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Kirchturm und Glockengeläut in islamischen Ländern

Damaskus wird zu Recht «Wiege der Zivilisationen» genannt. Als älteste


durchgehend bewohnte Stadt der Welt ist sie seit Jahrtausenden Zeugin verschiedener
Kulturen und Religionen. In westlichen Ländern wenig bekannt ist, dass die Stadt als
Sinnbild für religiöse Toleranz gilt. Arabische Juden, Christen und Muslime leben in
dieser mehrheitlich muslimischen Metropolis in gegenseitigem Respekt und
Offenheit. Schmuckvolle Kirchtürme erheben sich zu Hunderten in der Altstadt von
Damaskus sowie in der umliegenden Agglomeration. Nicht selten stehen Kirchtürme
unmittelbar neben prächtigen Minaretten. Obwohl 90 Prozent der syrischen
Bevölkerung Muslime sind, scheint sich niemand über das stündlich erklingende,
lautsprecherverstärkte Glockengeläut christlicher Kirchen zu stören.
In Syrien gibt es, soweit ersichtlich, keinen einzigen Rechtsfall, in dem ein Gericht
aufgrund Glockenlärm oder ideeller Emissionen hätte tätig werden müssen. Bedros
Miratian, Erzbischof der armenisch-katholischen Diozöse von Aleppo, begründet
diese fehlende Auseinandersetzung folgendermassen: «Wir müssen uns keinen
spezifischen Platz in der Gesellschaft suchen. Er wurde uns schon vor langer Zeit
gegeben».1 Syrien ist kein Einzelfall. Auch in anderen muslimisch geprägten Ländern
wie Jordanien und dem Libanon haben Christinnen und Christen das Recht als
Glaubenszeugnis Kirchen mit Türmen zu errichten. Diese Toleranz gegenüber
christlicher Selbstbestimmung wurzelt in uralter, islamischer Tradition.

Änfänge religiöser Toleranz

Im Jahre 380 wurde das Christentum von den Kaisern Valentinian, Theodosius und
Arcadius zur Staatsreligion erklärt. Kaiser Theodosius liess das Symbol der
byzantinischen Herrschaft, den Jupitertempel in Damaskus, zerstören und errichtete
an seiner Stelle – als Demonstration des christlichen Glaubens – eine beindruckende
Kathedrale zu Ehren Johannes’ des Täufers. In den folgenden Jahrhunderten wurde
das oströmische Territorium christianisiert. Die religiöse Vielfalt der Region
verringerte sich deutlich, bis im Jahre 635 die Araber in Damaskus einfielen
und unter Kalif Umar die Stadt besiegten.
Die religiöse Praxis Andersgläubiger wurde durch die Islamische Expansion nicht
1
«We do not have to seek a specific place in society. It was given to us long ago». Interview
mit Bedros Miratian, Erzbischof der armenisch-katholischen Diozöse von Aleppo, in Aleppo (2.
Dezember, 2006).
eingeschränkt. Christen und Moslems beteten fortan gemeinsam in der
Johanneskathedrale zum selben Gott. Mit wachsendem, islamischen
Bevölkerungsanteil kaufte die Stadtverwaltung die Kathedrale den Christen ab.2
Hunderte anderer Kirchen und Klöster durften weiterhin zur Ausübung der
christlichen Religion genutzt werden. Jedoch rissen die Muslime einerseits manche
Teile der Johanneskathedrale ab, andererseits bauten sie Minarette hinzu, damit «die
grösste Moschee aller Zeiten» als Zeichen der Dynastie der Umayyaden gelten sollte.3
Die neue Herrschaft drängte den islamischen Glauben der vorwiegend christlichen
und jüdischen Bevölkerung nicht auf. Andersgläubige wurden lediglich zur Annahme
des Islams eingeladen.4
Vorausgesetzt dass sie Tribut bezahlten, besassen Juden und Christen ein Recht auf
Religionsausübung sowie auf Schutz ihres Eigentums und islamische Gelehrte
handelten mit den Repräsentaten anderer Religionsgemeinschaften
Schutzverträge aus. Die Bezahlung einer Kopfsteuer (der so-
genanten jizyah) war für Nichtmuslime notwenig um sich vor
Plünderungen, Massaker und Versklavung der Beduinen zu
schützen.
Die Tradition religiöser Toleranz wurde jedoch nie in absoluter Weise
gelebt oder respektiert; die jüdische und christliche Dorf- oder
Stadtbevölkerung wurde wiederholt Opfer gelegentlicher Massaker
und Sklaverei von Seiten der Bedouinen. So gestaltete sich die
Umsetzung der Toleranzlehre schwierig, zumal einige Stämme nur
widerwillig islamisches Recht einhielten.5

Weiterentwicklung religiöser Toleranz

Ende des 12. Jahrhunderts führten die Osmanen das von den
Umayyaden entwickelte Konzept weiter. Die Patriarchen und
Bischöfe der christlichen Gemeinschaften erhielten das Recht ihre
Kirchensteuereinnahmen durch religiöse Stiftungen (awaqf) selbst
zu verwalten, was zur Errichtung neuer Sakralbauten sowie zur
2
Siehe Richard Van Leeuwen, Waqf and Urban Structures, Brill, Leiden 1999, S. 5.
3
Ebd.
4
Siehe Burhan Al-Din Al-Farghani Al-Marghinani: Al-Hidayah, Bd. 1. Amal Press, Bristol
2006, S. 291.
5
Siehe Bat Ye’or, The Decline of Eastern Christianity under Islam: from Jihand to Dhimmitude,
Fairleigh Dickinson University Press, New Jersey 1996, S. 125.
Bereicherung bestehender Kirchen und Klöster im gesamten Nahen
Orient führte.6
Das osmanische Toleranzverständnis sah zudem vor, Andersgläubligen ihr religiöses
Recht im Bereich Personenstand weiter zuzugestehen. Somit wurde das Ehe- und
Erbrecht sowohl christlicher als auch jüdischer Religionsgemeinschaften nicht durch
die Schari’a, sondern durch das Evangelium oder das Talmudische Recht geregelt.
Das Oberhaupt der jeweiligen nichtmuslimischen Religionsgemeinschaft nahm in der
Folge gesetzesinterpretierende Aufgaben wahr. Die Osmanen nannten diese
unabhängigen Rechtseinheiten Millet in Anlehnung an das arabische Wort millah, was
Nation, Volk oder Gemeinschaft bedeutet. Für Religionsminderheiten brachte das
Millet-System einen weiteren Vorteil: Es ermöglichte den verschiedenen
Gruppierungen ihre lokalen, ethnischen sowie sprachlichen Eigenarten zu bewahren.7

Die religiöse Toleranz von heute

Fortschrittliche islamische Länder

In Syrien, dem Libanon und Jordanien wurde das Millet-System nach dem Ersten
Weltkrieg aufgehoben. An seine Stelle trat die öffentlichrechtliche Anerkennung
christlicher und jüdischer Religionsminderheiten.8 Der Staat mischt sich in diesen drei
Ländern nicht in das Personenstandsrecht (z.B. Verlobung, Ehe, Kindsrechte und
Nachlass) der Religionsgemeinschaft ein.9 Die Kirchen organisieren und verwalten
sich autonom im Rahmen des weltlich gesetzten Rechts, wobei das isamisches Recht
keine Vorrangstellung einnimmt. Die Rechtsprechung (in Form von so genannten
fatāwā) gilt nur für muslimische Gemeinschaften.10 Neue Kirchen einschliesslich
Glockenturm, Klöster und Friedhöfe dürfen in Übereinstimmung mit dem geltenden
Baurecht frei errichtet werden. Christen und Juden sind damit den Muslimen

6
Siehe Peter C. Hennigan, The Birth of a Legal Institiution: The Foundation of the Waqf in
Third-Century A.H. Hanafī Legal Discourse, Brill, Leiden 2003, S. 92.
7
Siehe Kemal H. Karpat, Studies on Ottoman Social and Political History: Selected Articles
and Essays, Brill, Leiden 2002, S. 612.
8
Der Begriff der öffentlich-rechtlichen Anerkennung ist im Nahen Orient nicht verbreitet. Er
wird hier in Anlehnung an das vergleichbare geltende Recht der Schweiz verwendet. Z.B. nennt
das syrische Personenstandsgesetz von 1949 18 verschiedene Kulte als rechtlich anerkannt. Siehe
Gesetzesanhang 1, S. 389.
9
Z.B. siehe Personenstandsrecht der Katholischen Riten, syrisches Gesetz Nr. 31 von 2006, in
Kraft seit 1. Januar 2007.
10
Z.B. siehe syrisches Legislativdekret Nr. 185 vom 10. Dezember 1961, S. 2673.
gleichgestellt und die Religionsfreiheit findet verfassungsrechtlichen Schutz.11

Radikal islamische Länder

Nicht alle muslimischen Staaten haben die ursprüngliche Toleranzlehre fortgesetzt.


Nach obenstehender Darstellung ist es bedauerlich, dass beispielsweise in Saudi
Arabien keine nichtmuslimische Symbole getragen werden dürfen, und es in den
andern Ländern der arabischen Halbinsel zu wenig Platz für Kirchen und schon gar
keine Baubewilligung für Kirchtürme gibt.12 Für ein Leben in radikalreligiöser Einheit
begeben sich diese Staaten nicht nur ins soziokulturelle Abseits, sondern sie entziehen
sich verschiedenen global gängigen Formen des wirtschaftlichen Austauschs, der
Stabilität sowie der Kreativität.

Die relgiöse Toleranz von morgen

Ob sich die Schweiz in Zukunft zu den fortschrittlichen muslimischen Ländern


gesellt, oder in die Fussstapfen radikal islamischer Staaten tritt, ist ungewiss. Für den
Bischof von Arabien, Paul Hinder, ist hingegen klar, dass die Ablehnung der
Minarettverbotsinitiative ein wirkungsvolles und positives Signal in radikalislamische
Länder aussenden könnte.13 Die Geschichte Syriens, Jordaniens und des Libanons
zeigt, wie stark sich die Religionsfreiheit in muslimischen Ländern entfalten kann.
Christen und Juden würden von einem Schweizer «Nein» zum Minarettverbot
profitieren. Somit geht die Verantwortung der Stimmberechtigten weit über die
eignen Landesgrenzen hinaus. Obwohl die Minarettverbotsinitiative aus den
dargelegten Überlegungen abzulehen ist, können wir sie paraodoxerweise auch als
Chance sehen, uns klar für die Zustimmung zur Religionsfreiheit auszusprechen.

11
Z.B. siehe Article 35, Absatz 1 und 2 der syrischen Verfassung.
12
Gemäss E-Mail Korrespondenz mit Bischof Paul Hinder vom 21. Oktober 2009.
13
Ebd.

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