, Donnerstag, 31.03.05, 10 ff.
121
Hier stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt Regeln, die allen Menschen die
Verpflichtung auferlegen, sich für das Wohlergehen aller Mitmenschen zu
sorgen? Worin kann eine solchen Verpflichtung bestehen und wie ist sie be-
gründet? Diese Fragen können erwiesenermaßen durch den Schlüsselbegriff
der Gerechtigkeit beantwortet werden. Wenn dem so ist, wie könnte Gerech-
tigkeit definiert werden? Ein Versuch, „Gerechtigkeit“ zu erklären, kann lau-
ten, dass Gerechtigkeit ein Maßstab zur Einschätzung von Menschen und
Institutionen ist, dass sie als Haupttugend gesellschaftlichen Zusammenle-
bens gilt und dass sie eine erforderliche Legitimationsfunktion in Bezug auf
Herrschaft und Güterverteilung erfüllt. Sie erfordert daher bei konkurrieren-
den Ansprüchen die angemessene Berücksichtigung aller Interessen, mit
dem Ziel, einen Ausgleich zu schaffen669.
a) Der formale Gerechtigkeitsbegriff besagt, dass gerecht ist, was dem Ge-
setz entspricht671.
b) Der ausgleichende, korrektive, kommutative bzw. wiederherstellende Ge-
rechtigkeitsbegriff sieht vor, dass eine ethische, ausgezeichnete Beschaf-
fenheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen ist, wenn sie entstellt
wurde672.
668
ebd.
669
Vgl. Rieger 2003, 8512
670
Vgl. Mazouz 2002, 23 ff.
671
ebd.
672
ebd.
673
ebd.
122
Für von Hayek ist die individuelle Autonomie der öffentlichen Ebene politi-
schen Willens normativ getrennt.681 Darum seien sozialstaatliche Eingriffe,
die diese Autonomie beschränken, unrechtmäßig682.
Von Hayek formuliert drei Gründe für die Ablehnung einer sozialstaatlichen
Umverteilungspolitik zur Verbesserung von Marktergebnissen:
Das Argument der Logik besagt, dass die Tauschergebnisse des Mark-
tes unerwünschte Ergebnisse individuellen Handelns sind. Weil Intentio-
nalität und Folgenverantwortlichkeit des individuellen Handelns nicht ge-
geben sind, kommt eine gerechtigkeitstheoretische Bewertung nicht in
Betracht683.
Das Argument der Ökonomie besagt, dass der Markt der Bereich un-
überwindlicher Effizienz ist. Er ist anhäufend und spontan, und nicht
durch ein theoretisches Modell entstanden. Dank des Marktes sind große
Erfolge der Geschichte zustande gekommen, obwohl der Mensch nicht in
der Lage war, die Gesellschaftsordnung bezweckt zu lenken686.
681
Vgl. Merkel/Krück 2003
682
ebd., 5
683
ebd.
684
ebd.
685
ebd., 6
686
ebd.
124
Bei Rawls gilt der Markt als die Sphäre der unübertroffenen Effizienz, aber
nicht als Instanz sozialer Gerechtigkeit688. Die Abwesenheit sozialer Gerech-
tigkeit ist auf die ungleichen und ungerechten Zugangsbedingungen zum
Markt zurückzuführen. Es kommt Rawls deshalb darauf an, die Individuen mit
einem gleichen Paket an Grundgütern auszustatten. Alle Bürger einer Ge-
sellschaft müssten gleichmäßig mit Grundgütern ausgestattet werden, wes-
halb die Ungleichheit der sozialen Startbedingungen durch sozialstaatliche
Maßnahmen zu korrigieren sei689. In die politische Verfassung einer Gesell-
schaft müssten deshalb Einrichtungen eingeschrieben werden, die jene
Grundgüter fair verteilen, die für gerechte Startmöglichkeiten entscheidend
sind. Zu den grundlegenden Gütern zählen Rechte, Freiheiten und Chancen,
aber auch Einkommen und Vermögen sowie die sozialen Prämissen des
Selbstwertgefühls690.
gen darf, wie beispielsweise Nahrung, Gesundheit und Bildung. Deren Ver-
teilung muss sich auf das Gleichheitsprinzip sowie auf die Bedürftigkeit kon-
zentrieren.693
Das individuelle Handeln ist bei Amartya Sen, das wichtigste Instrument zur
Bekämpfung der Armut und für die Errichtung sozialer Gerechtigkeit694. Erst
durch die Abschaffung sozialer, politischer und ökonomischer Handlungsbe-
schränkungen und Unfreiheiten entsteht die fundamentale Befähigung („ca-
pability“), die ermöglicht, dass der Mensch seine Lebenschancen realisieren
kann695.
693
Walzer 1988, 161
694
ebd., 8
695
ebd.
696
zit. nach Merkel/Krück 2003, 8
697
ebd.
698
ebd.
699
Sen, Ökonomie für den Menschen, 2003, 50
700
ebd., 30
126
vermeiden, sowie die Freiheiten, die darin bestehen, lesen und schreiben zu
können701.
Die Erlangung der konstitutiven Freiheiten ist jedoch weitgehend von den
instrumentellen Freiheiten abhängig702. Soziale Sicherheit, politische Freihei-
ten, ökonomische Einrichtungen, soziale Chancen und Garantien für Trans-
parenz sind der Mittelpunkt zur Entfaltung der capabilities. Diese öffnen dem
Mensch eigenständige Lebenschancen703.
Diese These zur Beantwortung der Frage nach der Begründung des Rechts
auf Nahrung betrifft die Konzeption der Grundbedürfnisse, wodurch die ob-
jektiven Lebensbedingungen analysiert werden. Die zentrale Aussage dieser
These besagt, dass Grundbedürfnisse – darunter die angemessene Versor-
gung mit Nahrungsmitteln - einen Mindestbereich fundamentaler Menschen-
rechte bestimmt und dass ihre Befriedigung als unbedingte Voraussetzung
der menschliche Existenz zu betrachten ist.704
701
ebd., 50
702
ebd.
703
ebd., 30
704
Riedel 1986,182 ff.
705
ebd., 183
706
ebd.
127
In den 1970er Jahren, wurde die weltverbreitete Massenarmut als eine ge-
samtsoziale Erscheinung betrachtet, deren Überwindung nicht nur in der Si-
cherstellung des absoluten Existenzminimums bestehe, sondern vor allem in
707
ebd.
708
ebd., 184
709
ebd., 185
710
ebd.
711
ebd., 186
128
In der Erklärung von Cocoyoc 1974 wurde befürwortet, dass sämtliche Ent-
wicklungsverfahren basale Grundbedürfnisse, wie angemessene Ernährung,
Gesundheitsvorsorge, Wohnung, Bekleidung und Bildung, unbedingt einbe-
zogen werden müssen. Um diese klare Zielsetzung zu verwirklichen, sind
grundlegende sozio-ökonomische Korrekturen der Sozialstrukturen notwen-
dig713.
Zuletzt wurde 1976 der Report „Wir haben nur eine Zukunft“ von Jan Tinber-
ger verfasst, wonach ein Katalog von Entwicklungsprioritäten formuliert wur-
712
ebd.
713
ebd., 187
714
www.jungewelt.de/public_phpnum13&djahr=2002dm
715
Riede 1986, 187
716
www.fes.de/internetl/humanr/pub_UN95/nusch_1.html
717
ebd., 188
718
ebd., 189
129
de. Grundziel aller Bedürfnisstrategien sollte sein, für alle Menschen ein Le-
ben in Würde und Wohlergehen zu schaffen719.
„Die Postulate der Verteilungsgerechtigkeit, der Freiheit, wie sie in der allge-
meinen Menschenrechtserklärung zum Ausdruck kommt, der politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Demokratie und Mitbestimmung, der Solidarität
als Voraussetzung für soziale Rechte, der kulturellen Vielfalt und der Unver-
sehrtheit der Umwelt werden zu Leitvorstellungen dieser Strategie erho-
ben“.720
4.2.2. Begriffsbestimmung
a) Das Gefüge der ökonomischen Entwicklung soll sich auf die Befriedigung
der Grundbedürfnissen der ärmsten Menschen konzentrieren;
b) Beim Produktionsprozess haben diejenige Güter und Dienstleistungen
Vorrang, die der armen Bevölkerung zugänglich gemacht werden kön-
nen;
719
ebd.
720
ebd., 190
721
Vgl. Riedel 1986, 191 ff.
722
Nohlen 2003, 8584 ff.
130
Die Konzeption ist eine Reaktion der Vereinten Nationen auf die Verschär-
fung der Unsicherheit im Rahmen der zunehmenden Privatisierung von Gü-
tern und Dienstleistungen und zielt darauf, die Ursachen der Unsicherheit bei
Bildung, Nahrungsversorgung, intakter Umwelt, Gesundheit, Beschäftigung
und Einkommen zu entfernen725.
Die Human Security Conception geht davon aus, dass Sicherheit bisher le-
diglich als militärischer Schutz von externen Eingriffen verstanden wird, wäh-
rend die legitimen Erwartungen normaler Leute von Sicherheit in ihrer tagtäg-
lichen Existenz vergessen wurden. Durch den Begriff der Menschlichen Si-
cherheit sucht der Human Security Report diesen Mangel abzustellen.726
„Acts of terror and the reactions they provoke are often the result of profound
socioeconomic, environmental, and political pressures – forces that together
create a less stable world. Among them are endemic poverty, convulsive
economic transitions that cause growing inequality and high unemployement,
723
ebd.
724
www.bundestag.de/gremien/welt/globend/623.html
725
ebd.
726
www.worldwatch.org/pubs/sow/2005/toc/1
131
„It means, first, safety from such chronic threats as hunger, disease and re-
pression. And second, it means protection from sudden and hurtful disrup-
tions in the patterns of daily life – whether in homes, in jobs or in communi-
ties”729.
727
ebd.
728
www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/theorie/altvater.html
729
ebd.
730
ebd.
132
Soziale und ökonomische Sicherheit ist also nur durch die garantierende
Funktion der öffentlichen Institutionen möglich, die sich auf die Bedürfnisse
und Interessen der Menschen bezieht734.
Die Konzeption der Menschlichen Sicherheit hat sich auf internationaler Ebe-
ne durchgesetzt. Nach Überzeugung des Washingtoner Worldwatch-Instituts
ist die Armut die Wurzel allen Übels in der Welt und bedroht die internationa-
le Sicherheit736.
731
www.unac.org/en/linklearn/canada/security/perception.asp
732
ebd.
733
ebd.
734
ebd.
735
www.hsph.harvard.edu/hpcr/events/hsworkshop/comparison_definition.pdf
736
www.vistaverde.de/news/Politik/030523_armut.htm
133
„Eine instabile Welt verlängert nicht nur die Armut, sie wird schließlich auch
den Wohlstand bedrohen, an den sich eine reiche Minderheit gewöhnt
hat.“737
Eine sichere Welt setze eine gerechtere Entwicklung voraus. Dem Bericht
zufolge ist mehr Geld für Armutsbekämpfung, Nahrungssicherheit, Befriedi-
gung der Grundbedürfnisse und Aufrechterhaltung der natürlichen Ressour-
cen erforderlich738.
Würden die Regierungen hierfür 100 Milliarden Dollar im Jahr zur Verfügung
stellen, was laut Worldwatch 14,8 Prozent der Militärausgaben entsprechen,
könnte es gelingen, ab sofort Armut, Massenhunger, Krankheiten und Anal-
phabetismus in der Welt auszurotten739.
Vor kurzem kam die Weltbank zu dem gleichen Schluss. Nach Auffassung
von Weltbank-Präsident James D. Wolfensohn sollen die Industriestaaten
trotz schwacher Wachstumsraten die Entwicklungshilfe im eigenen Sicher-
heitsinteresse weiterführen740.
„Fünf von sechs Milliarden Menschen leben in Ländern der Dritten Welt. Dies
ist ein Markt für die Industriestaaten. Aber dies ist auch die Grundlage der
Stabilität. Wenn man das Armutsproblem nicht löst, gibt es auch keinen Frie-
den. Man kann diese Frage nicht vertagen, bis man wieder drei Prozent
Wachstum hat. Man muss sich ständig damit befassen. Das hat mit Mildtä-
tigkeit nichts zu tun. Das ist Eigeninteresse“741.
737
ebd.
738
ebd.
739
www.nachhaltigkeitsrat.de/aktuell/news/2005/26-01_09/content.html
740
ebd.
741
ebd.
134
Für die Weltbank ist die Überwindung der Unterernährung nur durch die Be-
seitigung der Armut möglich742.
„In der Welt gibt es inmitten des Überflusses auch tiefe Armut. Von den 6
Milliarden Menschen auf der Erde leben 2,8 Milliarden – also fast die Hälfte -
von weniger als 2 US-Dollar pro Tag und 1,2 Milliarden – also ein Fünftel -
sogar von weniger als 1 US-Dollar pro Tag. Jeden Tag sterben etwa 100.000
Menschen an Hunger und seinen Folgen, d. h., ein Toter pro Sekunde, über
36 Millionen im Jahr“743.
Die Armut in der Welt ist noch immer groß, auch wenn sich die Lebensver-
hältnisse durch den Wohlstand industrialisierter Länder, die globale Vernet-
zung und die technischen Ressourcen in den letzten 100 Jahren stärker ver-
bessert haben744.
Wegen der weltweiten Armut und Ungleichheit hat die internationale Ge-
meinschaft mit der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen, Entwick-
lungsziele festgelegt, deren Hauptteil bis zum Jahr 2015 erreicht sein müs-
sen. Das sind unter anderem:
• Halbierung der Anzahl der Hungernden und der Bedürftigen in der Welt.
• Reduktion des Prozentansatzes der Weltbevölkerung, der in extremer
Einkommensarmut (also von weniger als 1 US-Dollar pro Tag) leben, um
die Hälfte.
• Gewährleistung einer allgemeinen Grundschulausbildung.
• Reduktion der Säuglings- und Kindersterblichkeit um zwei Drittel.
• Verringerung der Müttersterblichkeit um drei Viertel.
742
Vgl. Weltbank, Weltentwicklungsbericht 2001
743
ebd., 3
744
ebd.
745
ebd.
746
ebd., 4
135
747
Menschenrechte, bpb Bonn 2004, 265 ff.
748
Weltbank 2001, 5
749
ebd., 7
750
ebd.
751
ebd.
752
ebd.
753
ebd.
136
754
ebd.
755
ebd.
756
ebd., 8
137
757
ebd.
758
www.inwent.org/E+Z/1997-2002/ez400-7.htm
759
ebd.
760
ebd.
138
Nach dem zweiten Weltkrieg erhöhten die USA ihren Etat für wirtschaftliche
Unterstützungsmaßnahmen anderer Länder auf die Rekordhöhe von 1,5
Prozent ihres Bruttosozialprodukts (zum Vergleich heute: 0,1 Prozent;
Deutschland: 0,2 Prozent)763. Sie finanzierten damit den Marshallplan für den
Wiederaufbau von Europa. Der Marshallplan trug zum europäischen Wirt-
schaftswunder und zugleich zu einer breiten Wohlstandserhöhung bei.
Heute sind Wohlstand, Sicherheit, Frieden und Freiheit jedoch durch extreme
Armut und Not gefährdet. 50 Prozent der Weltbevölkerung müssen mit weni-
ger als 2 Euro pro Tag auskommen (siehe auch 5.1. Stellungnahme der
Weltbank), 100.000 Menschen sterben täglich an Hunger und Mangel an
sauberem Wasser764.
Die Idee für einen Welt-Marshall-Plan gegen die Armut wurde 1990 von Al
Gore in seinem Buch „Wege zum Gleichgewicht – Ein Marshallplan für die
Erde“ entwickelt, die auf eine Veränderung dieser katastrophalen Situation
abzielt765.
761
ebd.
762
ebd.
763
www.faw.uni-ulm.de
764
ebd.
765
Gore 1992.
139
Die United Nations Millenium Development Goals, die global bis zum Jahr
2015 abgestimmt sind769, stellen das verfolgte Umsetzungsziel der Initiative
dar. Bezüglich des Finanzierungsbedarfs werden Analysen der United Nati-
ons770, die europäische Position des britischen Schatzkanzlers Gordon
Brown771 sowie Analysen von George Soros772 zugrunde gelegt. Demnach
sind, über den heutigen Betrag der Entwicklungshilfe hinaus, 980 Milliarden
US Dollar zusätzlicher Hilfe erforderlich. Diese Gelder sind durch folgende
Maßnahmen zu beschaffen:
Große Waffenhändler wie Frankreich, Russland und die USA könnten auf
diese Art und Weise zu Pionieren im Kampf gegen den Hunger werden:
Weltweit werden 900 Milliarden für Rüstung ausgegeben, aber nur 68 Milliar-
den Dollar für Entwicklungshilfe776.
5.5. Kerosinsteuer
773
www.globalmarshallplan.org/e897/e3114/e3118/
774
ebd.
775
www.blog.handelsblatt.de/adhoc/eintrag.php?id=35
776
ebd.
141
Zuvor hatten die sieben führenden Industrienationen im März 2005 beim G-7-
Gipfel in London beschlossen, die extreme Armut und den Hunger in den
Entwicklungsländern weiter zu bekämpfen. In diese Richtung schlug Staats-
präsident Frankreichs eine weltweite Sondersteuer vor, um mehr Gelder zur
Armutsbekämpfung und Ausrottung des Hungers aufzubringen. Die Briten
schlugen ihrerseits vor, eine internationale Finanzeinrichtung zu kreieren, bei
der die reichen Länder gemäß bestimmter Quoten Anleihen am Kapitalmarkt
in Umlauf bringen, welche den Entwicklungsländer zugute kommen sollten:
die IFF (International Financial Facility). Der britische Schatzkanzler Gordon
Brown beabsichtigt, mittels dieser Einrichtung 50 Milliarden Dollar im Jahr für
die Entwicklungshilfe einzunehmen778.
Beim G-7-Gipfel wurde schließlich bemerkt, dass das Geld allein nicht alles
ist, und dass die Empfängerregierungen Hunger und Armut in ihren Ländern
intensiver bekämpfen müssen780.
777
www.ig-oekoflughafen.de/Politik_55.htm
778
ebd.
779
ebd.
780
ebd.
142
Diesem Bericht zufolge haben die reichen Nationen der Welt die Möglichkei-
ten und das Geld, allerdings nicht den politischen Willen, um den Hunger und
die extreme Armut auszurotten. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Be-
richt der Vereinten Nationen, an dem in den vergangenen drei Jahren über
260 internationale Experten gearbeitet haben und der im Januar 2005 dem
Bundesentwicklungsministerium in Berlin vorgestellt wurde. Laut Bericht ist
die Ausrottung des Hungers und der extremen Armut nicht nur eine Frage
der globalen Gerechtigkeit und der Menschenrechte, sondern auch der glo-
balen Sicherheit: Armut und Hunger steigern exponentiell die Instabilität von
Gesellschaften, und deshalb ist Hungerbekämpfung auch Friedenspolitik781.
781
ebd.
143
Schlussfolgerungen
„Jede Waffe, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel läuft, jede
Rakete, die abgefeuert wird, bedeutet letztendlich einen Diebstahl an Denje-
nigen, die verhungern und nicht versorgt werden“ erklärte US-Präsident Ei-
senhower 1953782.
782
www.friedensbewegung-heilbronn.de/BLOEFOMA05.html
144
Beseitigung von Hunger und Armut ist eine juristische und moralische Ver-
pflichtung der Solidarität. Die internationale Gemeinschaft trägt in diesem
Sinne eine große Verantwortung.
3) Das Recht auf Nahrung hat das gleiche Gewicht wie die anderen Men-
schenrechte, deshalb muss seine Realisierung mit der gleichen
Entschlossenheit betrieben werden. Das Argument der hohen Kosten für
die Umsetzung der wsk-Rechte im Allgemeinen und des Rechts auf
Nahrung im Speziellen ist das zentrale Argument, um die
Menschenrechtsqualität dieser Rechte in Frage zu stellen. Aber auch für
die Verwirklichung vieler bürgerlicher und politischer Rechte sind positive
staatliche Leistungen erforderlich, ohne dass ihre Rechtsqualität
angezweifelt wird. Die wsk-Rechte sind also in ihrer Rechtsnatur nicht
von bürgerlichen und politischen Rechten zu unterscheiden.
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