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Schattenwacht-Zyklus

Michael Thiel

Schattenwacht-Zyklus Böses Erwachen


DEM ABGRUND ENTRINNEN
Eine brisant gemischte Gruppe von Abenteurern
macht sich auf, den stets mächtiger werdenden

Böses Erwachen
Michael Thiel
Chimäriern zu widerstehen. Die Mischwesen
aus Drachen- und Menschenblut scheinen
unausweichlich die gesamte bekannte Welt zu
unterjochen. Unterstützt von kampferprobten
Gefährten und hadernden Halbgöttern, nimmt
die junge und unerfahrene Halbelfin Laura die
Herausforderung der dunklen Übermächte an.

„Böses Erwachen“ bildet den fesselnden Auftakt


im sechsbändigen Kampf gegen das Imperium des
Chimärierfürsten Schattenwacht. Insbesondere
die realitätsnahe Darstellung der Kampfszenen
versetzt die Leserschaft mitten ins Geschehen,
saugt förmlich in den Strudel der Geschichte
– und lässt Sie so fast am eigenen Leib erfahren.

ISBN 978-3-940-92800-9
9.95 € [D]
10.95 € [A]
18.90 SFr (UVP) 9 783940 928009
UMWELTHINWEIS
Gedruckt auf holz-, säure- und chlorfreiem Papier

Deutsche Erstausgabe
1. Auflage

Copyright © 2007 SCRATCH Verlag Simon Czaplok, Hamburg


Printed in Germany 2008
Umschlagsillustration: Klaus Scherwinski, Bielefeld
Innenillustration: Flavio Bolla, Aarau (Schweiz)
Karte und Symbole: Lydia Schuchmann, Weiterstadt
Layout und Satz: Thorsten Göde, Hamburg
Lektorat: André Krieg, Hamburg
Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN 978-3-940-92800-9

http://www.scratch-verlag.de

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der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Textteile.
Michael Thiel

Böses Erwachen

Phantastischer Roman

- Aus der Welt der Erben von Theb Nor -


Beginn des Schattenwacht-Zyklus

In Vorbereitung:
Preis der Unsterblichkeit
Spiel mit dem Feuer
Sühne der Könige
Sturz eines Gottes
Ende der Nacht
Hiermit wird der Schattenwacht-Zyklus enden.

SCRATCH Verlag Simon Czaplok


Jedem gewidmet, der den Mut und die Kraft aufbringt,
gegen den Strom toter Fische zu schwimmen.
„Be your own disciple, fan the sparks of will“
Manowar
Prolog 

Mit ihrer runzligen, dicken Hand strich sie sich eine weiße
Lockensträhne aus den müden Augen. Sie saß ganz allein
am abendlichen Feuer, eine Wolldecke eng um den Leib
geschlungen. „Mutter ...“, hauchte sie, als sie langsam den Kopf
in den Nacken legte. Lächelnd genoss sie den majestätischen
Anblick des Sternenhimmels über sich. „Bald folge ich Dir!“
Sie dachte an die Prophezeiung von Theb Nor. Diese uralte
Priesterlehre hatte die Welt – den von Wasser umschlossenen
Leib der Naturgöttin Heva – verändert, schon lange vor
ihrer Zeit. „Wehe den Sorglosen! Geschichte wiederholt sich
unaufhörlich“, hatte der Hohepriester Theb Nor vor weit
über hundert Jahren gemahnt. Wann war es wohl wieder
soweit? Und welcher Teil würde sich wiederholen?

Vor Jahrtausenden war es so,


Wie es sich heute wiederholen kann:
Überheblichkeit und maßlose Habgier
Schmiedeten einen Pakt
Mit dem Fürsten der Dämonen.
Er war und ist ein Feind der Götter,
Den Errichtern und Beschützern unserer Welt.

Ein lautes Knacken im nachtschwarzen Wald hinter ihr


ließ sie aufspringen und herumwirbeln. Stöhnend rieb sie
 sich darauf das Kreuz, doch ihre alten Augen durchdrangen
aus schmalen Schlitzen die Dunkelheit. Ihr nicht geringes
Gewicht verlagerte sie auf das linke Bein, da ihr rechtes Knie
wie unter Dolchstichen vom Alter schmerzte. Ihre rechte
Hand tastete nach dem Griff des eisernen Kurzschwertes in
der Lederscheide.
Ihr Herz beschleunigte nicht sonderlich. Aber ihre
Erinnerungen an Angreifer, dunkle Wälder, Blut und Schmerz
rasten wie so viele Male zuvor durch ihren Kopf. Es roch
nach Schuppen! Nach Chimäriern, den zweieinhalb Meter
großen Drachenmenschen, gegen die sie in ihrer Jugend so oft
hatte kämpfen müssen. Nie würde sie den harzigen Geruch
der ockernen Schuppen und des kochenden Drachenatems
vergessen. Oder das Gefühl des Fausthiebs einer solchen
fünfhundert Pfund schweren Bestie. Pýucaani nannten sie
sich selbst, geborene Soldaten mit ungeheurer militärischer
Disziplin. Ihre Generäle waren von infernalischer Intelligenz
und Genialität.
Die alte Kriegerin kratzte sich nervös an ihren leicht
spitzen Ohren. Lautlos zog sie das Schwert aus der Scheide
und verteilte vorsichtig das Gewicht auf beide Beine zurück;
die Schmerzen im Knie hielten sich in Grenzen. Auch ihr
Kreuz schien ihr heute nicht völlig den Dienst versagen zu
wollen.
„Hevas Leib ist endlich befriedet, steck Dein Schwert
weg!“, lachte eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit vor ihr.
„Pah! Man kann nie wissen, was außerhalb der Sichtweite
der großen Stadtstaaten der Menschen heranschleicht! Hevas
Leib ist groß!“, knurrte die Frau – und schob das Schwert
mit einem Grinsen zurück. „Vielleicht bist Du irgendein
feindlicher Stammeskrieger auf der Jagd nach Eisen!“ Ihr 
Lächeln schwand schon wieder, aber nicht wegen ihrer
Witzelei, sondern wegen der Prophezeiung Theb Nors, die
noch immer durch ihre Gedanken spukte.

Doch der Feind ist nicht vernichtet!


Er lauert auf eine neue Chance,
Auf eine neue Schwäche in den Seelen,
Auf dass die Sterblichen selbst ihn befreien.
Denn da die Gefahr vergessen ward
Und die Bücher geleert,
Konnten sie neu gefüllt werden.
„Genau die Begrüßung, die ich von Dir erwartet habe!“,
lachte die sich nähernde Stimme aus dem Wald. „Nun, wie
geht es der größten Kriegerin der bekannten Welt?“
Jene Worte ließen das Lächeln der alten Halbelfin vollends
verblassen, trotz des fröhlichen Klanges ihres Gefährten.
Schmerzvoll an ihre Vergangenheit erinnert, schweifte sie
ab, dachte viele Jahre zurück. Dachte an Dinge, die sie selbst
erlebt, und andere, die sie viel später erst über die damaligen
Ereignisse erfahren hatte ...

Kein Orakel vermag zu sehen,


Wie es im Himmlischen Krieg steht
10 Zwischen Dämonen und Göttern.
Doch eins ist sicher,
Eins spüre ich so deutlich,
Wie die Pflanzen das Licht spüren:
Die letzte Entscheidung
Treffen die Sterblichen allein.
Schon sind die ersten Schergen befreit,
Dunkle Gegenspieler der Vier Könige,
Auf der Suche nach unserem freien Willen.

„Da kommen Reiter! Versteck dich!“, rief die Mutter


ihrem Jungen zu. „Schnell! Und mach das Herdfeuer aus!“
Sie wich in den Schatten der Tonziegelhütte zurück, spähte
aber weiter aus der Fensteröffnung. Ihre Augen fixierten
zwei winzige Punkte im flirrenden Wüstensand, die sie
nur vage als Kamele identifizieren konnte. Ihre Hände
gruben sich in ihr schmutziges Leinenkleid.
Der Junge löschte das Herdfeuer mit einem
Wasserschwall aus dem bereitstehenden Ledereimer.
Dann lief er zum Fenster und starrte mit großen Augen
und offenem Mund hinaus.
„Melek! Versteck dich im Vorratsraum!“, herrschte die
Mutter ihn an und funkelte böse auf ihn herab.
„Sind das Chimärier, Mama?“, fragte Melek und blickte
furchtsam zu seiner Mutter auf. Nur in den dunkelsten 11
aller Geschichten wurden jene Monster erwähnt.
„Nein“, antwortete sie zögerlich, „aber das ist unwichtig
für uns einfache Bauern.“ Sie spähte sorgenvoll aus dem
Fenster, wischte nervös dicke Schweißtropfen von der
Stirn und atmete flach durch den offenen Mund.
„Die reiten ja ganz langsam!“, rief Melek erstaunt und
zeigte nach draußen.
Ohne Vorwarnung packte die Mutter den Jungen an
den Schultern und zog ihn hinter sich her durch einen
Vorhang in den zweiten Raum der Hütte. Sie stieß mit
dem Fuß energisch einen blassen Webteppich von einer
Holzluke.
Melek rief: „Was wird aus meinen Geschwistern und
Vater auf dem Feld?“
Die Mutter antwortete nicht, sondern klappte die
Holzluke auf. Zwei dicke Hanfseile, verbunden mit
mehreren verknoteten Aststreben, führten als Strickleiter
in ein dunkles Loch. „Rein da!“, befahl die Mutter, packte
Melek am Arm und riss ihn bis direkt vor die Leiter.
Melek trat von einem Fuß auf den anderen und starrte
gequält nach unten. „Ich will da aber nicht rein!“, jammerte
er.
Im Nebenraum wurde die Eingangstür aufgerissen und
schwere Schritte trampelten ins Haus. Melek und seine
Mutter erstarrten, ihr Griff um seinen Arm wurde locker.
„Weib! Bist du hier?“
„Vater!“, rief Melek und rannte durch den Vorhang in
die Arme eines kräftigen, schwarzbärtigen Mannes.
„Mein Junge!“, lachte der Vater und hob Melek auf
12 den Arm. Auch Meleks Mutter war inzwischen durch den
Vorhang getreten. Die Eltern wechselten besorgte Blicke.
Hinter dem Vater standen drei junge Männer. Der
jüngste und schmächtigste schloss die Tür, während die
beiden älteren mit schmalen Augenschlitzen durch das
Fenster starrten. „Ob die beiden die Wüste durchquert
haben?“, raunte der Älteste.
„Dann hätten sie bestimmt Tigermänner gesehen!“,
raunte der andere Junge am Fenster zurück.
„Irgendwas stimmt an denen nicht“, flüsterte der Älteste,
lehnte sich vor und stützte sich auf der Fensterkante ab.
„Komm da weg!“, rief die Mutter entsetzt.
„Aber er hat recht!“, brummte der Vater, „ich kann sicher
noch weniger erkennen als Amchad, aber ich glaube, das
sind keine Menschen. Sie sind zu klein.“ Der Vater stellte
sich hinter Amchad, den Ältesten, und blickte über dessen
Schulter nach draußen. „Sieh ihre Beine an den Kamelen!
Viel zu kurz!“
Amchad bekam große Augen und flüsterte: „Oder die
Kamele sind so riesig!“
Inzwischen stand die ganze Familie neugierig an der
Fensteröffnung und spähte in die Ferne, wo zwei Kamele
gemächlich auf das Dorf zutrotteten.

Auf den Kamelen saßen zwei Obtaru: Kleinwüchsige


eines mächtigen Stammes aus Hevas Mitte, einem Gebirge
weit im Norden. Obtaru waren mit Zwergen und Gnomen
verwandt, teilten jedoch nicht die zwergische Gier nach
Reichtum oder die gnomische Gier nach Wissen mit
ihnen.
Beide Obtaru, Mann und Frau, besaßen zerzaustes, 13
schwarzes Haar und kräftige Körper. Ihre einst bleiche
Haut war von der Wüstensonne tiefrot gebrannt und pellte
ab. Dem eisigen Gemüt der Obtaru entsprechend – ihr
Schöpfer war der Gletschergott Mascilmur – erduldeten
sie die Hitze jedoch mit Gleichgültigkeit. Sie trugen weiße,
zu große Kaftane, wie menschliche Wüstenbewohner
sie bevorzugten. Hinter ihren Sätteln türmten sich
festgebundene Lederrucksäcke und Leinenbeutel. Auf den
Köpfen trugen sie große Strohhüte, die nicht recht zu den
Kaftanen passten, noch weniger aber zu den natürlichen
Gewohnheiten ihres Stammes, der höchste Berge und
eisige Gletscher bewohnte. Obtaru froren niemals, aber
die Hitze einer Wüste kannten sie in ihrer Heimat nicht
ansatzweise.
„Wirst Du durchhalten, bis wir da sind?“, fragte die
Frau ein wenig amüsiert.
Der Mann knurrte bloß leise zur Antwort und schloss
die Augen. In seinem Bart klebten ein paar Reste seiner
Übelkeit. „Ich hasse reiten“, murmelte er, „und noch mehr
hasse ich Kamele.“ Er wischte sich über die nasse Stirn.
„Aber das Schlimmste ist diese Hitze! Die Verteidigung
des Westpasses gegen die Chimärier und Tiefenweltler
vorletztes Jahr war weniger schlimm.“
„Das war ein Verrat und ein Gemetzel!“, empörte sich
die Frau, „viele Krieger verloren ihr Leben!“
Der Mann schwieg. Erinnerungen an Kämpfe gegen
deformierte Kreaturen, deren Obtaru-Vorfahren vor
zahllosen Generationen in die Tiefe getrieben worden
waren, verdarben ihm den Spaß am Nörgeln. Wir hätten
14 nie die Berge verlassen sollen. Erst recht nicht gen Süden. Von
wegen, große Schätze ... „Gierig wie die Zwerge“, hatte der
Älteste gesagt … Verdammt, er hatte recht!
In der Ferne sahen die beiden, wie sich am Dorfrand
Männer mit Knüppeln und allerlei Feldarbeitsgeräten
ansammelten und sie erwarteten.
Der Mann seufzte entnervt und brummte: „Du
redest.“
„Na gut“, erwiderte seine Frau, „aber sei nicht wieder so
grimmig. Das würde mir das Gespräch nämlich wirklich
erleichtern!“
Abermals knurrte der Mann bloß zur Antwort. Grimmig
zu sein war unter Obtaru eine veraltete religiöse Pflicht, um
dem Vorbild ihres Schöpfers Mascilmur nachzueifern.

„Haltet eure Kamele an! Keinen Schritt näher!“, rief ein


Mann mit einem abgewetzten Knüppel, als die Obtaru in
Rufweite kamen und ihre Gesichter unter den Strohhüten
erkennbar wurden.
Die beiden gehorchten. Die Frau rief: „Wir sind Dolgos
und Mirthu. Wir haben die Wüste durchquert und wollen
jetzt nichts weiter als einen Schlafplatz und Vorräte. Wir
können mit Münzen dafür bezahlen.“
Die Männer des Dorfes steckten die Köpfe zusammen
und murmelten, während Dolgos und Mirthu ruhig
abwarteten. Weder kannten die Männer Obtaru – oder
deren bekanntere Verwandte, Gnome und Zwerge – noch
konnten sie mit Münzen viel anfangen. In Dörfen wie
diesem war Tauschhandel üblich.
Schließlich rief der Wortführer mit dem Knüppel:
„Ihr könnt in Solmeks Stall schlafen. Aber ihr müsst alle 15
Waffen abgeben. Ihr bekommt sie erst bei eurer Abreise
wieder, und die sollte bald sein.“
„Einverstanden!“, rief Mirthu zufrieden. Sie hüpfte aus
dem Sattel und führte ihr Kamel am Zügel weiter.
„Endlich“, seufzte Dolgos und sprang ebenfalls hinab.
Für einen Moment blieb er genau so stehen, wie er auf
den Füßen gelandet war, und schloss die Augen. „Ich hasse
Kamelreiten“, knurrte er.

Mirthu und Dolgos hatten sich in der kühlen Nacht


noch bis zu einem Heiler und Alchimisten durchgefragt.
Die Tonziegel seines Hauses waren weniger schief als die
der meisten anderen Hütten. Außerdem war das Haus so
groß, dass es zwei, vielleicht sogar drei getrennte Räume
besaß statt einen. Durch eine Tür aus Astgeflecht – einem
teuren Prunkstück – waren die Obtaru in den rotgoldenen
Feuerschein des Hauses gebeten worden und hatten ihr
Anliegen geäußert.
„Nein, so wird das nichts!“, krächzte der alte Mann und
ballte die knorrigen Fäuste. Mirthu und Dolgos blickten
zu ihm hoch, während er vor seinem Experimentiertisch
aus Ölbaumholz so energisch auf und ab rannte, dass die
Tontiegel und Kupferfläschchen darauf bei jedem Schritt
klirrten. Es roch plötzlich nach Humus und Zitrone.
„Beruhigt Euch“, sagte Dolgos eisig.
„Ohne mich könntet ihr nicht mal anfangen zu suchen!
Ich will den fünften Teil des Schatzes ... und das Pfund
Gold!“
„Entweder oder“, erwiderte Dolgos trocken. Bedächtig
16 nahm er seinen Strohhut ab, wusste er doch, dass er mit
seiner Halbglatze und dem schwarzen Haarkranz immer
noch ernstzunehmender wirkte, als mit dieser wenig
würdevollen Kopfbedeckung.
„Nein!“, schrie der alte Mensch unbeeindruckt. „Ich
habe noch nie ein Abenteuer erlebt, ich werde jetzt nicht
dabei sein und auch in der Zukunft nichts mehr erleben.
Aber einen Teil eines Schatzes werde ich kriegen! Und dazu
die reguläre Bezahlung, ein Pfund Gold. Entweder das –
oder ihr bekommt eben den Trank nicht. Dann könnt ihr
ja sehen, wie weit ihr in der verfluchten Ruine kommt!“
Dolgos neigte den Kopf angriffslustig nach unten und
funkelte den Greis böse an. Mirthu schwieg nachdenklich
und kratzte sich nervös am Arm.
Der Greis begann siegessicher zu lächeln. Er entspannte
die Fäuste und fuhr sich durch den langen weißen Bart.
„Den zehnten Teil des Schatzes, nicht mehr“, knurrte
Dolgos zornig.
„Den fünften“, antwortete der Greis mit höhnischer
Höflichkeit und grinste noch breiter.
Dolgos presste Lippen und Zähne fest aufeinander. Seine
Fäuste zerknitterten die Hutkrempe, die leise knirschend
und knackend dagegen protestierte.
Mirthu seufzte schließlich: „Einverstanden.“
Dolgos riss die Augen auf, fuhr herum und stierte
Mirthu an. „Wir haben beim Feilschen schon gegen
Zwerge gewonnen, und jetzt das! Das kannst Du nicht
zulassen!“, rief er fassungslos.
„Vergiss es. Ohne den Trank können wir die Ruine
nicht betreten“, murmelte Mirthu geknickt.
„Das weißt Du doch gar nicht!“, brauste Dolgos auf und 17
wirbelte dabei seinen angeschlagenen Strohhut haarscharf
an einem Tonfläschchen auf dem Alchimistentisch vorbei.
Mit glühenden Augen funkelte der Greis den Strohhut
an.
Mirthu wurde ebenfalls lauter. „Willst Du es etwa
ausprobieren? Was, wenn die Legende stimmt, wenn der
Ort verflucht ist und wir uns gegenseitig an die Kehle
gehen würden?“
Dolgos prallte ob dieser Vorstellung leicht zurück,
blieb aber auf den Fersen stehen. Er rang sein Erstaunen
nieder und widersprach zaghaft: „Das könnte uns doch
nie passieren.“
Mirthu blieb hart und stemmte die Fäuste in die Hüfte.
„Ich bin nicht bereit, das Risiko einzugehen. Wir brauchen
den Trank. Wenn der Preis dafür ein Pfund Gold und ein
Fünftteil des Schatzes ist, dann sei es so. Es bleibt uns
mehr als genug übrig.“ An den Greis gewandt, bestätigte
sie nochmals: „Wir sind einverstanden, Meister Kanfir.“
Kanfir lächelte breit, zwirbelte seinen Bart und erklärte:
„Sehr gut. Seid morgen zur Mittagsstunde wieder hier,
dann ist Euer Trank fertig.“

Die Obtaru verließen das Haus des Alchimisten und


tauchten in die helle Wüstennacht ein. Dolgos trat einen
kleinen Tonbrocken fort und brummte: „Ich weiß sowieso
nicht, wie ein Trank unsere Seelen vor Flüchen beschützen
soll. Ein Trank ist für den Körper da, nicht für die Seele.
Und woher weiß der Trank, was ein Fluch ist und wie und
wann er uns trifft?“
18 Mirthu seufzte theatralisch und entgegnete: „Du bist
ein Krieger und kein Alchimist, Du musst Dich damit
nicht auskennen. Kanfir aber ist Alchimist, er kennt sich
sehr wohl mit solchen Dingen aus. Ich hatte jedenfalls
nicht das Gefühl, dass er bloß vorgibt, es zu können.
Vergiss nicht, wir sind weit weg von Mascilmur, vielleicht
zu weit für seinen Schutz. Hier herrschen fremde Götter!
Wer weiß, was die von uns halten.“
Dolgos versetzte bitter: „Du bist eine Zwergin und kein
Mensch. Du kennst Dich mit Menschen nicht aus. Kanfir
ist aber ein Mensch. Menschen kennen sich mit Menschen
aus, aber Du nicht! Und hab ich nicht gesagt, lass uns den
Menschengöttern Opfer bringen? Jetzt würden sie sofort
sehen, dass wir bloß scheinheilig wären.“
Mirthu blieb stehen. „Dann mach einen besseren
Vorschlag, Sturkopf!“
Dolgos drehte sich zurück. „Selber Sturkopf! Geh
doch! Ich bleibe einfach hier und warte ab, ob Du lebend
zurückkehrst!“
Mirthu schrie: „Fein! Aber wenn ich es schaffe, gehört
mir auch der Schatz allein!“
Dolgos übertönte sie abermals: „Wunderbar! Schrei
doch noch lauter im ganzen Dorf herum, dass wir einen
Schatz suchen!“
Betroffen klappte Mirthu den Mund zu und errötete.
Kopfschüttelnd stapfte Dolgos davon und ließ sie stehen.
Durch die eisige Gleichgültigkeit der Obtaru war die
berühmte Sturheit der Zwerge durchgeschimmert – die sie
anderen Völkern gegenüber stets bestritten.
Melek rannte so schnell er konnte nach Hause. „Mama! 19
Mama!“, schrie er, als er die Schwelle überflog und in den
Wohnraum sprengte. „Die Gnome suchen einen Schatz!
Der alte Kanfir hilft ihnen!“, japste der Junge außer
Atem. Mutter und Vater sahen sich tiefgründig an und
schwiegen. Melek blickte hektisch zwischen beiden hin
und her. Weil niemand sofort etwas sagte, rief er: „Es ist
in den Sandruinen! Ich weiß, wo die sind!“ Die Eltern
reagierten erst im zweiten Moment. Ihre Augen wurden
groß, doch da war Melek schon aus der Tür.

Dolgos war etwa hundert Obtaru-Schritte weit


gekommen, da sah er einen kleinen Menschenjungen aus
dem Dorf in die nächtliche Wüste rennen – in Richtung
der Ruinen. Wütend drehte sich Dolgos um und schrie zu
Mirthu hinüber: „Da hast Du es! So schnell geht das!“
Schlagartig alarmiert, rannte Mirthu zu Dolgos. Schon
im Laufen rief sie: „Wir dürfen ihn nicht gehen lassen! Der
Fluch wird ihn treffen, außerdem ist es viel zu gefährlich!“
Hinter Melek brüllte sie her: „Junge, komm zurück! Geh
da nicht hin, das ist Dein Tod!“
Melek rief im Rennen über die Schulter: „Ihr wollt nur
nicht, dass ich den Schatz kriege!“
Mirthus Schultern sackten herab und sie seufzte. Wieder
kratzte sie sich nervös an den Armen.
Dolgos starrte finster vor sich hin. „Mutiges Bürschlein“,
brummte er mit einer gewissen Anerkennung.
Unbewusst wanderte seine Hand zu der Stelle, wo sonst
der Griff seiner Eisenaxt war. „Das wird Ärger geben.
Besser, wir verschwinden.“
20 Mirthu riss die Augen auf. „Du willst Dich verdrücken?
Wir sind verantwortlich! Wir müssen den Jungen
zurückholen!“
Dolgos’ Miene wurde noch schwärzer. „Dann finden
wir jetzt also raus, ob wir den Trank gebraucht hätten
oder nicht.“ Mirthu nickte entschlossen und stapfte los.
Dolgos schälte einen flachen, vorn spitzen Faustkeil aus
seiner engen Hosentasche unter dem Kaftan hervor und
folgte der Gefährtin.

Hinter sich hörte er weitere, höchst eilige Schritte. „Wir


holen den Jungen schon. Bleibt Ihr lieber hier“, brummte
Dolgos über die Schulter. Unschlüssig drehte er seinen
Faustkeil in der Hand hin und her, um herauszufinden,
wie er zum Kämpfen am besten zu halten war. Dolgos
hatte sein ganzes Leben lang gekämpft, aber nicht gegen
Flüche oder Geister. Seine Nackenhaare sträubten sich.
„Niemals!“, rief Meleks Vater und holte den kurzbeinigen
Obtaru mühelos ein. „Weib! Hol meine Söhne aus der
Taverne und schick sie mir nach!“, rief er der Mutter zu.
Sie war am Dorfrand stehen geblieben.
„Ich kenne den Fluch, der auf den Sandruinen liegt!“,
behauptete der Vater, „ich weiß, was wir tun müssen.“
Erfreut sah Dolgos zu ihm auf. „Wirklich? Wunderbar!
Erzählt, mein Freund! Wie ist Euer Name? Ich bin
Dolgos, und der runde Hintern da vorn gehört Mirthu.“
Obtaru besaßen – wie die Zwerge – einfach kein Talent
für Humor, und versuchten sie doch, witzig zu sein, ging
das meist daneben.
Meleks Vater ignorierte Dolgos’ Derbheit. „Ich bin
Oreb, Laffads Sohn. Der Fluch trifft jeden, der an seinen 21
Begleitern zweifelt. In so einem Fall wird der Verfluchte
sich bedroht fühlen und glauben, seine Begleiter loswerden
oder sogar töten zu müssen. Das heißt, wir drei müssten
uns völlig vertrauen, bevor wir die Ruinen betreten. Der
Trick, den Fluch zu umgehen, ist eigentlich, allein zu
gehen, damit man erst gar keine Begleiter hat. Aber mein
Sohn ist vermutlich schon drin! Wir sollten die Sandruinen
tunlichst nicht betreten, sondern dem Jungen klarmachen,
dass er sofort wieder rauskommen muss.“
Sie holten Mirthu ein, die am Rand einer Düne stand
und in eine Senke hinabschaute. Hier und da ragten
vereinzelte Säulen und Mauerreste aus Tonziegeln über
den Sand. In der Mitte der Senke klaffte ein Loch, in das
versandete Treppen hinabführten. Von Meleks Füßen
sah das Grüppchen runde, flache Krater im Sand, die der
Treppe folgten.
„Melek! Der Ort ist verflucht! Komm sofort da raus!“,
schrie Oreb mit den Händen am Mund. Die Wüste blieb
stumm.
„Wir haben sowieso keine Fackeln dabei“, grübelte
Mirthu laut.
„Ich gehe rein. Ihr bleibt hier. Zwischen meinem Sohn
und mir wird das Vertrauen ausreichend sein“, entschied
Oreb und stapfte sofort los.
Die Obtaru sagten nichts. Oreb erreichte die Treppe, die
ins Schwarze führte. Er zog den Kopf ein und verschwand
unter dem Wüstensand.
„Glaubst Du, wir sehen sie noch einmal wieder?“, raunte
Mirthu gespenstisch.
22 „Das müssen wir“, gab Dolgos finster zurück, „sonst
werden die Dörfler uns steinigen.“

Melek war über die versandeten Stufen in die dunkle


Tiefe gesprungen; beinahe wäre er ausgerutscht und mit
dem Rücken auf den versunkenen Stein gefallen. Doch
flink und geschickt wie er war, rettete er sein Gleichgewicht,
sprang die letzten fünf Stufen weit ab und landete sicher
auf beiden Füßen. Er hatte keine Angst – er kannte nur sein
Ziel: noch vor den Erwachsenen den Schatz finden. Was
ihn erwartete, dass es Einstürze geben konnte, dass allein
sein erster Sprung ins Bodenlose hätte führen können – an
all das dachte er nicht.
Er folgte dem stockdunklen Gang und war wild
entschlossen, sich notfalls blind hindurchzutasten, solange
er nur der Erste war. Auch Angst vor der Dunkelheit war
ihm fremd.
Flammen loderten von einer Fackel empor und die
Dunkelheit wich zurück. „Oh, willkommen, junger Herr!
Seid Ihr hier, um meine Waren zu begutachten?“, fragte
ein bleicher, bartloser Mann in einem weißen Kaftan. Der
unruhige Feuerschein tanzte an uralten Torbögen und
lange verblichenen Wandmalereien.
Melek stierte den Mann an und rührte sich nicht. Die
unheilvollen Bildreste der Schlangenmenschen an den
Wänden entgingen ihm völlig.
„Aber gewiss seid Ihr das! Wie dumm von mir! Was
sonst solltet Ihr hier wollen? Ich bin Gozbad, fahrender
Händler. Ich habe einige vorzügliche Gegenstände zum
Tausch anzubieten! Sicher seid Ihr ein großartiger Feilscher,
wenn Ihr Euch hier hinuntergetraut habt! Nicht wahr?“ 23
Meleks Blick zuckte widerwillig von Gozbad fort zu
einer riesigen, offen stehenden Truhe, aus der ein magisches
Leuchten drang. Melek kannte das dunkle Holz nicht, aus
dem die Truhe und ihr flacher Deckel bestanden, aber er
kannte das Metall der klobigen Eckbeschläge: Gold.
„Oh! Bitte, tretet ruhig näher! Keine Scheu! Ihr
dürft Euch alles ansehen!“, rief Gozbad und wirbelte
übertriebene Gesten der Einladung mit seinem freien Arm.
Mit dem anderen Arm hielt er die Fackel immer näher an
die Truhe.
Das Licht wanderte von Melek fort, aber es schien ihn
mit sich zu ziehen. Melek stolperte mit starren Augen auf
die große Truhe und das geheimnisvolle Leuchten darin zu.
Er passierte Gozbad und erreichte den goldbeschlagenen
Holzkasten.
„Seht nur, junger Herr! Was für wundervolle Dinge ich
habe! Nicht wahr?“
„Ja“, hörte Melek sich abwesend raunen, als habe es ein
anderer gesagt. Seine kindliche Abenteuerlust war gegen
ihn gewandt worden.

Oreb folgte dem plötzlichen Fackelschein in der


Dunkelheit und rannte in eine staubige Halle, deren
Mittelgang von eckigen Ziegelsäulen flankiert wurde. Am
Kopfende der Halle entdeckte Oreb seinen Sohn. „Melek!
Komm sofort her, verdammter Bengel!“, schrie der Vater.
„Was bei allen Wüstengeistern tust Du da? Woher hast Du
die Fackel?“ Auch Oreb sah die verblichenen Malereien
an den Wänden nicht. Ohnehin hätte nur ein sehr
24 erfahrener Priester die unheilvolle Natur der dargestellten,
nekromantischen Rituale der Schlangenmenschen
erkannt.
„Was?“, hauchte Melek so leise, dass sein Vater es nicht
hören konnte. Neben ihm stand der grinsende Händler
und hielt die Fackel über die Truhe.
„Ich habe gar keine Fackel“, flüsterte Melek.
„Wie wäre es zum Beispiel mit diesem Wurfdolch,
junger Herr? Ein wundervolles Exemplar! Die Klinge
aus geschärftem Eisen, der Griff aus dem Horn eines
stattlichen Ziegenbocks. Exzellent ausgewogen und auch
für Eure Handgröße bestens geeignet! Probiert ihn doch
mal und seht, was Eure Hand dazu sagt!“
„Was machst Du denn da?“, schrie Oreb wütend und
sah zu, wie sein Sohn sich bückte und scheinbar die Hand
nach etwas ausstreckte. Doch da war nur Sand.
„Na, junger Herr? Er liegt doch wundervoll in der Hand!
Nicht wahr? Probiert ihn aus! Ich habe extra für Euch dort
hinten eine Zielscheibe aufgestellt! Na los, werft! Werft!“
Melek drehte sich hölzern herum und hob den schweren
Eisendolch. Der leicht gewundene Horngriff schmiegte
sich perfekt in seine kleine Hand.
„Melek? Was hast Du da in der Hand?“, rief sein Vater
unsicher und kniff die Augen zusammen. „Wenn ich nur
zehn Jahre jünger wäre!“, murmelte er.
„Wirf! Wirf!“, geiferte Gozbad. „Es ist ein toller
Wurfdolch! Wirf ihn, ja!“
Melek warf. Die schwache und ungeschickte Bewegung
hätte die schwere Klinge vermutlich drei oder vier Meter
weit vor seine Füße scheppern lassen.
Allerdings begann dieser Wurfdolch kurz vor dem 25
Boden wild zu trudeln und sich wieder in die Luft zu
erheben. Er raste mit der Geschwindigkeit des Wurfs eines
echten Messerwerfers auf Oreb zu.
Der Vater riss entsetzt die Augen auf. Das geschärfte
Eisen schlug in seinen Hals. Leise gurgelnd fiel er auf den
Rücken und wurde schlaff.
„Ein guter Wurf, junger Herr! Ein sehr guter Wurf! Ihr
dürft den Dolch behalten, weil Ihr ein so guter Kunde
seid! War das alles? Na gut, wie Ihr meint, junger Herr!
Bis zum nächsten Mal! Dann bringt Ihr doch gewiss all
Eure Freunde mit, nicht wahr?“
„Ja“, raunte Melek tonlos. Er schlich zur Leiche seines
Vaters. Bevor er den Dolch aus der Kehle zog, betrachtete
er neugierig das Blut und die Wunde. Er putzte die scharfe
Klinge und den Horngriff vorsichtig am Kaftan seines
Vaters sauber und spazierte dann langsam zum Ausgang
zurück. Hinter ihm erlosch das Fackellicht. Er war zu
keiner Empfindung und keinem Gedanken fähig – er war
Gozbads Marionette.
Als er auf der Düne die beiden Obtaru erblickte, die
aufgeregt die Zeigefinger nach ihm streckten, flüsterte
der Wurfdolch in seiner Faust: „Sie wollen Dir den Dolch
stehlen! Die Fremden sind voller Neid! Töte sie, bevor
sie Dich töten! Das ist das einzig Richtige! Ich bin doch
Dein Freund, nicht wahr? Töte sie! Wirf jetzt, junger
Herr! Du kannst sie nicht verfehlen! Vertrau mir, ich bin
Dein einziger Freund! Wirf! Töte sie alle!“ Durch den
verfluchten Dolch, ein Relikt der lange untergegangenen
Hochkultur der Schlangenmenschen, war der diabolische
26 Geist Gozbad nun seiner Verbannung entkommen. Die
Waffe diente ihm als schützendes Gefäß, denn aus eigener
Kraft hätte er die zeitlosen Bannkreise der versunkenen
Ruine nicht verlassen können.
„Wehe den Sorglosen!, so beginnt die größte aller Lehren
unserer Welt. Kein Satz enthält mehr Wahrheit. Kein Satz
wurde mehr verschmäht. Und an keinen Satz werden wir
uns deutlicher erinnern als an diesen, wenn es zu spät ist.“
Skorad der Weise, Hohepriester des Großen Flussvaters im
Tempel zu Berghaus, über die Prophezeiung von Theb Nor
1 31

Ein murmelnder Wust aus über dreißig zerzausten


Männern saß auf langen, wackelnden Bänken an mehreren
Zedernholztischen. Fackeln spendeten das einzige Licht
in der kargen Felshöhle. Gelegentlich hustete jemand
aufgrund des Fackelrauchs, der unter der Decke hing und
nicht richtig abzog. Neben den großen Tischen saßen
einige Männer und eine Frau an den Höhlenwänden,
sodass zwischen Wänden und Tischen nur schmale Gassen
frei waren.
„Hörst Du? Das ist das Gitter für die Neuen. Gleich
kriegen wir Besuch“, raunte ein stämmiger Mann seinem
dürren, jungen Sitznachbarn ins Ohr, ohne sich allzu sehr
zur Seite zu biegen. Der Junge nickte darauf stumm und
schaute in einen dunklen Gang am Ende der Höhle; von
dort war ein lautes Scheppern herübergedrungen.
Zwei Personen traten aus dem Gang. Das Bronzegitter
schepperte erneut. „Jetzt ist es wieder zu“, raunte der
Hüne und strich seine schmutzig-blonden Locken aus
dem Gesicht. Dutzende Augenpaare taxierten die beiden
Neuankömmlinge und alles Murmeln verebbte.
Verloren standen sie da: eine zierliche, schwarzhaarige
Frau mit spitzen Ohren, die nur noch Fetzen eines
schwarzen Kleides trug. Nah bei ihr: ein breitschultriger
Mensch mit kalten Augen. Seine nachtblaue Seidentunika
deutete auf großen Reichtum hin – vergangenen Reichtum
vermutlich, da er nun hier war. Die dunklen Haare und
der dichte Bart des Mannes, seine gedrungene Statur und
32 sein stechender Blick ließen ihn wie einen angriffslustigen
Bären erscheinen. Die starren Falten in seinem Gesicht
zeigten Härte und Erfahrung, auch wenn sein Haar noch
nicht ergraut war.
Der blonde Gladiator murmelte zu dem Jungen: „Siehst
Du, wie seine Schultern und seine ganze Haltung nach
vorn drängen? Er ist ein Kämpfer.“
Die spitzohrige Frau hustete unterdrückt und sah gequält
zu der stickigen Dunstwolke unter der Höhlendecke auf.
Anders als der Kämpfer, hatte sie sichtlich Angst. Ihre
Hände verkrampften sich zu kleinen Fäusten und sie
reckte stolz das Kinn, dabei hatte ihr bisher niemand etwas
getan. Ihr Blick schweifte eilig durch die vielen Gesichter
im Raum, Augenkontakt vermied sie jedoch. Für einen
winzigen Moment blieb ihr Blick an den muskulösen
Armen der einzigen anderen Frau in der Höhle hängen,
von der sie spöttisch zurückgemustert wurde.

Der blonde Hüne fuhr sich ein weiteres Mal mit der
Hand durch die welligen Strähnen – als könnte eine
halbwegs geordnete Frisur über die Schmutzschicht
auf seiner Haut und über das speckige, löchrige und
blutbefleckte Beige seiner Leinentunika hinwegtäuschen.
Er nickte dem Jungen neben sich knapp zu, grinste und
strubbelte auch das dunkle Haar des Jungen durch. Mit
einem theatralischen Ächzen erhob er sich.
„Willkommen!“, rief er in die Richtung der
Neuankömmlinge. Er schlenderte auf sie zu, während sie
ihn genau im Auge behielten. Beider Blicke funkelten ihm
entschlossen, vielleicht sogar aggressiv entgegen.
Lächelnd blieb der Gladiator ein paar Schritte vor 33
ihnen stehen. Er breitete die Arme aus und zeigte seine
leeren Handflächen zum Gruß. „Die Regeln hier sind
ganz einfach. Legt Euch mit niemandem an, dann werdet
auch Ihr in Ruhe gelassen. Wir haben unsere Kämpfe alle
da draußen vor uns und müssen uns hier nicht noch mehr
Ärger aufhalsen.“ Er deutete hinter sich auf ein weiteres
Fallgitter, hinter dem ebenfalls ein Gang im Dunkeln
verschwand.
„Wer hier drin so verletzt wird, dass er nicht mehr
kämpfen kann, wird zu hungrigem Ballast und wird von
den Chimäriern getötet – ebenso wie alle, die für die
Verletzung verantwortlich waren.“ Wieder machte er einen
Augenblick Pause, dann verbreiterte er sein Lächeln. „Ich
heiße Narur und habe hier von allen Männern die meisten
Kämpfe überlebt. Wie sind Eure Namen?“
„Taren“, antwortete der Mensch mit fester Stimme.
„Nenúriel“, antwortete die Frau viel leiser. Obwohl sie
in einem Stadtstaat der Menschen und nicht unter Elfen
aufgewachsen war, hatte sie offenkundig die Lethargie
ihres Volkes geerbt. Auf der Flucht vor der eigenen
nebulösen Vergangenheit, hatten die Elfen ihre Hochkultur
aufgegeben und lebten nun schon seit vielen Generationen
wieder als einfache Jäger und Sammler.
„Noch mal willkommen, Taren und Nenúriel.
Macht es Euch bequem.“ Narur deutete spöttisch in
die Runde. Der Gladiator hatte offenbar Übung darin,
vor Publikum aufzutreten. „Oh, und vergesst nicht: In
der Hörweite von Chimäriern solltet Ihr nur Drachisch
sprechen oder schweigen, wenn Ihr keine Hiebe wollt.
34 Hier drin jedoch verstehen fast alle auch das Wichtigste
der Menschensprache, ob vom Imperium verboten oder
nicht.“ Narur schob seine Daumen in seinen Ledergürtel
und schlenderte zu seinem eigenen Platz zurück.
Aus einer Ecke meldete sich eine weitere, jedoch
feindselige Männerstimme: „Er hat vergessen zu sagen,
dass alles andere, was keine Verletzung erzeugt, durchaus
erlaubt ist. Er hat auch vergessen, dass er mitnichten hier
der Häuptling ist. Es gibt keine Rangfolge außer der, die
Ihr Euch verdient.“
Die Stimme gehörte einem fahlhäutigen Krieger mit
Glatze und pechschwarzen Augen. Er ließ die Füße auf
dem Tisch liegen und lehnte mit verschränkten Armen an
der Höhlenwand. In die Stille fügte er hinzu: „Wenn Ihr
also einen Sitzplatz wollt, müsst Ihr ihn euch holen.“
Die beiden Neulinge sahen sich kurz um und stellten
fest, dass es keine freien Plätze gab, wohl aber einige
Männer, die auf dem Boden saßen. Narur, der inzwischen
wieder auf seinem Platz saß, warf den beiden Neuen
einen warnenden Blick zu. Taren und Nenúriel schlurften
unschlüssig zu einer freien Stelle der Wand, in der Nähe
der Abort-Nische, und setzten sich dorthin. Einige Krieger
lachten dreckig, aber die meisten murmelten inzwischen
wieder mit ihren Nachbarn.
Nenúriel hatte schon in Anbetracht des Gestanks von
Urin und Kot die Nase gerümpft, als sie sich nur hingesetzt
hatte. Jetzt kam der säuerliche Geruch abgestandenen
Schweißes von ihrem Nachbarn hinzu. Dennoch schob sie
ihren Mund bis neben dessen Ohr und fragte in fließender
Menschensprache: „He, Du! Wann gibt es was zu essen?“
Der Mann drehte ihr das Gesicht mit einem 35
undeutbaren Ausdruck zu und antwortete zögernd: „Nach
jedem Kampf in der Arena werfen die Chimärier dem
Sieger mitgebrachtes Essen zu. Wenn Du rausgehst und
kämpfst, kriegst Du Essen. Wenn Du nicht kämpfen
willst, verhungerst Du hier drin. Je besser Du kämpfst,
desto mehr werfen sie Dir zu.“
Nenúriel wurde bleich und schluckte entsetzt.
Mit einem schiefen Grinsen wandte der Mann sich
wieder ab.
„Keine Sorge“, flüsterte Taren ihr von der anderen Seite
grimmig ins Ohr. „Ich werde für uns beide kämpfen.“
Unvermittelt stand Taren auf und fragte laut in die
Runde: „Wann werde ich kämpfen?“
Stille. In der Ferne, von draußen, war Aufruhr zu
hören.
Zurückhaltend antwortete Narur: „Das Publikum ist
schon in der Arena. Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis
wieder ein paar von uns abgeholt werden. Die Chimärier
stehen immer am Eingang und rufen rein, wie viele
Kämpfer sie wollen. Du musst Dich durchbeißen, wenn
andere auch noch kämpfen wollen.“
Taren erwiderte selbstsicher: „Kein Problem.“ Er nickte
zum Dank und setzte sich wieder.
Nenúriel starrte ihn besorgt an. Plötzlich umklammerte
sie seinen Arm mit beiden Armen und wisperte: „Was,
wenn Du getötet wirst? Dann bin ich hier allein!“
Ohne sie anzublicken, knurrte Taren: „Wenn ich es
nicht versuche, verhungern wir beide. Und wenn ich zu
lange warte, bin ich zu schwach zum Siegen.“
36 Die muskulöse Frau, die Nenúriel schon zuvor aufgefallen
war, stand plötzlich vor ihnen und blickte kühl auf sie
herab. Ihr lang herabfallendes, blondes Haar war sauber
und gekämmt. Ihre silbergraue Tunika wies keinerlei Risse
oder Löcher auf, abgesehen von dem äußerst großzügigen
Ausschnitt. Der wenige Stoff, der sich über ihre Brüste
spannte, war allerdings fettig und abgegriffen. Nenúriel
bemerkte, dass auch die engen Beinlinge der Frau ziemlich
aufgeraut waren.
„Hallo. Ich bin Pira. Für eine Frau gibt es hier drin
noch eine andere Möglichkeit, mit Nahrung versorgt zu
werden. Ich bin sicher, wir zwei können uns die Meute
auch teilen.“ Sie grinste und zupfte mit spitzen Fingern
ihren Ausschnitt hin und her, sodass ihre Brüste jedes
Mal leicht angehoben wurden. Gleichzeitig stellte sie sich
breitbeinig hin und lehnte ihre Hüfte vulgär nach vorn.
Nenúriel verzog angewidert die Miene.
„Du hast mich für eine Kriegerin gehalten, was?“,
plauderte Pira und befühlte demonstrativ ihre Muskeln.
Dann wurde sie ernst. „Keine Sorge, Kleines. Wenn Du
erst am Verhungern bist, vergisst Du jeden Stolz.“ Ohne
Abschied verschwand sie an einem der Tische.
Als sei sie erschöpft, schloss Nenúriel die Augen.
Seufzend lehnte sie ihre Stirn an Tarens Schulter.
Kaum war Pira fort, stand der kahle Krieger mit der
fahlen Haut und den schwarzen Augen vor ihnen. Taren
sagte er kalt ins Gesicht: „Ich bringe Euch beiden jede
Menge Nahrung, wenn Du sie mir für ein Weilchen
überlässt.“
Langsam richtete Taren sich auf. Seine Augen loderten 37
vor Zorn, seine Kiefer mahlten und sein ganzer Körper
bebte. Er beherrschte sich nur mühsam, als er die Antwort
herauspresste: „Wenn du sie anrührst, töte ich dich.“
Amüsiert grinste der Krieger ihn an. „Dann töten die
Chimärier Dich aber auch, mein Freund. Du hast die
Regeln doch gehört.“ Schlagartig wurde sein Blick eiskalt.
„Und jetzt geh aus dem Weg.“
Drei Männer packten Taren hinterrücks. Der Fahle trat
lüstern auf Nenúriel zu. Die sah furchtsam zu ihm auf und
drückte sich an die Wand. „Von Elfenkörpern habe ich
bisher nur gehört“, grunzte er gierig und starrte auf ihre
angezogenen Schenkel, durch die Fetzen ihres Kleides, wo
sie ihre Haut nicht verbergen konnte.
Taren schrie und strampelte vergeblich. Auf einmal
sprang Nenúriel auf die Füße und rief: „Also schön!“ Der
Fahle grinste zufrieden.
„Nein! Nein!“, schrie Taren mit rotem Kopf und bäumte
sich immer wieder in den Griffen der drei Männer auf.
Nenúriels blasses Gesicht musterte Taren wie betäubt.
Sie strich über seine bärtige Wange, was ihn äußerlich
beruhigte. Seine Augen blieben jedoch entsetzt aufgerissen
und sein Kiefer klappte herunter. Nenúriel flüsterte: „Es
ist doch das Beste so!“
Dann schlug sie dem Fahlen die Stirn auf die Nase und
trat ihm zwischen die Beine. Noch bevor jemand reagieren
konnte, trat sie so auch einen der Männer zu Boden, die
Taren festhielten.
Taren schlug sofort mit der freigewordenen Hand dem
Nächsten an die Halsseite, worauf dieser benommen
38 zurücktaumelte. Der dritte und letzte der Männer ließ
freiwillig los und verschwand kommentarlos.
Nenúriel und Taren betrachteten unsicher ihr Werk
und musterten wachsam die Umstehenden. Am Rande
stand Pira und klatschte langsam, während sie spottete:
„Bravo. Und glaubt ihr wirklich, jetzt habt ihr eure Lage
besser gemacht?“ Sie schüttelte demonstrativ den Kopf
und wandte sich ab.
Plötzlich sprang der fahle Gladiator mit einem langen
Knochensplitter in der Faust auf die Füße und stach nach
Taren. Der war jedoch viel zu wachsam für solch eine
plumpe Attacke und zog blitzschnell den Bauch weit ein,
sodass er vorgebeugt dastand. Gleichzeitig streckte er die
Arme zum Waffenarm des Gegners aus. Taren packte
dessen Handgelenk mit beiden Händen, doch der Gegner
schlug ihm mit der freien Faust gegen die Schläfe. Taren
grinste ihn darauf allerdings nur an. Dann trat Nenúriel
dem Gegner abermals zwischen die Beine, diesmal von
hinten. Einige Krieger lachten hinter vorgehaltener Hand,
während der fahle Mann fluchend und würgend wieder zu
Boden ging.
Die Gladiatoren hatten jetzt erkannt, dass sie mit
Taren einen äußert erfahrenen Krieger vor sich hatten.
Lange Kämpfe gab es nur zwischen Ebenbürtigen, die
ihre Aktionen gegenseitig vereitelten oder konterten. Oder
zwischen unfähigen Kämpfern, die einen Kampf nicht
zuende zu bringen vermochten. Taren jedoch war jemand,
der seine Kämpfe binnen weniger Augenblicke entschied.
Nun hielt Taren den Knochensplitter in der Hand. Der
Fahle stöhnte am Boden: „Das wird euch noch leidtun!“
Diesmal war es Taren, nicht Pira, der langsam und 39
demonstrativ den Kopf schüttelte. Andächtig drehte er
den Knochensplitter in der Faust.
Dass auch Narur in der Nähe gestanden hatte, bemerkten
sie erst, als er ihnen zurief: „Jetzt habt Ihr Respekt, aber
auch Feinde. Ihr solltet Euch ein drittes Auge im Rücken
zulegen.“ Damit wandte er sich ab.
Nenúriel zitterte am ganzen Körper, während sie
ihm nachsah. Taren behielt den fahlen Gladiator mit
versteinerten Zügen im Blick, während der sich aufrappelte
und mit hassverzerrter Miene ebenfalls verzog.

„Was glaubst Du, wie lange sie jetzt noch leben werden?“,
fragte Narurs junger Sitznachbar. Seine Arme waren
voller Narben, die gleichmäßig nebeneinander aufgereiht
schienen, wie absichtlich beigebracht.
Narurs Miene verzog sich bekümmert, während er
über seine Antwort nachdachte. Schließlich brummte er:
„Nicht lange, wenn die beiden essen wollen. Taren muss
kämpfen gehen und Nenúriel allein lassen. Außerdem
muss er irgendwann schlafen. Gebraks Freunde werden
dichthalten, wenn er die Neuen tötet, sodass die Chimärier
niemanden zum Bestrafen finden werden.“
„Glaubst Du, sie haben sich damit in Sicherheit gewogen,
als Du ihnen sagtest, dass hier eigentlich niemand töten
darf?“, fragte der Junge unschuldig.
Narurs Miene verfinsterte sich erschreckend und er
schwieg.
Der Junge spürte, dass er in ein Fettnäpfchen getreten
war und wechselte das Thema. „Was ist das eigentlich für
40 ein breites Armband, dass Taren trägt? So was habe ich
hier drin vorgestern schon mal gesehen, aber der Kerl ist
inzwischen tot.“
Narur blickte kurz zu Taren. Er nickte anerkennend, als
er das Armband entdeckte. „Ja, ich weiß, wen Du meinst.
Diese Eisenbänder sind Magieblocker der Chimärier. Taren
muss in der Magie bewandert sein, wenn sie ihm so etwas
ums Handgelenk schmieden. Die Dinger verhindern, dass
er seine Magie fließen lassen kann.“
„Er sieht doch gar nicht wie ein Zauberer aus. Hätte
nicht diese Elfin, oder wie die Spitzohren heißen, so ein
Ding kriegen müssen?“
Narur grinste schwach. „Wie sehen Zauberer denn
normalerweise aus? Ich habe erst zweimal mit eigenen
Augen einen gesehen, jedenfalls, von denen ich wusste,
dass es Zauberer sind. Und Nenúriel ist die erste Elfin, die
ich treffe. Ich habe bisher – genau wie Du – nur Gerüchte
und Mythen über Elfen und Zauberer gehört.“
Etwas beschämt blickte der Junge zu Boden und grinste
schief. „Vielleicht habe ich auch schon mit ... Magie zu
tun gehabt“, murmelte er. Seine Augen weiteten sich etwas
und schweiften ins Leere.
Narur hatte Taren gemustert und davon nichts
mitbekommen. „Irgendwie werde ich gerade neugierig,
Du auch?“, lachte Narur verhalten. Er klopfte dem Jungen
auf die Schulter und erhob sich. „Na, komm schon!“, rief
er dem zögernden Jungen über die Schulter zu, während er
ein weiteres Mal zu den beiden Neulingen ging.
Der Junge verbarg nur mit leidlichem Erfolg seine Blicke
auf die Elfin und auf die Löcher in ihrem Kleid.
Mit finsteren Blicken empfingen die Neuen Narur 41
und den Jungen. Taren hielt noch immer den scharfen
Knochensplitter in seiner großen, haarigen Faust.
Ungefragt setzten Narur und der Junge sich zu ihnen.
„Ich muss Euch noch dringend etwas sagen“, begann Narur
ernst und leise, ohne Blickkontakt, doch mit warnenden
Gesten. Bevor er fortfuhr, zwang er sich, Taren und
Nenúriel doch in die Augen zu sehen. „Gebrak, der Fahle,
hat viele Freunde hier. Sie werden sich gegenseitig decken.
Das heißt, die Chimärier werden keinen Schuldigen
hinrichten können, wenn Ihr von Gebrak getötet werdet.
Versteht Ihr?“
Taren nickte düster und brummte: „Das war uns auch
schon klar. Wir werden es irgendwie schaffen, das haben wir
immer.“ Seine Finger spielten mit dem Knochensplitter.
Der Junge witzelte vorlaut: „Seid Ihr deswegen hier?“
Sechs Augenpaare funkelten ihn strafend an. „Oh“,
machte er nur und sah zu Boden.
„Ich bin neugierig“, wechselte Narur das Thema und
blickte Taren freundlich an. „Wieso trägst Du dieses
Armband?“
Taren schwieg zunächst und schien in Narurs Gesicht
etwas zu suchen. „Ich bin ein Diener von Bruder Mond,
aber dieses Armband blockiert meine Verbindung zu
meinem Gott, sodass er mir nicht helfen kann.“
„Ich dachte, es sei ein Magieblocker“, wunderte Narur
sich.
Taren legte den Kopf schräg; der Junge hatte wieder den
Eindruck, einen wütenden Bären vor sich zu sehen.
„Die Diener von Bruder Mond brauchen keine
42 Taschenspieler-Tricks“, knurrte Taren. Seine glühenden
Augen schweiften fort.
Narur ließ ihn in Ruhe und wandte sich stattdessen an
Nenúriel: „Ich habe zuvor noch nie eine Elfin gesehen.“
Ausdruckslos erwiderte sie seinen Blick. Nach ein paar
Lidschlägen entgegnete sie trocken: „Die anderen sehen
auch alle so aus wie ich.“
Der Junge lachte, aber Nenúriel war der Humor
scheinbar vergangen.
Narur behielt den Faden bei: „Jemand hat mir mal
gesagt, viele Elfen seien magisch begabt. Stimmt das?“
Wieder antwortete Nenúriel zunächst nur mit einem
rätselhaften, leeren Blick. Schließlich entrang sie sich ein
knappes „Ja.“
„Und Du?“, fragte der Junge unsicher.
Langsam wandte sie ihm das Gesicht zu, und diesmal
antwortete sie gar nicht.
„Wir tun Euch nichts“, sagte Narur daraufhin und hob
beschwichtigend die Hände. „Ihr braucht Freunde hier
drin“, fügte er ernst hinzu.
Nenúriel senkte den Kopf und schluckte. Sie öffnete
den Mund, als wollte sie etwas sagen. Taren brachte sie mit
einem scharfen Seitenblick zum Schweigen. „Vertrauen ist
Wunschdenken für die Schwachen“, knurrte er in keine
bestimmte Richtung.
Aufmerksam beobachtete Narur das Wechselspiel
zwischen den beiden, die sich offenbar gut kannten und
aufeinander eingespielt waren. Der Junge beobachtete das
ebenfalls, konnte aber weniger Schlüsse daraus ziehen als
der ältere Narur, wie seine verwirrte Miene verriet.
„Ihr verbergt doch was, oder?“, raunte Narur und beugte 43
sich verschwörerisch näher. Aufmunternd zwinkerte er
den beiden zu, doch Taren schnaubte nur verächtlich und
Nenúriel ließ den Kopf noch tiefer hängen. „Dachte ich
mir“, nickte Narur zufrieden.
Seufzend erhob er sich. „Also schön, wenn Euch nach
Reden ist, mein Stammplatz ist da hinten. Denkt immer
daran: Hier drin weiß man nie, wann man sich zum
letzten Mal sieht.“
Er wollte sich gerade abwenden, als das vordere Gitter
kreischend hochgezogen wurde. Ein Chimärier zwängte
sich durch den Gang. „Heute ist ein besonderer Tag!“,
grollte das zweieinhalb Meter große Wesen in einer harten,
gutturalen Sprache. Kleine, unnütze Flügel lugten auf
seinem Rücken aus dem Lederpanzer hervor und zuckten
hin und wieder, wenn der Chimärier die Arme bewegte.
Sein Drachenschwanz war kräftig und berührte leicht
den Boden beim Gehen. Die geschlitzten Reptilienaugen
seines länglichen Drachenkopfes suchten die Höhle
ab. Er entblößte scharfe Zahnreihen, als er infernalisch
grinste: Sein Blick war an Narur, dem Jungen und den
beiden Neuen hängen geblieben. „Ihr vier da!“, brüllte der
Chimärier und zeigte auf sie. „Antreten!“
Taren übersetzte ganz leise die Worte für Nenúriel,
welche die Drachensprache nicht verstand. Nenúriel
zischte darauf im Gehen vorwurfsvoll in Narurs Ohr: „Du
hast gesagt, man kann sich aussuchen, ob man kämpft!“
„Das dachte ich bisher auch“, hauchte Narur wie
versteinert zurück. Immer wieder strich er im Gehen eine
Strähne hinters Ohr.
44 „Endlich! Mein erster Arena-Kampf! Jetzt brauchst Du
mich nicht mehr mitzufüttern, Narur“, flüsterte der Junge
stolz. Schon im nächsten Moment geriet seine Miene aus
den Bahnen und er begann zu zittern. Vor dem Chimärier
blieben sie stehen.
„Zu Ehren des Jahrestages der Thronbesteigung
des Imperators werdet Ihr gegen das Tier kämpfen!
Mitkommen!“, brüllte der Soldat.
„Wir kämpfen zu viert gegen ein Tier?“, flüsterte Taren
zu Narur und hielt nur mühsam seine Erleichterung
zurück.
„Freu Dich nicht zu früh“, raunte Narur jedoch und
unterdrückte den Impuls, noch weiter an seinen Locken
zu fingern. Er war bleich geworden.
„Was für ein Tier ist das?“, wollte Nenúriel wissen.
Narur sah sie mit großen Augen an und wisperte:
„Das weiß niemand von uns hier. Wann immer es heißt,
dass jemand gegen ,das Tier‘ kämpft, kommt derjenige
nicht zurück. ,Das Tier‘ ist der absolute Champion der
Chimärier.“

„Da sind Waffen. Nehmt was ihr wollt, und dann ab


nach draußen!“, befahl der Chimärier und stampfte dann
eine breite Treppe hinauf ans blendende Tageslicht. Hinter
ihm wurde eine riesige Bronzeluke zugeworfen. Die vier
standen wieder im Fackelschein.
Nach einem Tisch mit Waffen ging der Gang noch
etwa fünfzehn Meter weiter geradeaus bis zu einem offen
stehenden Gitter, hinter dem ebenfalls grelles Tageslicht
strahlte. Ein sandiger Arenaplatz wartete dort auf sie.
Von draußen toste bereits der Lärm des Publikums an 45
ihre Ohren. Narur und der Junge kniffen beim Blick in
das Tageslicht die Augen zusammen; sie waren an das
Halbdunkel der Höhle gewöhnt. „Wenigstens gibt es da
draußen frische Luft!“, scherzte der Junge leise und grinste
nervös.
Nenúriel rieb sich die Augen und flüsterte panisch: „Es
ist Tag! Es ist doch Tag!“
Fragend starrte Narur die beiden Neuen an. Taren
antwortete auf diesen Blick: „Sie ist lichtblind. Sie ist ...
krank.“ Schluchzend vergrub Nenúriel ihr Gesicht an
Tarens Schulter und krallte ihre Finger in seine Tunika.
Taren knurrte in Narurs Richtung: „Die Schuppen hätten
sie an der Oberfläche deswegen fast getötet, aber dann
doch entschieden, dass es in der Arena lustiger wäre, sie
sterben zu sehen.“
Mit steinerner Miene betrachtete Taren die angebotenen
Waffen und griff sich einen schweren, langen Streitkolben
mit dicken Dornen am bronzenen Kopf. Narur warf
ihm und Nenúriel einen langen, undeutbaren Blick zu,
dann griff er sich einen stabilen Speer mit Kupferspitze
und marschierte wortlos in Richtung Arena. Der Junge
schnappte sich ein breites Kurzschwert aus Bronze und
folgte eilig.
„Bleib hinter mir“, flüsterte Taren mit gezwungener
Sanftheit in Nenúriels Ohr. Dann ging auch er entschlossen
auf das flirrende Tageslicht zu.
Narurs Augen glühten kampfbereit nach draußen.
„Seid froh, dass es noch nicht richtig Sommer ist“, raunte
er über die Schulter. „Den ersten Arenakampf in der
46 brütenden Sommerhitze zu haben, macht das Überleben
noch unwahrscheinlicher als zu anderen Jahreszeiten.“

In der Mitte der Arena stand ein riesiger, braunhäutiger


Ork in einer eisernen Plattenrüstung. Nur einen Helm
trug er nicht, sodass man sein filziges, schwarzes Fell sah:
Es wucherte an Kopf und Gesicht, reichte aber nicht bis
zur Rüstung herab. Triumphierend brüllte der Ork dem
Publikum auf den ansteigenden Steinrängen entgegen und
reckte sein Eisenschwert und seinen mächtigen, runden
Holzschild in die Luft. Riesige Muskeln zeichneten sich
unter schwarzem Leder ab, soweit sein Körper nicht von
Eisenplatten bedeckt wurde. Dicke, gelbe Hauer ragten
aus dem Unterkiefer des Orks. An Knien, Ellbogen und
Schultern waren seine Rüstungsteile mit Eisendornen
versehen ... und Blut war daran getrocknet. Das Publikum,
ausnahmslos Chimärier, brüllte donnernd seinen Namen
und stampfte dazu auf den Boden: „Tier! Tier! Tier!“
Die vier Gladiatoren sammelten sich im letzten Schatten
vor dem Ausgang und starrten in stummer Verschüchterung
ihren Gegner an. Tarens Lippen bewegten sich lautlos
im Gebet und mehrmals hob er knapp den Kopf gen
Himmel. Nenúriel kniff schon jetzt vor Schmerzen ihre
lichtempfindlichen Augen zusammen.
„Reib Deine Hände mit Sand ein, gegen den Schweiß“,
wies Narur den Jungen beim Anblick des Hirschhorngriffes
seiner Waffe an, so leise, dass der Junge es bei dem Lärm
fast nicht gehört hätte. „Wie ist eigentlich Dein Name,
Junge?“, fragte Narur – ohne den besorgten Blick von Tier 47
abzuwenden.
„Melek“, kam die Antwort mit seltsam zitternder
Stimme; er schien Furcht zu haben, aber nicht vor Tier.
„Viel Glück, Melek. Viel Glück, Taren und Nenúriel“,
raunte Narur gespenstisch.
Taren stutzte für einen Moment. Das wird doch nicht ...
Nein, das kann nicht derselbe Melek sein.
„Das Biest hat einen Schild! Wir müssen uns
koordinieren!“, rief Taren halblaut, als sein Gebet endete.
Narur musterte ihn melancholisch.
„Reiß Dich zusammen, Mann!“, zischte Taren und stieß
ihn in die Rippen. „Du, Melek, Du rennst dem Biest in
den Rücken und stichst es ab, sobald Schild und Schwert
durch Narur und mich gebunden sind! Ich nehme den
Schild, weil ich noch auf Nenúriel aufpassen muss. Narur,
kommst Du mit dem Schwert klar?“
Narur sah Taren seltsam leer an, nickte aber. Direkt
über ihnen schepperten jetzt glänzende Posaunen, und ein
Chimärier verkündete: „Vier Sklaven gegen das Tier! Die
Spiele beginnen!“
„Raus mit Euch!“, donnerte eine andere Chimärier-
Stimme weiter hinten im Gang.

Die vier Sklaven marschierten nebeneinander in die


Arena ein. Nenúriel klammerte sich blind an Taren. Tier
empfing die Gruppe mit wildem Gebrüll – und rannte auf
sie zu.
Er hielt nicht etwa an, als er die Gruppe erreichte. Er
rammte mit dem schweren Holzschild Taren und Nenúriel,
48 die zu zweit nicht schnell genug ausweichen konnten und
zu Boden geschleudert wurden.
Narur hatte Tier bei dessen Vorstoß in der Flanke treffen
wollen. Tier hatte das Manöver durchschaut, sein Schwert
zur Seite gerissen und Narur so auf Abstand gescheucht.
Melek war auf der anderen Seite um Tier herumgerannt,
um wie abgesprochen in den Rücken des Orks zu
gelangen. Doch Taren war gerade erst vom Boden wieder
hochgekommen und musste die hilflose Nenúriel noch
mit sich ziehen, fort von Tier, sodass der Ork sich einfach
umdrehen und Meleks Hieb blocken konnte. Tier hatte
ihre Planung mit seiner überragenden Erfahrung schon in
den ersten Augenblicken zunichtegemacht.
Wieder versuchte Narur, in die Flanke zu gelangen.
Wieder reichte es, dass Tier mit dem Schwert in seine
Richtung wirbelte, um ihn zurückspringen zu lassen.
Taren stieß Nenúriel jetzt nur noch hinter sich und
stürmte brüllend auf Tier los, um ihn zu zwingen, den
Schild einzusetzen. Melek verstand sofort und wartete
sprungbereit, um Tier von hinten zu treffen, sobald der
Ork den Schild gegen Taren einsetzte. Doch Tier dachte
nicht daran.
Gerade als Taren den Streitkolben niederschmettern
lassen wollte, riss der Ork den Stiefel hoch ins Gesicht
des fast zwei Köpfe kleineren Menschen. Scheinbar war
Tier selbst Taren überlegen, was Reaktion und Überblick
betraf. Tier bekam bloß einen Streifer vom Streitkolben
am Bein ab, der gegen seine Eisenplatten nicht viel
ausrichtete. Taren stürzte rücklings zu Boden und ließ den
Streitkolben los. Aus seiner Nase strömte Blut.
Meleks Hieb wurde von Tiers Schild so stark zur 49
Seite gefegt, dass es den Jungen fast von den Füßen riss.
Siegessicher sprang Narur in genau diesem Moment
wieder mit seinem Speer vor. Ohne sich zu drehen oder
überhaupt hinzusehen, machte Tier einen Schritt auf
Narur zu, haarscharf am Speer entlang, sodass er nun
mit dem Rücken direkt vor Narurs Gesicht stand: Ein
äußert gefährliches Manöver, das kaum einem Krieger
ohne Verletzung gelang. Narur wollte erschrocken
zurückspringen, der Speer war auf diese Distanz nutzlos.
Doch Tier riss jetzt das Schwert herum und köpfte Narur
mit einem sauberen Hieb.
Fassungslos starrte Melek den Kopf an, der vor seine
Füße rollte, während gleichzeitig Narurs Körper schlaff zu
Boden sackte. Das Publikum toste und Tier riss abermals
siegessicher das Schwert gen Himmel.

Nenúriel hatte sich mit immer noch zugekniffenen


Augen zu Taren vorgetastet und schluchzte: „Was ist?
Steh auf! Was hast Du?“ Ihre Hände suchten nach seinem
Gesicht. Sie schrie auf, als sie das Blut an ihren Fingern
spürte. Verzweifelt nahm sie Sand in beide Hände und warf
ihn dorthin, wo sie Tier vermutete – doch sie traf nicht
mal seinen Schild und Tier lachte sie aus. Nenúriel hatte
allerdings erreicht, dass Tier sich nun vor ihr aufbaute.
„Siehst lecker aus!“, grollte der Ork, schnupperte und
leckte sich mit der Zunge über die Lippen.
Mit einem Wutschrei und hoch erhobener Waffe raste
Melek auf Tier zu, um ihn zu erwischen, solange er noch
abgelenkt war. Wie beiläufig riss Tier erst im allerletzten
50 Moment den Schild hoch und rammte ihn Melek vor Brust
und Kopf. Es konnte kaum einen größeren Beweis für seine
Überlegenheit geben. Der Schildschlag unterbrach nicht
nur den Angriff, er unterhielt auch das Publikum: Der
Applaus wurde lauter. Für einen Lidschlag stand Melek
benommen vor Tier und keuchte atemlos. Tier ließ das
Schwert einfach niedersausen wie ein Henkersbeil – und
stoppte direkt vor Meleks Kopf. Statt ihn zu töten, hob er
dann pfeilschnell seinen Fuß vor die Brust des Jungen und
stieß ihn von sich, als wollte er eine Tür eintreten. Melek
machte einen Satz über mehrere Meter und überschlug
sich rückwärts. Das Publikum toste immer lauter vor
Beifall und feuerte den Ork an: „Tier! Tier! Tier!“ Der Ork
verstand es offenkundig, die Zuschauer zu unterhalten.

Nenúriel begann zu murmeln, während sie mit den


blutigen Fingern Runen in den Schweiß auf Tarens Stirn
zeichnete.
„Nicht! Du darfst Dich nicht verraten!“, stöhnte Taren
und rappelte sich mühsam hoch. „Es geht schon“, raunte
er und küsste Nenúriel flüchtig. „Bleib hier“, sagte er wie
zum Abschied und stapfte Blut schniefend auf Tier zu.
In drei Armlängen Abstand blieb er stehen und reckte
angriffslustig das Kinn.
Sichtlich amüsiert baute Tier sich vor ihm auf und grollte
kehlig. Plötzlich begann er im Tosen des Publikums zu
lachen und brüllte in der Drachensprache: „Keine Magie
in der Arena!“
Eine plötzliche Ahnung traf Taren wie ein Schlag.
Er wirbelte herum – Nenúriel starrte in den Himmel.
Verdrehte die Augen. Ihre Knie wurden weich. Taren 51
stürmte auf sie zu, aber bevor er sie erreichte, sank sie
bäuchlings in den Sand. Ein Armbrustbolzen ragte aus
ihrem schmalen Rücken, ein Bolzen der fortschrittlichsten
Waffe des Imperiums. Auf einer Plattform auf dem
höchsten Rang der Arena stand ein Chimärier und lud
seine Armbrust nach. Taren drehte Nenúriel auf die
Seite. Ihr Körper war leblos, ihre Augen halb offen und
leer. Tarens Kiefer mahlten aufeinander und seine Augen
brannten feucht. Langsam hob er den Kopf und starrte
Tier voller Hass an. Der Ork lachte um so dreckiger.
Dann schleuderte Melek das Kurzschwert in den
Rücken des Orks, mit einer Zielsicherheit, als habe er noch
nie etwas anderes in seinem Leben getan. Die Klinge traf
mit der Spitze und blieb trotz der eisernen Rüstung sogar
stecken. Tier brüllte entsetzt auf und wirbelte herum.
Wackelig stapfte er Melek hinterher, der Schritt um Schritt
zurückwich und den Ork ausdruckslos im Auge behielt.
Das imperiale Publikum schrie vor Wut, noch war es auf
der Seite des Orks, des altbekannten Champions.
Taren sprang auf und stampfte auf Tier zu. Als der Ork
ungeschickt zurückwirbelte, duckte Taren sich unter dem
Schwert weg; langsam kannte er Tiers Kampfstil. Wie eine
Sprungfeder kam er sofort wieder hoch und rammte Tier
dabei die Spitze des Streitkolbens unter das Kinn. Dem
überrumpelten Ork verging auf der Stelle das Brüllen. Melek
sprang ihn von hinten an, um ihm die Augen zuzuhalten.
Nebenbei drückte er mit dem Knie das Kurzschwert zur
Seite, damit es sich schmerzhaft in der Wunde bewegte.
Tier wirbelte wild mit Schwert und Schild herum. Taren
52 wartete eiskalt, bis das Schwert gerade an ihm vorbei
raste, dann zerschmetterte er mit einem mächtigen Hieb
den Unterarm des Orks. Das Schwert fiel zu Boden, Tier
brüllte vor Schmerz und Verzweiflung. Das Publikum war
still geworden.
Taren ließ den Streitkolben fallen, hob das Schwert auf
und rannte mit der Spitze voran in den Ork. Der schwere
Schild schlug ihm ein letztes Mal gegen die Schulter, aber
das bekam er kaum mit. Er ließ den Ork gurgelnd hinter
sich zusammenbrechen, ignorierte auch das Orkblut auf
seinen Händen, Bauch und Armen und rannte zu Nenúriel
zurück. Melek folgte ihm in respektvollem Abstand.

Während Taren still weinend den leichten Körper


der Toten an sich drückte, erhob sich ein neuer Ruf des
Publikums: „Nimm den Kopf! Nimm den Kopf!“
Ein Chimärier rief Taren zu: „Schlag dem Ork den
Kopf ab! Na los!“
Taren wusste, dass er gehorchen musste, wenn er bis zu
seiner Flucht überleben wollte. Die Orks, ein versklavtes
Volk der Schuppen, bedeuteten ihm nicht viel; er hatte
schon viele getötet. Er legte Nenúriel behutsam zu Boden
und ging zu Tier zurück, der noch immer leise röchelte.
Taren setzte einen Fuß auf den Ork und riss das mächtige
Eisenschwert aus der Wunde. Quiekende Geräusche
entrangen sich der Kehle des besiegten Gegners. Mit
einem weit ausgeholten Hieb köpfte Taren ihn und trat
den Schädel in die Mitte der Arena.
Ein Chimärier neben den Trompetern rief: „Ein Hoch
auf den neuen Champion: Taren von Silberberg!“
Das Publikum stampfte mit den Füßen und brüllte 53
seinen Namen: „Ta-ren! Ta-ren! Ta-ren!“
Hasserfüllt sah Taren zu, wie ein Chimärier Nenúriel
achtlos am Fuß packte und die Leiche fortschleifte. Er
wusste aus Jahren des Krieges gegen die Chimärier, dass
sie insbesondere frisches Elfenfleisch als Delikatesse
betrachteten.
Das Eisenschwert ließ Taren fallen, er müsste es sowieso
abgeben. Stattdessen hob er auf, was die Zuschauer ihm an
Nahrung zuwarfen: Brot hauptsächlich, Sklavennahrung
also, aber auch ein paar Äpfel und ein Stück Fleisch
– von welchem Wesen auch immer. Er würgte plötzlich
bei dem Gedanken daran, wessen Fleisch vielleicht beim
nächsten Kampf dabei war. Es kostete ihn alle Kraft, einen
animalischen Wutschrei zu unterdrücken.
Mit hängendem Kopf trottete Taren schließlich in die
Gladiatoren-Unterkunft zurück, wo zahllose, ehrfürchtige
Mienen ihn anstarrten: den großen Krieger, der das
unbesiegbare Tier getötet hatte und dabei nichts weiter
abbekommen hatte, als eine gebrochene Nase und einen
blauen Fleck an der Schulter.
Taren von Silberberg war zurückgekommen. Narur
nicht, obwohl der bisher der Sklavenchampion gewesen
war. Wer also war Taren von Silberberg? Was war ein
Diener von Bruder Mond?
Melek, der an Nahrung aufgehoben hatte, was Taren
für ihn liegen gelassen hatte, folgte ihm still. Angestrengt
dachte er darüber nach, wo er diesen Namen, Silberberg,
und diesen Titel, Diener von Bruder Mond, zuletzt gehört
hatte.
54 2

Dunkelheit. Zwei Stimmen unterhielten sich.


„Hast Du gehört, woher der Mensch kam?“, fragte er.
„Silberberg“, antwortete sie.
„Ja, Silberberg“, wiederholte er.
„Und hast Du auch gesehen, wie er um sein Weibchen
getrauert hat?“, fragte sie. Unter Chimäriern waren die
Begriffe Männchen und Weibchen die übliche Wahl.
„Ja, allerdings“, antwortete er zögernd.
„Rührend, nicht?“, fragte sie.
„Willst Du Dich beklagen?“, fragte er mit gespieltem
Tadel.
Sie lächelte in der Dunkelheit.
Er wurde wieder ernst und sagte: „Er ist es. Wir müssen
ihn befreien.“
Sie zischte leise: „Pst! Nicht so laut! Die Spähzauber
sind überall!“
Er wandte sich schuldbewusst ab und murmelte:
„Ich werde mal nach unserem besonderen Patienten im
Forschungsraum sehen.“

„Ressu und Darrakos müssten inzwischen wieder in


der Forschungsstätte sein“, flüsterte eine Menschenfrau in
einer verschmierten, weißen Robe und fuhr sich nervös
über ihr rotes Kurzhaar.
„Ja, gehen wir schnell hin und warnen sie, solange
Konndamur die Verbindungen noch nicht endgültig 55
herausgefunden hat“, stimmte ihr ein unscheinbarer
Menschenmann in einer ähnlichen Robe zu.
Die beiden hasteten mit nervösen Blicken durch
die imperiale Stadt Harkýior, über saubere und breite
Pflasterstraßen hinweg, vorbei an geschäftigen Chimäriern
und deren Sklaven, vorbei an hellen Steinbauten, die viele
Mannslängen hoch in den Himmel ragten und deren lange
Eingangstreppen von runden Marmorsäulen flankiert
wurden. Überall auf den Zinnendächern wehten rote
Fahnen mit der schwarzen Drachenfaust des Imperators
darauf.
„Dachtet ihr wertlosen Sklaven wirklich, Richter
Konndamur wäre so dumm, Euch nicht beobachten zu
lassen?“, tönte die raue, grollende Stimme eines Chimäriers
plötzlich hinter den zwei Menschen.
Die beiden sprangen erschreckt herum. Eine fünfköpfige
Patrouille mit mannshohen Speeren und eisernen
Langschilden hatte sich hinter ihnen aufgestellt. Auf ihren
Eisenpanzern prangte ebenfalls das imperiale Wappen.
„Khorriser!“, wisperte die Frau mit großen Augen. Beim
Anblick jener Eliteeinheit, wie jede imperiale Palastwache
sie besaß, hatte sie automatisch deren Sprache gewählt.
Khorriser, Blutengel, waren eiskalte Schlächter, die durch
Drogen aufgeputscht wurden. Sie lebten dadurch nur
halb so lang wie andere Chimärier, waren allerdings auch
doppelt so gefährlich. Sie waren wie Flammen, in die man
fässerweise Brandöl goss.
Erst jetzt fiel den Menschen auf, dass niemand sonst
mehr auf der breiten Pflasterstraße war, niemand hinter
56 den hohen Fensterbögen hervorschaute und auch niemand
zu hören war, weder Chimärier noch andere Sklaven.
Tatsächlich war es bis auf das Flattern der Fahnen im
Wind nun totenstill.
Der Wortführer der Patrouille bleckte die spitzen Zähne
zu einem räuberischen Grinsen und knurrte: „Der Richter
weiß schon lange vom Verrat der beiden Rassenforscher.
Er hatte Euch zwei Sklaven nur noch eine Weile am Leben
gelassen, bis Ihr ihm genug Beweise in die Hände gespielt
hattet. Ressu und Darrakos werden in diesem Moment
verhaftet. Aber keine Sorge, ihr Tiere könnt ihnen in der
Arena weiterhin Gesellschaft leisten!“
Während die beiden Sklaven sich widerstandslos Ketten
anlegen ließen, fragte der Menschenmann plötzlich
aufmüpfig: „Ihr werft eins Eurer seltenen Weibchen in
die Arena? Ich dachte, die sind so wertvoll?“ Seine Frage
wurde mit einem Prankenhieb ins Kreuz beantwortet, der
ihn mehrere Meter vorwärtstrudeln ließ. Er unterdrückte
einen Schmerzensschrei, fing sich wieder und blieb nun
teilnahmslos an Ort und Stelle stehen. Beide Sklaven
ließen sich wie willenlos abführen. Sie wechselten nur
ängstliche, fast panische Blicke miteinander.

Der weißhaarige Gnom warf sich unruhig auf seiner


Decke hin und her. Er schlief nur selten wirklich tief,
meistens hatte er Albträume. Diese Nacht war eine
der seltenen Nächte, in denen er von seinen wenigen
angenehmen Erinnerungen träumen durfte.
„Wie soll sie heißen?“, fragte er eine schlaksige Elfin 57
mit schwarzem Haar. Er legte seine Hand auf ihren
prallrunden Bauch unter dem bunten Kleid.
„Laura“, strahlte die Elfin aus jadegrünen Augen. Ihr
Lächeln wich ein wenig, als sie leiser fragte: „Willst Du nicht
ihr Pate werden, Athónon? Wenn Du nicht mein Leben
gerettet hättest, wäre sie auch nicht da, und immerhin hast
Du Dir von jeher heimlich Kinder gewünscht.“
Der Gnom funkelte wütend zu der Elfin auf, deren
Lächeln darauf noch weiter verblasste.
„Das ist nichts für mich, Jade“, knirschte seine alternde
Stimme. Langsam wandte er sich ab.
„Unser Dorf ist gleich am Fuß Deines Berges und
Du bist uns stets willkommen, Athónon Elfenfreund“,
antwortete Jade etwas traurig und sah dem Gnom nach,
wie er in seine Wohnhöhle kletterte und sie stehen ließ.
Athónon drehte sich auf seiner alten, speckigen Decke
hin und her. Wieso mussten selbst seine wenigen schönen
Erinnerungen ein schlechtes Ende nehmen? Und wieso
war er nicht Herr seiner Träume, um die schlechten Enden
wenigstens auszulassen?

Darrakos hob mühsam die Lider. Er lag nackt und


ausgestreckt auf dem Bauch und hatte überall so starke
Schmerzen, dass er sich kaum rühren konnte. Der kalte
Steinboden lähmte ihn zusätzlich; als Chimärier war
er gegenüber Kälte besonders empfindlich. Es kostete
ihn schon seine ganze Kraft, um wenigstens nicht laut
58 loszuwimmern. Sein Drachenschwanz pochte glühend
und fühlte sich gebrochen an, ebenso wie seine kurzen
Flügel, seine linke Hand und all seine Finger.
Er presste die mächtigen Kiefer aufeinander, als er
ein Paar Lederstiefel vor sich erkannte; mit Ausnahme
der Tigermenschen trugen nur die Niederen, die Nicht-
Chimärier, einen Schutz um die Füße. Darrakos konnte
den Kopf nicht heben, deshalb konnte er nicht höher
als bis zu den Knien des Niederen sehen. Seine gelben
Reptilienaugen zuckten nach rechts und links und
erkannten noch einige weitere Stiefelpaare, allesamt
abgewetzt und dreckig.
„Ressu ...“, krächzte Darrakos; beinahe brach seine
Stimme vor Schwäche.
„Hier“, raunte die Stimme seines Weibchens nah hinter
ihm. Es schien ihr genauso schlecht zu gehen wie ihm.
Der Träger des Stiefelpaares hockte sich vor ihm ab,
sodass Darrakos ihn nun fast ganz sehen konnte. Es
handelte sich um einen fahlhäutigen Menschen ohne
Kopfbehaarung. „Willkommen in der Sklavenunterkunft,
Herr“, begrüßte der kahle Mensch Darrakos in der Sprache
der Chimärier. „Dürfte ich untertänigst fragen, wer Euch
so zugerichtet hat?“
Der Spott in der Stimme des Menschen war nicht zu
überhören. Darrakos verkniff sich jedoch selbst das leiseste
Knurren in Anbetracht seiner Situation. Normalerweise
hätte ein standesbewusster Chimärier einen Niederen, der
so einen Ton anschlug, auf der Stelle auspeitschen lassen.
Der Mensch fuhr in seinem falschen Plauderton fort:
„Also, wir haben Euch nicht angerührt. Wir haben
uns mit der Sklavin begnügt, die zusammen mit Euch 59
Herrschervolksvertretern gebracht worden ist, und mit
dem Menschen und dem kranken Tiger.“
„Alynde ...“, knurrte Darrakos und funkelte den
bleichen Mann zornig an.
„Sie lebt selbstverständlich noch“, redete dieser
gönnerhaft weiter, „sonst hätten wir ja nichts mehr für
die Zukunft von ihr.“ Mit heuchlerischer Freundlichkeit
fuhr er fort: „Ich bin übrigens Gebrak.“ Dann schlug sein
Ton wieder in Sarkasmus um: „Also, Herr, was verschafft
uns Niederen die große Ehre? Ihr seid in der Tat die
ersten vom Herrschervolk, die zu uns Tieren gesperrt
werden – Verzeihung, die sich dazu herablassen, uns hier
Gesellschaft zu leisten.“
Darrakos konnte sich noch immer nicht rühren.
Geschweige denn die Hände mit den gebrochenen Fingern
aufsetzen, um sich aufzurappeln. Hinter sich hörte er
jedoch Ressu leise knurren und ihre Krallen über den
Boden scharren. Darrakos beobachtete, wie Gebraks Blick
über ihn hinwegstriff und sich weitete. Gebrak erhob sich
langsam und trat schweigend einen Schritt zurück.
Ressu hinkte auf ihn zu, bis sie zwischen ihm und
Darrakos stand. Sie wurde gekrümmt von Schmerzen und
musste sich die Rippen halten, doch das ließ sie nur noch
grimmiger erscheinen. Auch sie besaß keine Robe mehr,
aber auf Niedere hatte der Anblick nackter Schuppen
keinerlei Wirkung. Als Weibchen war sie kleiner als
die Männchen der Chimärier, aber immer noch war sie
deutlich über zwei Meter groß und überragte selbst die
höher gewachsenen Anwesenden um eine Kopflänge.
60 Außerdem war allen Sklaven, die im Imperium geboren
worden waren, tiefsitzender Respekt vor ihren Herren
anerzogen worden, sodass dieser Respekt Gebrak nun
sofort dominierte, als er nicht mehr die völlige Kontrolle
besaß.
Ein bartloser Zwerg mit Halbglatze, der Gebrak kaum
bis zur Brust reichte, watschelte neben ihn und maulte
lautstark in Menschensprache: „Lass Dich von der doch
nicht einschüchtern! Wenn die Chimärier die beiden hier
reinwerfen, ist es denen egal, wie wir sie behandeln. Die
sind jetzt nicht länger wertvoller als wir! Was will das
verletzte Weibchen machen, wenn sich drei oder auch
fünf von uns mit ihr anlegen, hä? Ich sage, die Braut soll
die Schnauze halten und froh sein, dass sie so abstoßend
hässlich ist!“
Ressu knurrte beleidigt und ballte die riesigen Fäuste,
sie verstand die Menschensprache offensichtlich. Aus den
Reihen der Sklaven kam zustimmendes Murren. Gebraks
Miene erhellte sich immer mehr und seine Mundwinkel
krochen aufwärts. Schließlich strahlte er förmlich und rief
mit ausgebreiteten Händen in Menschensprache in die
Runde: „Recht hast Du, Brommil! Sie wird wie alle hier
behandelt! Wenn Du also Streit willst, Weibchen, dann
komm her und hol ihn Dir ab!“
Gebrak straffte sich, hob das Kinn und funkelte
provozierend zu den hellroten Reptilienaugen der
Chimärierin auf. Die baute sich ihrerseits in voller Größe
vor ihm auf und ignorierte ihre schmerzenden Rippen.
„Nicht ...“, raunte Darrakos heiser in Ressus Richtung.
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr“, flüsterte sie ihm zu.
Völlig unvermittelt brüllte sie und sprang Gebrak mit 61
beiden Fäusten gegen die Brust. Der Mensch wurde zwei
Meter weit durch die Luft gestoßen und krachte so hart
gegen die Höhlenwand, dass er sofort darauf mit dem
Gesicht auf den Boden schlug und in genau der Haltung
liegen blieb, die er beim Aufschlag an der Wand gehabt
hatte. Mit zitternden Händen tastete er nach seinem
Rücken und konnte dabei das erbärmliche, erstickende
Wimmern nicht unterdrücken. „Kann nicht ... atmen!“,
würgte er panisch hervor.
„Sonst noch jemand?“, knurrte Ressu in
Menschensprache und blickte angriffslustig um sich.
Niemand wagte es, sich mit ihr anzulegen. Sie rieb sich
wieder die Rippen und hinkte zu Darrakos. Die Krallen
ihrer dreigliedrigen Füße ließ sie dabei demonstrativ am
Boden scharren. Sie hockte sich stöhnend neben Darrakos,
musterte ihn fürsorglich und liebevoll und strich zärtlich
über die Dornfortsätze auf seinem Rücken.
An der Höhlenwand wandte sich noch immer Gebrak
am Boden, allein.

Taren saß neben dem bewusstlos an einer anderen


Wand liegenden Tigermenschen, der zusammen mit
den vier Neuen gebracht worden war. Der Tigermensch
trug nichts als einen Lendenschurz und bestand aus
mindestens zweihundertfünfzig Pfund puren Muskeln.
Seinen Tigerschwanz hatte er mit einem Tuch an sein
rechtes Bein gebunden. Taren hatte gehört, dass dies unter
Tigermenschen üblich sei, wenn sie Roben oder Beinlinge
trugen, nicht aber im Lendenschurz. Vermutlich war
62 dieser Tigermann also seiner Kleidung beraubt worden.
Zahlreiche Narben, manche erschreckend groß, hatten in
seinem orangefarbenen Fell deutliche Kerben hinterlassen.
Doch was auch immer ihn jetzt ausgeschaltet hatte, war
von außen nicht zu erkennen. Taren öffnete vorsichtig den
Mund des Wesens und bewunderte die starken, gesunden
Reißzähne, während er ihm einen Schluck Wasser aus
einem irdenen, etwas unförmigen Becher einflößte. „Wenn
ich nur wüsste, ob Deine Körpertemperatur normal
für Dein Volk ist“, murmelte Taren zu sich. Auf einmal
öffnete der Fremde die Lider und musterte den überrascht
innehaltenden Menschen mit gelben Tigeraugen.
Kaum hörbar flüsterte das Wesen: „Ich glaube, ich habe
kein Fieber. Danke für das Wasser, Freund.“
Taren nickte freundlich und gab ihm einen weiteren
Schluck aus dem klobigen Tonbecher. „Schön, Dich lebend
wiederzusehen“, sagte er. „Was ist geschehen?“
„Ich weiß es nicht“, presste der Tigermensch hervor.
„Und kannst Du Dich inzwischen an etwas von Dir
erinnern? An Deinen Namen wenigstens?“, fragte Taren.
„Nein“, seufzte der Tigermensch tonlos. „Selbst
mein Name ist mir noch nicht wieder eingefallen.“
Niedergeschlagen sah er sich um. „Wo sind wir?“, fragte er
unsicher nach ein paar Lidschlägen.
„Wir sind jetzt Gladiatoren in der Arena, fürchte ich.
Wir sind auf ganzer Linie gescheitert.“
Die Miene des Tigermenschen versteinerte und er
schwieg. Mit den Krallen seines Fußes kratzte er sich am
anderen Bein. Anders als seine Hände, waren seine Füße
noch die eines Tigers; er ging auf Zehenspitzen und hatte
sehr stark entwickelte Sprunggelenke. 63
In Tarens Schädel arbeitete es. Nach der Prophezeiung
von Theb Nor – der bedeutendsten Priesterlehre, die er
kannte – war Wissen etwas Anrüchiges, als Selbstzweck gar
Verbotenes. Keinerlei Wissen zu haben, nicht mal über sich
selbst, schien dem Tigerwesen etwas Göttliches zu geben.
Doch Taren war ein rationaler Mensch und er konnte nicht
akzeptieren, dass der Verlust des Gedächtnisses gut sein
konnte. Andererseits konnte das göttliche Nicht-Wissen
ein Zeichen für die Begleiter dieses Tigerwesens sein, so
deutlich wie ein Feuer in tiefer Nacht ...

Taren versteifte sich, als die Chimärierin auf ihn


zuhinkte. Schweigend blickte er zu ihr auf.
„Du bist Taren von Silberberg, nicht wahr?“, fragte sie
in seiner Sprache, der Sprache der Sklaven.
„Ja“, antwortete Taren zögernd und unterdrückte den
Reflex, sich nervös am Bart zu kratzen.
Ressu nickte still und schien über etwas nachzudenken.
Dann wandte sie sich dem Tigermenschen zu. „Wie geht es
Dir?“, fragte sie ihn matt, aber nicht unfreundlich.
„Was interessiert es Dich?“, blockte Taren an dessen
Stelle.
Für einen Moment sah Ressu ihn irritiert an. Sie
erklärte: „Zwei unserer Menschensklaven fanden ihn
bewusstlos am Stadtrand. Wir kümmerten uns um ihn.
Wir sind Rassenforscher und kennen uns ein wenig mit
Tigermenschen aus, wenn auch nicht genug, um ihn
wachzubekommen. Als ich sah, dass er die Augen geöffnet
hat, bin ich neugierig geworden.“
64 Jetzt wandte sie ihren Blick wieder dem Tigermenschen
zu, der sie ebenfalls mit einer gewissen Neugier
betrachtete.
„Ich kann mich an rein gar nichts erinnern, nicht mal
an meinen Namen“, schilderte der Fremde sein Dilemma.
„Wie schade“, antwortete Ressu enttäuscht und fügte
hinzu: „Dein Erinnerungsvermögen wird aber sicher bald
wiederkehren. Vermutlich hast Du viel durchgemacht und
musst Dich erst erholen, bevor Dein durchgeschüttelter
Kopf wieder ganz klar geworden ist.“
Nach dem Blutdurst der Tigermenschen fragte sie
nicht: nach dem Dämon N´rracorr, der in ihren Seelen
nistete. Dieses Thema war Tigermenschen überaus
unangenehm, und nur wenige Angehörige anderer Völker
wussten überhaupt davon. Vor über tausend Jahren, als
Seinesgleichen von den Göttern besiegt worden waren,
hatte N´rracorr sich in die Seelen der kriegerischen
Tigermenschen gerettet. Noch heute war dieses Volk
verflucht; Geruch und Anblick von Blut konnten sie in
rasende Bestien verwandeln.
Als Ressu den Kopf drehte, fiel ihr Blick zufällig auf
einen der großen Holztische. Darauf lag Alynde, ihre
menschliche Sklavin mit dem kurzen, roten Haar. Sie
war bewusstlos und ohne Kleider. Zwei Männer stritten
darum, wer als Nächster „dran“ war. Seltsam gepresst
in ihrer Miene, registrierte Ressu die Szene. Sie suchte
die Höhle mit Blicken ab und erspähte nach wenigen
Lidschlägen auch Saban, ihren männlichen Sklaven und
Alyndes Gefährten. Saban war grün und blau geschlagen
worden und seine Robe war zerrissen. Mehr bewusstlos als
wach, saß er in einer Ecke der Höhle und stierte dumpf 65
auf seine blutigen Fußspitzen. Seufzend erhob Ressu sich
und hinkte zu ihrem eigenen Gefährten zurück, der noch
immer hilflos am Boden lag.

Bisher hatte Taren nur insoweit mit Chimäriern zu


tun gehabt, als er seine Heimatstadt Silberberg gegen
sie verteidigt hatte, wenn das Imperium einen weiteren,
halbherzigen Ansturm gegen die äußerst dicken und gut
verteidigten Mauern unternommen hatte. Die keilförmig
ausufernden Bastionen im Inland hinter Silberberg, die
Nahrung und Wasser der Stadt sicherten, hielten ebenfalls
stand; zudem waren Chimärier reine Fußsoldaten. Doch
was auch immer die Chimärier davon abhielt, einen
wirklich entscheidenden Schlag gegen Silberberg zu
führen – wenn dieser Grund nicht mehr gegeben war,
würde die Stadt fallen. Einer der Gründe, warum Taren
überhaupt die Grenze zum Imperium überschritten hatte,
war, mehr über diese seltsame, zermürbende Situation
herauszufinden.
Dass die Chimärier die Mauern Silberbergs nicht
zu stürmen in der Lage sein sollten, war absurd. Dem
Militärrat von Silberberg und allen Priestern, die etwas
zu entscheiden hatten, war zweifelsfrei klar, dass es einen
anderen, verborgenen Grund dafür geben musste, dass
Silberberg den Vormarsch des Imperiums aufhielt.
Taren gehörte zu einer kleinen Elite von Silberberger
Kriegern, die so lange überlebt hatten, dass sie es regelrecht
gewöhnt waren, Chimärier zu töten. Menschen kämpften
immer zu zweit gegen die Schuppen, anders hatten sie
66 keine Chance; solange der Kampfbund hielt, konnten
durchaus auch Menschen Chimäriern das Fürchten
lehren. Was Taren jedoch nicht gewöhnt war, das war, mit
Chimäriern zu reden. Aber etwas flößte Taren Vertrauen
zu der Chimärierin Ressu ein.
Er folgte ihr; als sie ihn fragend anblickte, schilderte
er ohne Umschweife in Menschensprache: „Ich habe den
Tigermann schon zuvor getroffen. Sein Gedächtnis hatte
er da aber auch schon verloren. Möglicherweise handelt es
sich dabei um ein göttliches Zeichen.“
„Ah ja ...“, machte Ressu unsicher. Sie legte den Kopf
schräg, nahm etwas Mut zusammen und fragte dann:
„Dieses Silberberg ... ist nicht in der Nähe, oder?“
„Nein“, antwortete Taren. „Ich hatte hier einen
Auftrag.“
Ressu sah ihm tief in die harten Augen. „So, so ...“,
machte sie leise, ohne den Blick abzuwenden. Jedes Wort
wohl überdenkend, fragte sie dann langsam: „Und wurdest
Du zufällig von zwei Rassenforschern hergebeten?“
Endlich verstand Taren. Er nickte. „Ja, deswegen bin
ich hier“, sagte er gedehnt – und verschwieg, dass dies nur
die halbe Wahrheit war.
„Gut“, erwiderte sie. „Ich heiße Ressu, und das ist mein
Gefährte Darrakos“, stellte sie sich vor und hockte sich zu
Darrakos.
Taren brummte: „Ich habe diese Namen schon einmal
gehört.“
Hinter Taren räusperte sich plötzlich Melek, der junge
Mann, der ebenfalls den Kampf gegen das Tier überlebt
hatte.
Alarmiert spannte Ressu sich und knurrte kehlig. Taren 67
hob leicht die Hand, um sie zu beruhigen.
Furchtsam starrte Melek die Chimärierin an
und ließ sie nicht aus den Augen. Er stammelte: „Der
Tigermensch ... er lässt fragen, ob es hier einen großen
Menschen mit langen, braunen Haaren gibt, etwa vierzig
Jahre alt. Er weiß den Namen nicht, aber er hat ein Bild
von ihm vor Augen. Das ist momentan wohl seine einzige
Erinnerung. Er glaubt, dieser Mann sei wichtig. Ich habe
ihm gesagt, dass ich keinen solchen Mann hier kenne, aber
ich dachte ... also, ich fühlte irgendwie ... ich sollte Dir das
sagen, Taren.“
„Danke, Melek“, sagte Taren und klopfte dem Jungen
sachte auf die Schulter. Irgendetwas gefiel Taren an ihm
nicht, etwas in seinem unsteten, angespannten Blick.
Ist das etwa doch derselbe Melek, der ...
„Ich kenne so einen Menschen auch nicht“, berichtete
Ressu und unterbrach damit Tarens Gedanken über
Melek.
„Ich auch nicht“, ergänzte Taren. „Vielleicht kümmerst
Du Dich ein bisschen um den Tigermenschen, Melek.
Hier, nimm den Apfel mit.“

„Darf ich fragen, weshalb Ihr zwei hier seid?“, führte


Taren dann das Gespräch fort. Entgegen einer alten
Gewohnheit vermied er es, die Arme beim Gespräch zu
verschränken.
Ressu seufzte schwer, bevor sie antwortete: „Wir sind
Rassenforscher, und als solche brauchen wir Vertreter
anderer Rassen als Augen und Ohren jenseits des
68 Imperiums. Nur so können wir das natürliche Verhalten
anderer Rassen in Freiheit erforschen, um mehr über diese
zu lernen, um ...“ Sie gestikulierte unschlüssig mit den
Händen und suchte nach Worten.
„Um sie besser bekämpfen zu können“, schloss Taren
bitter den Satz und verschränkte nun doch die Arme.
„Ja“, gab Ressu jetzt unumwunden zu. „Dafür sind
imperiale Rassenforscher da.“ Sie zeigte kein Zeichen von
Verlegenheit. Ihre Hände lagen jetzt ruhig aufeinander.
Für einige Lidschläge starrten beide aneinander vorbei
zu Boden. Schließlich fuhr Ressu fort: „Offensichtlich aber
wurde uns unterstellt, wir hätten uns zu liberal gegenüber
den Niederen verhalten, ja sogar Informationen bewusst
zurückgehalten, die Schwächen unserer Feinde betrafen.
Wir wurden als Verräter am Imperium hingestellt. Unsere
Verletzungen rühren noch vom Verhör.“ Ihre Miene wurde
hart und ihr Blick schweifte ins Leere. „Normalerweise
inhaftieren sie keine Weibchen. Aber ich bin schon zu
alt zum Eierlegen, deshalb bin ich wertlos.“ Dann sah
sie Taren wieder intensiv ins Gesicht. „Zuletzt haben wir
Augen und Ohren bei einem ganz bestimmten, freien
Stadtstaat der Menschen gesucht: Silberberg. Wir haben
Mittelsmänner eingesetzt, von denen wir aber nun schon
eine Weile nichts mehr gehört haben.“
Taren nickte knapp und erwiderte Ressus vielsagenden
Blick. Eine neue Frage begann sich in seinem Hinterkopf
zu drehen: Konnte es sein, dass die Chimärier selbst
nicht genau wussten, was es mit Silberberg auf sich hatte?
Warum zögerten ihre Bataillone vor der Stadt mit einem
entschiedenen, vernichtenden Angriff? Was ging in ihrer
Führung vor? Und wie konnte Taren seiner jetzigen Lage 69
entkommen, um das Rätsel zu lösen, um vielleicht gar
seine Heimat zu retten?
Ressu blickte kurz zu den Seiten, beugte sich etwas vor
und fragte dann leise: „Wo ist Nenúriel?“ Sie bemerkte
sofort, dass etwas nicht stimmte: Taren zuckte bei der
Erwähnung des Namens wie von einem Hieb getroffen.
Seine Lippen zuckten und seine Augen wurden feucht.
„Oh“, machte Ressu und senkte leicht den Blick.

Der Mondtempel von Silberberg: glatter weißer Marmor,


prunkvoll mit Silber verziert. Dies war eines der reichsten
Gebäude des ganzen Stadtstaates. Jeder Hohepriester von
Bruder Mond war nahezu automatisch auch Mitglied des
Stadtrates, der aus den sechs wichtigsten Priestern und den
sechs reichsten Händlern bestand. Das runde Gebäude befand
sich direkt neben der Kaserne des stehenden Heeres. Es war
keine Seltenheit, dass die Mondpriester der Nachtschicht der
Stadtwache etwas Arbeit abnahmen.
„Jetzt sitzt Du da wie ein Häufchen Elend. Aber weißt
Du was? Ich glaube Dir nicht, dass Du so weich und
eingeschüchtert bist! Ich habe mich umgehört; als Du eine
Nachtelfin wurdest, haben Deine Eltern Dich verstoßen
und sogar die Stadt verlassen, weil sie Angst hatten, diese
Elfenkrankheit könnte sie sonst auch einholen. Seit Du neun
Jahre alt warst, seit diese unheilige Seuche Dich erwischt
hatte, hast Du Dich allein durchgeschlagen – und Du lebst
noch, hast noch alle Gliedmaßen und kaum Narben. Du bist
nicht wie die trägen, verträumten Elfen aus der Wildnis.
Jemand wie Du ist nicht weich und schüchtern. Jemand wie
70 Du ist absolut in der Lage zu töten. Also erzähl mir endlich,
wieso Du den Färber umgebracht hast!“
Nenúriel hob den Kopf und musterte Taren emotionslos.
„Ich habe ihn nicht getötet“, sagte sie ruhig.
Taren ohrfeigte sie. Stumm nahm die Elfin den Schlag
hin, blickte den Menschen nun aber nicht mehr an. Taren
schrie zornig: „Wer sollte ihn denn sonst getötet haben? Dein
Dolch steckte in seiner Brust, und nur zwei Stunden zuvor
haben mehrere Menschen gesehen und gehört, wie Du mit
ihm gestritten hast.“
„Ich habe ihn nicht getötet“, wiederholte Nenúriel tonlos.
„Ich sollte Dich ...“, begann Taren, da sprang Nenúriel
plötzlich vom Schemel und stand jetzt fast Nase an Nase vor
Taren.
„Ja? Was solltest Du mich? Zusammenschlagen? Töten?
Vergewaltigen?“ Bei diesen Worten griff sie sich fest in die
vorgereckten Brüste unter dem schwarzen Kleid. „Nur zu,
ich kann mich gegen einen Menschenmann nicht wehren. Ich
weiß das aus Erfahrung.“
Schlagartig fielen ihre Arme wieder herab. Sie funkelte
Taren an und zischte: „Du machst mir keine Angst. Ich
habe den Färber nicht getötet. Aber ich sehe auch, wie
die Wahrscheinlichkeiten liegen. Nur weil etwas ganz
unglaubwürdig erscheint, heißt es nicht immer, dass es nicht
doch sein kann. Aber ich kann es nicht beweisen, also tu, was
Du nicht lassen kannst. Nur erspar uns beiden Dein Gerede
und die noch ausstehende Moralpredigt, Priester.“ Mit diesen
giftigen Worten setzte sie sich wieder hin und starrte zornig
auf die schäbigen Pflastersteine des Zellenbodens.
Sprachlos sah Taren auf sie hinab. Er schüttelte sich kurz,
wie ein nasser Hund. „Entweder bist Du äußerst raffiniert 71
oder ein tragischer Fall. Entweder falle ich nicht auf Dich
herein oder ich habe keine andere Wahl bei der Beweislage.
So oder so, Du wirst morgen zu Tode gesteinigt.“
Nenúriels Blick wurde für einen kurzen Moment wehmütig
und sie schluckte schwer. Doch schon beim nächsten Lidschlag
wurde ihre Miene hart und kalt. „Gut so. Was für ein Leben
habe ich schon?“
„Ist das ein Schuldbekenntnis?“, fragte Taren lauernd.
Nenúriel schüttelte bebend den Kopf.
Taren beugte sich vor ihr Ohr und flüsterte: „Was ist das
für ein Leben, einsam und ohne jede Wärme?“
Ruckartig drehte sie ihm das Gesicht zu und funkelte ihn
ebenso überrascht wie böse an.
Vorsichtig streckte er eine Hand nach ihrer Wange aus und
berührte ihr schwarzes Haar. Die unvorhergesehene Geste
brachte sie völlig aus dem Konzept. Fassungslos starrte sie
ihn an. Taren löste sich seufzend von ihr und schlich um sie
herum, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt. „So
was kennst Du nicht?“, fragte er mitfühlend.
Nenúriel berührte mit den Fingerspitzen zaghaft ihre
Wange, wo eben noch Tarens Hand gewesen war. Ihr Blick
war erschreckt, regelrecht bestürzt.
Taren hielt inne und überlegte. Dann packte er Nenúriel
mit beiden Händen im Nacken. Sofort versteifte sie sich
und ihre Miene wurde wieder hart. „Das kennst Du, wie
es aussieht“, murmelte Taren. Dann begann er, ihren
Nacken zärtlich zu massieren. Sofort wurde Nenúriels Miene
erschrocken und weich, verwundbar.
„Was ...“, begann sie und seufzte ganz leise. „Was hast Du
72 vor?“, flüsterte sie schließlich. „Du quälst mich mehr, als Du
ahnst.“
Taren hörte auf und sagte unangenehm laut: „Das dachte
ich mir. Du bist ein armes Ding. Jetzt erzähl mir die ganze
Geschichte mit dem Färber. Dann mache ich vielleicht
weiter ... damit.“
In Nenúriels Gesicht arbeitete es. Plötzlich lief eine
Träne ihre Wange hinab und leise sprach sie: „Im Kerker
der Stadtwache sitzt eine Frau, die noch am ehesten so
etwas wie eine Freundin für mich ist. In einem Monat soll
sie freikommen. Hauptmann Swefan hat gesagt, er tötet sie,
wenn ich ihm kein Alibi verschaffe. Ich dachte, ich könnte
mich besser verstecken. Swefan hat den Färber getötet, weil
der ihn bei irgendetwas beobachtet haben soll, was er nicht
hätte sehen dürfen. Ich weiß nicht, was, das hat Swefan mir
nicht gesagt.“
Allmählich hatte sie wieder ihren ruhigen Ton gefunden.
„Das war alles. Mach daraus, was Du willst.“ Dann wurde
ihr Blick flehend, sie sah zu Taren auf und rief mit dünner
Stimme: „Aber ich bitte Dich, wir müssen meine Freundin
Lani beschützen!“
Taren nickte mit sorgenvoller Miene vor sich hin.
„Könntest Du jetzt ...“, flüsterte sie erwartungsvoll und
griff nach seiner Hand.
„Nicht hier, wir sind im Tempel von Bruder Mond!“, fuhr
er sie an und zog die Hand weg.
Enttäuscht starrte sie zu ihm auf. „Mistkerl!“, zischte sie
wütend und sah weg.
„Ich gehe jetzt mit Hauptmann Swefan reden“, sagte
Taren zum Abschied und marschierte davon. Hinter ihr
schlug er die schwere Tür aus Eichenholz zu und schob den 73
Bronzeriegel vor.
„Denk an Lani! Bitte!“, rief Nenúriel ihm durch die
verschlossene Tür nach.

„Nach unserem ersten Kuss hat sie vor Glück geweint,


sie war wie erlöst aus einem langen Fieber“, murmelte
Taren und verbarg seine Augen hinter seiner Hand.
„Was meintest Du?“, fragte Melek, der sich wieder vom
Tigermann zurückgezogen und in Tarens Nähe gesetzt
hatte.
„Nichts“, krächzte Taren, dem beinahe die Stimme
versagt hätte.

„Reden wir endlich Klartext, Taren von Silberberg“,


verlangte Ressu und setzte sich zu dem düster vor sich hin
brütenden Menschen. „Schließlich sind wir schon zum
Tode verurteilt – was macht es jetzt noch, wenn die anderen
Gladiatoren etwas von unserer Verbindung erfahren?“
Taren nickte teilnahmslos. Er schwieg und rieb sich die
roten Augen.
„Was ist aus den menschlichen Mittelsmännern
geworden, die Dich zu uns führen sollten?“, wollte Ressu
wissen.
Taren seufzte und begann schließlich mit brüchiger
Stimme zu reden. „Wir hatten uns wie abgesprochen
am Markt mit Lisann und Fehnor getroffen, das heißt,
Nenúriel, der Tigermann und ich. Doch plötzlich wurde
der Markt von Soldaten gestürmt. Lisann und Fehnor
liefen in eine andere Richtung als Nenúriel und ich, daher
74 weiß ich nicht, was aus ihnen wurde. Da aber Darrakos
und Du jetzt hier sind, wurden sie wohl geschnappt und
verhört, oder sie haben Euch sogar verraten. Nenúriel
und ich wurden jedenfalls ein paar Straßen weiter gestellt
und sind nicht mal mehr verhört worden, sondern direkt
in die Arena gebracht worden. Wie es dem Tigermann
zwischenzeitlich ergangen ist, weiß ich auch nicht.“
Ressu dachte einige Momente lang über das Gehörte
nach und nickte leicht. „Jedenfalls ist es schön zu sehen,
dass jemand unserem Ruf gefolgt ist, und obendrein auch
nicht irgendwer. Das lässt mich hoffen, dass andere wie
wir, in anderen Städten, vielleicht mehr Erfolg haben.“
Im ersten Moment dachte Taren sarkastisch: „Und mit
der ungeklärten Lage Silberbergs hat das wohl nichts zu
tun, wie?“ Er seufzte und widersprach: „Ich fürchte eher,
dass das ein ziemlich seltener Glücksfall für Euch gewesen
ist. Wenn Nenúriel und ich Silberberg nicht sowieso ...
überraschend hätten verlassen wollen, wären wir nämlich
niemals hergekommen. Es war bloß so, dass wir keinen
anderen Ort gekannt haben, an den wir hätten gehen
können. Also steigerten Nenúriel und ich uns in unsere
gewisse Neugier noch weiter hinein und beschlossen
schließlich aus Abenteuerlust, und mit dem Segen meines
Tempels, das Risiko doch einzugehen und den Worten
Eurer Mittelsmänner zu vertrauen, darüber, dass es auch
Chimärier gäbe, die ...“, er wurde sehr leise, „... mit dem
Imperator nicht einverstanden seien.“
Dass er auch hier war, um zu ergründen, weshalb die
„Schuppen“ Silberberg nicht mit voller Entschlossenheit
angriffen – sondern vor den Mauern ein Militärlager
befestigt hatten, verschwieg er ganz bewusst. So sehr 75
vertraute er der Fremden noch lange nicht, ihr seine
Geheimnisse zu verraten. Dass er das verlorene Gedächtnis
für ein göttliches Zeichen hielt, hatte er ihr auch nur
verraten, weil er wusste, dass Chimärier mit Religion
nichts anfangen konnten; ihr Imperator war ihr einziger
Gott, und religiöse Riten waren als Zeitverschwendung
verboten.
Niedergeschlagen nickte Ressu und seufzte leicht.
Sie wechselte das Thema: „Und wo habt Ihr nun diesen
Tigermann getroffen? Leben sie sonst nicht von Silberberg
aus viele Tagesreisen weit im Süden?“
Taren blickte hinter sich, wo das Wesen schlief.
Leise berichtete er: „Es gibt auch in Silberberg einige
Tigermenschen, Auswanderer, Pilger oder Abenteurer.
Dieser hier trottete völlig desorientiert die Straße nach
Harkýior entlang, ohne jede Tarnung mitten auf die
Stadt zu. Er meinte nur, er hätte schon sehr lange kein
Gedächtnis mehr, doch er konnte nicht einmal sagen,
wie lange genau. Wir haben ihm die Situation erklärt
und ihn dann mit an unsere Kette gelegt, sodass wir alle
gemeinsam als Sklaventreck in die Stadt geführt wurden.
Der Tigermann stand zwar nicht auf Fehnors Namensliste,
aber die Wachen haben nicht weiter gefragt. Sie wussten
wohl, dass ihr Rassenforscher seid und viele Niedere
transportieren lasst.“
Ressu hatte aufmerksam zugehört. Als Taren
endete, beugte die Chimärierin sich nah über den
Kopf des Tigermenschen und suchte seinen Kopf ab.
Gedankenverloren kratzte sie dabei etwas Ruß aus
76 ihren Nasenlöchern.
„Er scheint keine Kopfwunde zu haben, die seinen
Gedächtnisverlust zur Folge gehabt haben könnte“,
murmelte sie.
Auf einmal riss der Tigermann die Augen auf und
packte Ressu mit einer Hand am Hals. Ressu riss ebenfalls
entsetzt die Augen auf, würgte heiser und versuchte
vergeblich, die Krallen des Tigermannes von ihrem Hals
zu lösen.
„Schon gut! Lass sie los!“, rief Taren und legte dem
Tigermann eine Hand auf die Schulter. „Sie wollte
nachsehen, ob Du vielleicht eine Kopfwunde hast! Sie
wollte Dir helfen!“, redete er eindringlich auf ihn ein.
Ressu röchelte gequält und grub ihre eigenen Krallen in
die eiserne Hand des Fremden. Langsam sank sie auf die
Knie und krächzte kläglich. Dann ließ der Tigermann sie
einfach los und starrte zur Decke. „Tut mir leid“, flüsterte
er beschämt.
Ressu fiel stöhnend auf die Knie und rieb sich den Hals.
Ihre Augen waren immer noch geweitet, während sie den
Tigermann mit neuem Respekt betrachtete. „Woher hast
Du bloß diese Kraft?“, keuchte sie ehrfürchtig.
„Weiß ich gerade nicht“, stieß das Wesen ruppig und
unwillig hervor. Ressus Hals war fast doppelt so dick wie der
von Taren, und er stellte sich gerade vor, was die Klaue des
Fremden wohl mit seinem vergleichsweise dünnen Genick
angestellt hätte. Gelbe, dampfende Blutfäden rinselten aus
Ressus Hals, wo die schwarzen Tigerkrallen sich unter ihre
Schuppen gebohrt hatten. Auch der Tigermann blutete
etwas an der Hand, doch er ignorierte es.
„Entschuldige mich“, raunte Ressu eisig und zog sich zu 77
Darrakos zurück. Der Tigermann presste schuldbewusst
die Kiefer aufeinander.
„Was war das gerade?“, fragte Taren vorwurfsvoll den
Tigermann.
„Ich weiß es nicht“, antwortete der niedergeschlagen.
„Ich habe mich erschreckt; ich bin aus wirren Träumen
erwacht und dachte, ich hätte einen mordgierigen Feind
vor mir.“ Er seufzte schwer und brummte: „Ich hoffe
wirklich, dass ich mich bald wieder an mehr erinnere als
daran, wie man anderen Schmerzen zufügt.“
„Der Junge, der Dir den Apfel brachte ...“, begann Taren
finster.
„Danke, das hat gutgetan“, lächelte der Tigermann.
„Hat der Junge sonst noch etwas gesagt oder getan?
Hattest Du bei ihm auch ein Gefühl von Bedrohung?“,
fragte Taren leise, nachdem er sich mit mehreren
Seitenblicken versichert hatte, dass Melek nicht in der
Nähe war.
Der Tigermann musterte Taren ausdruckslos. Er
legte die Hände auf dem Bauch zusammen und blickte
nachdenklich zur Decke. „Nein“, antwortete er schließlich.
„Der Junge ist etwas verkniffen, das ist alles.“
Taren schnaufte durch die Nase und nickte gepresst.
„Hoffen wir es“, brummte er.
„Was soll mit ihm sein?“, wunderte sich der Tigermann
und musterte Taren neugierig.
Taren starrte nur schweigend vor sich hin.

„Melek Messer! Das war Melek Messer! Er hat schon wieder


78 getötet!“, schrie eine alte Frau hysterisch und fiel vor einem
kleinen Haus aus Tonziegeln auf die Knie. Sie streckte die
Hände zum Himmel und jammerte.
Taren blieb einige Schritte von ihr entfernt stehen. Seine
Miene war mit einem äußerst finsteren Blick eingefroren.
Innerlich jedoch begann er sich bereits dafür zu schämen, dass
er den eisernen Wappenschild von Bruder Mond trug.
Er jagte einem Wahnsinnigen im Süden der Silberberger
Lande nach, der ihm ständig einen Schritt voraus war. Tarens
Flügelhelm, sein Eisenpanzer und der Wappenschild mit dem
fahlen Halbmond zeigten schon von Weitem, dass er kein
einfacher Söldner war. Doch dieser junge Mörder – halbnackt
und nur mit einem Dolch bewaffnet, hieß es – spielte schon
seit fast zwei Jahren Katz und Maus mit ihm. Taren war
kurz davor, zum Gespött von ganz Silberberg zu werden. Er
musste diesen Kerl einfach kriegen, kostete es, was es wollte.
Taren betete jeden Abend eine Stunde um Erleuchtung;
irgendetwas musste er doch falsch machen! Doch Bruder
Mond gab ihm keinen Hinweis. Dies war Tarens bisher
schwerste Prüfung, und er sollte sie allein bestehen.

Vielleicht ist es Bruder Mond gewesen, vielleicht auch


nur ein Zufall. Doch eines Tages machte die Nachricht die
Runde, Melek Messer sei getötet worden. Andere sagten, er
sei spurlos verschwunden. So oder so, Tarens Hohepriester
in Silberberg hielt wie immer seine schützende Hand über
Taren und ließ überall verbreiten, Taren, nicht irgendwer,
hätte Melek Messer zur Strecke gebracht. Tarens Ruf war
offiziell wiederhergestellt worden. Doch Taren litt noch heute
daran, dass er es besser wusste.
Nichts würde er lieber tun, als den berüchtigten Melek 79
Messer ganz langsam zu erwürgen. Doch niemals würde er
das Risiko eingehen – und sei es noch so gering – vielleicht
einen Unschuldigen zu erwischen.
80 3

„Das hat Laura für Dich gebastelt, nachdem ich ihr


von Dir erzählt habe“, berichtete Jade, die schlaksige,
schwarzhaarige Elfin, die neben Athónon am Abendfeuer
vor seiner Einsiedlerhöhle saß. Sie hielt dem weißhaarigen
Gnom einen kleinen Gegenstand hin, der mit einem
bunten Leinentuch umwickelt war.
Athónon drehte einen Hasenbraten über dem Feuer
und reagierte weder auf Jades Worte, noch nahm er das
Geschenk der vierjährigen Halbelfin Laura entgegen.
Jade wickelte es selbst aus und hielt es hoch, damit
Athónon es wenigstens sah: Eine Kastanienpuppe mit
einer weißen Haube hielt eine kleinere Kastanienpuppe an
der Hand.
„Ich lege es hierhin“, sagte Jade leise und platzierte die
beiden Puppen auf einem flachen Stein neben Athónon.
Jade erzählte dann amüsiert: „Die Geschichte vom
Kampf im Tiefenreich hat Laura sehr gefallen. Sie hat
sofort einen Stock genommen und Deinen Kampf gegen
die Tiefenweltler nachgespielt.“
Athónon sah noch immer nicht auf. „Ich habe es nicht
unbedingt lustig in Erinnerung. Vor allem die Stelle nicht,
als der Pfeilhagel niederging und Du mit einem Pfeil im
Rücken neben mir zusammengebrochen bist.“
Jades Lächeln erstarb. „Nein, der Teil war nicht lustig,
den habe ich auch weggelassen“, flüsterte sie mit belegter
Stimme.
„Du setzt ihr ziemliche Flausen in den Kopf“, setzte
Athónon düster nach und hob den aufgespießten 81
Hasenbraten vom Feuer. „Wenn das mal gut geht.“
Etwas betreten rieb sich Jade das Gesicht und starrte
verunsichert in die Flammen, während Athónon den
Braten teilte.
„Ihr Elfen seid einfach zu sorglos, lebt nur in den Tag
hinein und lauft vor jedem anstrengenden Gedanken weg,
sogar vor Eurer eigenen Vergangenheit“, brummte der
Gnom.
Jade wollte ihn sarkastisch fragen, ob er mit seinem
Einsiedler-Dasein nicht viel schlimmer in dieser Hinsicht
war. Doch sie hatte kein Interesse daran, den Finger in
offene Wunden zu drücken und schwieg.

„Schöne Freunde habe ich hier“, grunzte Gebrak


abfällig. „Von wegen, zu dritt oder zu fünft machen wir sie
fertig. Wo wart ihr denn, hä?“
Brommil, der Zwerg, keifte zurück: „Was lässt Du
Blödmann Dich auch so vorführen? Außerdem konnte
keiner wissen, dass das Biest so stark und schnell ist und
außerdem weniger verletzt, als es erst den Anschein gehabt
hatte.“
Gebrak hob langsam das Kinn und stierte den Zwerg
mit seinen schwarzen Augen so feindselig an, dass Brommil
für einen Moment blass wurde. Demonstrativ knetete
Gebrak seine Finger durch.
„Das ... war nicht so gemeint“, stammelte Brommil leise
und hob beschwichtigend die Hände.
82 Pira schlenderte überaus zufällig zwischen die beiden
und lächelte Gebrak an: „Was macht Dein Rücken?“
„Könnte eine Massage vertragen, schätze ich.“ Er legte
die Hände um Piras Hüfte und zog sie an sich.
„Dafür ist jetzt keine Zeit mehr!“, maulte Brommil von
der Seite.
„Dafür ist immer Zeit“, schnurrte Pira und tätschelte
Brommils Halbglatze, ohne ihn anzusehen.
Mit wutverzerrter Miene schlug der Zwerg ihre Hand
zur Seite. Als Pira sich lasziv an Gebrak zu reiben begann,
verdrehte Brommil entnervt die Augen und trottete von
dannen.

Auf dem Tisch wurde immer noch „die Neue“ von


einem weiteren Krieger „eingeweiht“; ihr Hinterkopf
schlug immer wieder auf das Holz, da sie bewusstlos war.
Kopfschüttelnd ging Brommil weiter, bis er nur noch
ein paar Schritte von Taren entfernt stehen blieb. „Wir
könnten noch einen guten Kämpfer für eine bestimmte
Sache gebrauchen“, rief der Zwerg ihm halblaut zu.
Mäßig interessiert hob Taren den Kopf aus den Händen
und musterte den Zwerg fragend. „Und da kommst Du
ausgerechnet zu mir? Schätze, Gebrak mag mich nicht
besonders“, brummte er.
Brommil kam näher und raunte dem Menschen
verschwörerisch ins Ohr: „Das ist mir doch egal! Pass auf:
Wir werden ausbrechen! Der Wachsoldat für den nächsten
Kampf wird ganz zufällig das falsche Tor öffnen und wir
müssen eigentlich nur noch schnell genug rennen. Gebrak
kennt als Einziger den richtigen Weg, der dann hoffentlich
unbewacht sein wird. Also bleib ihm auf den Fersen! Die 83
anderen, die anderswo rauslaufen, werden sterben. Das
kommt uns zugute, weil wir in dem Chaos noch besser
verschwinden können. Es kann aber durchaus sein, dass
auch wir kämpfen müssen, dann wäre es mir lieber, Leute
wie Du begleiten uns. Zumal wir ja keine Waffen haben
und erst jemandem welche abnehmen müssten.“
Jetzt war Taren hellwach und streckte den Rücken
gerade. Sein Misstrauen grub tiefe Furchen in seine Stirn.
„Wieso sollte der Wachsoldat das tun? Wieso kennt Gebrak
einen sicheren Weg? Und wieso sollte ich Euch schrägen
Gestalten überhaupt vertrauen?“
Brommil tat kein bisschen beleidigt, sondern lachte breit.
Übertrieben hob er die Achseln zu einer gleichgültigen
Geste. „Du kannst auch gern hier drin verschimmeln.“
Taren sah über Brommil hinweg zu Gebrak und Pira,
die ganz in ihrer Ekstase versanken.
Brommil folgte Tarens Blick, lachte etwas in
Zwergensprache und stieß ihm dann den Ellbogen in die
Rippen.
Taren sah den geifernden Zwerg nur geringschätzig an,
fast mitleidig. Unvermittelt fragte er: „Kann es sein, dass
Gebrak sehr unzufrieden damit sein würde, dass ich dabei
wäre?“
Brommil grinste breit: „Ja, das ist wohl möglich. Aber
wir müssen es ihm ja nicht sofort sagen, er wird es dann
auf dem Weg schon merken! ... Du weißt also Bescheid.
Nimm mit, wen Du sonst noch meinst. Je mehr Kämpfer,
desto besser. Den Ballast lässt Du aber besser hier, wie
zum Beispiel den Chimärier, der nicht laufen kann.“
84 Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Brommil von
dannen und kletterte auf den Tisch mit der neuen
Sklavin Alynde, um von ihrer Kopfseite aus das tierhafte
Geschehen zu beobachten. Nach wenigen Augenblicken
wurde er von den Umstehenden am Kragen gepackt und
fortgeschleudert. Er lachte dreckig und verzog sich in eine
Ecke, wo er still über sein verpfuschtes Leben zu brüten
begann. Es schien ihm gerecht, hier geendet zu sein.

„Lani ist tot. Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten,


noch bevor Swefan verhaftet worden ist.“ Nenúriel stand vor
dem Tempeltor und blickte Taren ins Gesicht. Ihre Miene
war matt, ganz und gar nicht passend zu der Nachricht über
ihre tote beste Freundin.
Taren runzelte skeptisch die Stirn. „Ich weiß“, antwortete
er feindselig. „Was willst Du hier? Dieser Tempel ist für
Menschen. Elfen beten ja nicht.“
Sie ging nicht darauf ein. Stattdessen hauchte sie: „Jetzt
habe ich niemanden mehr.“ Ihre Gesichtsmuskeln zitterten
leicht.
Verärgert wiederholte Taren: „Ich fragte, was Du noch
hier willst.“
„Deine Hand“, flüsterte sie und streckte ihre Hände nach
seinen aus.
„Verschwinde!“, bellte Taren. Er machte einen Schritt
zurück und wollte das Tor schließen. Doch Nenúriel trat auf
die Schwelle und starrte ihn flehend an. „Bitte lass mich nicht
wieder allein!“, flüsterte sie.
„Ich habe Dir nie Gesellschaft geleistet“, belehrte Taren sie
schroff.
„Bitte!“, flehte Nenúriel und trat noch näher, dicht an ihn 85
heran, doch ohne ihn zu berühren.
Schweigend sah er sie an. Seine Miene blieb finster.
Sie flüsterte: „Plötzlich ist mir völlig klar geworden,
wie sinnlos meine bisherige Existenz war. Du kannst das
ändern!“
Taren schüttelte den Kopf. „Das denkst Du nur im
Moment. Du bist jung. Lass ein paar Tage vergehen und
Heva sieht wieder anders aus.“
„Da, Du tust es schon wieder!“, wisperte Nenúriel und
lächelte dünn.
Taren verstand nicht und sah sie mit seiner Miene des
grimmigen Bären an.
„Du behandelst mich wie ein Lebewesen. Du bist der erste
Mensch oder Elf, der das tut, seit ich ...“ Sie biss sich auf
die Lippe und ließ den Kopf hängen, ballte die Fäuste und
schluchzte leise. Dann sah sie mit feuchten Augen wieder auf
und wisperte: „Ich bin doch auch ein Lebewesen, oder nicht?
Ich atme, denke und fühle! Aber alle behandeln mich nur wie
Dreck, wie ein Stein im Weg, den es zu umgehen gilt! Außer
Dir.“
Taren hatte einen Kloß im Hals. Allerdings erwiderte er:
„Siehst Du, Du lügst Dir selbst etwas zurecht. Ich habe Dich
auch abgewiesen und will Dich nicht. Jetzt verschwinde.“
„Du bist es, der lügt“, zischte sie und musterte sein Gesicht
herausfordernd. Fast lächelte sie.
„Was?“, entfuhr es Taren. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Du hast zumindest Mitleid mit mir, das hast Du mir
schon gezeigt. Aber Du hast auch Angst, dass Du meinetwegen
in Schwierigkeiten kommst, weil Du ein Priester der
86 Menschen bist und Nachtelfen durch ihre Empfindlichkeit
gegen Sonnenlicht als aussätzige, kriminelle Monster gelten
– obwohl es nur eine Krankheit ist ... Also stößt Du mich fort,
obwohl Du anders fühlst.“ Dann wurde ihre Miene traurig.
„Hast Du das wirklich gut gegeneinander abgewogen? Dein
Ansehen gegen mein Leben?“ Sie zog langsam einen schartigen
Bronzedolch unter dem Kleid hervor; der Griff bestand bloß
aus einem dicken Lumpen, gehalten durch ein verknotetes
Lederband.
Taren sprang alarmiert zurück und griff nach dem Schwert
an seiner Seite.
Doch Nenúriel setzte sich die Dolchspitze mit beiden
Händen selbst ans Herz und schloss die Augen. Sie flüsterte:
„Wenn ich Dir wirklich egal bin, wirst Du nicht eingreifen.“
Eine scheinbare Unendlichkeit lang blickte sie ihn an.
Taren fühlte sich gelähmt. Er wollte sie nicht sterben sehen,
aber seine strenge Loyalität zum Tempel kämpfte gegen sein
Herz und nahm ihm jegliche Entschlusskraft.
Dann stach Nenúriel zu. Sofort riss sie Augen und Mund
auf und stöhnte unterdrückt.
Taren stand reglos vor ihr. Während sie auf die Knie sank,
starrte sie ihn voller Entsetzen an. Mit einer zähen Bewegung
kippte sie vornüber – in Tarens zugreifende Arme. Er legte sie
behutsam auf den Rücken. Dann riss er den Dolch achtlos aus
der Wunde, warf ihn zur Tür hinaus und legte seine Hände
übereinander auf das pulsierende Blut.
Hinter ihm liefen Schritte herbei, jemand rief: „Was ist
hier denn los?“
Taren versank in sein stilles Gebet an Bruder Mond, in
welchem er um Rettung und Heilung bat.
„Ich habe Dich entlarvt“, flüsterte Nenúriel kraftlos, aber 87
mit einem Lächeln.
Als Taren sein Gebet beendete, war seine Hand voll Blut,
aber die Wunde war geschlossen.
„Ich wusste es“, flüsterte Nenúriel im Liegen und griff nach
seiner Hand.
Doch wieder zog Taren sie weg und grollte: „Du irrst Dich.
Ich kann nur nicht zulassen, dass jemand an unserem Tor
stirbt. Du kannst hierbleiben, bis Du wieder laufen kannst.
Doch dann gehst Du weg und bringst Dich woanders um,
wenn Du unbedingt musst, Nachtelfin!“
Nenúriels Lächeln erstarb. Taren jedoch musste seines
verbergen, indem er den Kopf abwandte; er hielt seine
Maskerade nicht mehr durch.

Taren schüttelte die quälenden Gedanken ab. Er raunte


dem Tigermann ins Ohr: „Hast Du gehört, was der Zwerg
erzählt hat?“ Der Tigermann nickte. „Kommst Du mit?
Kannst Du laufen?“, fragte Taren, und wieder nickte
der Tigermann. „Du bist verdammt stark. Kriegst Du
vielleicht dieses Armband auf?“, fragte Taren dann.
Der Tigermann richtete sich vorsichtig zum Sitzen
auf und nahm Tarens Handgelenk mit dem Armband in
beide Hände. Er betrachtete die flache Nase eingehend,
an der beide Seiten des Eisenringes zusammengeschmiedet
worden waren. „Sieht aus wie ganze Arbeit, Freund“,
murmelte er. „Aber ich werde es versuchen.“
Er schloss die Klauen fester um das Eisen. Ein tiefes
Grollen ausstoßend, versuchte er mit aller Gewalt,
die beiden verbundenen Hälften des Armbandes
88 auseinanderzureißen. Tatsächlich waren die beiden Hälften
nicht richtig miteinander verschmolzen, sondern hatten
sich nur an einem sehr dünnen Anteil der Oberfläche
verbunden; Eisen richtig zu bearbeiten, gehörte zu den
schwierigsten Schmiedekünsten auf Hevas Leib, denn
kaum ein Feuer war heiß genug dafür.
Taren hatte sich sowohl in der minderen Qualität des
Armbandes als auch in der Kraft des Tigermannes nicht
geirrt. Mit einem leisen Knall lösten sich die Hälften
voneinander. Der Tigermann reichte Taren grinsend das
aufgebogene Erinnerungsstück.
„Schön, Dich dabei zu haben“, sagte Taren und drückte
die mächtige Schulter des Wesens. Das Armband behielt
er zunächst in der Hand.
Taren stand auf und ging zu Ressu herüber. „Es soll eine
Flucht geben“, raunte er ihr zu. „Ich traue dem Braten noch
nicht, aber falls es wirklich klappt, müssen wir vorbereitet
sein. Ich würde ungern die einzigen verbündeten Chimärier
hier zurücklassen.“
Ressu starrte ihn undeutbar an. „Erzähl mir mehr“,
verlangte sie.
Taren berichtete von seinem Gespräch mit Brommil.
„Ich weiß nicht, wie Gebrak das hinbekommen hat, aber
den Versuch ist es wert“, schloss er.
Ressu hatte ihm mit regloser Miene zugehört und deutete
nun auf Darrakos, der ebenfalls zugehört hatte. „Ich kann
ihn nicht zurücklassen“, sagte sie ohne Emotion.
Taren hielt triumphierend das geöffnete Armband hoch.
„Ich werde ihn heilen, wenn Du mir den Rücken freihältst.
Ich muss mich in meine Gebete an Bruder Mond versenken,
und zwar so tief, dass ich nichts von meiner Umgebung 89
mitbekommen werde. Da ich mich mit Chimäriern nicht
auskenne und außerdem keinerlei Gebetshilfen dabei
habe, wird es zudem recht lange dauern.“
Er reichte Ressu das Armband und kniete sich zu
Darrakos, der ihn skeptisch musterte. „Es wird sich gut
anfühlen“, versicherte er. Dann legte er dem geschuppten
Wesen die Hände auf den Rücken und schloss die Augen.
Dass ich mal einen Chimärier heilen und nicht töten
würde ... Bin gespannt, was Bruder Mond dazu sagt.
„Oh, mein Bruder! Höre meine Bitte: Breite Deinen
Mantel über dieser Kreatur zu meinen Händen aus, spende
ihr Deine Ruhe und Dein mildes Licht ...“
Kaum war Taren abwesend und murmelte seine Gebete,
gab Ressu sich einen Ruck und stampfte eilig davon.
Sie hielt auf Saban zu, ihren männlichen Sklaven, der
zusammengeschlagen in einer anderen Höhlenecke lag.
Dabei streifte sie mit der Schulter Pira und Gebrak, die
noch miteinander beschäftigt waren. Pira schrie ihr einige
Beleidigungen nach, aber Gebrak hielt sie still zurück.
Ressu beachtete die beiden nicht weiter. Mit dem Rücken
zu Darrakos und Taren, setzte sie sich zu Saban und stupste
ihn aufmunternd an.
Gebrak starrte ihr noch für einen Moment nach und
reagierte nicht auf die irritierte Pira. Dann blickte Gebrak
zu Taren und begann breit zu grinsen. Achtlos stieß er
Pira von sich, band sich die Hose zu und schlenderte zu
Taren, der davon nichts mitbekam. Auf dem Weg zu
Taren gab Gebrak durch Handzeichen einigen Männern
zu verstehen, ihm zu folgen.
90 Ressu sah kurz über die Schulter zu Gebrak und
dessen Männern, wandte sich aber sofort wieder ihrem
verwundeten Sklaven zu.
Darrakos flüsterte Tarens Namen. Doch der Mensch
reagierte nicht, sondern war unnatürlich abwesend und
murmelte Gebete. Darrakos wandte sich schwach am
Boden, aber er war nicht mal stark genug, um sich unter
Tarens Händen wegzurollen, zumal seine eigenen Hände
unbrauchbar waren. Dass seine Sklaven sich befreiten und
rächten, gehörte zu seinen häufigsten Albträumen.
Gebrak stand nun siegessicher in Tarens breitem Rücken,
fünf weitere Männer postierten sich um den verwundeten
Chimärier. Plötzlich starrten die fünf alle Gebrak seltsam
an. „Was ist?“, schnauzte er und breitete provozierend die
Arme aus. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Überrascht
wirbelte Gebrak herum.
Der riesige Tigermann stand hinter ihm und blickte
undeutbar auf ihn herab. Unter dem Fell zeichneten sich
beeindruckende Muskeln ab.
Heiser befahl Gebrak: „Schnappt ihn Euch!“
Die fünf Männer hinter ihm kamen bedrohlich näher
und umringten den Tigermann, der sie mit düsteren
Seitenblicken bedachte.
Pfeilschnell packte der Tigermann Gebrak und
schleuderte ihn wie eine Puppe in den nächsten Angreifer.
Dem dritten hinter sich trat er rücklings mit der Ferse
gegen die Schläfe. Dem vierten schlug er zwei Krallen
seiner Klaue in die Augen – der Mann brach schreiend
zusammen und presste sich die Hände vors blutige
Gesicht.
Gebrak richtete sich in diesem Moment wieder auf. Er 91
hielt den Mann am Arm fest, gegen den er geschleudert
worden war, als der sich gerade verziehen wollte. „Wir sind
noch drei gegen einen, verdammt!“, schnauzte Gebrak.
Der dritte Mann beugte sich zu Taren und hielt
die Hände ganz nah an dessen Kopf, sodass er sofort
zugreifen konnte. „Verschwinde“, sagte er in Richtung des
Tigermannes.
Taren bekam von all dem offensichtlich nichts mit. Er
saß immer noch vor Darrakos und murmelte Gebete.
„Sehr gut!“, lobte Gebrak seinen Gefolgsmann und
verschränkte die Arme.
Ansatzlos drehte der Tigermann sich nach hinten
um und ging gleichzeitig in die Hocke. Er sprang dem
Gefolgsmann förmlich ins Gesicht und riss ihn von
Taren weg zu Boden. Noch bevor Gebrak Taren erreichen
konnte, stand der Tigermann wieder und schlug Gebrak
die Faust so schnell ins Gesicht, dass viele der Zuschauer
in der Höhle es nicht richtig gesehen hatten. Gebrak brach
tonlos zusammen. Auch der Gefolgsmann im Rücken des
Tigerwesens rührte sich nicht mehr; was ihm beim Stürzen
widerfahren war, hatte niemand gesehen. Der Tigermann
war offensichtlich ein Kämpfer mit überragendem Können.
Der verbliebene Scherge von Gebrak verschwand eilig in
einer Höhlenecke.

„Dieser Gebrak ...“, fluchte Ressu scheinheilig, als sie


dazu geeilt kam. „Ich danke Dir!“, rief sie dem Tigermann
nach, der sie jedoch nur finster musterte und stehen ließ.
Mitten in der Bewegung hielt der Tigermann inne und
92 drehte sich noch einmal zurück. Er sah Ressu, die in Tarens
Rücken stand und mit schmalen Augen auf den Menschen
herabsah. Dann jedoch drehte auch sie den Kopf zurück
und ihre Blicke trafen sich mit denen des Tigermannes.
Sie lächelte schief und setzte sich neben Taren, um die
Hand ihres Gefährten zu halten. Der Tigermann kam
schweigend zurück und setzte sich auf der anderen Seite
zu Taren, der von der ganzen Szenerie nach wie vor nichts
mitbekam.
Darrakos schwieg und musterte seine Gefährtin irritiert
und vorwurfsvoll.
Pira schlich unsicher an Gebrak heran, der noch immer
reglos am Boden lag. Ohne den Tigermann oder Ressu
aus den Augen zu lassen, fühlte sie Gebraks Puls am Hals
und atmete erleichtert auf. Dann ging sie einfach wieder
und ließ ihn liegen. „Idiot!“, zischte sie noch über die
Schulter.

Melek, der die ganze Szene beobachtet hatte,


entkrampfte nun seine Hand wieder, die er die ganze Zeit
um die Scherbe einer irdenen Karaffe geschlossen hatte.
Den „Griff“ seiner Waffe hatte er mit einem Fetzen seiner
Tunika umwickelt.
„He, wer hat den Krug zerdeppert?“, fluchte ein Bär von
Mann neben ihm. Als dessen fragender Blick auf Melek
fiel, zuckte der nur mit den Schultern; der Junge blieb wie
unbeteiligt sitzen und versteckte die Scherbe unter seinem
Bein.
„Wird im Kampfgeschehen passiert sein“, meinte ein
anderer Mann desinteressiert.
„Das schöne Wasser!“, lamentierte der Bär. 93
Melek grinste schwach, denn er hatte das meiste vorher
noch getrunken.

Mit einem plötzlichen, tiefen Einatmen kam Taren


zu sich. „Danke, mein Bruder Mond“, flüsterte er. Dann
registrierte Taren milde überrascht, dass Ressu und der
Tigermann direkt neben ihm saßen. Sein Blick fiel auf
den Bewusstlosen etwas hinter Darrakos. Taren zog nur
eine Braue hoch und erklärte: „Ich habe Darrakos jetzt
insgesamt gekräftigt, denke ich. Ich kenne mich mit
Chimäriern zwar nicht aus, aber es hat sich gut angefühlt.
Jetzt werde ich mir gezielt die Finger vornehmen.“
Als Taren sich vor Darrakos’ Kopf setzte und seine
Hände auf die des Chimäriers legen wollte, knurrte der:
„Vielleicht bleibst Du lieber wach und aufmerksam. Ich
komme zurecht.“ Der finstere Blick des Chimäriers fiel auf
Ressu, die hart zurückfunkelte.
Ahnungsvoll fragte Taren: „Was ist los?“ Er blickte
die beiden Chimärier und den Tigermann abwechselnd
an, aber niemand antwortete. Nur die Mienen von allen
dreien waren verfinstert.
Ressu und Darrakos starrten jeder für sich ins Nichts,
doch das Tigerwesen blickte Taren direkt an. „Ich passe
auf. Heile Du seine Hände“, sagte es schließlich.
„Soll ich Dich wachrütteln, wenn etwas passiert?“,
fragte Ressu.
„Ja“, nickte Taren, berührte nun endgültig Darrakos’
Hände und versenkte sich wieder in seine leisen Gebete.
94 Melek näherte sich zögerlich von vorn dem Tigermann.
„Was plant ihr?“, flüsterte er.
Der Tigermann blickte dem Jungen nur schweigend in
die Augen.
„Ich weiß, dass Ihr etwas vorhabt. Ich bin sicher, Taren
wollte mir auch noch Bescheid sagen. Nur dauert die
Heilerei jetzt so lange.“
Ressu zischte von der Seite: „Verschwinde, Junge!“
Melek wich furchtsam einen Schritt zurück und blickte
noch einmal fragend den Tigermann an. Der sah seinerseits
zu Taren hinüber, der in seine Gebete versunken war.
Gerade als Melek mit hängendem Kopf abziehen wollte,
raunte der Tigermann ihm nach: „Halt Dich einfach an
uns, falls etwas passieren sollte.“
Strahlend nickte Melek, winkte noch kurz und wollte
gerade zu seinem Platz zurückkehren, als Darrakos rief:
„He, Junge! Versuch, ob Du nicht unsere Sklavin Alynde
und ihren Gefährten Saban hierher bekommst. Ressu hilft
Dir.“
„Ich denke, ich sollte lieber ...“, begann Ressu, aber
Darrakos knurrte: „Tu, was ich sage, Weibchen!“
Melek wurde bleich und starrte die beiden Chimärier
abwechselnd an.

Ressu erhob sich hastig, ihr zorniger Blick hing am


Boden. „Komm!“, knurrte sie, winkte den Jungen hinter
sich her und marschierte zum Tisch, wo Alynde noch
immer ausgebreitet lag. Ohne Vorwarnung riss Ressu einen
Mann von ihr und schleuderte ihn in die Umstehenden.
„Er ist jetzt dran“, rief Ressu und zog den verdatterten
Melek grob an den Tisch. „Sie gehört mir, ich erlaube es 95
Dir. Viel Spaß“, sagte Ressu und trat einen Schritt zurück.
Sie funkelte jedoch jeden der Umstehenden feindselig und
kampflustig an, der auch nur den Hauch eines Widerwortes
im Blick hatte.
Melek hatte Schwierigkeiten, sich vom Anblick der
Sklavin loszureißen. „Ja, aber ...!“, stammelte er und blickte
endlich Ressu an.
„Du weißt doch, wie es geht, oder?“, spottete Ressu
bitterböse, „sonst kann ich Dir helfen. Ich bin schließlich
Rassenforscherin. Ich habe das schon sehr oft bei Euch
Niederen beobachtet.“
Melek wurde nicht rot, doch er begann zu schwitzen
und starrte wieder Alynde an. „Ich dachte, wir ...“, begann
er mit trockenem Mund.
Ressu bellte ungehalten: „Wir haben genug Zeit. Jetzt
rauf auf den Tisch mit Dir und geh Deinen naturhaften
Funktionen nach.“ Sie packte Melek am Nacken und am
Knie und warf ihn kurzerhand auf den Tisch, mit dem
Gesicht genau auf Alyndes Brustkorb.
Die Umstehenden murrten hinter vorgehaltener
Hand, doch niemand wagte es, sich mit der Chimärierin
anzulegen.
Melek versuchte sichtlich, sich zu beherrschen, seine
Augen waren geschlossen und sein Mund stand offen.
„Los, nimm die Gelegenheit mit, Du Schwächling!“,
fluchte Ressu, um Melek mit Klischees zu provozieren, die
sie bei ihrer Arbeit als Rassenforscherin bei den Niederen
beobachtet hatte.
96 „Tu doch was!“, knurrte Darrakos und sah den
Tigermann an. „Ich weiß zwar nicht, was hier gespielt
wird, aber ich weiß, dass sie etwas vorhat, was uns nicht
gefallen wird!“
Der Tigermann überlegte einen Moment, während
dem er Darrakos’ Blick erwiderte. Dann sagte er ruhig:
„Ich halte es für wichtiger, Taren zu bewachen. Tut mir
leid, Freund.“

Melek sah sich um und fühlte die spöttischen und


verachtenden Blicke der Umstehenden auf sich. Einige
lachten laut und zeigten auf ihn. Wahrlich, das hatte er
nicht verdient ...
„Lass Dir das nicht gefallen, Junge“, raunte Ressu ihm
ins Ohr. „Ich sehe doch in Deinen Augen, dass Du von
anderem Schlage bist, als Du jetzt vorgibst.“ Dann trat
sie wieder zurück, verschränkte die Arme und überwachte
weiter mit strengem Blick die Umstehenden.
„Das ist alles nicht richtig“, flüsterte er zu der
bewusstlosen Alynde. „Ich hatte mich doch gebessert! Ich
hatte das Böse überwunden!“
In der Tat hatte er die Bruchstücke eines glücklicheren
Lebens in seinem Kopf wieder zusammensetzen können;
Bruchstücke, die er teilweise in seiner eigenen Erinnerung
bewahrt hatte und teilweise erst aus dem Beobachten
anderer gewonnen hatte.
Doch der Anblick von Alyndes Körper hypnotisierte
ihn und die schreiende Forderung übermannte seinen
jungen Willen. Ich erlaube es Dir!, hörte er außerdem noch
in seinen Gedanken.
Ressu lachte leise und böse. „Einer weniger“, dachte sie 97
bei sich, „gleich müsste das Tor aufgehen.“
Sie würde nicht mehr erfahren, was sie damit angerichtet
hatte.
98 4

Plötzlich schepperte das Tor. Gebrak, Pira und Brommil


rannten sofort los, ohne etwas zu sagen. Die meisten
Gladiatoren reagierten verwundert auf den Sprint der drei;
sie gingen davon aus, dass Neulinge eintrafen.
Der Tigermensch rüttelte augenblicklich Taren wach
und riss ihn mühelos auf die Füße. „Komm!“, rief er und
packte auch Darrakos am Arm.
Taren schüttelte die Benommenheit ab und packte den
anderen Arm des Chimäriers. Sie stützten ihn und rannten
zu dritt Richtung Tor, ohne einen Blick über die Schulter
zu riskieren.
Melek bekam nichts davon mit. Ressu trat ein paar
Schritte zurück, behielt aber den stumm zuckenden
Jungen im Auge, bis auch sie zu sprinten begann. Von
ihrem Hinken war inzwischen nichts mehr übrig.
Im Rennen überholte sie Brommil, dessen kurze Beine
ihm hier zum Verhängnis werden konnten. Sie stieß ihn
fluchend zu Boden und zischte: „Idiot! Du hättest es für
Dich behalten sollen!“ Sie rannte weiter, während Brommil
sich ächzend wieder auf die Füße stellte. Allzu eilig hatte
er es nicht; er fühlte sich wie ein Büßer, der seine gerechte
Strafe für sein Leben als Räuber und Söldner annahm.
„Alarm! Das war das falsche Tor! Die Sklaven fliehen!“,
hörte Brommil von oben. Scheppernd fiel das Tor hinter
ihm wieder herab. Schwere Schritte stampften eine Treppe
hinunter, direkt auf ihn zu. „Das ging schnell“, fluchte der
Zwerg. Er sprengte mit großen Augen davon, so schnell er
konnte. Sein Überlebenstrieb obsiegte. Er wusste, dass er 99
jetzt sofort ein Versteck brauchen würde, denn die riesigen
Chimärier würden ihn gleich erreichen.
Ressu holte auch Darrakos, Taren und den Tigermann
ein. „Der Junge wollte sich nicht losreißen, Alynde war
bewusstlos und Saban konnte nicht laufen“, berichtete
Ressu, während sie gemeinsam weitereilten. Keiner der
drei antwortete ihr. „Na schön“, knurrte sie, „in meinem
Boot ist sowieso kein Platz für alle. Viel Spaß bei der
Wegsuche! Lebt wohl, ihr Narren!“ Damit rannte sie davon
– überraschend schnell für ihr Alter – und verschwand im
Dunkel des Tunnels.
„Miststück!“, zischte Darrakos ihr nach. Unter
Schmerzen versuchte er, seinen geschundenen Körper so
schnell wie möglich zu bewegen.
Taren blickte gehetzt zurück und sah die Chimärier, die
auf ihn zeigten.
„Ich höre sie auch“, keuchte Darrakos und hielt an.
„Lasst mich hier und rettet Euch!“, verlangte er und ließ
sich demonstrativ fallen. „Sie töten mich vielleicht nicht.“
Taren starrte auf ihn hinab. „Leb wohl. Möge Bruder
Mond Dich ... Leb wohl.“ Dann rannte er los. Der
Tigermann folgte ihm stumm.

Der Tunnel führte sie an mehreren Gabelungen vorbei.


Sie konnten die anderen drei Flüchtlinge noch rennen
hören und folgten ihrem Lärm.
Vor einer halboffenen Tür aus dicken Bohlen, die für
Chimärier klein gewesen wäre, stoppten sie. Fäkaliengestank
schlug ihnen entgegen. Hinter der Tür erstreckte sich ein
100 Quergang der Kanalisation von Harkýior. Von Gebrak,
Pira oder Ressu fehlte jede Spur.
„Harkýior liegt an der Westseite einer Bucht“, keuchte
Taren, atemlos vom Rennen. „Ich kann mir denken, was
Ressu mit einem Boot will! Wenn meine Orientierung
mich nicht trügt, müssen wir rechts herum. Los!“
Sie rannten auf einem schmalen Steinsteg, während
neben ihnen das Dreckwasser dahin trieb. Allmählich
hörten sie ein fernes Rauschen. „Wir sind richtig!“, japste
Taren. Der Tigermann neben ihm hielt mühelos mit
seinem Tempo mit und atmete ruhig und gleichmäßig:
über drei Schritte verteilt ein und über fünf aus.

„Ich habe Dir gesagt, dass kein Platz mehr im Boot ist“,
sagte Ressu kalt zu Gebrak. Pira stand neben ihnen und
starrte entsetzt zwischen beiden hin und her.
„Ich will sie aber mitnehmen. Irgendwie wird es gehen“,
beharrte Gebrak mit hoch gerecktem Kinn. Er betrachtete
das winzige Boot aus Zedernholz und Teer, das am Ufer
fest vertäut war. Hinter ihnen ergoss sich das Kanalwasser
über den kurzen, verdreckten Strand ins Meer.
„Nein“, entschied Ressu, „entweder Du steigst jetzt
allein ein, oder ihr bleibt einfach beide hier.“ Ohne ein
weiteres Wort ließ sie Gebrak stehen und ging zum Tau,
welches das Boot hielt. Die entfernten Möwenschreie, das
einschläfernde Wellenrauschen und dagegen das unruhige
Plätschern des Kanals waren für einige Lidschläge die
einzigen Geräusche.
Über die Schulter brummte Ressu: „Es gibt noch mehr
Sklavenweibchen im Imperium, die gut aussehen. Such
Dir halt eine neue, wenn wir in Pheraar sind. Ich will 101
jedenfalls so schnell wie möglich aus dieser widerlichen
Meeresfeuchte!“

Taren und der Tigermensch hatten sich am Ausgang


des Kanals abgehockt und das Gespräch belauscht. „Was
machen wir jetzt?“, wisperte Taren.
„Abwarten“, flüsterte der Tigermann zurück und blickte
nach oben. Taren sah ihn fragend an. „Da nähern sich
schwere Schritte über uns“, flüsterte der Tigermann.
Taren blickte wieder gespannt nach draußen.
Ohne Vorwarnung wurde Ressu von einem
Armbrustbolzen in die Seite getroffen. Wütend schrie
sie: „Ihr Narren! Wisst ihr nicht, wer ich bin?“ Sie fuhr
herum, die Wunde schien ihr nichts auszumachen. Dann
taumelte sie plötzlich und stürzte ins Boot. Für einen
Moment strampelte sie hilflos wie ein schreiender Käfer,
der auf dem Rücken lag. Ein zweiter Armbrustbolzen traf
sie in die Brust. Sie schrie noch lauter und zorniger und
klammerte sich mit den Händen an den Rändern des
Bootes fest.
„Hier sind sie! Ich brauche Verstärkung!“, brüllte ein
Chimärier direkt über dem Kanalausgang.

Pira starrte auf den Chimärier, der eilig den nächsten


Bolzen auflegte und die Armbrust mit seiner kräftigen
Hand spannte. Ohne Zögern sprintete sie zum Kanal.
Kurz vor dem Eingang entdeckte sie jedoch Taren und den
Tigermann und prallte zurück. Genau in dem Moment
durchbohrte sie der Bolzen des Chimäriers und riss sie von
102 den Füßen. Erst als sie am Boden lag, hauchte sie einen
kraftlosen Schrei aus und bewegte nutzlos die Füße, als
könnte sie wieder aufstehen.
„Wo ist Gebrak?“, wunderte Taren sich still und suchte
die karge Umgebung ab. Ressu, die noch immer im Boot
lag, war allmählich still geworden und stöhnte nur noch
leise. Das Tau hatte sie zuvor schon gelöst – die geteerte
Nussschale trieb nun zum Meer hinaus.
„Es treibt etwas schnell, oder?“, raunte der
Tigermensch.
Fasziniert beobachtete Taren das Boot. Es trieb wirklich
zu schnell.

Taren und der Tigermann machten sich noch kleiner,


als der Chimärier mit der Armbrust vom Dach des Kanals
sprang. Der drachische Soldat landete sicher im Sand,
auch wenn sein Gewicht ihn tief in die Hocke zwang. Er
trat neben Pira und beugte sich über sie, packte sie am
Hals und zog sie ohne Mühe zu sich hoch. Sie baumelte
wie eine blutige Strohpuppe in der Luft, verzog schwach
das Gesicht und legte eine Hand um den Bolzen.
„Wo ist der dritte plötzlich hin? Sag es und ich erlöse
dich“, grollte der Chimärier und schüttelte sie. Allein
davon musste sich ihr Hals verrenken.
„Weiß nicht!“, würgte Pira hervor.
Achtlos warf der Chimärier die Frau von sich und stapfte
den Strand hinab bis zum Wasser. Er sah dem Boot nach
und legte den Kopf schräg.
„Wenn er umkehrt, sieht er uns“, flüsterte Taren
düster.
Der Tigermann nickte. Lautlos schlich er nach draußen 103
und ließ Taren sprachlos zurück. Wie ein echter Tiger auf
der Jagd, auf allen vieren strich er voran.
Als er Pira erreichte, legte der Tigermann einen Finger
an den Mund und hob sie auf die Arme.
Taren schüttelte verärgert den Kopf. „Für solch noble
Taten ist jetzt die falsche Zeit!“, wollte er rufen, doch er
biss sich auf die Lippe und schwieg.
Der Tigermann sah auf, über den Kanal hinweg. Als er
dort niemanden erspähte, schlich er auf den Chimärier am
Strand zu, mit Pira immer noch auf den Armen.
„Was hast Du vor?“, wunderte Taren sich und kniff die
Augen zu Schlitzen zusammen.
Als der Chimärier sich umdrehte und den Tigermann
sah, hob er hastig die schussbereite Armbrust. Der
Tigermann ließ Piras Beine los und hielt sie nur noch
an den Schultern fest, sodass sie vor ihm stand. Als der
Chimärier gleichzeitig schoss, traf der Armbrustbolzen
Pira in die Brust und ließ sie gurgelnd Blut spucken. Der
Tigermann sprang darauf den verdutzten Chimärier an,
Pira ließ er achtlos fallen.
Taren beobachte, wie Ressus Boot kräftig zu schaukeln
begann. Auf einmal wurde Gebrak im Boot sichtbar.
„Netter Zaubertrick“, murmelte Taren.
Es war ein offenes Geheimnis, dass magische Ströme
Hevas Leib durchflossen und dass manche Personen diese
Ströme wenigstens ein bisschen zu nutzen verstanden.
Durch die Lehren der Priester wurde Magie als das
schlimmste und böseste aller Wissensgebiete verfolgt, war
es doch auch das unberechenbarste. Die Prophezeiung von
104 Theb Nor besagte aus Sicht der Priesterschaft klar, dass
Wissen jeglicher Art zum Niedergang von Hevas Leib
führen musste – wie es schon einmal beinahe vor vielen
Jahrhunderten passiert wäre. Wehe den Sorglosen! Geschichte
wiederholt sich unaufhörlich ...
Die Priester sollten diesen Kreislauf durchbrechen, doch
konnten sie das überhaupt?

Sterbliche Herrscher bildeten sich ein,


Das Böse kontrollieren zu können
Mit der Macht des Wissens,
Die es doch selbst ihnen gab.

„Keine Selbstzweifel!“, ermahnte Taren sich stumm ...


In den wenigen, großen Städten der Menschen war die
Kontrolle über Wissen und Zauberei oft so gering, dass
gottlose Verräter wie Gebrak ihre Fähigkeiten nahezu
ungestört entwickeln konnten, wenn sie nicht unvorsichtig
wurden. Taren konnte nicht verstehen, warum die
drohenden Folgen manchen Menschen egal sein konnten.
War Gebrak nach Melek eine neue Prüfung für Taren
– hatte Taren versagt, da Gebrak nun floh?

Wie heute haben Worte auch damals nie


Die Mächtigen und die vor Gier Blinden erreicht.
Gebrak tropfte vom Meerwasser, während er die schwere, 105
reglose Chimärierin zu heben versuchte. Mit einem Schrei
der Anstrengung zog er sie tatsächlich an Arm und Knie bis
auf die Höhe der Bootskante, behielt sein Gleichgewicht
und wollte Ressu gerade ins Meer werfen, als ihre Pranke
vorschoss und sich um Gebraks Hals schloss. Sofort ließ er
das immense Gewicht wieder los.
Der Tigermann und der Chimärier hatten sich
inzwischen an den Armen gepackt, rangen miteinander
und traten sich gelegentlich gegenseitig vor die Beine – in
Ermangelung besserer Ideen, wie der Gegner zu besiegen
sein mochte. Der Chimärier brüllte wild, der Tigermann
bleckte die Reißzähne und fauchte.
Taren schlich aus dem Eingang und spähte nach oben,
falls der Chimärier Verstärkung erhielt. „Ich brauche eine
Waffe“, knurrte er zu sich – dann fiel sein Blick auf Pira.
Er rannte zu ihr und starrte auf sie hinab. Sie atmete noch
immer schwach, obwohl sie von zwei Armbrustbolzen
durchbohrt worden war und nun ausgestreckt in ihrem
Blut lag. Taren kniete sich neben sie und sah sich noch
einmal aufmerksam um.
Gebrak hatte inzwischen ein Paddel in der Hand und
ruderte aufs Meer hinaus, während Ressu die Arme und
Beine über den Bootsrand hängen ließ und den Kopf im
Nacken liegen hatte. Die Armbrustbolzen in ihrem Leib
waren fort.
Der Tigermann und der doppelt so schwere Chimärier
rangen am Boden miteinander. Sie schienen gleichstark zu
sein, und das war für einen Niederen eine unglaubliche
Leistung. Immerhin hatte der kleinere Tigermann die
106 kürzeren Wege mit seinen Gliedmaßen und war dadurch
viel schneller. Verstärkung für den Chimärier war immer
noch nicht in Sicht, aber das konnte sich auch binnen eines
Augenblickes ändern.
Taren schloss die Augen, während er seine Hände auf
Piras Bauch und Brustkorb legte und ein leises Stoßgebet
an Bruder Mond richtete. „Oh, Bruder Mond! Ich schaue
in Deine Sterne und frage mich, ob ich das Schicksal der
Kreatur unter meinen Händen dort lesen kann.“
Pira öffnete die Augen und starrte ihn nur an. Bei
dem Versuch, etwas zu sagen, hustete sie Blut, das über
ihre Lippen hüpfte und ihr Kinn und ihren Mundwinkel
hinablief.
„Ich kann nichts mehr für Dich tun“, presste Taren
beherrscht hervor. Dann griff er nach einem der Bolzen
und riss ihn mit einem Ruck heraus. Piras Handrücken
fiel an Tarens Brust, als hätte sie noch nach ihm greifen
wollen. Doch jetzt rutschte ihre Hand schlaff an ihm
herab und zeichnete eine Blutspur. Ihre toten Augen sahen
an ihm vorbei. Zum Abschied blickte Taren noch einmal
mitleidig auf ihre viel zu weit ausgeschnittene Tunika und
ihre zu engen Beinlinge. Kopfschüttelnd drückte er sich
hoch.
Er rannte mit dem Armbrustbolzen zu dem Knäuel am
Boden, gerade als der Tigermann auf dem kreischenden
Chimärier saß und seine Reißzähne in dessen Hals verbiss.
Taren stach dem Chimärier mit dem Bolzen zusätzlich ein
Auge aus. Ganz langsam erstarb das Geschrei des Feindes.
Sein gelbes, kochendes Blut pulste aus seinem Hals wie
eine Fontäne.
Für einen Moment war der Tigermann ein gespenstischer 107
Anblick, wie er sich das Blut vom Mund wischte und seine
Reißzähne noch zu sehen waren. Doch dann verschluckte
er sich und spuckte mehrmals aus, fluchte etwas über den
widerlichen Geschmack von Chimäriern und dass er sich
außerdem die Zunge verbrannt hatte, und Taren musste
grinsen.
Gleichzeitig blickten beide zum Kanal, auf dem
stampfende Schritte zu donnern begannen. Taren griff
sich hastig die – für ihn übergroße – Drachenarmbrust
und den Köcher des toten Feindes. Ohne ein weiteres
Wort rannten er und der Tigermann am Strand entlang
hinter einige Felsen, die sich links vom Kanalausgang aus
aufzutürmen begannen.
Sie hatten ihre Deckung gerade noch erreicht, als vier
weitere Chimärier in Lederrüstungen, bewaffnet mit
Kurzspeeren und Schilden, vom Kanal auf den Strand
hinabsprangen und sich im engeren Umkreis verteilten.
Zu weit auf dem Meer für ihre geschulterten Armbrüste,
erspähten die Soldaten das Boot von Ressu und Gebrak. Sie
fanden auch Piras Leiche und rätselten über den fehlenden
Armbrustbolzen. Taren und der Tigermann hörten den
Anführer des Trupps schnauzen: „Die beiden Sklaven sind
wichtig für die Arena! Sie müssen gefunden werden! Also
sucht nach Spuren!“

Der Blick des Tigermannes floh dem Horizont entgegen


und ließ sich auf den rauschenden Meereswogen treiben.
Hinter den Felsen rumorten und keiften die Chimärier,
doch das Tigerwesen nahm die Ruhe des Ozeans an. Es
108 atmete die salzig-feuchte Luft im Rhythmus der trägen
Wellen, schien mit der Seele des Meeres vereint zu werden
und mit jedem fernen Möwenschrei weiter fortzugleiten.
Taren musste sich von diesem Anblick losreißen, um
die Chimärier weiter zu beobachten. Er spürte, dass
etwas in dem Tigermann vorging; vielleicht bekam
er seine Erinnerung wieder. Vielleicht war er wirklich
ein wandelndes Götterzeichen für Taren. Sein Herz
beschleunigte ein wenig, er fühlte sich geehrt. Oder bin
ich jetzt vermessen?
„Ich muss zurück“, murmelte das Wesen.
„Was?“, entfuhr es Taren. Er starrte den Tigermann
verblüfft an.
„Ich glaube, ich weiß wieder, wieso ich herkam – oder
besser gesagt, wieso die Götter mich hierher führten,
obwohl ich gar kein Gedächtnis hatte. Jemand, der mir
wichtig ist, wird hier gefangen gehalten. Ich muss ihn
befreien.“
„Wer ist es?“, bohrte Taren und hätte unbewusst die
Arme vor der Brust verschränkt, hätte er nicht die Armbrust
gehalten. Ohne jedes Wissen einer Aufgabe entgegen, das ist
wahrlich eine göttliche Fügung im Sinne Theb Nors!
„Ich weiß es noch nicht, aber meine Erinnerung wird
besser. Er ist ein Mensch, etwa vierzig Jahre alt. Sein
Gesicht sehe ich klar vor mir: ehrlich und stark, Zuversicht
spendend und doch selbst gezeichnet von dunklen
Jahren.“
Taren blickte kurz zu den Chimäriern, dann baute er
sich entschlossen vor dem Tigermann auf. Seine rationale
Seite gewann die Oberhand: „Du kannst nicht wegen einer
vagen Ahnung in den Tod laufen. Vielleicht lebt dieser 109
Mensch gar nicht mehr. Wann bist Du aufgebrochen?“
Das Tigerwesen schwieg mit düsterem Blick. „Es ist
sehr wichtig“, hauchte es nach einer Weile nur dem Meer
entgegen.
Und da sind noch zwei Schatten in meinem Kopf, an die
ich mich nicht erinnern kann; wir waren zu viert. Wir müssen
uns wiederfinden. Das Menschengesicht vor mir gehört einem
großen Krieger. Wir satteln die Pferde, eine Schlacht steht
bevor. Die zwei anderen Schatten ... sie gehen, aber um ihre
Posten zu beziehen. Nur den Menschen sehe ich deutlich,
warum? Weil ich in seiner Nähe bin, weil seine Befreiung
meine Aufgabe ist?
Eine Küste ... Das ist hier! Das ist diese Stadt! Wir stehen
am Strand und kämpfen mit jemandem, einer schlanken
Gestalt in Schwarz, mit weißem Haar; ich kann mich nicht
klar erinnern. Ein Elf? Er schleudert mich weg – war das
etwa alles? Da liegt ein Schatten am Strand, jemand, den ich
kenne. Alles ist vorbei. Der Feind ist nicht hier, der Mensch
auch nicht, ebenso wenig die beiden anderen Schemen. Wer
liegt da? Ich gehe näher ... aber ich komme nicht hin, ich
kann mich nicht erinnern, was dann kommt.
„Hier geht etwas vor. Ich muss bleiben, bis mein
Gedächtnis vollständig ist“, murmelte der Tigermann,
ohne Taren anzublicken.
Taren nickte. „Ich spüre es auch“, gab er zurück.
Überrascht sah der Tigermann ihn an.
„Ich bin ein Diener von Bruder Mond, ein Tempelkrieger.
Große Dinge stehen bevor, so wie mein Bauch kribbelt“,
erklärte Taren ernst. Zwei Lidschläge später verzog er die
110 Mundwinkel zu einem Grinsen. Doch dieser Geste blieb
ein Beigeschmack der düsteren Vorahnung anhaften,
die Taren schon seit Tagen spürte. Auch waren seine
Augen hart und kalt geblieben, sie lächelten selten mit.
Das ahnungsvolle Gefühl war mit Nenúriels Tod nicht
vergangen, also musste es einen anderen Grund dafür
geben als den Verlust seiner Gefährtin.

Der Tigermann hatte die Lider geschlossen und saß


kerzengerade mit dem Rücken am Fels. „Wieso lassen sie
uns nicht endlich gehen?“, flüsterte die blonde Elfin ihm ins
Ohr, wie sie am Wasser lag, eine grauenhafte Bauchwunde
umklammernd. „Das war das siebte Mal in diesem
Jahrhundert!“, grinste sie gequält und setzte sich auf.
Keuchend sprang der Tigermann auf und rieb sich die
Wangen.
„Was ist?“, fragte Taren besorgt.
Der Tigermann antwortete nur schleppend: „Ich weiß
es nicht. Ich habe mich an eine Einzelheit erinnert, die
ich nicht verstehe. Kennst Du eine blonde Elfin, die eine
vermeintlich tödliche Bauchwunde lachend überstehen
würde?“
Taren sah das Tigerwesen befremdet an und kniff die
Augen zu schmalen, düsteren Schlitzen zusammen.
„Wie alt werden Elfen so, kennst Du Elfen?“, fragte
das Tigerwesen dann heiser, ohne noch länger auf eine
Antwort zu warten.
„Kaum älter als Menschen, glaube ich, aber ich kenne
nur sehr wenige Elfen“, erwiderte Taren zögerlich. Sein
Blick blieb finster. „Sie haben etwas zu verbergen, was ihre
112 Vergangenheit betrifft. Einmal sah ich sogar, wie ein Elf
einen bemalten Stein vergrub, den er im Wald gefunden
hatte; ich fragte ihn danach und er wollte nicht darüber
reden. Ich bin sicher, es war elfische Kunst, die er vergraben
hat.“
Das Tigerwesen seufzte schwer und fragte dann
unvermittelt: „Was machen die Chimärier?“
Taren lehnte sich mit den Händen an den Fels und
blickte zurück. Dann raunte er über die Schulter: „Sie
schwärmen aus. Wir können hier nicht bleiben.“
„Da hinten ist eine Höhle“, entgegnete das Tigerwesen
sofort und zeigte die Richtung, und im nächsten Moment
sahen beide sich verwundert an. „Ich war schon mal hier“,
dachte das Tigerwesen laut und starrte dabei auf die Stelle
am Strand, wo in seiner Erinnerung die rätselhafte Elfin
gelegen hatte.
„Komm.“ Taren klopfte dem Tigerwesen auf die Schulter
und lief an den Felsen entlang, fort von den Häschern.
„Sie werden unsere Spuren sowieso im nassen Sand
sehen“, knurrte das Tigerwesen hinter ihm.
Siedend heiß schoss die Richtigkeit dieses Hinweises
durch Tarens Schädel, als er auf die Zehenspitzen-Spuren
des Tigermannes zurück blickte, mit seinen eigenen
Stiefelspuren daneben. „Was sollen wir dann tun?“, knurrte
Taren im Laufen.
Der Tigermann holte Taren ein und trabte neben ihm
her. „Wir verschließen den Höhleneingang von innen mit
Felsen. Der Eingang ist selbst für uns ziemlich eng, also
kommen die Chimärier da nicht freiwillig rein“, schlug er
vor.
Tarens Miene versteinerte. 113
„Und dann können wir sehen, ob die Höhle irgendwohin
führt“, ergänzte der Tigermann grimmig.
Nach weniger als hundert Schritten erreichten sie
tatsächlich ein Loch in der Felswand, durch das sie
gebeugt gerade passten. Sie zwängten sich hindurch und
krochen in die Schwärze. Im Laufschritt holten sie Steine
aus dem Eingangsbereich der Höhle herbei. Mehr als
einmal stießen sie sich die Köpfe in der halbdunklen Enge
des Eingangs. Gerade als sie ächzend die letzten Brocken
auf ihren Steinhaufen im Eingang wuchteten, hörten sie
von draußen das Alarmgebrüll eines nahen Chimäriers.
Nun standen sie da, ohne Fackel, ohne Nahrung und
Wasser, eingeschlossen in einem lichtlosen Felsloch, und
sie wussten nicht, wie es weitergehen konnte.
„Ihr Wissen schuf einen Käfig aus Gold und machte sie
alle zu Ratten darin ... Reden ward Silber, Schweigen
ward Gold – Handeln ward ungewollt. So verkünden es
die Priester heutzutage. Ich weiß nicht, was Theb Nor
damit gemeint hat ... aber auch die Priester stecken uns in
einen goldenen Käfig der Unwissenheit und verbieten uns
jede Diskussion über ihre Auslegung. Ob Theb Nor das
gefallen hätte?“
Thalmon, König von Berghaus und Oberster Sklavenjäger,
über die Prophezeiung von Theb Nor
5 117

Durch eine zerklüftete Felshalde führte ein kaum


erkennbarer Pfad die Wanderin zu einem Höhleneingang.
Er konnte leicht mit einem Schatten verwechselt werden,
wenn man nicht genau hinsah. Etwas abseits davon lagen
zwei Kieshügel, auf denen spärlich Gräser wuchsen. Aus
dem linken Hügel ragte ein einfacher Buchenholzstab,
aus dem rechten Hügel ein rostiges Eisenschwert mit
rotgoldenem Griff.
Vor den zwei Gräbern stand ein gebeugter Gnom mit
weißem, langem Haar, das er zum Zopf gebunden hatte.
Sein verwilderter, weißer Bart reichte ihm fast bis zum
Bauch. In winzigen, faltigen Augenschlitzen lagen zwei
reglose Pupillen. Um seinen breiten Rücken spannten sich
seine ansonsten weit geschnittenen Lumpen.
Der Gnom hörte die leichten Schritte einer Elfin schon
von Weitem. Er hörte das Rascheln ihrer weichen Ärmel,
die sich hin und her bewegten, und ihr flaches Atmen.
Er roch ihren Duft, mit nur wenig Schweiß darin. Er
erkannte sie sofort an Geräusch und Geruch, jedes Jahr
besuchte sie ihn einmal, an einem ganz bestimmten Tag
– und jedes Mal erst in der Dämmerung.
Die schwarzhaarige, hochgewachsene Elfin trat mit
federnden Schritten neben den Gnom an die Kiesgräber
und schwieg mit ihm. Nach einem Moment der Andacht
bog sie ihre langen Beine, um auf beide Gräber je eine
rosige Blüte niederzulegen. Ihr Kleid leuchtete wie ihre
großen Augen jadegrün. Leise, mit einer Stimme, die sonst
118 Härte gewohnt war, sich nun aber um Sanftheit bemühte,
begann sie zu sprechen.
„Weißt Du, wie sie Dich im Dorf inzwischen nennen?
,Athónon der Versteinerte‘! Nie sah Dich jemand lächeln,
warum? Du hast uns vor den Dämonischen und den
Schlangenmenschen gerettet, sogar vor den Chimäriern,
Du hast uns in die Freiheit geführt – und dann kommst
Du nicht ein einziges Mal in zwanzig Jahren zu unserer
Feier zu Deinen Ehren! Was suchst Du denn bloß, worauf
wartest Du?“
Der Gnom sah nicht auf. „Du kennst die Antwort,
Jade“, wisperte er mit einer alten, verbrauchten Stimme,
als knirschten Felsen unter einem Stiefel.
„Ja, ja“, seufzte Jade, „Du wolltest immer nur ein
friedliches Leben, aber dann haben die Götter Dir alles
genommen. Bitte, Athónon, nimm Dir doch etwas zurück!
Die Götter bieten es Dir an!“
Athónons rechter Mundwinkel zuckte nach unten –
Jade presste die Lippen fest zusammen und schwieg. „Tut
mir leid“, flüsterte sie schließlich und strich sich verlegen
eine schwarze Strähne hinter das lange Elfenohr.
Ohne äußere Reaktion raunte Athónon: „Sei nicht so
arrogant. Du weißt nicht, was ich alles durchgemacht
habe, wie viele Freunde in meinen Armen starben.“
Jade kniete sich neben den Gnom und legte ihm
sanft eine Hand auf die breite Schulter. „Ich habe in der
Gefangenschaft auch viel durchgemacht, alter Freund.
Ich verlor ebenfalls meine damalige Heimat, hast Du das
vergessen? Aber ich bekam eine neue, und ich gewann
neue Freude am Leben. Ich bekam Laura, die heute
eine gesunde, junge Frau ist. Wieso solltest Du nichts 119
bekommen? Deine Götter kümmern sich vielleicht viel
weniger um Dich, als Du glaubst.“
„Verspotte die Götter nicht“, zischte Athónon kalt.
Jade senkte erneut verlegen den Blick. „Bitte, Athónon,
ich will doch nur, dass es Dir gut geht. Komm dieses
Jahr mit mir ins Dorf. Es sind jetzt genau zwanzig Jahre
vergangen, seit ... Diese Trauer war lang genug.“
Athónon schwieg. Jade war in vielerlei Hinsicht keine
typische Elfin; doch ihr ausweichendes Verhalten bei
Streitfragen war ein höchst elfischer Charakterzug. Elfen
kannten keine Probleme, denn sie verschlossen konsequent
die Augen davor. Jade biss sich auf die Lippe, atmete tief
ein und riskierte nun doch die Konfrontation: „Ich habe
Cesius und Xelos nicht gut gekannt. Aber ich glaube, sie
würden nicht wollen, dass Du hier an ihren Gräbern den
Rest Deines Lebens verbringst.“
Athónons finsterer Blick begann zu lodern, seine
Mundwinkel verzogen sich nach unten.
„Tut mir leid!“, rief Jade matt, „doch das ist meine
Meinung. Ich respektiere, dass die beiden für Dich
irgendwie heilig sind ...“
„Irgendwie?“, knurrte Athónon und wandte sich nun
ganz der Nachtelfin zu.
„Ach, Athónon ...“, seufzte Jade, gequält von dem
Gefühl, sich einem lange verdrängten Problem zu stellen.
Sie richtete sich wieder auf und wich einige Schritte von
ihm fort.
Athónons Miene beruhigte sich. „Vielleicht bin ich ja
längst verrückt. Sei froh, dass ich Euer Fest nicht verderbe“,
120 knurrte er düster. Die Falten unter seinen Augenschlitzen
zuckten schwach.
Jade schluckte schwer und rieb ihre Hände ineinander.
Nachdem sie ein wenig herumgedruckst hatte, sagte sie
kurz und schnell: „Es war doch gar nicht Deine Schuld!“
Athónons Kiefer mahlten für einen kurzen Moment,
doch dann nahm sein Gesicht wieder den reglosen
Ausdruck an, den es an jedem anderen Tag im Jahr hatte.
Jade redete hastig weiter, sie wollte die unbequeme
Konfrontation hinter sich bringen: „Es war der
Schlangenfluch in der Münze, der Xelos in den Wahnsinn
trieb! Außerdem war sein echter Stab nicht hier, um ihn in
seinem seelischen Gleichgewicht zu halten – die Chimärier
hatten den Zauberstab gestohlen, nicht Du! Du hättest
nicht verhindern können, dass Xelos Cesius heimtückisch
ermordet. Er war immerhin ein außergewöhnlich starker
Hexenmeister und ... Dämonenbeschwörer. Nicht wahr?
Das war er doch! Vielleicht hätte er Dich auch getötet,
wärst Du da gewesen.“
„Ja, vielleicht“, gab Athónon mit seiner Felsenstimme zu.
„Aber ich war nicht an der Seite meines letzten Freundes,
wo ich hingehört hätte. Ich hätte es wissen müssen. Ich
hätte den Wahnsinn in Xelos spüren können, aber ich
wollte es nicht wahrhaben. Alles wurde so viel, zu viel.
Deshalb ging ich jagen, als wäre nichts weiter. Deshalb
starb Cesius. Meine Schwäche war sein Tod. Wir hätten auf
Xelos aufpassen müssen, insbesondere weil der mächtige
Zauberstab nicht da war, um ihn zu beaufsichtigen. Aber
ich war jagen und Cesius hatte sich in seine Gebete an
seine Göttin Domaore versenkt. Keine Ahnung, wo unser
geschätztes Teufelchen Zeeris gesteckt hatte. Xelos konnte 121
völlig frei seine Mordpläne vorbereiten und durchführen.
Ich allein bin schuld, also hör auf zu plappern.“
Jade seufzte schwer und blickte finster auf die Kiesgräber.
„Miriam ist von ihrer Reise nach Osten zurück und möchte
mit Dir reden“, sagte die Nachtelfin plötzlich.
Athónons Mundwinkel begannen abermals
herabzuzucken, aber diesmal weiteten sich auch noch seine
Augen. So eine starke Gefühlsregung hatte Jade bisher nur
einmal bei ihm gesehen, und da hatten sie in unterirdischen
Katakomben gegen die Schergen schlangischer, untoter
Magierkönige ums Überleben gekämpft, vor zwanzig
Jahren.
„Miriam!“, keuchte der Gnom. Er hatte sie beinahe
vergessen. Verdrängt.
Miriam war ein Menschenname, der jedoch einer Elfin
gehörte; vor zwanzig Jahren war sie ohne Gedächtnis
unter Menschen aufgetaucht, und diese hatten ihr einen
ihrer Namen gegeben. Bis heute war ihr Gedächtnis nicht
wiedergekehrt.
Jade berichtete: „Sie sagt, sie erinnerte sich plötzlich an
etwas von den Dingen, die Du damals erzählt hättest, wer
sie gewesen sei, vor dieser angebl... vor dieser Zeitreise,
die Hevas Leib und auch sie verändert habe. Sie sagt,
es ginge etwas vor, sie könne es spüren, und vielleicht
kehre deshalb jetzt ihre Erinnerung zurück. Sie möchte
unbedingt mit Dir sprechen, und Du möchtest dafür zur
Feier kommen.“
Athónon seufzte so schwer, wie eine Gnomenlunge es
vermochte. Dann knurrte seine Stimme kraftlos: „Siehst
122 Du, die Götter haben mich noch lange nicht vergessen.
Sie quälen mich weiter und gönnen mir keinen Frieden,
solange nicht alle Aufgaben getan sind.“
„Welchen Frieden?“, wollte Jade beißend nachfragen,
doch sie schluckte ihren Sarkasmus herunter. „Wirst Du
mitkommen?“, fragte sie nur; in ihrer Stimme schwebten
Hoffnung und Resignation gleichzeitig.
Athónon nickte bitter und hauchte: „Meiner Erfahrung
nach wird es nur schlimmer, wenn ich dem Ruf der Götter
nicht folge.“ Damit kletterte er gemächlich, aber geschickt,
zum Eingang seiner Höhle hinauf.
„Hurra! Hurra! Endlich wieder ein Abenteuer!“, krähte
ein grau-rotes Teufelchen plötzlich direkt neben Jades Ohr
und rollte freudig seine großen, gelben Schlangenaugen.
„Das wurde aber auch Zeit!“, fiepte zwischen Jades Füßen
ein Chamäleon, das untypische, schwarze Knopfaugen
besaß. Beide Kreaturen waren bis gerade eben unsichtbar
gewesen.
Die Nachtelfin sprang verschreckt rückwärts und reckte
die schlanken, doch abgehärteten Fäuste hoch. „Ach,
ihr!“, rief sie nun und entspannte sich, „kein Wunder, dass
Athónon wahns...“ Sie biss sich auf die Lippe.
Natürlich hatte der alte Gnom das gehört, auch wenn er
sich nichts anmerken ließ.
„Zeeris und Taffi!“, begann Jade tadelnd zu sprechen,
um von ihrem Fehlgriff abzulenken. Die Hände stemmte
sie dabei in die Hüfte und ihren langen Oberkörper beugte
sie leicht vornüber. „Wie oft habe ich Euch beiden schon
gesagt, dass ihr nicht direkt neben mir aus dem Nichts
auftauchen sollt!“
„Vergessen!“, piepste Taffi, das Chamäleon, während 123
Zeeris, der in der Luft auf der Stelle schwebte, zuerst noch
eine nachdenklich-unschuldige Miene machte, dann aber
eifrig nickte und krähte: „Ich auch!“
Jades Blick fiel auf den seltsamen, hellen Panzer, den
das Teufelchen als Rüstung trug. Sie hatte vor Jahren mal
dagegen geboxt und sich gewundert, wie ein so leichtes
Material so hart sein konnte. Auch dieses Ding stammte
angeblich aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit
– von einer Zeitreise, die Athónon und seine Freunde
im Namen der Götter unternommen haben sollen, kurz
bevor sie in Jades altem Dorf aufgetaucht waren. Jade
erinnerte sich nicht mehr, was Athónon diesbezüglich
noch angedeutet hatte, immerhin war es zwanzig Jahre
her, dass er zuletzt darüber geredet hatte; es musste um
irgendeinen Erzdämon gegangen sein, und darum, dass
die Veränderung der Vergangenheit nicht so verlaufen
war wie geplant. Immerhin waren vor allem Cesius, Xelos
und Zeeris sehr stolz auf sich gewesen, hatten sie jenen
ominösen Dämon doch tatsächlich besiegt.
Die meisten Wesen, egal ob Menschen, Elfen, Zwerge
oder von sonst einem Volk, hätten mit einem gönnerhaften
Lachen bestritten, dass es überhaupt so etwas wie
Dämonen gab. Viele Tagesreisen weit im Westen sollte
der Imperator der Chimärier angeblich einen neuen Krieg
gegen die anderen Völker angezettelt haben; ihn, den
Drachen, konnte man vielleicht einen Dämon nennen.
Doch obgleich niemand dessen Existenz bestritt, waren er
und sein Imperium weit, weit weg ...
124 Athónon betrachtete in der engen Höhle seine
Habseligkeiten: einen großen Rucksack aus Leder.
Der Inhalt war vor Flusswasser und Regen durch eine
ordentliche Portion Ziegenfett geschützt. Manche Dinge
aus seiner Vergangenheit hatte Athónon in einem früheren
Wutanfall fortgeworfen, etwa seine ledernen Arm- und
Beinschienen und seinen Helm. Er hatte nie kämpfen
wollen, doch das Schicksal hatte ihn immer wieder zum
Blutvergießen gezwungen. Vor zwanzig Jahren, als er
Xelos hatte töten müssen, bevor der umgekehrt ihn getötet
hätte, sollte endgültig Schluss mit dem Töten sein.
Nur sein dickes Lederwams besaß Athónon noch immer;
irgendwie hatte er befürchtet, es abermals zu benötigen.
Es lag ganz oben im Rucksack, direkt gefolgt von einem
kleinen, magischen Bild mit Athónon und seinem lange
verstorbenen Freund und Mentor Tugibenn, der ebenfalls
ein Gnom gewesen war. Der große Zaubermeister grinste
so breit wie immer auf dem perfekt gemalten Bild, das ein
seltsamer, kleiner Kasten während der Zeitreise binnen
eines Lidschlages herbeigezaubert hatte.
Die wahren Schätze seines Lebens jedoch bewahrte
Athónon in seinem Kopf auf; wie viele Gnome, besaß er
ein phänomenales Gedächtnis. Doch dies war Fluch und
Segen zugleich für ihn, denn auch all die schrecklichen
Ereignisse, die Athónon gezeichnet hatten, spukten noch
so deutlich in seinen Tag- und Nachtträumen, als seien sie
gerade erst geschehen.
Er verzog die Mundwinkel nach unten, schloss den
Rucksack und schulterte ihn mühelos. Jetzt war nicht die
richtige Zeit, Albträumen nachzuhängen.
Mit seinem großen Rucksack auf dem Rücken, wanderte 125
Athónon den Weg ein Stückchen voraus und blieb dann
einfach stehen.
Jade, Taffi und Zeeris verstanden und folgten wortlos,
worauf der Gnom weitermarschierte. Sein Tempo war so
hoch, dass Taffi nach wenigen Schritten kurzerhand an
Jades langem Bein hochsauste und sich quer über ihre
knochigen Schultern legte. „Du bist immer noch so
ein langes Elend!“, piepste Taffi ihr ins Ohr, „wie eine
Giraffe!“
„Was ist denn eine Giraffe?“, fragte Jade verwundert,
aber Taffi grinste nur verschmitzt. Diese Tiere gab es schon
sehr, sehr lange nicht mehr, aber Taffi hatte während der
Zeitreise welche gesehen.
Zeeris flatterte neben Athónons Ohr und wisperte:
„Sollen wir Galbrint nicht mitnehmen? Den Stab – in
Ordnung, der wäre sowieso böse und verbittert gewesen,
wäre er hier, aber Galbrint! Galbrint ist doch nett!“
Athónon blieb abrupt stehen und starrte nur geradeaus.
„Galbrint gehört zu Cesius. Ich nehme ja auch nicht seine
Knochen mit“, raunte Athónon schließlich.
„Ja, aber, ja, aber ...!“, stammelte Zeeris, „aber was so
ein kluges, beseeltes Zauberschwert wert ist!“
Athónons Kopf fuhr herum und seine Augen funkelten
böse.
„Ups!“, machte Zeeris und flog sofort ein Stückchen
höher, außer Athónons Armreichweite.
„Er hat aber recht, alter Freund“, warf Jade mild von
hinten ein. „Du kannst es nicht hierlassen. Du hast
damals erzählt, Artefakte wie Galbrint oder Xelos’ Stab
126 hätten eine Bedeutung und bräuchten einen besonderen
Träger. Vielleicht ist es Zeit, dass Galbrint einen neuen
Träger bekommt.“
Athónon dachte kurz nach, dann brummte er:
„Artefakte von solcher Macht suchen ihre Träger selbst.
Wer auch immer für Galbrint bestimmt ist, wird ihn
hier finden. Gemeine Räuber werden den Fund nicht
überleben. Galbrint hat schon einmal eigenmächtig einen
Feuerball auf einen Dämon geworfen und ihn damit so
schwer verwundet, dass Cesius, Xelos, Lira ... Eláryon
und ich ...“ Athónon brach den Satz ab und marschierte
weiter. Mitten im Gehen rief er: „Galbrint ist zahllose
Jahrhunderte alt. Er weiß, wie man wartet. Auch den Rost
wird er einfach abschütteln, wenn es Zeit dafür ist.“

Jade dachte an alte Zeiten zurück, an ihre Abenteuer


mit Athónon, Xelos und dem Tempelkrieger Cesius.
Vor über zwanzig Jahren, als sie zur Anführerin der
Dorfwache gemacht worden war, hatte Jade sich für eine
gute Kämpferin gehalten. Sie war nicht so forsch gewesen,
wie ihre halbelfische Tochter heute, doch auch Jade hatte
keine Vorstellung davon besessen, was ein echter Krieger
im Vergleich zu einem elfischen Fechter war.
Cesius war aus elfischer Sicht ein stinkender, hässlicher,
haariger Klumpen gewesen. Nicht so groß wie Elfen,
aber so breit wie zwei. Seine derbe Art zu sprechen
und sein grauenhaftes Elfisch hatten auch seiner Art
entsprochen, das Schwert zu schwingen. Zweifellos war
ein disziplinierter, gut ausgebildeter Elf so einem Barbaren
im Kampf überlegen, hatte Jade wirklich fest geglaubt.
Sie hatte davon gehört, Cesius von Silberberg hätte 127
sogar an der imperialen Grenze gegen Chimärier
gekämpft; doch damals hatte sie keinerlei Vorstellung
davon besessen, was es hieß, einen Kampf mit einem
fünfhundert Pfund schweren Chimärier zu überleben.
Die Gerüchte über deren Größe und Gewicht hatte sie für
maßlos übertrieben gehalten, bevor die ersten Schuppen
in die Elfenwälder vorgedrungen waren. Damals war sie
noch weitaus weniger als heute bereit gewesen, sich mit
unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen – ganz wie
es sich für Elfen geziemte.
Cesius, dieser Mensch – Mensch war ein elfisches
Schimpfwort – hatte Jade dringend aufgefordert, mit
ihm zu trainieren, um die bevorstehenden Kämpfe gegen
die Tiefenweltler zu überleben. Sie hatte ihn angewidert
angestarrt und insgeheim in sich hineingegrinst. Doch sie
hatte sich darauf eingelassen; sie hatte ihm eine Lektion in
elfischer Technik erteilen wollen.
Jade schüttelte im Gehen unmerklich den Kopf; sie
konnte einfach nicht mehr verstehen, wie sie damals so
naiv und arrogant hatte sein können.
Den ersten Schock hatte sie gleich beim allerersten,
einfachen Hieb des Menschen erlitten. Sie war es gewohnt
gewesen, halbherzige Stockhiebe von innerlich friedlichen
Elfen zu parieren und hatte sich angewöhnt, schnelle
Bewegungen aus dem Handgelenk zu machen und
kaum die Hüfte oder gar den ganzen Körper zu bewegen
– schließlich hätte sie das etwas langsamer gemacht.
Der Hieb des Cesius jedoch, erlernt im Kampf gegen
mordgierige Chimärier, wischte ihren schwachen Block
128 mit dem Holzschwert einfach weg. Der Hieb ging fast
völlig ungebremst durch Jades Parade und schlug ihr das
Knie blau. Sie hatte noch gar nicht geschrien, nur den
Mund dafür geöffnet, da sah sie Cesius’ mächtige Faust
direkt vor ihrer Nase schweben. „Jetzt wärst Du getötet
worden“, hatte der Mensch geknurrt, doch seine Augen
hatten nicht etwa vor Spott und Hohn geblitzt, sondern
Jade traurig gemustert.
Mit jedem weiteren Hieb des Menschen, mit jedem
weiteren „Tod“ der jungen Anführerin der Wache,
hatten sich mehr Elfen um den kleinen Kampfschauplatz
gesammelt und Jade bei ihrer Blamage zugesehen. Längst
hatte sie sich elendig gefühlt, weil sie schnell begriffen hatte,
wie wehrlos sie eigentlich gegenüber einem echten Krieger
gewesen wäre. Nicht, dass auch nur einer der anderen
Elfen es besser gekonnt hätte. Sie hatten alle betroffen
geschwiegen. Als es Jade zum ersten Mal gelungen war,
Cesius wenigstens an der Schulter zu streifen, waren die
Elfen aufgesprungen und hatten gejubelt. Jade hatte sich
jedoch überhaupt nicht darüber freuen können – zu viele
Tode wäre sie bis dahin schon gestorben.
Die Elfen trainierten untereinander viel zu oft so, dass
der Bessere dem Schwächeren Chancen gab, damit der
Schwächere sich nicht zu gekränkt fühlte; doch Cesius
hatte damals nicht mal im Traum daran gedacht, Jade eine
Chance zu geben, um ihr Selbstwertgefühl zu schonen.
Er hatte ihr mit jedem Hieb klargemacht, dass es in der
Wirklichkeit keinen Platz für Stolz und Eitelkeit gab.
Sie hatte damals so unglaublich viele Fehler gemacht,
die durch das weltfremde Training der Elfen entstanden
waren, sie hatte unmöglich so schnell umlernen können, wie 129
es nötig gewesen wäre. Sie hatte nach einem ersten Treffer
nie nachgesetzt, obwohl sie nicht hatte wissen können, ob
der einzelne Treffer reichte; sie hatte die Augen zugemacht,
wenn besonders wuchtige Hiebe auf sie zugekommen
waren; sie hatte ihrer Waffe hinterhergesehen und so die
Beine des Gegners aus den Augen verloren; sie hatte ihre
sonstige Umgebung kaum beachtet, wenn es eng geworden
war; sie hatte ihre Fäuste und Füße nicht eingesetzt, selbst
wenn sie mit der Waffe nicht weitergekommen war; sie
hatte sich rückwärts treiben lassen, wenn sie auch nur
angeknurrt worden war, und so weiter und so weiter ...
Als sie das erste Mal eine freie Faust hatte einsetzen
wollen, weil sie mit dem Schwert nicht weitergekommen
war, hatte sie Cesius vor den Kiefer geboxt. Während
der Mensch den Schlag kaum gespürt hatte, hatte Jade
erschrocken vor Schmerz geschrien und sich die Hand
geschüttelt. Cesius hatte ihr dafür wütend das Holzschwert
aufs Ohr geknallt und geknurrt: „Konzentrier Dich! Für
Schmerzen ist keine Zeit im Kampf. Du wärst schon
wieder tot. Wärst Du wirklich bei der Sache, hättest Du
das gar nicht gespürt!“
Als Jade zu schluchzen begonnen hatte und sich abwenden
wollte, hatte Cesius sie plötzlich hinterrücks in den
Schwitzkasten genommen und sie einfach hochgehoben.
Völlig hilflos hatte sie in der Luft gestrampelt. „Willst Du
leben? Dann machen wir weiter!“, hatte Cesius ihr ins
Ohr geknurrt und so fest zugedrückt, dass er ihr fast das
dünne Genick gebrochen hätte. Und Jade hatte gespürt,
dass er es hätte zu Ende bringen können. Die immense
130 Kraft des Menschen war auch etwas, das sie nie wieder
vergessen hatte. Achtlos hatte er sie zwei Schritte weit zu
Boden geworfen und war mit dem Holzschwert auf sie
zugestürmt, noch bevor sie wieder Luft bekommen hatte
und auf die Füße gekommen war.
Doch da hatte sie es auf einmal verstanden. Sie hatte nicht
dem Impuls nachgegeben, ängstlich zurückzuweichen,
und sie hatte ihre schmerzenden Nackenwirbel ignoriert.
Mit einem wütenden Schrei war sie dem Tempelkrieger
sogar entgegengesprungen, hatte seinen Hieb pariert und
sich mit aller Kraft gegen ihn gestemmt. Freilich war sie
sofort wieder durch die Luft zurückgeflogen und im Staub
gelandet, doch der Mensch hatte anerkennend genickt.
„Das ist die richtige Einstellung“, hatte er nur gesagt, „jetzt
können wir weiterüben.“
Nach der ersten Übungsstunde mit dem Tempelkrieger
der Menschen hatte Jade kaum noch ihre schwachen
Handgelenke bewegen können. Ihren Wasserkrug hatte
sie mit beiden Händen heben müssen, und selbst das hätte
sie fast nicht mehr geschafft. Cesius hingegen hatte die
Stunde fast gar nichts ausgemacht. Beim Gedanken an
die bevorstehenden, echten Kämpfe hatte Jade vor Angst
plötzlich zu zittern begonnen. Doch von da an hatte sie
wenigstens gewusst, wie schnell sie ohne die Übungen
mit Cesius tot gewesen wäre. Sie hatte fortan Tag um Tag
trainiert, stundenlang, mit der blanken Angst im Nacken.
Schon nach zehn Tagen hatte sie unter den Elfen keine
brauchbaren Kampfpartner mehr gehabt.
Jade dachte an ihre jugendliche Tochter; eine tiefe
Sorgenfalte zog sich durch ihre Stirn, während sie
schweigend Athónon folgte. Cesius, der beeindruckende 131
Krieger, war nicht mehr da, um der Halbelfin Laura eine
Lektion zu erteilen. Und Jade würde nie solch ein Krieger
wie Cesius sein können. Sie schaffte es einfach nicht, dass
Laura Angst vor den Kämpfen und Abenteuern bekam,
von denen die jungenhafte Jugendliche träumte. Laura war
genau wie Jade früher: sie dachte, sie wäre als Dorfwache
eine gut ausgebildete Kriegerin, und als Halbelfin war sie
zudem von Natur aus kräftiger als manch anderer Elf.
Doch Jade wusste, dass ihre Tochter kaum eine Chance
hatte, sollte sie einem erfahrenen Krieger der Menschen
gegenüberstehen.
Wann immer Jade sich mal wieder mit ihrer Tochter
darüber gestritten hatte, dass Laura allein eine Reise
nach Süden machen wollte, bekam die Nachtelfin blutige
Albträume. Doch sie konnte nicht entfernt so hart
zuschlagen wie Cesius, damit Laura endlich zur Vernunft
kam. Dass Jade in ihrem Dorf als große Kämpferin
galt, machte ihre Überzeugungsarbeit bei Laura noch
viel schwerer. Elfenmänner waren nicht zu vergleichen
mit Menschenmännern, was ihre Kraft betraf, und Jade
war eine von viel zu wenigen Elfen, die Kriegserfahrung
besaßen.
Jade war auch hin- und hergerissen von Lauras Bitte,
endlich Athónon kennenzulernen, von dem sie früher so
viele Geschichten gehört hatte. Laura hatte sich instinktiv
nicht willkommen gefühlt, zu Athónons Höhle zu wandern;
doch wenn er nun seinerseits ins Dorf kam, wollte sie ihn
unbedingt treffen, und Jade sollte es dem Gnom möglichst
früh sagen, damit die Halbelfin ihn nicht womöglich
132 verpasste und er gegebenenfalls mit seiner Rückreise auf
sie wartete. Doch Lauras Mutter schwieg.

Sie waren noch nicht sehr weit gegangen, als Athónon


mitten in der Bewegung einzufrieren schien. Erst ganz
langsam setzte er den erhobenen Fuß doch noch ab. Das
Flattern von Zeeris’ Flügeln war plötzlich das einzige
Geräusch. Kein Tier und kein Vogel war zu hören.
Jade war auf Athónons Reaktion hin ebenfalls erstarrt.
Auch Taffi auf ihren Schultern war reglos und still. Das
Chamäleon verschwamm mehr und mehr mit dem Grün
ihres Kleides und dem Schwarz ihres Haares. Athónons
Kopf ruckte leicht, als er ein weiteres Steinchen neben
sich klickern hörte. Lautlos wandte er sich zu Jade um.
Sein stummer Blick sagte: „Das ist kein Tier.“ Jade nickte
unmerklich.
Plötzlich schoss ein breiter Oberkörper hinter einem
Felsen hervor und feuerte einen Bogen ab. Der Pfeil traf
Jade von der Seite in die Schulter und verfehlte Taffis
Kopf um weniger als einen Fingerbreit. Jade schrie mit
kräftiger Stimme und rannte auf der anderen Seite in
Deckung – genau in einen vermummten Menschen mit
einem Dolch, der sofort damit nach ihr stach. Sie prallte
im letzten Augenblick zurück, doch der Dolch streifte
sie unter den Schlüsselbeinen und hinterließ einen tiefen
Schnitt. Jade krachte mit dem Rücken gegen einen Felsen
und sah aus dem Augenwinkel, wie der Bogenschütze mit
einem zweiten Pfeil auf sie zielte. Gleichzeitig sprang der
Dolchkämpfer sie grunzend an.
„Taffi!“, schrie sie im Befehlston – und trat dem Angreifer
vor den Oberschenkel, um den Ansturm zu stoppen. Der 133
fluchende Dolchkämpfer flog mit vorgeneigtem Oberkörper
auf sie zu, Dolch voran. Sie setzte ihr Bein nach dem Tritt
nicht ab, sondern rollte seitlich unter dem Angreifer vorbei,
weg von dem Bogenschützen hinter einen Felsen. Sie
spürte Taffis Gewicht jetzt an ihrem Rücken hängen und
die kleinen Krallen in ihre Haut stechen; das Chamäleon
war bei ihrer Rolle längs um ihren Körper herumgerannt,
um nicht zerdrückt zu werden. Der vermummte Kämpfer
zischte durch die Zähne und hastete Jade nach.
„Halt still!“, piepste es in ihr Ohr. Sie unterdrückte
einen Schrei, als der Pfeil in ihrer Schulter von Taffi
ergriffen wurde.
„Ich glaube, das ist mehr als eine Fleischwunde“,
keuchte Jade und taumelte weiter von dem Dolchkämpfer
weg. „Mir wird s...“, seufzte sie, dann knickten ihre langen
Beine ein.
„Deine Herzader!“, kreischte Taffi. „Der Pfeil sitzt zu
hoch fürs Herz, aber vielleicht hat er eine Deiner dicken
Adern getroffen!“ Noch lauter kreischte Taffi: „Athónon!
Schnell!“
Mit großen Augen stierte Taffi den Dolchkämpfer
an, der Jade gerade erreichte, als ihr Oberkörper mit der
gesunden Schulter gegen einen Felsbrocken sank. Jade
hielt sich mit flatternden Lidern am Fels fest und tastete
nach dem Pfeil. „Athónon!“, flehte sie.
Von dem Gnom war nichts zu hören. Allerdings klangen
zwei fremde Todesschreie aus seiner Richtung herüber.
Taffi stellte sich in Jades Nacken auf die Hinterbeine,
perfekt im Gleichgewicht, und hob die winzigen Fäustchen
134 drohend vors Gesicht. „Ich warne Dich, ich hau Dir eine,
wenn Du näher kommst!“, fiepte das Chamäleon dem
Dolchkämpfer vor sich entgegen.
Der begann mit tiefer Stimme zu lachen und entspannte
sich etwas, während er näher kam. Zwar hatte er noch nie
ein Wesen wie Taffi gesehen – doch er wusste, dass er auch
viele andere Dinge noch nie gesehen hatte. Und Taffi war
einfach zu klein, um bedrohlich zu wirken.
Ein weiterer, gellender Todesschrei vom anderen
Wegrand her ließ sein Lachen allerdings gefrieren.
Blitzartig fuhr er herum.
Hinter ihm stand der weißhaarige Gnom Athónon
mit ausdrucksloser Miene und einem bluttriefenden
Kurzschwert in der Faust. Brüllend warf der Dolchkämpfer
sich auf ihn. Athónon riss erst im allerletzten Moment das
Kurzschwert hoch, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Er schlitzte dem Angreifer den Waffenarm der Länge
nach auf. Das Blut schoss in Fontänen aus seinem Fleisch,
kreischend stürzte er davon und verschwand zwischen den
Felsen.
„Er kommt nicht mehr weit“, knurrte Athónon, während
er sich zu Jade kniete und mit seinen schmalen, faltigen
Augenschlitzen ihre verwundete Schulter betrachtete.
„Sitzt tief“, kommentierte er salopp. „Ich nehme an, den
Arm kannst Du nicht mehr heben“, versuchte er, witzig
zu sein. Doch Jades Gesicht blieb von Angst und naher
Ohnmacht gezeichnet.
Zeeris flog herbei und setzte sich neben Athónon auf
einen Felsen. Seine kleinen, scharfen Zähne waren voller
Blut, ebenso wie seine Hände und Krallen. In jeder Klaue
hielt er ein Menschenauge, eins braun, eins grün, und 135
blickte voller Appetit abwechselnd das eine und dann das
andere an. „Welches zuerst?“, geiferte er und leckte sich
über die blutigen Lippen.
„Oh ...“, machte Jade bei dem Anblick und verdrehte die
eigenen Augen.
„Wer waren die Kerle?“, fragte Athónon, als er eine
Hand auf Jades Wunde legte. Warmes Blut rann zwischen
seinen Fingern hindurch in seinen Ärmel.
„Weiß nicht“, stöhnte die Elfin. Dann biss sie die Zähne
zusammen, während Athónon seine Magie fließen ließ.
Binnen weniger Lidschläge fiel der Pfeil zu Boden und die
Wunde schloss sich.
In einer Welt, in der Magie für viele Völker als verwerflich
oder gar dämonisch galt, hatten die Zauberer gelernt,
ihre Fähigkeiten so unauffällig wie möglich einzusetzen,
insbesondere wenn sie nicht einem anerkannten Tempel
angehörten. Zauberei war oftmals eher eine physische
Kraftanstrengung als eine Wissenschaft. Heilungen
stellten eine der wenigen Ausnahmen dar, denn wenn
ein Zauberer nicht wusste, was er an einer Wunde wie
verwandeln sollte, richtete er vermutlich nur noch mehr
Schaden an, anstatt eine Heilwirkung zu erzielen.
Nachdenklich und verschüchtert betastete Jade die
geheilte Schulter. „Schon wieder hast Du mein Leben
gerettet“, murmelte sie.
„Würde es mich nicht geben, wärst Du gar nicht in
Gefahr geraten“, konterte Athónon. „Wieso hast Du keine
Waffe mitgenommen?“
Jade zuckte mit den Schultern. „Bisher war dies eine
136 völlig friedliche Gegend und der Weg ist ja auch nicht sehr
weit. Diese Menschen sind die ersten Räuber seit zwanzig
Jahren, die es hierher verschlagen hat.“
Athónon legte Jade die Hand nun knapp oberhalb der
Brüste auf, was sie mit einem verdutzten Blick und einem
schiefen Grinsen kommentierte. „Der Dolchkratzer“,
erinnerte Athónon sie ungerührt.
„Oh“, machte sie, „den hatte ich noch gar nicht
gespürt.“
Die Heilung dieser Wunde dauerte nur wenige
Lidschläge. Als Athónon die Hand zurückzog, musterte
Jade ihn sinnlich. Doch er wandte sich ab und ging zu
seinem Rucksack zurück, den er auf den Weg hatte fallen
lassen. „Wie geht es Deiner Familie?“, fragte er mit einem
seltsamen Ton.
Zeeris hatte mitten in der Kaubewegung innegehalten
und die beiden angestarrt. Jetzt krähte er: „Elfen und
Gnome, pah! Das könnte sowieso nicht gut gehen!“
Taffi mischte sich ein: „Ach nein? Aber Athónon hatte
damals schon fast den Status eines Elfen, im alten Dorf
Sakándes und auch in Eláryons Dorf, wie hieß das noch ...
Fast wären seine Ohren spitz geworden!“
Jade grinste amüsiert und erhob sich. „Schon gut, ihr
beiden, kommt! Es wird immer dunkler.“
Tatsächlich war das letzte Abendrot inzwischen verblüht
und die Nacht schlich herbei.
Am Durchgang der wilden Rosenhecke, die als 137
einziger, spärlicher Schutz des Dorfes mitten im Wald
die Baumhäuser und Lederzelte umgab, wartete im
aufgehenden Mondlicht bereits eine blonde Elfin. Feine
Grübchen um den schmalen Mund und graue Strähnen im
Haar zeigten, dass sie sich bereits im Herbst oder Winter
ihres Lebens befand. Auch hatte sie einige Narben im
Gesicht und an den Händen, vielleicht auch am restlichen
Körper, unter der grünen Tunika und den braunen
Beinlingen. Ein dunkler Ledergürtel hing der geradezu
dürren Elfin auf den Hüftknochen. Vermutlich hätte sie
ihn mit etwas Anstrengung einfach abstreifen können,
ohne die Schnalle zu öffnen.
„Athónon Elfenfreund!“, rief sie dem Gnom freudig
entgegen und winkte zaghaft. Nach zwanzig Jahren sahen
sie sich zum ersten Mal wieder. Sie hatte ihn nie besucht.
Miriam kniete sich vor Athónon und ergriff mit
knochigen, dürren Händen seine Schultern. Ungerührt
ließ er es sich gefallen. Allmählich schwand die Freude aus
dem Gesicht der alten Elfin, um einer tiefen Sorgenfalte
Platz zu machen. „Ihr seht hervorragend aus!“, schmeichelte
sie ihm.
„Nein, tue ich nicht. Kommt zur Sache“, grollte
Athónon ungeduldig. Die überaus förmliche Anrede in
der Mehrzahl strafte seinen Ton Lügen.
Die Elfin nickte etwas traurig. „Ich komme gerade von
einer Reise bis zum fernen Norhus zurück, von dem Ihr
so oft geschwärmt habt. Ein Mann namens Soras wird
sich dort zukünftig darum kümmern, dass selbst so weit
im Osten Bündnisse gegen die Chimärier geschmiedet
138 werden. Die Elfen können nicht ewig die Augen vor den
Geschehnissen in der Welt verschließen. Ich erinnerte
mich plötzlich bruchstückhaft an Dinge, von denen Ihr
mir vor so vielen Jahren schon erzählt habt, dass ich sie
doch wissen müsste. Ich träumte sogar von diesem Soras,
daher die zurückliegende Reise. Doch Ihr, Athónon
Elfenfreund, müsst mir unbedingt noch mehr erzählen,
denn ich spüre, dass jeder Tag zählt. Etwas Wichtiges steht
bevor.“
Athónon versetzte sarkastisch: „Und natürlich muss ich
mich wieder direkt in die Hölle begeben, dort ein Rudel
Dämonen mit bloßen Händen erwürgen und ...“
„Shh!“, machte Miriam, unterbrach Athónon und legte
ihm den dünnen Zeigefinger auf den Mund. „Davon habe
ich nichts gesagt“, flüsterte sie ernst. „Ich möchte nur
mit Euch reden, um mein Gedächtnis wiederzuerlangen.
Bitte, Athónon Elfenfreund, helft mir dabei. Vor zwanzig
Jahren war es Euer sehnlichster Wunsch, dass ich mich
erinnere.“
„Vor zwanzig Jahren haben meine letzten Freunde auch
noch gelebt“, zischte Athónon eiskalt.
Sichtlich getroffen, senkte die Elfin den Blick. „Gebt
Ihr mir die Schuld an ihrem Tod, Athónon Elfenfreund?“,
wisperte sie und sah wieder hoch.
„Nennt mich nicht so“, knurrte Athónon und striff
ihre Arme von sich. „Reden wir also. Woran erinnert Ihr
Euch?“
„Sollen wir nicht ans Feuer g...“, begann Miriam, aber
Athónon fiel ihr ins Wort: „Hier ist es recht. Also?“
Miriam ließ den Kopf voll Bitterkeit hängen. Doch
dann atmete sie tief durch, setzte sich im Schneidersitz 139
vor Athónon und berichtete. „Ihr habt erzählt, da wären
vier Könige gewesen, die gegen ein Meer von Dämonen
gekämpft hätten, aber nicht allein, sondern mit Hilfe von
großen Helden wie Euch.“
Athónon schnaubte verächtlich und brummte: „Ich war
nie ein Held! Ich war einst bloß ein einfacher Jäger! Ich
wollte nur in Frieden leben!“ Er wurde lauter. „Ich wollte
ein paar Elfen vor rassistischen Zorm-Priestern warnen,
und plötzlich wurde ich von einem alten Hauptmann der
Stadtwache irgendwelchen Räuberbanden auf den Hals
gehetzt, um mich zu erproben!“ Jetzt schrie er: „Niemand
hat mich gefragt, ob ich in den Krieg gegen übermächtige
Dämonen ziehen wollte! Ich wurde einfach vor vollendete
Tatsachen gestellt! All meine Freunde sind jetzt tot und
meine Heimat ist verloren und –“
Miriam sprang auf und nahm ihn fest ihn den Arm.
Athónon schrie jämmerlich und vergrub sein Gesicht
auf ihrer Schulter. Jade setzte sich mitfühlend neben ihn
und legte ihm ebenfalls eine Hand auf den Arm. „Wieso
sagst Du das immer, dass all Deine Freunde tot wären?“,
flüsterte sie sanft, „bin ich kein Freund?“
„Genau!“, piepste Taffi von der anderen Seite gekränkt,
und auch Zeeris schwebte mit verschränkten Armen in der
Luft und grummelte etwas.
Athónon schluchzte laut und bebte am ganzen Körper,
seine Hände griffen fest um Miriams knochigen Rücken.
Die Elfin legte ihren Kopf an seinen und strich vorsichtig
über sein weißes Haar. „Lasst es alles raus, Athónon“,
flüsterte sie, „Ihr seid doch unter Freunden.“
140 „Zwanzig Jahre!“, wimmerte Athónon.
Miriam schloss die Augen und wiegte sich leicht mit
dem Gnom im Arm. „Ich weiß, mein Freund“, flüsterte
sie liebevoll. „Aber ich weiß auch, dass die Götter kein
Opfer vergessen werden. Ich fühle es so sicher, wie mein
Herz schlägt. Am friedvollen Ende Eures noch sehr langen
Lebens werdet Ihr als ein König in den Himmel einziehen.
Niemand hätte es mehr verdient.“
Taffi und Zeeris setzten sich still.

„Mit mir wart Ihr enger verbunden als mit den anderen
Königen, nicht wahr?“, flüsterte Miriam. Athónon nickte.
„Wir waren wohl Seelenverwandte“, raunte Athónon.
„Wir lebten in verschiedenen Welten, Ihr, damals die
Königin der Elfen, und ich, der Kundschafter; doch
irgendetwas verband uns doch. Und Ihr wusstet noch
vor mir, wie hart das Schicksal mich treffen würde, denn
so wie eben umarmtet Ihr mich schon einmal. Damals
starb mein guter Freund Eláryon, ein Elf, der dort mein
letzter Halt in all diesen Wirren gewesen war; das war
der Anfang vom Ende. Ihr schenktet mir jene magische
Decke mit der großen Heilkraft, die mit Euch jedoch
die Albträume von Dämonen teilte, und die so für
lange Zeit auch zu meinen Träumen wurden. So wurde
ich jedoch auch ein Teil von Euch und vom göttlichen
Plan. Damals wart Ihr ein bisschen mehr wie ich jetzt,
traurig und gezeichnet vom aussichtslosen Krieg gegen die
Dämonen. Die Schlinge zog sich immer enger um unsere
Hälse – da schicktet Ihr uns in eine ferne Vergangenheit,
noch vor dem Glorreichen Zeitalter, um das Erscheinen
des obersten Dämons im Keim zu ersticken. Als wir 141
zurückkehrten, war jedoch alles ganz falsch. Ihr wart
nicht einmal auf Hevas Leib, denn die Götter hatten Euch
als Diener gegen die Dämonen geschaffen, und die gab
es in der Tat nicht mehr. Stattdessen hatten jedoch die
Chimärier bereits fast die Hälfte von Hevas Leib erobert,
und sie streben wohl auch noch nach der anderen Hälfte.
Wir entdeckten eine geheime Grabkammer, wo Eure
Seelengefäße bereitlagen, falls man Euch bräuchte. Leider
funktionierte die Erweckung nicht wie geplant.“ Athónon
funkelte sehr böse zu Zeeris, der betont unschuldig tat.
„Ihr kehrtet ohne Gedächtnis – und Eurer wahren Kräfte
beraubt – auf Hevas Leib zurück, während wir, die wir
Euch erweckt hatten, unsere Gesundheit hergeben mussten
und frühzeitig ergrauten. Ich war mit dreißig Jahren schon
ein Greis.“
Jade unterbrach ihn schmunzelnd: „Du bist heute noch
kein Greis, bloß weil Deine Haare weiß sind. Kein Greis
könnte diesen Rucksack tragen!“ Demonstrativ hob sie
Athónons Rucksack von seinem Rücken und stellte ihn
ächzend auf den Boden. „Der wiegt sicher über 40 Pfund!
Das wäre dann vermutlich die Hälfte Deines eigenen
Gewichts.“ Als sie beiläufig zu Miriam blickte, erschrak
sie auf einmal. „Was ist denn?“, entfuhr es der Nachtelfin.
Miriams Gesichtsausdruck grenzte an Irrsinn, während
sie in die Nacht starrte. Abwesend raufte sie sich die
Haare.
„Sie erinnert sich bestimmt!“, riet Zeeris aufgeregt.
Wortlos öffnete Athónon seinen Rucksack und kramte
eine alte Decke hervor: vielfach geflickt, über und über
142 von getrocknetem Blut beschmiert und nur noch an
wenigen Stellen so grün, wie sie einst gewesen war. Einzig
die verblassten, goldenen Ornamente an den Rändern
wiesen darauf hin, dass dies nicht irgendein Lumpenstück
war. Athónon legte sie ehrfürchtig um Miriams Schultern,
wagte es aber nicht, sie seinerseits in den Arm zu nehmen.
Für ihn war sie immer noch die unsterbliche, göttliche
Königin der Elfen und er nur der einfache Kundschafter.
Das mächtige Artefakt verfehlte seine magische Wirkung
nicht. Seit Athónon die Seele des lebendigen Artefaktes
erforscht hatte, waren die Albträume vergangen, die man
unter dem Wollstoff erlitt. Nun fand man sich auf einer
sonnigen Wiese voller spielender Elfenkinder wieder,
wenn man die Decke um die Schultern legte oder darunter
schlief.
Auch Miriams irrer Gesichtsausdruck wurde erst glasig,
dann friedlich, und nach einer Weile rollte sie die Decke
selbst wieder zusammen und gab sie Athónon zurück.
„Das war wundervoll“, hauchte sie. „Wie habt Ihr das
geschafft?“
Athónon zuckte verlegen mit den Achseln. Als er ihr
Gesicht betrachtete, seufzte er, denn nun war er wieder
da, der wehmütige Ausdruck in ihren Augen. Sie war
nicht mehr die unbedarfte, gedächtnislose Miriam. Sie
war wieder sie selbst: Mèra, einst Königin der Elfen,
unsterbliche Dienerin der Götter, eine Halbgöttin im
Krieg gegen die Dämonen. Mèras Gunst erweckte Tote
zum Leben, ihre Gefühle erklangen als Musik und ihre
Wut vernichtete Legionen. Ihre Erinnerung war endgültig
zurück.
„Die Dämonen hat es von Neuem in die Nähe von Hevas 143
Leib getrieben. Sie wollen die Naturgöttin Heva und unsere
Welt erbeuten“, schloss sie Athónons Gedankengang mit
einer schaurigen Endgültigkeit in der Stimme. Athónon
und Mèra sahen sich an; kalte Härte traf auf ozeanische
Tiefe.
„Ich muss die anderen drei Könige von damals finden,
Randolph, Srrig und ... vielleicht auch T’ral. Gleichzeitig
muss ich herausfinden, wo die Dämonen sind, wie stark
sie sind und was sie vorhaben“, entschied Mèra. Zögernd
musterte sie Athónon. „Werdet Ihr mir helfen, Athónon
Elfenfreund?“, fragte sie ernst.
Der Blick des Gnomes wurde unendlich finster; nur
Mèra konnte die Seelenqual hinter der Fassade erkennen,
nur sie konnte so tief durch seine Augen bis zum Grund
seiner Seele blicken.
„Natürlich, Hoheit“, kratzte Athónons Felsenstimme
erstickt. Man schlug einer Halbgöttin keine Bitte ab,
schon gar nicht, wenn es um das Wohl der Welt ging.
Athónon hatte nie viel mit der Prophezeiung von Theb
Nor zu tun gehabt, um über die Bedrohung von Hevas
Leib zu lernen – er war vielmehr direkt in die Bedrohung
hineingeschlittert, und in die Vier Könige, von denen die
Prophezeiung berichtet. Man brauchte ihm wahrlich nicht
zu erklären, wie nah seine Welt sich am Abgrund befand.
Jade starrte Mèra unsicher an. Als ihre Blicke sich trafen,
senkte Jade den Kopf und murmelte: „Hoheit ...“
„Nicht doch!“, seufzte Mèra und ergriff Jades Arm. „Ich
mag das nicht. Das Dorf funktioniert hervorragend, wir
brauchen keine ,Hoheit‘.“
144 Für einen Moment blieb Mèras undeutbarer Blick
an Jades schwarzem Haar hängen. Doch dann stand
sie auf und streckte sich. Sie schien ihre Umgebung
ganz neu wahrzunehmen und starrte jeden Strauch mit
einem dünnen Lächeln an. „Mein wahrer Geist hat viele
Jahrhunderte geschlafen“, flüsterte sie, während sie sich
umsah. Als sie die Augen schloss und ins Dorf schlenderte,
erklang plötzlich Lautenmusik aus der Ferne; Zeeris,
das Teufelchen, hielt sich entsetzt die Ohren zu ob der
„grässlichen“ Klänge.

Unbemerkt vom restlichen Dorf zog Mèra sich zurück.


Sie meditierte fast den ganzen folgenden Tag, um die
drei anderen Könige und die Dämonen aufzuspüren.
Nur zur Mittagszeit gönnte sie sich eine Pause, in der sie
die drängendsten Fragen der neugierigen Dorfbewohner
beantwortete, die bis dahin natürlich von dem
ungewöhnlichen Ereignis und von Athónons Rückkehr
erfahren hatten – trotz Athónons eindringlicher Bitte an
Zeeris und Taffi, es für sich zu behalten ...
Mèra vermied es, voreilige Antworten auf die Frage
zu geben, ob sie das zersplitterte Elfenvolk vereinen und
gegen das Imperium der Chimärier führen würde; zuerst
musste das Dämonenproblem im Keim erstickt werden.
Es war schon einmal zu groß für die Sterblichen geworden,
weil es nicht früh genug gelöst worden war.

Selbst Taten bewirken nichts,


Wenn die Welt nicht bereit ist.
In Wahrheit wurde die Welt nicht geändert, 145

Sie änderte sich selbst, als sie es für nötig hielt.

Doch als die Herrscher endlich verstanden,


dass sie keineswegs mächtig und wichtig waren,
sondern nur Werkzeuge des Bösen,
War es längst zu spät.

Athónon war Laura aus dem Weg gegangen, als sie ihn
gesucht hatte. Er hatte jedoch die kaum mehr erkennbaren
Reste der Kastanienfiguren, die Laura als Kleinkind für
ihn gebastelt hatte, zu Füßen der Strickleiter gebettet, die
zum Eichenbaumhaus von Jades Familie hinaufführte.

Mèra wandte sich an Jade: „Ich hätte gern auch eine


Nachtelfin dabei. Willst Du mit mir reisen?“
Jade erschrak. Sie hob abwehrend die Hände und
stammelte: „Ich ... meine Familie ... Ich bin hier doch
als Anführerin der Wache zuständig. Außerdem – wieso
solltest Du eine nachtkranke Elfin brauchen?“
Mèra untermalte ihre Schilderung mit gelegentlichen
Handbewegungen. „Es wird nicht für lange sein. Und
Deine ältere Tochter ist doch schon ausgewachsen und
selbstständig. Einen neuen Hauptmann finden wir
146 außerdem leicht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Natürlich
kannst Du nicht wissen, was es mit der ,Krankheit‘ der
Nachtelfen auf sich hat, also will ich es Dir sagen: Die
Nachtelfen kündigen das Auftauchen von Dämonen an
– aber nur, weil die Nachtelfen eine göttliche Waffe gegen
unsere Feinde sind. Nur ein Nachtelf kann Dämonen
ohne besondere Waffen oder Zauber verletzen. Nimm
einen Stein und Du kannst ihnen damit den Schädel
einschlagen. Die Gabe kann so weit trainiert werden, dass
Du sogar ein gewöhnliches Schwert so einsetzen könntest,
auch wenn es eine Weile dauert, diesen Punkt zu erreichen.
Niemand, der nicht solchen Blutes ist, vermag das, nicht
einmal Athónon. Außerdem spüren Nachtelfen die Nähe
von Dämonen von Natur aus, ohne Zauberei, und auch
das vermag nicht einmal Athónon. Hast Du nicht immer
ein komisches Gefühl in der Nähe des Teufelchens?“
Jade nickte ungläubig und legte die Hände nervös
ineinander.
„Siehst Du, diese Wesen sind zum Teil dämonischer
Natur.“
Jade nahm etwas Mut zusammen und fragte: „Wieso
vertragen wir dann die Sonne nicht, wenn wir göttliche
Geschöpfe sind?“
Mèra senkte den Blick und strich sich mit einer Hand
über den anderen Arm. Sie antwortete erst nach einigen
Lidschlägen, mit einer leisen, fast kleinlauten Stimme.
„Besser habe ich es damals nicht hinbekommen, ich war
noch so jung, sterblich ...“
Jade brauchte einen Augenblick, bis sie verstand, und
wich mit offenem Mund zurück. „Darum sind die Götter
kein Teil unserer Kultur?“, hauchte sie, bekam jedoch 147
keine Antwort.
„Ich brauche Dich hierbei, Jade. Die Göttin Heva
braucht Dich, so unglaubwürdig das auch klingen mag“,
flüsterte Mèra und musterte Jade traurig.

Jade stürmte mit gesenktem Kopf durch das Walddorf.


Machte riesige Schritte mit ihren langen Beinen und ließ
bewohnte Buchen, Eichen, Pappeln und Kastanien hinter
sich. Überall plapperten die Elfen schon wieder von der
bevorstehenden Feier und wie sie die Blütengirlanden am
besten aufhängen sollten. „Ihr begreift einfach gar nichts“,
zischte Jade verärgert bei sich.
Die Nachtelfin kletterte die dicke, knotige Strickleiter
in ihre Wohneiche hinauf. Ein kräftiger Elf lächelte ihr
darin entgegen und rief: „Hallo, meine Liebste! Das Essen
ist gleich fertig.“ Der Elf saß im Schneidersitz an einem
kleinen Tischchen, das aus dem Eichenstamm zu wachsen
schien, und schnitt duftende Kräuter, hauptsächlich
Waldmeister und Minze. Stein- und Weißklee lagen bereits
geschnitten in einer Honigschale bereit; sie machten sich
weniger duftend bemerkbar, doch insbesondere Steinklee
galt unter Elfen als Delikatesse.
„Endáruel“, seufzte Jade und konnte nicht recht
lächeln.
Endáruels Miene gefror. „Was ist los?“, hauchte er und
ließ das kleine Messer aus der Hand rutschen.
Verlegen druckste Jade herum, blickte nach links und
148 rechts, nur nicht ins Gesicht ihres Gefährten, und fragte
schließlich: „Wo sind unsere Töchter?“
„Hast Du geweint?“, fragte Endáruel erstaunt, stand auf
und nahm sie in den Arm. Sie senkte nur den Blick.
„Ich muss für eine Weile fort“, flüsterte sie.
„Doch nicht mit Miriam, ich meine Mèra und Athónon?
Sag, dass Du diesen Irrsinn nicht mitmachst! Deine
Familie und Dein Dorf brauchen Dich!“, redete Endáruel
auf sie ein.
Vom Dach der Hütte sprang eine Halbelfin mit kurzen,
blonden Locken durchs Fenster ins Innere. „Ich komme
auch mit!“, rief sie wild entschlossen, baute sich vor Jade auf
und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre Ähnlichkeit
mit Jade war an Gesicht und Statur nicht zu übersehen,
auch wenn ihren großen, hellbraunen Augen und ihrem
Haar der elfische Glanz fehlte und sie ein paar Pfund mehr
auf den Rippen hatte.
Jade seufze kopfschüttelnd, winkte schwach ab und
sagte müde: „Das hatten wir doch schon so oft, Laura.
Du wirst auf keinen Fall das Dorf verlassen, um irgendein
Abenteuer zu riskieren. Das bringt nur Ärger und Qualen
hervor.“
„Dann darfst Du auch nicht gehen“, antwortete Laura
und grinste keck. Doch schon im nächsten Moment wurde
ihre Miene trauriger. „Außerdem bin ich doch nicht nur
Ärger und Qualen, oder, Mutter?“
Erschrocken blickte Jade hoch und starrte Laura mit
offenem Mund an.
„Laura ist wieder gemein!“, quietschte es vom Dach der
Hütte.
Endáruel sah hoch, als könne er durch das Dach sehen. 149
„Komm sofort wieder hier rein, Lishárial!“ Zu Laura sagte
er vorwurfsvoll: „Wieso ermutigst Du sie immer zu so was?
Wenn sie da runterfällt!“
Laura neigte angriffslustig den Kopf und erwiderte:
„Du machst Dir zu viele Sorgen um die kleine Prinzessin.
Sie ist mehr Elfin als ich, schon vergessen? Ihr Elfen habt
die Natur doch im Blut.“
Ein junges Elfenmädchen kletterte zum Fenster hinein,
weitaus weniger geschickt als Laura. Plötzlich rutschte
sie mit einem Fuß ab und knallte mit dem Bauch auf
die runde Fensterkante. Sofort fing sie an zu weinen und
keuchte in Lauras Richtung: „Das ist alles Deine Schuld!
Halbmensch! Trampel!“
Laura stemmte kokett eine Hand in die Hüfte und
grinste böse: „Wer ist hier der Trampel?“
„Schluss jetzt!“, rief Jade und wischte sich über die
Augen. Sie eilte zu Lishárial und umarmte sie innig. Alle
schwiegen. „Ich muss Euch für eine Weile verlassen“, sagte
Jade dann in die Stille, mühsam beherrscht.
„Ja, und ich komme mit“, wiederholte Laura ernst.
„Nein!“, schrie Jade laut, beruhigte sich aber sofort
wieder.
„Immerhin bin ich die beste Kämpferin meines
Jahrgangs bei der Dorfwache“, protestierte Laura.
„Ich dachte, Du hättest Deine Lektion inzwischen
gelernt“, knurrte die Nachtelfin darauf.
Lauras Miene verfinsterte sich; sie erinnerte sich nur
ungern daran, wie sie vor versammelter Mannschaft von
ihrer Mutter binnen zweier Lidschläge entwaffnet und
150 mit einem schmerzhaften Fausthaken zu Boden geschickt
worden war, als sie das letzte Mal dachte, sie sei ja schon
eine große Kämpferin. „Ich gehe doch nicht allein“, murrte
sie schließlich kleinlaut.
„Es ist viel zu gefährlich für Dich. Du bleibst hier“, befahl
Jade mit schneidendem Ton. Sanfter fuhr sie fort: „Es wird
ohnehin kein Kämpfer benötigt. Mèra braucht mich, weil
ich eine Nachtelfin bin. Nachtelfen spüren ... Feinde.“
Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie erwähnte mit keinem
Wort, dass ihre Gabe in Wahrheit darin bestand, Dämonen
zu spüren. Dass sie gebraucht wurde, um infernalische,
ebenso mächtige wie grausame Kreaturen aufzuspüren,
die eine sterbliche Elfin ganz beiläufig töten konnten und
von denen die meisten Zweibeiner annahmen, dass es sie
gar nicht gab, außer in den dunkelsten Schauermärchen.
„Ich würde so gern bei Euch bleiben!“, rief Jade, „Ihr
wisst gar nicht, wie viel Angst ich habe! Aber Mèra sagt,
es geht um unser ganzes Volk, um sämtliche freien Völker,
und ich glaube ihr.“ Niemand sagte etwas, quälende Stille.
Plötzlich grinste Jade schief und wisperte: „Ich reise mit
einer Halbgöttin und einem großen Helden, was soll
mir schon passieren?“ Sie biss sich auf die Lippe, denn
niemand konnte mitlächeln. Und niemand hatte ihr die
Begründung geglaubt, warum eine Nachtelfin gebraucht
wurde.

Jade und Athónon erklärte Mèra später am Abend: „Ich


habe Srrig aufgespürt und glaube, dass ein weiterer Freund
ganz in dessen Nähe ist, aber von einem magischen Feld
verborgen wird. Ob er sich selbst tarnt oder getarnt wird,
kann ich nicht sagen. Ich versuche, so wenig Magie wie 151
möglich fließen zu lassen – nicht mehr, als andere es auch
könnten, sodass ich nicht auffalle. Ich darf die Dämonen
nicht vorwarnen und auch nicht auf meine Fährte locken,
falls sie zu stark für mich sind. Ich konnte sie nicht finden,
aber ich konnte – zumindest während der magischen
Suche – deutlich spüren, dass sie da sind, direkt im
Nacken der Göttin Heva. Als ob die plötzliche Rückkehr
meiner Erinnerung nicht Zeichen genug wäre. Wir werden
konventionell auf Pferden reisen müssen, denn wenn ich
uns teleportiere, wäre das wie ein Leuchtfeuer in dunkler
Nacht. Wohl aber kann ich unsere Pferde verzaubern, dass
sie besonders schnell und ausdauernd werden.“

So machten sich also nach Einbruch der Dunkelheit


die Halbgöttin, der Gnom und die Nachtelfin auf, die
imperiale Grenze unbemerkt zu überqueren und den
versprengten Freund im Feindesland zu finden. Drei
Rappen, ein intelligentes Chamäleon und ein Teufelchen
begleiteten sie. Die Zwanzig-Jahr-Feier des Elfendorfes
fand ohne sie statt.
Jade verbarg ihr Gesicht, während sie sich vom
Dorf entfernten. Über der Schulter trug sie Endáruels
ausgehängten Jagdbogen. Sie hatte ihr Kleid gegen ein
Lederwams und ebensolche Beinlinge getauscht, außerdem
trug sie ein eisernes Kettenhemd unter dem Wams.
Mit feuchten Wangen sah Endáruel den Gestalten nach.
Lishárial weinte in seinem Arm.
Auch Laura seufzte traurig. Immerhin hatte sie nun
einen Blick auf den legendären Athónon Elfenfreund
152 erheischt, selbst wenn sie nicht mit ihm hatte reden
können. Irgendwie war sie enttäuscht von ihm.
Athónons Miene war völlig versteinert. Die Götter hatten
ihm vor fast dreißig Jahren die Gabe der Vorhersehung
verliehen, die ihm manchmal Träume oder gar kurze
Visionen bescherte – und was er vor seinem geistigen Auge
sah, wenn er an die Zukunft dachte, gefiel ihm überhaupt
nicht.
6 153

Die kleine Reisegruppe um Mèra trabte schweigend


gen Westen. Furcht und düstere Ahnungen verbanden sie,
es gab keinen Anlass zum Reden. Jade wurde schon jetzt
von Heimweh und der Angst um ihre Familie ergriffen,
so als packte sie eine kalte Hand an der Kehle. Manchmal
sträubten sich ihre Nackenhaare.
„Heda, wieso sitzt Du ganz allein hier?“, fragte ein junger,
kräftiger Waldläufer sie. Fast zwanzig Jahre war das nun
her.
Jade saß am plätschernden Dorfbach und tauchte
gedankenverloren die nackten Füße ins Wasser. Mit den
Armen umschlang sie einen gewundenen, dicken Buchenast,
der schon seit Langem am Bachufer seine letzte Ruhe gefunden
hatte. Das Abendrot verblich am Horizont, zwischen der
duftenden Wiese und den dunklen Wäldern dahinter.
Mildes Blätterrauschen stimmte die Nachtelfin schläfrig und
melancholisch. Der inbrünstige Dämmerungsgesang der Vögel
zerriss ihr fast das Herz.
Herabhängende Birkenzweige hatten Jades empfindliche
Haut vor den letzten Sonnenstrahlen geschützt. Jetzt kreuzten
die Wolkenschiffe bereits durch den tiefblauen Himmel über
dem Bach. Nur in der Ferne blühte noch eine milde Spur
der majestätischen Sonnenröte nach. Jade erinnerte sich ganz
genau an diesen Abend.
„Was?“, hatte sie plötzlich nur erschrocken zurückgefragt,
als der Waldläufer schon etwas betreten wieder hatte gehen
wollen, da er keine Antwort auf seine Frage erhalten hatte.
154 „Ich fragte, wieso Du hier ganz allein sitzt“, wiederholte der
Waldläufer. „Wir anderen sitzen alle am großen Grillplatz.
Ich kam vorhin von der Jagd, ich habe einen Bären erwischt.
War ganz schön anstrengend, das Tier herzuschleppen, dabei
war der Bär noch recht jung.“
„Du hast einen Bären bis ins Dorf geschleppt? Allein?“,
staunte Jade und betrachtete das Gesicht des Waldläufers,
und auch seine breiten Schultern.
Der Waldläufer grinste dünn zurück und erwiderte: „Du
hast mir abermals nicht geantwortet.“
Jades Lächeln verblühte im selben Moment, in dem auch
der letzte, rosige Schimmer der Abendsonne verging. „Sieh
doch mal genau hin“, hauchte sie und strich durch ihr
schwarzes Nachtelfenhaar. Dann strich sie über ihren Bauch,
der deutlich gewölbt war und sicher nicht zu ihren schlanken
Armen und Beinen passte.
„Ich kann keinen Grund entdecken, wieso Du einsam und
traurig sein müsstest“, sagte der Waldläufer sanft und legte
Jade ganz vorsichtig die Hand auf die Schulter.
Erschreckt sah die Nachtelfin in den Bach und schwieg.
Der Elf setzte sich zu ihr, aber nicht so nah, dass ihre Schenkel
sich berührt hätten; er wusste durch die Gerüchteküche des
Dorfes, dass sie das nicht mochte. Er zog sich ebenfalls die
Stiefel aus und tauchte seine Füße ins glucksende Wasser.
Nach einer kurzen Weile brach Jade das Schweigen. „Sie
reden über mich, als hätte ich etwas verbrochen“, berichtete sie
niedergeschlagen. „Sie halten nicht mehr allzu viel von mir.
Als sie mich zur Anführerin der Dorfwache gemacht hatten,
um der Verräterin Talákir nachzufolgen, wussten sie ja noch
nicht, dass ich ein paar Tage später mein blondes Haar gegen
ein schwarzes Leichentuch eintauschen würde, und auch noch 155
schwanger von ... aus der Tiefenwelt heimkehren würde. Aber
das hast Du ja sicher alles schon ganz oft von denen gehört.“
„Ja, allerdings“, stimmte der Waldläufer zu und kramte
in einem kleinen Ledertäschchen an seinem Gürtel. Wortlos
hielt er Jade ein kleines Kupferfläschchen mit einem Korken
aus gerollter, fettiger Rinde hin.
Jade starrte es an wie eine Maus die Schlange. „Was ist
das?“, fragte sie bebend, obwohl sie die Antwort bereits
ahnte.
„Wenn die Gerüchte stimmen, wie Du ...“, druckste der
Waldläufer herum, „ich meine ... Also, Du musst es nicht
bekommen. Du hast noch ein paar Wochen Zeit, bevor Du
dies hier spätestens trinken musst. Doch wenn Du es bis zum
nächsten Neumond nicht trinkst, ist es zu spät. Dann könnte
Dich der Trank vielleicht umbringen. Jetzt würde es Dir nur
ein paar Tage schlecht gehen, aber ...“
Jade umklammerte ihren Bauch und sah den Waldläufer
mit einer Mischung aus Angst und Abscheu an, aber auch mit
einer gewissen Dankbarkeit. Sie schüttelte jedoch den Kopf.
„Nein, ich kann mein Kind nicht töten!“ Verzweifelt starrte
sie den Waldläufer an. „Es lebt und bewegt sich in mir!“, rief
sie leise, „ich kann es doch nicht töten!“ Was er ihr vorschlug,
galt unter Elfen gemeinhin als Scheußlichkeit.
Der Waldläufer schaute mit gepresster Miene in den Bach.
Ohne Jade anzublicken, raunte er: „Es ist aber nicht wirklich
Dein Kind. Es ist ...“
„Ein Monster?“, schluchzte Jade und schlang die Arme
noch enger um den Bauch. „Die anderen sagen das. Ich weiß
es aber nicht!“, wisperte sie unglücklich und zog die Beine an.
156 „Meine innere Stimme sagt, dass es ein unschuldiges Kind
ist“, beharrte sie.
Der Waldläufer seufzte ganz leise. Mit ernstem Ton erklärte
er dann: „Das Gerede wird nicht unbedingt besser, wenn Du
das Kind bekommst. Und wenn es wirklich unschuldig ist
– willst Du dem Kind ein Leben in diesem Dorf antun, mit
diesem Gerede?“
Jade zog die Schultern hoch und schloss die feuchten
Augen. „Was geht es Dich überhaupt an? Ich kann es nicht
töten“, murmelte sie. „Aber fortgehen will ich auch nicht.
Diese Sippe hier ist doch meine Heimat! Ich habe nichts falsch
gemacht, wieso sind alle nur so eingefahren?“
„Einen Vater wird Dein Kind auch nicht haben, wenn
Du weiter allein am Bach sitzen bleibst“, versetzte der
Waldläufer, anstatt eine Antwort zu geben.
Als Jade gerade einen böswilligen Kommentar von sich
geben wollte, spürte sie seine warme, kräftige Hand auf ihrem
Rücken. Unschlüssig schaute sie zur Seite, wo der Waldläufer
sie zaghaft anlächelte. „Wie heißt Du überhaupt?“, fragte sie
etwas unwillig.
„Endáruel. Und Du heißt wie Deine Augen, Jade. Ein
Menschenname, nicht? Aber er passt wundervoll zu Dir“,
flüsterte der Waldläufer.
Jade musste gerührt lächeln und stammelte leise einen
Dank. „Wieso gibst Du Dich mit mir ab? Du wirst Dir
Deinen Status ruinieren“, raunte sie sarkastisch.
„Ich habe Dir schon immer gern zugesehen, bei was auch
immer“, begann Endáruel geheimnisvoll. Als Jade ihn etwas
seltsam musterte, wechselte er schnell das Thema. „Du sagst,
es bewegt sich schon? Darf ich ’s mal fühlen?“, fragte er.
Jade nickte mit einem verlegenen Strahlen. Zärtlich ergriff 157
sie Endáruels Hand und legte sie auf ihren Bauch. Anders als
Menschen, kannten Elfen kaum soziale Rituale und gingen
offen und direkt miteinander um, folgten ausschließlich ihren
Gefühlen, ohne viel zu denken.
Die Berührung ließ sie wohlig schaudern, auch wenn sie
ihre Reaktion zu unterdrücken versuchte. „Ich glaube, es wird
ein Junge. Er hat mich schon ein paarmal getreten“, flüsterte
sie, während sie sich in Endáruels liebevollen Augen verlor
und das berauschende Knistern seiner Nähe genoss. Sie schloss
die Augen und legte den Kopf ein wenig in den Nacken, als
seine Hand ihr Brustbein emporstrich.
Als Endáruel sie jedoch umarmen wollte und ihrem Gesicht
näher kam, erschrak sie plötzlich – sie hatte ihre qualvollen
Erinnerungen aus der Gefangenschaft der Tiefenweltler doch
noch nicht unter Kontrolle. „Verzeih!“, schluchzte sie. „Ich
sehne mich so sehr danach, aber ...“ Ihre Lippen wurden ein
weißer, zitternder Strich.
Endáruel fuhr mit dem Zeigefinger die geschwungenen
Linien ihres Ohres nach, während sie furchtsam von der Seite
in sein Gesicht schielte. „Ich werde Dich schon ablenken und
Dir neue Erinnerungen schenken“, flüsterte er und küsste nur
ihre Hand.
Zu Tränen gerührt, wagte sie sich abermals in seine
warmen Arme vor; als sie Angst bekam, hielten sie sich
einander noch fester umschlossen, bis Jade sich in Endáruels
Armen entspannen konnte.
Doch gerade als Jades Herz vor neuer Leidenschaft zu
rasen begann und sie raubtierhaft Endáruels Blick fixierte,
näherten sich Schritte. Jemand räusperte sich. „Wir essen
158 schon. Kommst Du, Endáruel?“, fragte ein Elf, der Jade
keines Blickes würdigte. Sichtlich pikiert musterte er jedoch
den Waldläufer, wie er die Nachtelfin umschlungen hielt.
„Wir ... kommen gleich“, betonte Endáruel demonstrativ.
Der Elf rührte sich für zwei Lidschläge überhaupt nicht.
„Wie Du meinst“, antwortete er dann hochnäsig und
verschwand wieder.
„Geh nur“, seufzte Jade und löste sich von Endáruel.
Er zog sie mit sanfter Bestimmtheit zu sich zurück. „Was
wäre ich für ein Vater, wenn ich so wenig zu Dir und dem
Kind halten würde?“, fragte Endáruel achselzuckend.
„Außerdem ist es jetzt eh zu spät, in wenigen Lidschlägen
weiß das ganze Dorf Bescheid.“
Jade hielt die Spannung nicht mehr aus. Sie grub ihre
Hände in Endáruels Haar und küsste ihn.
Die Nachtelfin schluchzte plötzlich laut genug, dass
Mèra und Athónon sich ihr alarmiert zuwandten. „Was
hast Du?“, fragte der Gnom mit so viel Anteilnahme in
der Stimme, wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.
Jade schüttelte knapp den Kopf und winkte mit einem
traurigen Lächeln ab. „Bloß Heimweh“, erwiderte sie
sehnsüchtig und wischte sich über die Augen.

„Ich heiße Srrig“, sagte das Tigerwesen in der


Dunkelheit.
„Du erinnerst Dich jetzt an mehr?“, fragte Taren. Er war
unschlüssig, ob dies ein gutes oder schlechtes Zeichen war;
rationale und gläubige Seite rangen in dem Tempelkrieger
miteinander. Trotz der Dunkelheit spürte er, wie Srrigs 159
gefährliche, tierhafte Ausstrahlung wuchs.
„Langsam aber sicher kommt mehr und mehr zurück,
ja. Der Mann, den ich finden muss, heißt Randolph.
Kennst Du diesen Namen?“
„Nein, nie gehört“, antwortete Taren nachdenklich.
„Du bist also der Diener eines Gottes. Kannst Du
Deinen Gott bitten, uns eine Fackel zu schicken?“, fragte
Srrig.
Taren schnaubte verächtlich und brummte:
„Normalerweise würde er wohl antworten, dass niemand
eine Belohnung verdient, der so dumm ist, dass er in eine
stockdunkle Höhle ohne Fackel läuft, aber ... He!“
„Was ist?“, fragte Srrig aufgeregt.
Mit einem seltsam gepressten Ton antwortete Taren: „Ich
habe gerade eine Fackel gefunden, bin draufgetreten.“ Der
Tempelkrieger murmelte etwas – und die ölig riechende
Fackel entzündete sich mit einer zischenden Stichflamme.
„Dein Gott ist mir sympathisch!“, meinte Srrig
zufrieden.
Taren murmelte ein Dankesgebet, bevor er mit der
Fackel über dem Kopf vorausging, die schwere Armbrust
in der anderen Hand haltend, hinein in die Tiefe der
Höhle.
Ein Schwarm Fledermäuse rauschte wie aus dem Nichts
über ihre Köpfe hinweg, doch weder Srrig noch Taren war
besonders schreckhaft, und so warteten sie einfach einen
Moment, bis die Tiere fort waren.
„Wer hier wohl sonst noch wohnt?“, wunderte sich Srrig
und klang beinahe neugierig, während Taren der Gedanke
160 überhaupt nicht gefiel, dass sie hier vielleicht nicht mit den
Fledermäusen allein waren.

„Wenn Vater das erfährt, wird er Dich in der


Hütte festbinden!“, rief Lishárial und blickte zu ihrer
Halbschwester hoch.
Laura wirbelte herum und sprang so dicht auf ihre kleine
Schwester zu, dass diese erschrocken zurückwich. „Vater ist
nicht da!“, rief sie und drückte Lishárial den Zeigefinger
auf die Stirn. „Ich bin fort, bis er wiederkommt. Petz ihm
ruhig alles, aber er wird mich nicht einholen!“, giftete
Laura das Mädchen an. Etwas ruhiger fügte sie hinzu:
„Geh endlich ins Bett, es ist schon spät.“
Lishárial zog einen Schmollmund und stampfte zornig
mit dem Fuß auf.
Die Halbelfin warf sich einen vollgepackten
Lederrucksack auf den Rücken und band sich um die
dunklen Lederbeinlinge einen breiten Gürtel, an dem eine
lederne Schwertscheide baumelte. Andächtig ergriff sie
dann ein eisernes Kurzschwert, eine Menschenwaffe, und
betrachtete es.
Die Klinge war nicht sehr breit und schien nicht sehr
spröde. Laura kannte sich mit Eisen nicht aus, hatte aber
mal gehört, dass nur mehrfach gefaltetes Eisen eine solche
Qualität erreichte. Ungefaltete Eisenklingen waren oft
handbreit, somit schwerer, und brachen schneller.
Der Griff bestand aus zwei Hälften eines prächtigen
Hirschhorns, die das Eisen umschlossen. Vier Eichenstifte
waren mit einem Holzhammer durch die Griffhälften 161
und die vorgesehenen Löcher im Eisen getrieben worden,
um den Griff unlösbar an die Waffe zu binden, ganz
egal wie hart damit zugeschlagen wurde. Am Knauf
teilte sich das Horn, und obgleich die sich verjüngenden
Hälften unterschiedlich waren, besaßen sie die natürliche
Ästhetik des Hirschgeweihs, von dem sie stammten. An
der Oberseite des Griffes diente ein massiver Bronzeklotz
als Handschutz und Parierscheibe. Laura empfand die
Eisenklinge trotz der Faltung noch als breit und dick. Der
Lohn für die schwere Klinge war ihre Stabilität. Die Seiten
der Klinge waren dünner als der Rest, aber nicht wirklich
scharf. Sie dienten dazu, feindliche Hiebe zu parieren
oder eine Metallrüstung zu durchschlagen, nicht so sehr
dem Schneiden. Die Spitze der Waffe dagegen, in Form
eines Dreiecks, war bestens geschärft. Sie diente dazu,
Leder, Kleider und ... Fleisch zu durchbohren und mit
Leichtigkeit zu zerteilen.
Laura schluckte schwer. Diese Waffe war kein
Übungsgerät aus Holz mehr; sie war auch kein Werkzeug
und keine Jagdwaffe für Tiere. Sie diente einem einzigen
Zweck: einem anderen Zweibeiner das Leben zu nehmen.
Selbst wenn er dagegen vorbereitet war. Wenn Laura diese
Waffe wirklich einsetzte, waren Spiel und Übung vorbei
und tödlicher Ernst hatte begonnen. Niemand würde
dann „Stopp!“ rufen und alle – gespielte – Gefahr wäre
vorbei, wenn sich jemand einen Knöchel verstauchte oder
sich einen blutigen Finger holte.
Die Waffe gehörte ihrem Vater. Laura fragte sich
unwillkürlich, woher die Kerben in den Klingenseiten
162 und in der Spitze stammten, und ob schon einmal Blut
am Eisen gehaftet hatte. Überhaupt konnte sie sich nicht
vorstellen, weshalb ihr Vater ein Mordinstrument der
Menschen besaß. Sie hatte ihn nie zu fragen gewagt.
Vielleicht wollte sie es nicht wissen, war ihr Vater für sie
doch der Inbegriff alles Reinen und Guten und niemand,
der in der Lage sein konnte, das Blut anderer Elfen, oder
auch nur Menschen zu vergießen.
Die Halbelfin wollte unbedingt eine große Kriegerin
werden und Abenteuer erleben – wie ihre Mutter. Doch
jetzt plötzlich zog sich ihr Magen zusammen und sie stellte
sich vor, wie dieses Mordwerkzeug in ihrer Hand warmes
Blut verspritzte, Knochen brach oder das Fleisch eines
anderen Elfen zerschnitt und zerriss.

Lishárial holte mehrmals Luft, als wollte sie etwas


sagen, doch sie tat es nicht. Sie war konfliktscheu wie die
meisten Elfen.
Lauras Miene wurde entschlossen und hart, als sie
die wertvolle Menschenwaffe einsteckte. Ohne ein Wort
wandte sie sich zum Gehen, obwohl ihre Knie weich
geworden waren und sie Übelkeit im Hals spürte.
Lishárial wisperte leise: „Ist das Mutters zweites
Kettenhemd, was Du da unter der Tunika trägst? Ist das
auch aus diesem grau glitzernden, stinkenden Metall
gemacht?“
Laura sah ihre kleine Schwester überrascht an und
nickte. „Ja, auch aus Eisen“, antwortete sie. „Nicht alles,
was von Menschen stammt, ist schlecht für Elfen, ob Du ’s
glaubst oder nicht.“ Sie betastete demonstrativ ihre Ohren,
die zu kurz und zu rundlich waren, als dass es reinblütige 163
Elfenohren hätten sein können. Und auch ihr oftmals
ungestümes Verhalten galt im Dorf als höchst unelfisch.
Lishárial druckste herum und schlang die Arme um ihren
eigenen, dünnen Körper. Laura beugte sich zu ihr herab
und küsste sie hastig auf die Stirn. „Ich komme wieder,
und Mutter bringe ich mit. Gib Vater einen Kuss von mir.
Sag ihm, ich leihe mir seine Waffe selbstverständlich nur
aus.“
Eilig hangelte die Halbelfin sich die Strickleiter aus der
Hütte hinab und sprang in den Sattel des paratstehenden
Rappens. An kurzen Zügeln, beinahe Kopf an Kopf mit
dem Tier, sprengte sie aus dem Dorf. Einige verdutzte
Elfen konnten sich gerade noch aus der Bahn werfen.

Als Jade zusammengerollt schlief und Athónon mit der


Nachtwache an der Reihe war, setzte er sich zu Mèra und
fragte leise: „Wieso habt Ihr Jade erzählt, Ihr würdet sie
wegen ihres Dämonengespürs brauchen? Ihr könnt das
selbst viel besser, ohne aufwendige Magie.“
Mèra setzte sich auf und nickte. „Wir werden sie
brauchen, wenn auch nicht dafür. Vertraut mir, mein
Freund.“
„So wie Meister Tugibenn damals ,gebraucht‘ wurde?“,
zischte Athónon kalt.
Mèra sah überrascht in das wutverzerrte Gesicht des
Gnoms. Plötzlich wurde sie distanziert. Sie fuhr sich mit
den Händen langsam durch das graublonde Haar, bevor
164 sie weiterredete. „Die Antwort ist ,Ja‘, Athónon, und es tut
mir wirklich – “
Athónon wirbelte auf der Stelle herum und rüttelte Jade
wach. „Reite sofort zurück zu Deiner Familie! Sonst wird
dies Deine letzte Reise! Bitte höre auf mich!“
„Was?“, murmelte Jade nur verschlafen und rieb sich die
Augen.
Auf Athónons Rucksack schlafend lag Taffi. Das
Chamäleon erwachte nun, hob den Kopf und horchte, was
vorging. Von Zeeris war nichts zu sehen oder zu hören.
Athónon packte Jades Gesicht mit beiden Händen
und sah sie eindringlich an. Seine faltigen Augenschlitze
wurden etwas größer. Er wiederholte: „Reite sofort zurück!
Sie will Dich opfern, aber das lasse ich nicht zu.“
Erschrocken starrte Jade zwischen Athónon und Mèra
hin und her. Mèras Blick auf Jade war hart wie Stein.
„Was geht hier vor?“, flüsterte Jade ungläubig.
„Reite nach Hause!“, rief Athónon abermals und ließ
sie nun los.
Jade erhob sich. „Mèra?“, fragte sie unsicher in deren
Richtung und rieb unbewusst die Hände ineinander.
Mèra stand jetzt ebenfalls auf. Sie schloss die Augen
und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Arme hingen
reglos herab. Nach einem kurzen Moment flüsterte sie,
ohne die Augen zu öffnen: „Meine Vision ist unverändert.
Geh nach Hause und lebe mit Deiner Familie, noch für
ein paar Jahre. Dann werdet Ihr alle sterben. Oder geh mit
uns und finde auf der Reise den Tod. Aber rette dadurch
Deine Familie und die freien Völker.“ Nun öffnete Mèra
die Augen und sah Jade ungerührt ins Gesicht. „Ich wollte
Dir diese Gewissheit ersparen, weil ich Dein Herz und 165
Deine Wahl kenne.“
Jade taumelte zurück und starrte furchtsam ins Leere.
Langsam hob sie die Hände vor ihr Gesicht und stürzte
rücklings zu Boden. Athónon setzte sich neben sie, mit
seiner Miene aus Stein, und nahm sie in den Arm.
Jades leises Schluchzen schien Mèra nicht anzurühren,
sie wandte sich ab. Sie roch Jades Angst und Athónons
Zorn, so deutlich, als hätten sie es ihr ins Gesicht
geschrien. Mèras Blick striff über den Nachthorizont, über
die dunklen Wolkenschiffe und zu den Sternen empor, zu
den Göttern, denen Zeit noch weniger als ihr bedeutete.
Sie flüsterte uralte Worte, die Athónon zwar hörte, aber
nicht verstand. Die Worte klangen wütend, gleichzeitig
aber distanziert. Wie von jemandem, der die Wut nicht
ehrlich fühlte.
Taffi sah die Zweibeiner im steten Wechsel stumm an.
Plötzlich erschien Zeeris neben Mèra und schwebte vor
ihrem Gesicht. Das grau-rote Teufelchen verschränkte im
Fliegen die Arme und zog einen Schmollmund. Mèra legte
nur abwartend den Kopf schräg.
„Also, ich finde das gemein von Dir, so was zu sagen!“,
krähte Zeeris. „Cesius hat mal gesagt, dass es immer eine
Wahl gibt! Weil das Schicksal nie feststeht!“
Mèra hauchte eisig zur Antwort: „Ja, richtig, es gibt
immer eine Wahl. Die Frage ist jedoch, ob uns die
Alternative besser gefallen würde.“
„Du entscheidest einfach so über unser Leben und
fragst vorher nicht mal kluge Wesen wie Athónon oder
Taffi!“, protestierte Zeeris unbeholfen.
166 Mèra konnte nicht recht lächeln. Sie wusste, dass Zeeris
innerlich durchaus klar war, dass die Halbgöttin auf viele
Jahrhunderte Lebenserfahrung zurückgriff.

Laura hatte das Dorf inzwischen weit hinter sich


gebracht und ließ ihren Rappen gehen, damit er sich
etwas ausruhen konnte. „Wie weit sind die denn noch
gekommen, verdammt?“, murmelte sie zu sich. Der
Rucksack der Halbelfin schaukelte hinter ihr ein wenig
am Sattel, wo sie ihn festgebunden hatte. Hin und
wieder drehte sie verschreckt irgendeinem Gebüsch am
nächtlichen Wegrand das Gesicht zu, weil sie ein Geräusch
gehört hatte. Doch oft genug ließ das monotone, dumpfe
Klopfen der unbeschlagenen Pferdehufe sie abschweifen.
Sie stellte sich vor, wie sie mit dem wertvollen
Eisenschwert ihres Vaters und mit dem Kettenhemd ihrer
Mutter einem Chimärier gegenüberstand. Malte sich mit
grimmigem Lächeln aus, wie sie die Bestie in einem harten
Kampf voller heldenhafter Manöver endlich erschlug und
alle Elfen sie dann bewundern würden, wenn sie den
Drachenkopf mit in ihr Dorf brachte. Daran, dass sie
ihre Eltern bestohlen hatte und wie sie sich diesbezüglich
erklären würde, dachte sie kaum, solche Einzelheiten
verdrängte sie konsequent.
Sie war nie ein beliebtes Kind gewesen. Als sie noch
zu jung für die Wahrheit gewesen war, hatte sie ganz
besonders darunter gelitten, denn sie hatte einfach nicht
verstehen können, was sie falsch machte, und ihrer Mutter
nie geglaubt, dass es nichts sei: Wenn sie kaum jemand 167
richtig leiden konnte, musste doch etwas nicht stimmen.
Sollten das wirklich nur die etwas zu kurzen Ohren sein?
Mit vierzehn Jahren erst hatte sie die Wahrheit erfahren,
seit fünf Jahren lebte sie nun damit. Wirklich leichter
geworden war ihr Dasein in dem kleinen Dorf dadurch
nicht. Sie war die beste Dorfwache ihres Jahrgangs und
gewann dank ihrer starken Menschenhälfte im sportlichen
Ringkampf sogar gegen die meisten Jungen ihres Alters.
Nicht wenige Elfen benutzten das allerdings erst recht, um
sie hinter vorgehaltener Hand als Monster und Barbarin
hinzustellen.
Laura hatte von ihrer Mutter schon früh gelernt, nicht
nur auf Technik und eine Waffe allein zu setzen, sondern
auch zu ringen und zu raufen und Schläge und Tritte
einzusetzen, wenn sie mit der Waffe nicht weiterkam. Die
anderen Elfen betrachteten solch eine Kampfweise als
barbarisch, untechnisch und ineffektiv, selbst wenn sie Jade
diese Kampfweise als Kriegserfahrung zugestanden. Doch
jedes Mal, wenn jene Elfen gegen Laura im Übungskampf
verloren, schoben sie ihre Niederlage auf die blendende
Sonne, auf einen Kiesel im Schuh oder sonst etwas. Oder
auf Lauras „barbarisches Erbe“. Laura schmunzelte in sich
hinein. Es genügte ihr meist, dass sie und ihre Mutter es
besser wussten.
Richtig unbeliebt war Laura aufgrund ihrer dreckigen
Kampfweise jedoch erst vor zwei Jahren geworden, als
sie der schönsten und beliebtesten Elfin der Dorfwache
versehentlich die Nase gebrochen hatte. Laura hatte
ihren Fausthieb abstoppen wollen, doch die Gegnerin
168 war genau hineingerannt und dann betäubt und weinend
niedergesunken. Bis hierhin wäre Laura der Unfall vielleicht
von ihren Altersgenossen noch verziehen worden. Doch
da die Halbelfin ihre Gegnerin aufgrund ihres affektierten
Gehabes – und ihres weitaus größeren Erfolgs bei den
Jungen – nicht leiden konnte, war ihr zu allem Unglück
ein überaus schadenfroher Kommentar herausgerutscht.
Egal wie richtig und vorsichtig Laura fortan in einer
Übungskampfsituation reagiert hatte, sobald sie die Füße
oder Fäuste auch nur andeutungsweise eingesetzt hatte,
war das Geschrei groß gewesen.
„Pah, neidisches Pack! Ich kehre als Heldin zurück,
dann habt ihr alle den Mund zu halten!“, knurrte sie leise
zu sich. Schon schweiften ihre Gedanken wieder ab.

Plötzlich standen zwei bärtige Männer auf dem Weg,


äußerst kräftige Menschen. Sie hatten Muskeln wie Laura
sie bei Elfen nie gesehen hatte, nicht einmal bei ihrem
Ziehvater Endáruel. Laura hatte immer geglaubt, ihre
Mutter wollte ihr mit solchen Geschichten bloß Angst
machen. Nun schien es, als hätte sie recht gehabt. Auch
Bärte hatte Laura noch nie gesehen, denn Elfenmänner
bekamen keine und Athónon hatte sie bloß kurz von
hinten gesehen.
Der dunkelhaarige Mensch hielt einen Bogen in der
Hand und hatte einen Pfeil mit Kupferspitze locker auf der
Sehne liegen. Zum Wegreiten war es also zu spät, sollten
diese Männer feindlich gesonnen sein. Der andere, blonde
Mensch hielt einen dicken Speer mit einer langen, grün
angelaufenen Bronzespitze vor sich. Durch die nächtlichen
Schatten sahen ihre haarigen, verschmierten Gesichter 169
noch brutaler und furchteinflößender aus.
„Na sieh mal einer an! Eine Elfin ganz allein unterwegs,
mitten in der Nacht“, spottete der Dunkelhaarige mit dem
Bogen. Sein Elfisch war derb und breit, aber verständlich.
Sein Fellwams wies einige kleine Löcher auf, umrandet
von getrocknetem Blut.
Der Blonde, der mehrere Narben im Gesicht hatte,
fügte mit demselben Akzent hinzu: „Ja, lecker, aber was
das Pferd erst wert sein muss!“ Er stellte den Speer auf den
Boden und stemmte eine Hand in die Hüfte, als sei er zum
Plaudern hier.
Der Dunkelhaarige redete weiter: „Erzähl mal, was Du
da so im Rucksack hast, Elfin!“
Laura zog das eiserne Kurzschwert langsam aus der
Lederscheide. Ihre Lippen bildeten einen schmalen,
weißen Strich. Die Augen waren weit aufgerissen. Ihr
Herz jagte so wild, dass sie es in der Kehle noch schlagen
spürte; Übelkeit kroch herauf. Die Gewissheit schlug in
ihr Bewusstsein ein: Feinde!
Die beiden Menschen wurden ernst. Der Dunkelhaarige
spannte den Bogen und zielte auf Laura. „Sei nicht dumm“,
knurrte er.
Wie hätte Lauras Vater Endáruel reagiert, der Besitzer
der Waffe in ihrer Hand? Und wie ihre Mutter, die große
Kriegerin?
Laura schwang ohne erkennbare Eile ein Bein über den
Kopf ihres Rappens und registrierte mit stiller Belustigung,
wie die Blicke der Männer dabei zwischen ihre Schenkel
glitten. Die Halbelfin rutschte vom Sattel und tätschelte
170 mit der freien Hand den Hals des Pferdes. Sie lächelte kühl
und wartete ab.
Innerlich jedoch raste ihr Herz in Panik. Sie hielt das
Mordwerkzeug in der zitternden Faust. Jetzt gab es kein
Zurück mehr. Der tödliche Ernst hatte sie eingeholt und
übermannt.
„Ihr wollt mich doch noch gar nicht töten“, wollte
Laura den Männern spöttisch zurufen. Doch ihre Stimme
brach und versagte nach drei Worten. Bei den Übungen
der Dorfwache war das viel leichter gewesen.
Die beiden Männer sahen sich kurz an und lachten
gehässig. „Wirf die Waffe weg, dann tut es nicht weh“, rief
der Blonde.
Laura schluckte mehrmals schwer und fühlte, wie
ihre Beine immer weicher und tauber wurden, aber auch
leichter. Das Blut rauschte lautstark in ihren Ohren. Sie
sah keinen Ausweg. Tränen begannen in ihren Augen zu
brennen und ihre Lippen verzogen sich, so sehr sie sich
auch zu beherrschen versuchte.
Der Blonde meinte im Plauderton zu seinem Kumpan:
„Du könntest ihr auch ins Bein schießen, ich fange dann
das Pferd ein.“
„Gute Idee!“, sagte der Dunkelhaarige und schoss.
Gleichzeitig mit Lauras Schmerzensschrei ging wiehernd
der Rappen durch und galoppierte davon.
„Verdammt, das schöne Pferd!“, fluchte der Blonde und
gab seinen Sprint schon nach wenigen Metern wieder auf.
Jenseits der Elfendörfer waren Reitpferde dieser Größe
äußerst selten, anderswo gab es oft nur Ponys oder Esel.
„Ja, und wer weiß, was in dem Rucksack gewesen wäre.
Na, wenigstens haben wir das Mädchen“, brummte der 171
Dunkelhaarige und beobachtete Laura. Die Halbelfin
wandte sich vor Schmerzen am Boden und umklammerte
den Pfeil in ihrem Bein mit beiden Händen. Das Schwert
lag neben ihr.
„Bist ganz schön kräftig für eine Elfin!“, meinte der
Blonde und kam näher.
„Hat man zur Abwechslung mal was in der Hand“,
warf der Dunkelhaarige ein. „Du bist ’n Bastard, nich’?
Ein Mischling!“
Wütend und ängstlich zugleich starrte Laura die
Angreifer an. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass man
Schmerzen erst nach einem Kampf richtig spürte, nicht,
während es noch um Leben und Tod ging – da erlaubte
der Körper dem Geist das Denken und Fühlen nicht.
Aber wie es ihr schien, befand Laura sich schon nach dem
Kampf – und hatte verloren.
„Kommt nur her! Ich beiße Euch alles ab, womit
Ihr mich berühren wollt!“, zischte sie verzweifelt und
weinerlich, ohne die Augen von ihrer Wunde zu nehmen.
„Oho!“, rief der Blonde und „Hört, hört!“ sein
Kumpan.
Der Blonde packte den Speer und hielt Laura die scharfe
Spitze an die Kehle. Er war dennoch so weit weg, dass
Laura ihn nicht mal mit dem großen Zeh hätte erreichen
können. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich mit
aller Kraft, nicht laut loszuschluchzen.
Der Dunkelhaarige schlenderte neben sie und hob das
Schwert auf. „Eisen! Sehr beeindruckend. Woher hat eine
Elfin gefaltetes Eisen, frage ich mich? Ihr bearbeitet doch
172 gar keine Metalle.“ Der Mensch kniete sich neben sie.
„Rede! Woher hast Du diese Waffe?“
Laura funkelte ihn feindselig an. In einem Anflug von
Mut spuckte sie ihm ins Gesicht, trotz des Speeres an ihrer
Kehle. Sofort verstärkte der Blonde den Druck, ritzte ihre
Haut, und Laura versteifte sich wieder ängstlich. Mied
erneut jeden Augenkontakt.
„He, und was ist das? Ein Kettenhemd aus Eisen!“, rief
der Dunkelhaarige begeistert und schob Lauras Tunika
hoch. „Vermutlich etwas zu eng um die Schultern, aber
könnte meine Größe sein! Sehr aufmerksam, mir das zu
bringen, Mädchen.“
„Finger weg!“, zischte Laura verzweifelt und konnte die
Tränen nicht zurückhalten. Hiflose Panik tobte in ihrem
Geist, doch sie konnte nichts tun und war gelähmt vor
Angst. Verlor sie jetzt die wertvolle Waffe ihres Vaters und
das ebenso teure Kettenhemd ihrer Mutter? Wie konnte
sie sich im Anblick von Qual und Tod darüber Sorgen
machen?
„Finger weg? Sonst was?“, spottete der Dunkelhaarige
böse und schob seine verschmierten Hände unter die
dritte Kleidungsschicht, unter den Leinenstoff, der das
Kettenhemd von der Haut trennte. „Oho, sind das etwa
Bauchmuskeln?“, höhnte er und nickte anerkennend. Sein
gieriger Blick und seine Finger strichen langsam unter ihren
Hosenbund, eine schwache Schmutzspur auf ihrer Haut
hinterlassend. Seine andere Hand, verdreckt und nach
Erde und Metall riechend, rieb er übertrieben in Lauras
Haar und auf ihrer Wange, bevor er sich demonstrativ auf
ihrem Solarplexus abstützte.
Die Halbelfin presste die bebenden Lippen aufeinander 173
und starrte stur in den Himmel. Sie nahm allen Mut
zusammen, schnaufte immer schneller. Die Männer
wurden stutzig. Plötzlich schlug Laura mit der flachen
Hand den Speer zur Seite, mit der grünbraunen Spitze
direkt ins Gesicht des Dunkelhaarigen. Blut spritzte, der
Mann hielt sich kreischend die Hände über die Augen und
fiel zappelnd auf den Rücken.
Der Blonde versuchte mit grimmiger Miene, den Speer
zurückzudrücken, um Laura zu erstechen. Doch ohne
näher zu kommen, war der Hebel einfach zu lang für ihn.
Lauras Kraft und blanke Angst reichten zusammen aus,
den Speer von sich fortzudrücken. Der Blonde sprang
vor und trat Laura gegen das verwundete Bein, knackend
brach der Pfeil ab.
Die Halbelfin schrie kläglich und bäumte sich auf,
was dem Blonden ein genussvolles, sadistisches Grinsen
entlockte. Er trat ihr in Bauch und Rippen. Noch während
sie vor Schmerz und Atemnot hilflos zitterte, stach er
ihr den Speer in die linke Schulter. Laura schrie noch
jämmerlicher, aber der Blonde bekam nicht genug. Er trat
Laura mit vollem Gewicht auf den Brustkorb, sodass sie
atemlos röchelte und die Augen weit aufriss. Hoch über
ihr aufgerichtet, packte der Blonde den Speer fester und
rammte ihn dann mit seinem gesamten Körpereinsatz
durch Lauras Schulter in den Boden, um sie festzunageln.
Laura zuckte nur noch tonlos und verdrehte die Augen.
Der Blonde starrte sie lüstern an und schob den Unterkiefer
vor.
174 Der Dunkelhaarige lag inzwischen still auf dem
Rücken und hielt sich noch immer die blutigen Finger
vors Gesicht. „Meine Augen! Das Biest hat meine Augen
erwischt!“, heulte er leise durch die Hände.
„Sie wird bitter bezahlen!“, knurrte der Blonde und
hockte sich neben seinen Kumpan, Laura hinter sich
lassend.
Widersinnigerweise fühlte die Halbelfin jetzt weniger
Schmerzen als zuvor, in der Tat so, wie es ihre Mutter
beschrieben hatte. Laura fühlte allerdings auch sonst nicht
mehr viel, außer dass sie abzudriften begann. Sie verlor
allmählich das Bewusstsein. Gerade als sie loslassen und
aufgeben wollte, bäumte sich ihr Wille noch einmal auf.
Sie spürte, dass der Speer in ihrem Fleisch steckte und sie
ihren linken Arm kaum bewegen konnte. Aber ihr Blut
rauschte so wild und kampfbereit in ihren Ohren, dass
ihr schierer Überlebenswille die Schmerzen überlagerte.
Sie wusste, dass sie Schmerzen hatte und verletzt war, dass
sie blutete – aber sie konnte jetzt nicht mehr denken. Sie
konnte nur noch kämpfen. Jeder Gedanke wurde gewaltsam
abgewürgt. Ihr jagendes Herz drohte ihr aus dem Hals zu
springen. Ihr Körper schob jede Empfindung und jeden
Gedanken zur Seite, der sie am Überleben hätte hindern
können. Ihr menschliches Erbe sollte ihr das Leben retten,
wo eine reinblütige Elfin in diesem Augenblick aufgehört
hätte zu atmen.
Als der Blonde das scharrende Geräusch und das
unterdrückte Stöhnen hinter sich registrierte, bäumte
Laura sich bereits brüllend auf und ließ ihren Dolch aus
Feuerstein niederrasen. Hinter dem Rücken im Gürtel
hatte sie ihn versteckt mit sich getragen. Der Speer steckte 175
noch immer in ihrer Schulter, sie hielt ihn mit der anderen
Hand fest. Sie hatte kaum Kontrolle über ihren Angriff
und beobachtete sich selbst etwas überrascht.
Der Blonde warf sich erschrocken und ungläubig
zurück. Laura war jedoch schneller und schnitt ihm tief
in die Schulter. Sie kroch dem rücklings kriechenden,
aufschreienden Gegner wutschäumend nach. Ihre Pupillen
waren nur noch winzige Pünktchen. Laura holte erneut
aus, aber der Blonde warf sich jetzt mit Schwung ganz
auf den Rücken, und den Schwung ausnutzend, trat er
Laura mit der Spitze des schweren Stiefels vor den Kopf.
Die Halbelfin stürzte ohne Schmerzensschrei auf die Seite.
Betäubt blieb sie liegen, der lederne Dolchgriff lag in ihrer
schlaffen Hand.

„Jetzt bring ich Dir Manieren bei!“, grunzte der Blonde


und packte gierig Lauras Hüfte, wie ein Verhungernder,
der plötzlich ein saftiges Steak vom Feuer greifen konnte.
Mit seinem Körpergewicht stieß er sie ungestüm auf den
Rücken. Dann riss er den Speer brutal aus der spritzenden
Wunde und schob mit seinen Füßen Lauras Beine
auseinander. Gerade als er den Speer achtlos weggeworfen
hatte und ihre Hand mit dem Dolch packen wollte, zuckte
Lauras Waffe unter seinem Daumen hinfort und rammte
den scharfen Feuerstein in seine Leiste. Das Blut schoss wie
eine Fontäne aus seiner Beinschlagader. „Du ...“, knurrte
er und holte mit der Faust aus, unfähig, den nahen Tod
zu erkennen. Laura stach wieder und wieder zu, warme
Blutstrahlen schossen auf ihren Bauch und ihre Beine. Ihr
176 Geist war ausgeschaltet und verstand nichts davon mehr,
die Halbelfin war bloß noch ein Körper, der mit tierhafter
– menschlicher – Wildheit ums Überleben kämpfte. Und
da war noch etwas ... doch sie verdrängte es.
Endlich brach der Blick des Blonden und er kippte
auf die Seite. Seine erschlaffte Faust fiel auf Lauras
Hüfte, als wollte er sie selbst im Sterben noch zu packen
bekommen.

Der Dunkelhaarige sprang blind auf und rannte weg,


doch er knallte prompt mit der Stirn gegen einen Baum
direkt vor sich. Hysterisch fluchend drehte er sich im
Kreis, warf sich auf alle viere – und ertastete zufällig seinen
Bogen samt Köcher. Hastig legte er einen neuen Pfeil
auf und zielte nach Gehör. „Dich kriege ich, verfluchtes
Miststück!“, flüsterte er außer Atem. Gleichzeitig spitzte
er die Ohren und drehte den Kopf ruckartig mal hierhin,
mal dorthin, um zu lauschen.
Laura saß nur zwei Schritte von ihm entfernt. Sie wollte
vor Schmerzen schreien, die jetzt ihr zurückkehrendes
Bewusstsein überfluteten. Oder gleich aufgeben, sich
einfach fallen lassen. Doch sie hielt den Atem an.
Irgendwoher hatte sie noch immer Kraft ... Sie saß genau
vor dem Pfeil, gerade zu weit weg, um ihn zu berühren. Ihr
linker Arm hing nutzlos und taub herab. In der Rechten
hielt sie zitternd den Dolch.
Der Dunkelhaarige horchte angestrengt. Laura wankte
vor Schwindel durch das Luftanhalten. Andere Elfen in
ihrem Zustand hätten nicht mal mehr gelebt.
Der Pfeil würde ihre Brust durchbohren, wenn 177
der Dunkelhaarige einfach nur losließ. Laura konnte
den Atemreflex bei aller Willensstärke nicht länger
unterdrücken. Sie sog gierig Luft ein – der Dunkelhaarige
schrie triumphierend und ließ den Pfeil los. Laura ließ
sich im selben Moment auf die Seite fallen, doch der Pfeil
erwischte sie. Durchbohrte ihre Hüfte.
Die Halbelfin wimmerte elendig und krampfte sich
vor Schmerz am Boden zusammen. „Jetzt ist es endgültig
vorbei!“, dachte sie.

Der Dunkelhaarige brüllte irrsinnig, als er aufsprang


und wahllos auf dem Boden herumstampfte, bis er Lauras
Bauch traf und sie zum Würgen brachte. Sie konnte sich
durch den Pfeil nicht wegrollen und sie konnte nicht mehr
aufstehen. Ihre zitternde rechte Hand hielt sie mitsamt
Dolch vors Gesicht. Sie konnte nur noch verzweifelt auf
ein Wunder hoffen und sich ihrer Panik überlassen. Wieder
entfernte sich alles von ihr, sie fühlte immer weniger. Ihr
Bewusstsein drohte ins Nichts zu driften, trotz all ihrer
unelfischen – unnatürlichen – Reserven.
Der nächste Tritt traf sie am Kopf. Eine innere
Explosion zündete und betäubte Laura vollends. Sie riss
die Augen mit Gewalt auf, doch ihr Blick war unscharf
und glasig. Sie wusste nicht, weshalb sie das Bewusstsein
nicht endgültig verlor ... Sie wusste nicht, wie viel Glück sie
hatte, dass der nächste Tritt danebenging. Aber sie wusste,
dass sie verschwommen den Dolch in ihrer Hand sah.
Laura fühlte nichts mehr, ihr Körper war am Ende. Sie
stach einfach zu, sie konnte nur noch diesen Arm bewegen.
178 Sie traf die Wade des Dunkelhaarigen – was nichts zu
bewirken schien. Sein nächster, besonders ungestümer
Tritt ging wieder daneben, doch diesmal stach Laura ihm
ins Knie des anderen Beines. Der Dunkelhaarige warf sich
rückwärts von Laura fort und kreischte vulgäre Flüche.
Auf allen vieren kroch, zuckte und rutschte er davon, so
schnell er noch konnte.
Fast augenblicklich mit der Erkenntnis, dass der Kampf
vorbei war, loderten unsägliche Schmerzen in Lauras
Körper auf – oder jedenfalls konnte die Halbelfin sie jetzt
wieder bewusster wahrnehmen. Sie wollte schreien, stöhnte
jedoch nur jämmerlich. Übelkeit würgte sie.
Allmählich konnte sie ihre Umgebung wieder erahnen,
wenn auch von bunt flackernden Schlieren durchzogen.
Bebend und zitternd vor Hass, mit allerletzter Kraft, schob
sie sich auf die Knie und kroch auf den blinden, unentwegt
wimmernden und fluchenden Feind zu. Dieser versuchte,
sich um eine umgestürzte Buche herumzutasten. Er konnte
nicht mehr aufstehen. Wälzte sich vor Wut und Panik am
Boden. Er fand keinen Weg um den langen Baumstamm.
Laura erholte sich zwei Lidschläge lang. Staunte selbst
über ihre Zähigkeit. Dann kroch sie Handbreit für
Handbreit weiter auf den Feind zu. Ein Bein konnte sie
wegen des Pfeiles kaum anziehen. Doch schließlich war
sie neben ihm.
Der Dunkelhaarige hörte plötzlich Lauras schweren,
hassbebenden Atem an seinem Ohr und erstarrte. „Oh,
verd...“
Laura rammte ihm den Dolch in die Kehle. Warmes
Blut spritzte ihr über Hand und Arm, dabei verlor sie
beinahe wieder das Bewusstsein und fühlte ihren Magen 179
rebellieren. Kein Gedanke über die Kaltblütigkeit dieses
Momentes entstand in ihr, auch kein Zweifel über ihr
moralisches Recht zu dieser Hinrichtung.

Sie rollte sich stöhnend auf den Rücken und flüsterte


zu sich selbst: „Ich habe gewonnen! Ich kann jetzt nicht
plötzlich aufgeben!“ Ihre tauben Finger ließen den Dolch
los und umklammerten die durchbohrte Schulter, in der
etwas Grünspan zurückgeblieben war. Laura erschrak,
als sie das warme Blut durch ihre Finger strömen fühlte.
Unter ihr quoll es bereits bis an ihren Nacken. Es kitzelte
mit einer seltsamen Todesgewissheit. Als sie ihre Beine
kaum noch spürte, wusste sie endgültig, dass sie nicht
überleben konnte und verbluten musste. Tränen brannten
in ihren Augen, aber selbst jetzt war sie noch zu stolz, um
laut zu schluchzen. Ihre elfische Seite hingegen konnte
nicht fassen, was sie getan hatte und vor allem wie sie
es getan hatte. Doch ihre elfische Seite wäre auch schon
lange vorher gestorben und hatte sich gefälligst nicht zu
beschweren – nicht während der wenigen Lidschläge, die
Laura noch blieben, um zu triumphieren.
Wenigstens würde man sie neben den Leichen zweier
muskelstrotzender, bewaffneter Menschenkrieger finden,
die sie allein besiegt hatte. Sie war nicht mehr die kleine,
jugendliche Tochter der Anführerin der Dorfwache.
Und auch nicht mehr die barbarische, ungeliebte
Halbmenschin. Sie war ganz allein eine respektierte,
richtige Kriegerin geworden. Jedenfalls redete sie sich ein,
dass man sie im Dorf nun so sehen musste. Sie war so gut
180 wie tot, sie hatte das Recht, sich ihre letzten Gedanken
angenehm zu gestalten. Sie bäumte sich schwach auf, als
sie sich übergeben musste, verschluckte sich, spuckte die
Essensreste neben sich. Schlagartig erschlaffte sie danach,
ihre allerletzte Kraft war aufgebraucht.
Sie fror, als ihr Schweiß und das Menschenblut überall
auf ihr kalt wurden und sich mit ihrem eigenen Blut
mischten. Sie wollte schreien vor hilfloser Wut, oder
fortkriechen, irgendwohin, wo man sie vielleicht sah. Doch
sie konnte nur noch leise stöhnen, während ihre bleiernen
Lider zufielen und der Wind immer leiser und ferner zu
rauschen schien. Ein Hauch von Flieder tröstete sie für die
wenigen Herzschläge, die sie ihn noch wahrnahm.

Als Laura die Augen wieder aufschlug, wurde sie von


mildem, rotem Morgenlicht gestreichelt. Sie sah einen
jungen Elfenmann über einer kleinen Grube knien und
verzweifelt Holz reiben, um ein Feuer zu entfachen. Nicht
alle Elfen konnten zaubern. Der Fremde trug nur einen
Lendenschurz und Lederstiefel, ansonsten war er nackt.
Laura vermutete, sie hätte ihn durchaus im Ringen
besiegen können, so wie er gebaut war. Jedenfalls, wenn
sie gesund und ausgeruht gewesen wäre.
Kraftlos hauchte sie: „Wieso hast Du Stiefel, aber keine
Hose?“
„Oh, Du bist wach! Der Natur sei Dank, bist Du
jung und sehr stark!“, rief der Elf, ließ seine vergeblichen
Versuche des Feuermachens links liegen und hockte sich
zu der Halbelfin. „Wieso ich keine Kleidung trage, fragst 181
Du?“, grinste er.
Laura nickte, sie konnte kaum die Lider offenhalten.
„Na, weil“, er zeigte mit dem Finger auf sie, „Du jetzt
meine Kleidung trägst. Deine eigene war über und über mit
Blut beschmiert. Aber ich musste Dich ja warm halten“,
berichtete der Elf und hob die offenen Handflächen.
Lauras dünnes Lächeln erstarb. Sie tastete an sich herab.
„Das Kettenhemd ...“
„Das habe ich zu einem Kissen zusammengerollt. Du
liegst mit dem Kopf drauf.“
Laura schwieg und starrte an dem Elfen vorbei.
„Ich heiße übrigens Beléothvel, und wer bist Du?“,
plauderte der Elf und setzte sich bequemer hin.
„Laura“, hauchte die Halbelfin und schluckte schwer.
„Ich tu’ Dir nichts“, erklärte Beléothvel sanft. „Ich habe
Deine Wunden gesäubert und verbunden und aufgepasst,
dass die Tiere Dich nicht anknabbern!“ Dabei zeigte er auf
die zahlreichen Stellen, an denen sie verwundet worden
war. „Die Schulter sah besonders schlimm aus.“ Er wurde
leise. „Ich bin nicht sicher, ob Du den Arm irgendwann
wieder richtig bewegen kannst. Aber immerhin hat sich
die Wunde trotz des Schmutzes nicht entzündet, sonst
würden wir jetzt nicht mehr miteinander reden können.“
Laura wäre auch ohne diese Nachrichten nicht nach
Lächeln zumute gewesen. Endlich sagte sie, was sie
bedrückte: „Du hast mich ausgezogen? Ganz?“
Beléothvel schwieg für einen Lidschlag und legte die
Hände zusammen. Dann sagte er mit einem Achselzucken:
„Ich habe Deine Wunden versorgt. Das geht schlecht
182 durch dieses Kettenhemd-Dings. Ja, ich habe Deinen
Körper bewundert. Na und? Ohne mich wärst Du tot! Ich
verlange ja auch gar nichts für meine Hilfe, ich finde es
schön, dass Du noch lebst. Sicher hast Du eine interessante
Geschichte zu erzählen!“
„Nur bewundert?“, fragte Laura mit belegter Stimme.
Beléothvel rümpfte die Nase. „Hey, Du bist hier
diejenige mit dem Menschen-Anteil! Elfen würden so
etwas Widerwärtiges nie tun!“
Wie geohrfeigt drehte Laura das Gesicht weg.
„Entschuldige, das war gemein von mir“, raunte
Beléothvel, „aber Du musst Dir wirklich keine Sorgen
machen. Ich bin ein Freund, kein Feind. Hast Du Hunger?
Ich habe verschiedenste Beeren gesammelt, Brombeeren
und Erdbeeren vor allem. Wasser und ein paar Pilze sind
auch noch reichlich da. Wieso warst Du eigentlich ganz
allein und ohne Gepäck hier unterwegs? ... Wolltest Du
Abenteuer erleben oder so was?“
Laura wusste nicht, ob sie auf diese Frage lachen oder
weinen sollte, also tat sie einfach beides ein bisschen.

Bruchstücke aus seiner Erinnerung schossen Srrig durch


den Kopf, doch er konnte sie nicht festhalten. Er sah eine helle
Klosterwand in einem sandigen Innenhof. Mit den Füßen
nach oben lehnte er an der Wand. Zahlreiche Längsspuren
von Fußkrallen hatten den Putz fast völlig zerstört.
Einen Arm hatte Srrig auf den Rücken gelegt, den anderen
Arm hatte er zur Faust geballt und auf einen flachen Stein
am Boden gestellt. Mehrmals drückte er sich auf dieser Faust 183
nach oben und ließ sich wieder langsam heruntersinken, bis
sein Arm so sehr zitterte, dass er von allein einknickte und
Srrig sich von der Wand wegrollte.
„Still!“, zischte Srrig plötzlich und drückte sich mit dem
Rücken an den Fels.
Taren folgte seinem Beispiel und hielt die Fackel hinter
sich, um den Schein wenigstens etwas zu begrenzen. Hören
konnte er allerdings nichts.
Es dauerte wenigstens drei Lidschläge, bis auch Taren
die unregelmäßigen Schritte wahrnahm. Ein schwaches
Licht tanzte aus der Ferne des Höhlengangs auf sie zu,
noch kaum erkennbar.
Die Schritte kamen näher. Taren konnte heraushören,
dass es sich um zwei Personen handelte, die schnell liefen.
Auch sie schienen eine Fackel zu benutzen, dem Lichtschein
nach zu urteilen.
„Weg!“, flüsterte Srrig und schob Taren zurück in den
Gang, aus dem sie gekommen waren.
In der Ferne drangen in diesem Moment jedoch zwei
Gestalten in ihr Sichtfeld. Eine Männerstimme rief Srrig
und Taren auf Elfisch zu: „Hier sind wir!“ Leiser zischte
die Stimme dann: „He! Das sind sie nicht!“
„Was jetzt? Wir können nicht zurück!“, wisperte eine
hellere Stimme, ebenfalls auf Elfisch.
Srrig und Taren sahen sich kurz an, dann hob Srrig den
Kopf und rief in fließendem, doch etwas altmodischem
Elfisch: „Wir sind keine Feinde! Kommt herüber, wir
helfen uns gegenseitig.“
184 „So, Elfisch kannst Du also auch?“, wunderte sich
Taren leise.
Nun wunderte sich auch Srrig für einen kurzen
Augenblick darüber.
Gleichzeitig hielt Taren die Fackel über seinen und
Srrigs Kopf, damit die Elfen sie gut sehen konnten – ohne
dass Srrig oder Taren andererseits direkt ins blendende
Feuer blicken mussten.
Die beiden Elfen am anderen Ende des Ganges
tuschelten miteinander und berührten sich gegenseitig
besorgt an den Armen. Doch schließlich schritten sie
misstrauisch zu Srrig und Taren herüber.
Sie waren ein Mann und eine Frau, beide mit langen
schwarzen Haaren und in dreckige, zerrissene Kleidung
gehüllt. Etwas scheu sahen sie zu Srrig und seinen
Muskelbergen auf, und auch Tarens grimmiges, bärtiges
Gesicht schien ihnen nicht geheuer zu sein.
Srrig erkannte dies ebenso schnell wie der Mensch und
machte den ersten Schritt, indem er sich mit einer Hand
auf der Brust verneigte und erklärte: „Wir sind Srrig und
Taren. Wir waren auf der Flucht vor Chimäriern und haben
kein anderes Versteck gefunden. Kennt Ihr Euch vielleicht
in diesen Gängen aus? Wir müssen nach Harkýior zurück,
um einen Kameraden zu befreien.“
Taren ließ sich nicht anmerken, dass er von diesem
Plan des Tigermenschen noch immer nicht viel hielt. Er
verneigte sich ebenfalls ein wenig vor den Elfen, ohne sie
jedoch aus den Augen zu lassen.
Der Elf nickte auf Srrigs Begrüßung nur knapp und
misstrauisch, die Elfin reagierte gar nicht. Nach einem
weiteren Lidschlag des Schweigens erklärte der Elf: „Wir 185
kennen die Höhlen hier. Doch im Moment werden wir
von Schlangenblütern verfolgt, der Weg ist versperrt. Wir
müssen warten.“
„Schlangenblüter?“, wiederholte Taren, „meint Ihr
Schlangenmenschen?“
„Nein“, antwortete der Elf, „Schlangenblüter sind
Mischlinge aus Schlangenmenschen und anderen Völkern,
durch Magie gezeugt und aus Eiern geschlüpft. Es gibt eine
Enklave von ihnen hier in der Nähe, sie betrachten dies als
ihr Gebiet. Die Hohepriesterinnen der Schlangenmenschen
hatten bei der Erschaffung dieser Wesen wohl ihre Finger
im Spiel. Vielleicht aber auch die Matriarchin Tebaarsha,
eine Chimärierin, die hier unten so ziemlich alles
kontrolliert, was nah am Zentrum von Harkýior liegt. Es
heißt, sie kollaboriert mit den Schlangenmenschen in den
Tiefen dieser Gänge, unter anderem, um herauszufinden,
warum es so wenig weibliche Chimärier gibt. Gut möglich,
dass die Schlangenblüter einfach nur ein ,Abfallprodukt
der Forschung‘ waren.“
„Auf jeden Fall benehmen sie sich wie Abfall und sehen
meist auch so aus“, fügte die Elfin giftig hinzu.
„Wie viele Verfolger habt ihr denn, und wie sind die
bewaffnet?“, fragte Taren und betrachtete demonstrativ
seine Drachenarmbrust.
Der Elf musterte Taren, dann blickte er noch einmal
auf Srrigs Muskeln.
Die Elfin gab an seiner Stelle die Antwort: „Es sind
drei Frauen. Die eine ist eine halbe Elfin namens Harpyie.
Sie trägt ein kupfernes Kurzschwert und einen bronzenen
186 Buckelschild, und auch noch ein paar andere Rüstungsteile
aus Leder und Kupfer. Ihre Zähne sollen sehr giftig sein,
habe ich gehört. Die zweite Feindin ist eine Hexe, die üble
Flüche ausstoßen kann. Sie ist mit einem bösen Geist im
Bunde, sagt man, also nehmt Euch vor ihr in Acht. Lasst
sie keinesfalls einen Fluch ausstoßen – er würde zweifellos
in Erfüllung gehen, wenn die Gerüchte wahr sind! Auf
sie solltet Ihr wohl als Erstes schießen. Ihren Namen
weiß ich nicht, aber wen interessiert der schon. Die dritte
Schlangenblüterin ist eine starke Menschenfrau mit einer
großen Eichenkeule. Sie trägt keinerlei Rüstung, ist aber
sehr flink, trotz ihres Gewichts von sicherlich 160 Pfund.
Sie lebte früher in einem Sumpf an der Oberfläche und
riecht auch heute noch so. Ihr Name ist Karva, glaube
ich.“
Der Elf konnte kaum abwarten, dass seine Begleiterin
ausgeredet hatte, da platzte es aus ihm heraus: „Ihr
seid Kämpfer, nicht wahr? Wir haben kleine Waffen,
zwei Dolche, die geben wir Euch, wenn Ihr diese drei
Schlangenblüter für uns tötet! Ihr würdet uns einen großen
Dienst erweisen.“
Bei den letzten Worten trat die Elfin ihm auf den Fuß,
sehr wenig unauffällig.
„Was macht Ihr eigentlich hier?“, fragte Srrig
ungerührt.
Die beiden Elfen sahen sich schweigend an. Schließlich
fragte der Elf einfach noch einmal: „Werdet Ihr diese drei
Schlangenblüter töten gehen?“
Taren schüttelte den Kopf. „Erst will ich mehr über sie
wissen, und auch über Euch.“ Er verschränkte die Arme
vor der Brust und ließ die Armbrust dabei in der Beuge 187
ruhen.
Srrig hob plötzlich alarmiert den Kopf. „So viel Zeit
bleibt vielleicht nicht“, knurrte er und blickte ernst zu
Taren. Der Mensch nickte nur.
„Gebt uns die Dolche und haltet dafür die Fackeln“,
verlangte Taren gepresst, „wir kämpfen für Euch.“
Dankbar gaben die Elfen ihre beiden Kupferdolche
heraus und nahmen die Fackeln entgegen.
Srrig und Taren eilten in die tiefere Dunkelheit des
Ganges voraus und drückten sich in eine Nische im Fels.
Sie warteten auf die Träger des neuen Fackelscheins, die
hinter einer Biegung eilig näher kamen. Taren knetete
missmutig den Ledergriff seiner weichen Kupferklinge in
der Faust. „Elfen und Waffenbau, pfff...“, dachte er.

„Mmh! Augen!“, frohlockte Zeeris und riss den zwei


frischen Menschenleichen die Augäpfel aus den Höhlen.
Seine feine Nase hatte sie ein gutes Stück zurück in Richtung
des Elfendorfes entdeckt. „Und sogar noch ein bisschen
warm!“, schmatzte das Teufelchen mit halb vollem Mund.
„Wo kommen die wohl her?“, überlegte Zeeris und kaute
plötzlich nur ganz langsam weiter. Während er das nächste
Auge in den Mund steckte, stieg er höher und höher. Er
winkte Mèra, Jade und Athónon zu, die ihn jedoch bei
der enormen Entfernung nicht sehen konnten. Eigentlich
konnte Zeeris sie auch nicht sehen, doch er wusste ja, auf
welcher Lichtung sie sich befanden.
188 Die Gruppe um Mèra wollte jeden Moment ihre Rast
abbrechen und bei Tag weiterreisen, solange sie die Grenze
des Imperiums noch nicht erreicht hatte; Jade als Nachtelfin
war zwar lieber nachtaktiv, doch mit einer tiefen Kapuze
und Handschuhen kam sie auch zurecht.
Ganz in seiner Nähe entdeckte Zeeris eine zweite
Rauchfahne. „Mmh! Geröstete Augäpfel!“, krähte das
Teufelchen und ging in den Sturzflug über, auf das fremde
Feuer zu.

„Hallo!“, rief Zeeris freundlich und winkte, als er am


Feuer eines halb nackten, mageren Elfen landete.
Beléothvel sprang entsetzt von seinem kleinen
Grubenfeuer zurück und starrte um sich. „Ein Geist!“, rief
er entsetzt.
Laura öffnete mühsam die Augen. Bei dem Versuch,
sich aufzusetzen, explodierten überall in ihrem Körper
Schmerzen; stöhnend gab sie den Versuch sofort wieder
auf.
„Oh“, machte Zeeris. Dann ließ er seine magische
Unsichtbarkeit fallen. Auf Beléothvels ungläubigen
Gesichtausdruck hin stellte das grau-rote Teufelchen sich
vor: „Ich bin Zeeris! Kann ich mal Dein Feuer benutzen?
Danke!“
Ungeniert hielt Zeeris seine Hand mitsamt den zwei
verbliebenen Augäpfeln ins Feuer. An Beléothvel gewandt,
erklärte er: „Lecker, geröstete Augäpfel! Willst Du auch
einen?“ Die Flammen schienen seiner Hand nichts
anzuhaben.
„Wer ... bist Du?“, stammelte Beléothvel heiser, als habe
er die vorigen Aussagen des Teufelchens nicht gehört. 189
„Zeerisrisrisrisris!“, machte Zeeris und verputzte dabei
gierig die beiden Augäpfel. Beiläufig sah er zu Laura
hinüber, und mitten im Kauen hielt er plötzlich inne.
„Du siehst aus wie Jade! Kennst Du Jade?“, krähte Zeeris.
„Kennst Du Jade?“, fragte er auch Beléothvel, ohne eine
Antwort abzuwarten. Er war nur selten unsichtbar im
Elfendorf gewesen, Athónon hatte es ihm untersagt.
Beléothvel antwortete unsicher: „Jade ist die Anführerin
unserer Dorfwache. Sie ist eine große Kriegerin, sagt man.
Aber woher kennst Du sie?“
Zeeris setzte sich ans Grubenfeuer und ließ die nackten
Füße direkt hineinhängen. „Och ...“, begann er und
druckste herum. „Sie war mal in Schwierigkeiten und ...
ich! ... habe sie gerettet“, rief Zeeris freudestrahlend. „Ich
habe auch Mèra gerettet!“, fügte er stolz hinzu und schob
die Brust mit seinem Panzer vor.
Ungläubig starrte Beléothvel das Teufelchen an. „Klar“,
machte er dann nur, ohne eine Miene zu verziehen.
„Ich habe die Geschichte anders gehört“, flüsterte Laura,
„Jade ist meine Mutter.“
Zeeris und Beléothvel starrten die Halbelfin beide mit
großen Augen an.
„Soll ich Dich heilen? Dann kannst Du zu ihr gehen!“,
rief Zeeris plötzlich und sprang auf. „Sie ist nur ein paar
Flug-Momente weit weg! Ich kann heilen! Cesius hat ’s mir
beigebracht!“
Laura starrte das Teufelchen furchtsam an, als es auf
sie zu sprang. „Nein!“, keuchte sie und hob abwehrend die
Hände.
190 „Ich kann heilen!“, rief Zeeris beleidigt.
„Seid ruhig!“, flüsterte Beléothvel plötzlich, „ich höre
etwas! Hufe!“
„Ah!“, schrie Zeeris entsetzt und wurde auf der Stelle
unsichtbar.
Beléothvel hängte die Sehne seines kleinen Bogens ein
und legte einen Pfeil auf, während er sich neben Laura
hockte.
„Miriam, ich meine, Mèra!“, rief Beléothvel dann jedoch
freudig, als die Reiterin den kleinen Lagerplatz erreichte.

Mèra nickte bloß und sprang leichtfüßig aus dem Sattel


ihres Rappens. Ohne ein Wort kniete sie sich zu Laura
und legte ihr prüfend eine Hand auf die Stirn. „Das war
sehr dumm von Dir“, raunte Mèra ohne Ärger in der
Stimme. Bevor Laura etwas erwidern konnte, erstarrte
sie plötzlich ob der magischen Energien, die ihren Körper
durchstürmten. Aus der Ferne schien ein lieblicher
Gesang an Lauras Ohren heranzuwehen. Nach wenigen
Lidschlägen war das wohlige Gefühl schon wieder vorbei
und Mèra richtete sich auf. Für einen Moment schwankte
sie jedoch irritiert. „Was z...“, flüsterte sie zu sich und
wischte sich über die feuchte Stirn. „Komm, wir haben
es eilig“, befahl sie dann, ohne Laura anzusehen, und
schwang sich aufs Pferd.
Verdutzt richtete Laura den Oberkörper auf. „Es tut
gar nicht mehr weh“, staunte sie und betastete sich. „So
schnell!?“, stammelte sie ungläubig.
„Du hast Glück, dass ich Dich auf der Suche nach Zeeris
hier fand, Mädchen“, antwortete Mèra streng. „Apropos
Zeeris, wo steckst Du?“, fragte sie in keine bestimmte 191
Richtung. „Wir wollten eigentlich schon weiter“, fügte sie
hinzu.
Beléothvel half Laura auf die Füße und murmelte dabei:
„Deine Sachen sind ruiniert, aber behalte meine ruhig. Ich
laufe so ins Dorf zurück.“
Laura blickte irritiert zwischen Mèra und Beléothvel
hin und her. „Ich ... kann mitkommen?“, fragte sie Mèra.
„Offensichtlich bringst Du Dich selbst mehr in Gefahr,
wenn wir nicht auf Dich aufpassen“, antwortete Mèra
scharf.
Schuldbewusst senkte Laura den Kopf. Dann warf
sie sich energisch das Kettenhemd über und rammte das
Schwert in die Scheide. Die Tunika behielt sie in der
Hand. Direkt vor Beléothvel baute sie sich noch einmal
auf, so bebend vor Energie, dass der Elf den Impuls
unterdrücken musste, zurückzuweichen. „Du hast mir das
Leben gerettet“, flüsterte Laura, warf ihm ihre Tunika um
den Nacken und zog ihn damit zu sich, um ihn auf den
Mund zu küssen.
Als sie sich endlich voneinander fortrissen, lächelte
Laura zum Abschied und rief: „Wir sehen uns wieder.“
Dann sprang sie hinter Mèra auf den Rappen und die
beiden galoppierten davon. Ohne sich festzuhalten, striff
Laura nun im Reiten die Tunika über das Kettenhemd.
„He! Wartet auf mich!“, krähte Zeeris. Ohne dass
Beléothvel ihn hätte sehen können, spürte der Elf, dass er
nun wieder allein war.

Athónon und Jade waren am Lager zurückgeblieben und


192 warteten auf Mèra, die einen kurzen Rundritt auf der Suche
nach dem chaotischen Teufelchen Zeeris hatte machen
wollen. Vielleicht wollte sie auch nur einen Moment allein
sein. Sie war mit jeder Reisestunde stiller geworden und
ihr Blick hatte sich mehr und mehr verfinstert.
Athónon stutzte sich den weißen Bart auf eine gepflegtere
Vollbartlänge.
Jade lag mit dem Rücken im Gras, die Arme hinter dem
Kopf. Ihre Wangen waren etwas gerötet, ein einsetzender
Sonnenbrand dank ihrer Lichtempfindlichkeit. Mit
wechselnden Ausdrücken im Gesicht blinzelte sie unter
ihrem Kapuzenrand hervor in den Himmel; sie musste
durchgehend die Augen angestrengt zusammenkneifen,
da sie das Tageslicht schon lange nicht mehr gewohnt war.
Vom tiefen Türkis des Himmels und den vorbeiziehenden
Wolken war sie so fasziniert wie ein kleines Kind.
Allerdings lenkten alte Erinnerungen sie immer wieder
von jenem erhebenden Anblick ab. Beinahe schien es, als
zöge ihr ganzes Leben noch einmal an ihr vorbei ...
Jade schrie vor Schmerzen und bäumte sich auf. Jemand
hielt sie fest. „Pressen!“, zischte ihr ein alter Elf ins Ohr. Sie
lag an ihrem Lieblingsplatz am Bachufer, wo die Wehen sie
überrascht hatten. In etwas Entfernung standen einige Elfen;
sie wussten, wie scharf Jades Gehör war, vermutlich wollten
sie, dass die Nachtelfin ihr Getuschel hörte: „Das hat sie nun
davon. Sie wird es nicht überleben, dieses fette Mischkind zu
bekommen.“
Jade schrie verzweifelt. Für einen Moment glaubte sie dem
Getuschel, doch da ergriff jemand ihre Hand. „Endáruel!“,
keuchte sie glücklich.
„Schneller ging es nicht!“, flüsterte der Waldläufer und 193
küsste ihre Stirn, während sie wieder schrie.
„Athónon?“, fragte Jade, richtete den Oberkörper auf und
faltete die langen Beine zum Schneidersitz zusammen.
Der Gnom putzte gerade sein Rasiermesser und sah nur
stumm zur Nachtelfin auf.
„Wenn ich nicht zurückkehre von dieser Reise ...“,
hauchte sie düster, „bring bitte meiner Familie etwas von
mir.“ Sie schluckte schwer.
Athónon sah sie nur an, hielt aber inne, das Messer zu
putzen. Nach einem schweigsamen Moment antwortete
er: „Du kannst immer noch umkehren. Auch Mèra irrt
sich manchmal. Manche Visionen sind klar, doch andere
sind symbolisch und schwer zu deuten. Ich weiß nicht,
was sie sieht.“
„Aber wenn es wahr ist, was sie sagt?“, fragte Jade
bitter. „Wenn meine Wahl ist: Nur ich – oder meine ganze
Familie, mein Dorf und ich?“
„Ja – wenn“, raunte Athónon bloß. Schließlich schüttelte
er den Kopf und knurrte: „Ich weiß es auch nicht besser.“
„Würdest Du mir diesen Gefallen also tun und meiner
Familie etwas von mir zurückbringen?“, bat Jade abermals
und sah den Gnom eindringlich an.
„Natürlich“, raunte Athónon und putzte mit mahlendem
Kiefer sein Messer weiter. Er hatte in der Nacht eine
blutige Vorahnung gehabt, von der er hoffte, dass sie sich
abwenden ließ. Er war bereit, sich für Jade zu opfern, mit
ihr die Rollen zu tauschen, damit sie zu ihrer Familie
zurückkehren könnte; Athónon war schließlich allein und
nichts hielt ihn noch wirklich im Leben, nichts außer dem
194 Glauben, dass die Götter ihren Diener noch brauchten.
Er spürte auch, dass noch größere Ereignisse sich
anbahnten. Doch um diese zu erkennen, reichten seine
seherischen Kräfte bei Weitem nicht.

Sie schwiegen noch einige Augenblicke, dann hörten


und sahen sie Mèra zurückkehren. Als Jade erkannte,
wen Mèra außer Zeeris noch mitbrachte, stürmte sie ihrer
Tochter mit langen Schritten entgegen.
„Mutter, ich ...“, begann Laura schon auf halbem Weg
schuldbewusst. Als Jade sie erreichte, fing Laura sich eine
schallende Ohrfeige ein. Im nächsten Moment drückte
Jade ihre Tochter fest an sich und wisperte ihr ins Ohr:
„Ist Dir auch nichts passiert?“
Laura grinste gequält und schüttelte den Kopf, doch
ihre Augen verrieten sie.
Jades Miene gefror, sie starrte ihre Tochter alarmiert
an.
„Mir fehlt nichts“, hauchte Laura.
Fragend blickte Jade zu Mèra.
Diese berichtete knapp: „Ich fand sie schwer verwundet,
aber ein junger Elf hatte ihre Wunden versorgt und sie so
vor dem Verbluten gerettet.“
Jade ohrfeigte ihre Tochter gleich noch einmal, noch
härter.
Laura taumelte einen Schritt zur Seite und hielt
sich erschrocken die Wange. „Hast Du etwa auch eine
Menschenseite?“, keuchte sie ganz leise.
Schluchzend wirbelte Jade herum und stürmte ein paar
Schritte von Laura fort. Genauso stürmisch machte sie auf
dem Absatz kehrt und stampfte sofort wieder zurück. 195
„Wieso konntest Du nicht auf mich hören?“, schrie sie
ihre Tochter mit erschreckender Stimmgewalt an. Laura
ließ nur den Kopf hängen und schwieg.
„Sie hätte auch ohne mich überlebt. Allerdings nur, weil
dieser junge Elf sie fand, der kein Feind war“, raunte Mèra
noch in Jades Ohr. Dann setzte die Elfin sich zu Athónon
ans Feuer und ließ Mutter und Tochter allein, etwas abseits
vom Lager. Mèra hielt sich die Schläfen und schüttelte
schwach den Kopf, als Athónon sie fragend musterte.

„Ich habe zwei Menschenmänner getötet, wahre Bären“,


hauchte Laura, ohne aufzusehen.
Jade holte ein drittes Mal zu einer Ohrfeige aus, aber
diesmal beherrschte sie sich und ließ die Hand ganz
langsam wieder sinken. „Du hast es immer noch nicht
begriffen“, flüsterte sie.
Laura hob nun wieder den Kopf und streckte den
Rücken ganz gerade. „Ich habe ja noch die ganze Reise
Zeit, um von Dir zu lernen, Mutter“, knurrte sie mit einem
Glitzern in den Augen.
Jade ballte die Fäuste und schluckte. Ihr Blick fiel auf
ihr Kettenhemd, das Laura unter der Tunika trug. Wortlos
ging die Mutter zum Feuer zurück und ließ ihre Tochter
einfach stehen.
„Wenigstens lerne ich jetzt den berühmten Athónon
Elfenfreund kennen“, murmelte Laura zu sich.
196 Der Fackelschein kam gefährlich nahe. Srrig und Taren
erwarteten jeden Moment, dass die Feinde um die Ecke
bogen, und pressten sich so tief wie möglich in die Nische.
Ganz passten sie jedoch einfach nicht hinein, mussten sie
nun im Fackelschein erkennen. Aber ein besseres Versteck
gab es nicht, und selbst wenn – es wäre zu spät gewesen,
es zu erreichen.
Nur wenige Schritte entfernt bog eine muskulöse
Menschenfrau mit der Fackel in der einen und einer
mächtigen Eichenkeule in der anderen Hand um die
Ecke. Ihre Haut schien seltsam ungesund, mit einem
schwachen Grünschimmer. Außer einem Lendenschurz
und ein paar Lederfetzen um den Brustkorb war sie nackt.
Ihr blondes Haar war sehr dünn und filzig, teilweise stach
ihre Kopfhaut deutlich heraus. Ihre Beine waren genauso
muskulös wie Tarens; zweifellos trainierte sie sehr hart.
Genau an der Biegung des Ganges blieb sie stehen und
schnupperte misstrauisch. Wortlos streckte sie den Arm
mit der Fackel hinter sich. Die Schritte, die ihr bis gerade
eben noch gefolgt waren, verstummten.
Brüllend hechtete Srrig aus dem Versteck hervor und
stach mit dem Dolch nach der Kriegerin, die ihm als Karva
genannt worden war. Sie ließ sich nicht überrumpeln und
sprang weit zurück. Wie ein Tier bleckte sie drohend die
Zähne.
Taren folgte Srrig auf dem Fuße, den Dolch im Gürtel
und die Armbrust im Anschlag.
Die Frau, die ihnen als Harpyie genannt worden war,
stand genau vor der dritten Frau, vor deren Flüchen sie
besonders gewarnt worden waren.
Srrig fauchte Karva ebenfalls mit gebleckten Reißzähnen 197
an – gleichzeitig trat er Harpyie, die Taren fixierte, von
der Seite her in den Bauch. Harpyie krümmte sich und
taumelte fort, Taren schoss im selben Moment.
Die dritte Frau wurde von Tarens Bolzen jedoch nicht in
die Brust getroffen, wie er zu zielen versucht hatte, sondern
nur in die Schulter. Wild kreischend stolperte die Hexe in
der braunen Robe aus dem Fackelschein.

Karva hatte die Fackel fallen gelassen und schwang die


Keule. Sie verfehlte Srrig, der im allerletzten Moment den
vorgereckten Kopf einzog. Er hatte mit seinem Kopf ein
Ziel seiner Wahl geboten – eine seltene Kunst meisterlicher
Kämpfer, die einen entscheidenden Reaktionsvorteil bot:
wusste er doch von vornherein, wohin der Gegner schlagen
musste.
Noch bevor Karva ihre schwere Keule wieder in
Position bringen konnte, sprang Srrig sie mit dem Dolch
an. Sie hatte allerdings damit gerechnet und riss ein Bein
hoch, das sie zwischen sich und Srrigs Brustkorb stemmte.
Mit aller Kraft brüllend, versuchte sie den Tigermann
zurückzuschieben, gleichzeitig hob sie die Keule zum
Schlag auf Srrigs Schädel.
Srrig war ihr jedoch weit voraus. Er verkrallte sich in
ihrem Knie, schnitt ihr tief durch die Wade und rammte
ihr danach den Dolch in den Innenschenkel. Karva schrie
irrsinnig und schlug mit der Keule zu. Wieder wich
Srrig mit einer präzisen Seitwärtsdrehung erst im letzten
Moment aus, die Keule striff bloß sein Brustfell.
Er drehte den Dolch aus Karvas Wunde. Die Kriegerin
198 wimmerte und stürzte mit dem Rücken an die Wand,
obendrein verlor sie die Waffe. Erst jetzt ließ Srrig ihr Bein
los. Der Tigermann war so ruhig im Gesicht, am ganzen
Körper, dass nichts seine Angriffe oder Absichten verriet.
Als er ihrer Bewegung folgte, wollte sie ihn von sich
drücken und in seine Augen greifen. Doch der Tigermann
reagierte wieder schneller und biss ihr mit voller Kraft in
die Hand. Während Karva jämmerlich schrie, spuckte
Srrig ihr zwei ihrer Finger ins Gesicht.
Dieser zusätzliche Schock wäre nicht mehr nötig
gewesen; Srrig wusste, dass sie den Kampf in dem Moment
bereits verloren hatte, als sie sich durch den Biss in ihre
Hand hatte schockieren und aus dem Rhythmus bringen
lassen.
Srrigs weiche Kupferklinge unterbrach Karvas Schrei
abrupt und versank bis zum Griff unter ihrem Brustkorb;
die Spitze zeigte empor in ihr Herz. Fassungslos starrte sie
den Tigermann an und tastete mit einer Hand nach der
Wunde, die Srrigs Handfell mit ihrem Blut überströmte.
Srrig würdigte sie ihrerseits keines weiteren Blickes mehr,
sondern drehte sich zu Taren um.

Der Tempelkrieger hatte die Armbrust fallen gelassen


und den Dolch gezogen, um die röchelnde Harpyie zu
töten, solange sie sich noch nicht von Srrigs Tritt erholt
hatte. Als er zustach, taumelte Harpyie jedoch zurück und
schlug Tarens Hand aus der Drehung mit der scharfen
Kante des Buckelschildes zur Seite. Taren starrte für einen
Lidschlag entsetzt auf das Blut, das aus der Innenseite seines
Armes pulsierte. Sein Dolch war zu Boden gefallen. Bevor
Harpyie ihn jedoch überrumpeln konnte, presste er den 199
Arm an seinen Bauch, um die Blutung zu bremsen, und
funkelte die Feindin lauernd an. Harpyies Schwerthieb,
der von oben in Tarens Kopf hätte einschlagen sollen,
zischte knapp an ihm vorbei, als er sich im letzten Moment
wegdrehte. Gleichzeitig schleuderte er die linke Faust nach
vorn, um Harpyie niederzuschlagen – ein Konter, mit
dem er schon viele Faustkämpfe gewonnen hatte. Diese
Gegnerin ließ sich jedoch nicht überraschen und pendelte
den Oberkörper blitzschnell nach hinten aus, sodass Taren
sie verfehlte. Abermals sprang sie vor, um Taren mit dem
Kurzschwert aufzuspießen.
Srrig trat ihr von der Seite unter den Ellbogen, wo ihre
kupferne Armschiene aufhörte. Der Knochen gab ein
dumpf berstendes Geräusch von sich, Harpyies Schwert
glitt widerwillig aus ihrer Hand. Ihr gellender Schrei
verstummte sofort wieder, als Taren ihr diesmal die Faust
in die Zähne schlug.
Karva und Harpyie sanken fast gleichzeitig zu Boden,
mit dem Unterschied, dass Harpyie vermutlich noch lebte
und nur ein paar Zähne weniger hatte. Karva jedoch lag mit
starren Augen auf der Seite. Von ihrer blutverschmierten
Hand, die kraftlos an dem Dolch in ihrem Herzen hängen
geblieben war, fiel ihr Blut in dicken Tropfen auf den
Fels.

Taren verließ sich auf Srrig, was die letzte Gegnerin


betraf; er musste sich um die lebensbedrohliche Wunde in
seinem Arm kümmern. Er kniete sich hin, um ein weiteres
Gebet an Bruder Mond zu richten.
200 Die dritte Schlangenblüterin war trotz des Bolzens
in ihrer Schulter nicht untätig geblieben. Sie hatte leise
zu murmeln begonnen und eine stechend riechende
Flüssigkeit aus einer Kupferflasche an die Wände gespritzt.
Die vermeintlich willkürlichen Spritzer formten stachelige
Runen, während die Tropfen dem Boden entgegenrannen.
Schon blitzten erste Lichtfunken in den Runen auf und
giftiger Dampf begann von der Wand in den Gang zu
schießen – nur die Hexe aussparend, die mit geschlossenen
Augen fremde Worte flüsterte.
Sie bekam erst mit, was geschehen war, als Srrig sie am
Hals packte, ihr die Flasche aus der Hand schlug und ihre
Zaubervorbereitung damit unterbrach. Ein Bein stellte
er zwischen ihre Beine und drehte sich seitlich, sodass sie
ihn kaum sinnvoll treten konnte. Sie boxte ihm keifend in
den Magen, erzielte jedoch nicht die geringste Wirkung.
Furchtsam starrte sie den Tigermann nun an und streckte
die offenen Hände leicht von sich.
Srrig zog ihr die Kapuze vom Kopf und sah in ein
verwachsenes, doch junges Gesicht voller Angst.

„Ihr müsst sie alle drei töten!“, rief der Elf, der
inzwischen ebenfalls den Kampfschauplatz erreicht hatte.
Seine Begleiterin stand dicht hinter ihm.
Srrig schaute wieder in das ängstliche Gesicht der jungen
Frau vor sich. Er spürte, wie sie unter seinem Griff bebte.
Noch immer streckte sie die Hände von sich, sie ergab sich.
Doch Srrig roch auch die Reste ihres bösartigen Zaubers
an der Wand, den er gerade noch rechtzeitig unterbrochen
hatte.
Der Blutgeruch überall beeinflusste ihn hingegen 201
kaum: Anders als die meisten seiner Artgenossen, hatte
er N`rracorr, den Dämon des Blutdurstes, für immer aus
seiner Seele verbannt und geriet nicht in Versuchung,
zuzubeißen. N’rracorr hatte sich nach dem Glorreichen
Zeitalter vor den Göttern in die Tigerseelen geflüchtet.
Der Tigermann drückte ihren schlanken Hals etwas
fester zu. Die Frau versteifte sich und keuchte, doch sie
unterdrückte den Reflex, nach Srrigs dicken Handgelenken
zu greifen.
„Wer bist Du, wieso hast Du diese beiden Elfen
verfolgt?“, fragte Srrig auf Elfisch.
Die Frau schielte zu den beiden herüber, verweigerte
jedoch standhaft die Antwort.

Die Elfin trat energisch vor und hob das Kurzschwert


von Harpyie auf. Taren saß direkt neben ihr, schien
durch sein Gebet aber so abwesend zu sein, dass er nichts
mitbekam. Nur seine Lippen bewegten sich unmerklich.
Srrig funkelte die Elfin böse an, ließ allerdings die
Schlangenblüterin nicht los.
Beidhändig, mit der Klinge nach unten, holte die
Elfin weit aus, um die bewusstlose Harpyie kaltblütig zu
erstechen. Sie zögerte nicht einen Lidschlag und donnerte
das kupferne Schwert – auf den Fels, denn Harpyie rollte
im letzten Moment zur Seite weg und sprang auf die Füße.
Sie hatte alle mit ihrem Zustand getäuscht, auch wenn sie
ihre Waffe nicht hatte retten können.
Nervös wischte sie sich das Blut vom Mund, spuckte
Zahnreste aus und funkelte abwechselnd zwischen Srrig
202 und der Elfin hin und her, tief geduckt stehend und
jederzeit bereit, in die entgegengesetzte Richtung zu
springen, taxierend, wer sie zuerst attackierte.
Srrig rührte sich nicht und hielt weiterhin die junge
Hexe an der Kehle fest, behielt aber auch Harpyie im
Auge. Diese bleckte mit einem wütenden Fauchen ihren
verbliebenen Giftzahn und hob langsam die Finger der
freien Hand wie Krallen in Richtung der Nachtelfin. Die
Kupferspitze des Schwertes war nach dem verfehlten Hieb
gegen die vermeintlich Bewusstlose abgebrochen.
Der Nachtelf trat grimmig neben seine Gefährtin und
hob die Fäuste. Für einen Moment belauerten die drei
Gegner sich finster und reglos. Durch Tarens Wunde
wussten die beiden Elfen nun, dass Harpyies Buckelschild
ebenfalls eine gefährliche Waffe war.
Die Elfin hob das Schwert über den Kopf und sprang
zischend vor. Harpyie war viel schneller, sprang ihr noch
in der Bewegung entgegen und trat ihr in den Solarplexus.
Doch von rechts, um dem Schild zu entgehen, rammte der
Elf die Schlangenblüterin gegen die Felswand und schlug
ihr die Fäuste ins Gesicht und in die Niere. Harpyie drehte
sich stöhnend, um mit dem Schild zuzuschlagen – da
packte der Elf sie an den Handgelenken und presste sie
gegen den Fels. „Stich sie ab!“, rief er hinter sich.
Seine Gefährtin kam gerade erst wieder keuchend auf
die Füße. Harpyie riss das Knie hoch, aber der Elf verstand
es, mit seinem Bein das ihre zur Seite zu lenken, sodass sie
ihn verfehlte.
Ihre Zähne kamen durch ihr Strampeln seinem Arm
nah; als sie schlagartig ruhig wurde und den Elfenarm
anstarrte, hatten beide denselben Gedanken im selben 203
Moment. Harpyies Biss ging jedoch ins Leere, der Elf ließ
sie los und wich zurück. Gleichzeitig sprang nämlich seine
Gefährtin mit dem Schwert vor und stach zu. Harpyie
drehte sich fluchend zur Seite, sodass nur die schwache
Brustwölbung ihres Lederwamses vom Kupfer gestriffen
wurde. Der Elf war nun jedoch in ihrem Rücken und schlug
seine Fäuste wie zwei Hämmer in ihre Nackenseiten. Sie
hatte nicht aufgepasst, wohin sie ausgewichen war.
Harpyie hing stöhnend in der Luft, konnte nicht recht
stehen, fiel aber auch nicht um. Die Elfin hielt das Schwert
mit beiden Fäusten und hackte es der Schlangenblüterin
in den Rücken. Harpyie wirbelte stumm herum und
schlug ungelenk nach der Elfin, verfehlte sie und stürzte
rücklings zu Boden. Die Elfin sprang mit einem heiseren
Schrei hinterher und versenkte die Klinge beim Landen
in Harpyies knirschenden Brustkorb. Für einen Moment
starrten beide Frauen sich animalisch an. Harpyie zitterte
und öffnete den Mund, doch plötzlich brach ihr Blick.
Ihre Glieder erschlafften und ihr Hinterkopf fiel mit einem
dumpfen Knall auf den Fels.

Srrig hielt noch immer die Hexe am Hals gepackt und


hatte den Kampf mit finsteren Blicken verfolgt – wie die
Hexe, die aber den Kopf abgewandt hatte, unmittelbar
bevor das Schwert in Harpyies Rücken gehackt worden
war. Vielleicht hätte er eingreifen sollen, überlegte er; doch
weder hatte er echtes Mitleid empfunden, noch interessierte
er sich letztlich für den Ausgang des blutigen Streits.
Die Elfin riss die Waffe frei und trat einen Schritt vor.
204 Böse funkelte sie den Tigermann an. „Töte Du jetzt die
Hexe, oder ich tue es“, sagte sie eisig. Aus irgendeinem
Grund schien ihr der Tod aller drei Schlangenblüter sehr
wichtig zu sein.
Wieder schaute Srrig in das angstbebende Gesicht der
Schlangenblüterin. Eine Träne lief ihre Wange hinab,
unmerklich schüttelte sie den Kopf.
„Lass Dich doch nicht um den Finger wickeln von
einem so billigen Trick!“, schnauzte der Elf. „Das ist eine
böse Hexe! Sieh Dir die Säurerunen an der Wand an!“ Er
nahm der Gefährtin die blutige Waffe aus der Hand und
kam näher.
Srrig ließ sich keineswegs um den Finger wickeln
– aber er ließ sich auch nicht von den Worten des Elfen
manipulieren. Er streckte ihm den Arm entgegen und
rief entschieden: „Halt! Erst will ich wissen, was hier
vorgeht.“
„Wir führen Krieg“, röchelte die Schlangenkriegerin auf
Elfisch, „aber ich will trotzdem nicht sterben! Ich biete –“
Der Elf sprang vor und wollte zustechen, doch direkt
vor der Schlangenblüterin packte Srrig seine Hand und
hielt ihn eisern fest. Als der Elf Anstalten machte, fester
zu drücken, quetschte und drehte Srrig seinen Daumen so
sehr, dass der Elf schreiend auf die Knie fiel und die Waffe
fallen ließ.
„Ihr führt also Krieg“, seufzte Srrig. „Wieso und wofür?
Wer hat angefangen? Erzählt mir die ganze Situation.
Vorher lasse ich Euch beide nicht los.“
Die Elfin erspähte Tarens Kupferdolch. Sie hob ihn auf 205
und hielt ihn Taren an die Kehle.
Der Mensch war noch immer tief in sein Gebet
versunken, um seine gefährliche Blutung am Arm zu
stoppen.
„Du wirst Sundári loslassen und die Schlangenblüterin
töten. Oder ich töte Deinen Freund hier“, befahl die Elfin
mit schneidender Stimme. Ihr Gesicht, farblos durch
das Leben in Höhlen, war jetzt kalt und hart geworden;
zusammen mit ihrer elfischen Schönheit erinnerte sie Srrig
plötzlich an weißen Marmor. Jedoch war sie nicht halb so
stabil wie jenes Gestein.
Srrig ließ beide Personen los, Elf und Hexe, und trat
einen Schritt zurück. „Wenn Du Taren ein Haar krümmst,
bist Du die Nächste, die den Tod findet“, knurrte Srrig,
blieb aber entspannt stehen.
Die Hexe zögerte nicht länger und rannte um ihr
Leben.
Seufzend traten die beiden Elfen von Srrig und Taren
zurück. „Wir sollten uns jetzt alle wieder beruhigen“,
schlug der Elf vor und hob beschwichtigend die Hände.
„Einverstanden“, knurrte Srrig, lauernd und
bedrohlich.

Den ganzen Vormittag über sprachen weder Mèra noch


Athónon, Jade oder Laura ein Wort. Nur Taffi und Zeeris
plapperten miteinander oder führten Selbstgespräche über
die „Trauerklöße“, mit denen sie zu reisen gezwungen
206 waren. Laura wagte es nicht, den finster blickenden Gnom
nach seinen Abenteuern auszufragen, so neugierig und
forsch sie sonst auch war. Athónon hatte selbst im tiefsten
Schweigen eine Ausstrahlung, die im wahrsten Sinne des
Wortes erdrückend war.
Laura fragte sich vergeblich, wie das möglich war,
wie ein Wesen, ohne ein Wort zu sagen, ohne jemanden
anzublicken, doch solch eine Präsenz besitzen konnte. Was
hatte Athónon alles erleben müssen, um sich so unsäglich
viel weiter zu entwickeln als alle anderen Personen, die
Laura kannte?
Die Gruppe entschied sich zu einer kurzen Essenspause,
als die Sonne am höchsten stand. Jade sagte zu ihrer
Tochter: „Wir müssen trainieren. Hier, nimm den Stock.
Du wirst erst essen, wenn Du mich besiegt hast.“ Damit
legte sie sich ihren starken, rechten Arm auf den Rücken
und hob mit der Linken einen weiteren Stock auf. Ihre
Unterarme waren dünner und drahtiger als Lauras, auch
ihre Hände waren etwas zierlicher, und doch war sie
stärker und zäher.
Noch während Laura etwas unschlüssig ihren eigenen
Stock in der Hand hielt, holte Jade plötzlich aus und schlug
auf Laura ein.
„Au! He! Übertreib doch nicht gleich so!“, schrie Laura
erschrocken und wich zurück. So „unelfisch“ kannte sie
ihre Mutter nicht.
„Rede nicht, wehr Dich!“, rief Jade mit ihrer kraftvollen,
befehlsgewohnten Stimme. „Wenn Du an Flucht denkst,
obwohl Du kämpfen müsstest, hast Du schon verloren
und bist tot!“ Abermals schlug die Nachtelfin mit voller
Entschlossenheit zu. Laura parierte den Schlag zwar, doch 207
waren ihr Blick und ihre Bewegungen von Unsicherheit
durchdrungen. Der nächste Schlag war noch stärker und
Laura spürte plötzlich die Belastung im Handgelenk.
„Mehr aus dem Körper! Halt das Handgelenk gerade“,
mahnte Jade scharf und schlug einige einfache Angriffe, die
Laura immerhin das Üben der Anweisung ermöglichten.
„Wir sind nicht mehr im Dorf! Ich dachte, Du hättest
das gestern schon gelernt!“, rief die Mutter böse. „Denk
dran, dies ist ein Schwert! Und hinter mir kommen
vielleicht schon die nächsten Gegner!“ Wieder schlug sie
auf ihre Tochter ein, doch diesmal wich Laura nur aus.
„Ich will Dich aber nicht verletzen!“, protestierte Laura
und behielt den Stock unten. „Du schlägst viel zu wild!“
Laura hatte sich gerade erst angewöhnt, eben nicht zu wild
zuzuschlagen, um nicht schon wieder jemandem die Nase
zu brechen. Doch jetzt auf einmal wollte ihre Mutter, dass
sie genau so kämpfte?
„Und ich will nicht, dass Du stirbst!“, schrie Jade sie an
und drang noch wilder auf sie ein. „Halt den Oberkörper
ruhig, beweg Dich aus den Beinen! Wenn Du zu viel
pendelst, verlierst Du Ruhe und Überblick und erschöpfst
zu schnell! Wenn Dein Bauch Deine Glieder nicht
zusammenhält, hast Du außerdem keine Kraft. Wir haben
das schon so oft geübt, verdammt!“
Laura wusste, dass sie das beinahe tödliche Erlebnis mit
den zwei Menschen nicht vor sich selbst herunterspielen
durfte und es auch noch keineswegs verarbeitet hatte. Eine
leise innere Stimme rief ihr zu, dass ihre Mutter völlig
recht hatte, sie so hart zu trainieren.
208 Laura wich einigen Hieben aus, andere parierte sie im
letzten Moment. Plötzlich wurde sie am Kopf gestriffen.
Ihr Blick verriet, dass sie wusste, was das bei einem Schwert
bedeutet hätte. Doch sie machte gleich den nächsten
Fehler: Sie dachte darüber nach. Jades Stiefelspitze traf sie
mit voller Wucht in den Bauch. „Sieh auf mich, nicht auf
die Waffen!“, schnauzte die Kriegerin. Würgend stürzte
Laura auf die Knie und verlor ihre Waffe.
Jade zerschlug ihren Stock auf Lauras Hinterkopf.
Benommen brach die Halbelfin nun ganz zusammen
und röchelte leise am Boden.
Jade ertappte sich dabei, wie sie schon nachtreten
wollte, so sehr hatte sie sich in eine tödliche Kampfszene
hineinversetzt. Athónons Hand an ihrem Bein hielt sie
zurück. Stumm blickten die schmalen Augenschlitze des
Gnomes zu ihr auf.
Wie ausgewechselt hockte Jade sich plötzlich zu Laura
und nahm sie in den Arm. „Es tut mir leid! Ich habe doch
solche Angst um Dich!“, jammerte Jade und streichelte
immer wieder über Lauras blonde Locken.
Laura erwiderte die Umarmung zaghaft und flüsterte
zurück: „Ich weiß, Mutter.“ Sie schüttelte sich und rappelte
sich auf. „Aber wenn Du mich jedes Mal erst bewusstlos
schlägst, bleibt nicht viel Zeit zum Üben“, scherzte sie und
rieb sich den Hinterkopf.
Verlegen grinste Jade und hob einen neuen Stock auf.
Mit wesentlich mehr Kontrolle, dennoch verbissen, führten
die beiden dann weitere Übungen aus. Jades Vorgabe,
Laura müsse ihre Mutter erst besiegen, bevor sie essen
durfte, konnten die beiden allerdings nicht einhalten; als
sie die Übungen aus Zeitmangel beendeten, stand es elf 209
zu null für Jade. Immerhin hatte sie ihren rechten Arm
zwischenzeitlich vom Rücken genommen.
„Beim Training der Dorfwache hast Du nie so
gekämpft!“, stöhnte Laura beim Essen. „Mir tut einfach
alles weh!“
Jade konnte nicht mitlächeln. Sie wechselte bittere
Blicke mit Athónon und Mèra.

„Ich heiße Sundári, und das ist meine Gefährtin


Safáydra“, begann der Elf seinen Bericht. „Wir liegen in der
Tat im Krieg mit den Schlangenblütern, weil das Gebiet,
das sie seit Kurzem beanspruchen, auf dem Weg von der
Stadt und einigen Ausgängen in unsere eigene Enklave
liegt. Früher ließen sie uns passieren und wir handelten
sogar ein wenig, doch plötzlich sind sie feindselig geworden.
Erst wollten sie Wegzoll, dann wollten sie uns gar nicht
mehr passieren lassen. Wir sind jedoch auf die Passage
angewiesen, da wir sonst überhaupt keinen brauchbaren
Zugang mehr zur Außenwelt haben.“
Sundári verstummte und hob das Kinn.
„Wieso sollte ich das jetzt glauben?“, fragte Srrig und
legte die Hände auf dem Rücken zusammen – eine
unbewusste Bewegung, über die er sich im nächsten
Moment unmerklich selbst wunderte.
„Weil es die Wahrheit ist“, antwortete Safáydra und
unterdrückte ganz bewusst den Reflex, abweisend die
Arme zu verschränken. „Wir haben die Schlangenblüter
210 nie gemocht, das stimmt, aber wir waren höflich. Sie
verbergen etwas in ihrem Gebiet, deshalb wollten sie uns
nicht länger passieren lassen.“
Taren, der inzwischen zu sich gekommen war und sich
nur noch nicht bemerkbar gemacht hatte, fragte darauf:
„Und was könnte das sein?“
Leicht überrascht blickten die Elfen den Menschen an,
wie er sich langsam erhob, sich den Schweiß von der Stirn
wischte und über seinen verheilten Unterarm rieb.
Sundári erwiderte auf Tarens Frage: „Wir wissen es
wirklich nicht. Es würde mich wundern, wenn diese
Leute etwas von Wert besäßen. Wahrscheinlich haben sie
einfach einen neuen Götzen aufgestellt, der sie nicht mehr
beschützt, wenn Fremde ihn sehen ... Die Schlangenblüter
sind außerordentlich abergläubisch, müsst Ihr wissen.“
Srrig und Taren schwiegen darauf. Nach einigen
Lidschlägen fragte Taren leise: „Besteht Eure Enklave nur
aus Nachtelfen?“
Safáydra atmete erschrocken ein und starrte Taren mit
großen Augen an. Sundári fragte überrascht: „Woher wisst
Ihr ... das?“
Tarens Blick glitt ins Leere, während er schwieg. Als
die Elfen gerade dachten, er würde nicht mehr antworten,
murmelte Taren: „Ich weiß eben davon.“
Sundári seufzte schwer: „Ja, wir sind dort alle
Nachtelfen.“
„Könnt Ihr uns Unterschlupf gewähren?“, bat Taren.
„Wir müssen uns über unser weiteres Vorgehen erst selbst
klar werden, außerdem könntet Ihr uns derweil die Gänge
erklären.“
Srrig wollte zunächst widersprechen und öffnete den 211
Mund, doch er schloss ihn einfach wieder, auf Tarens
eindringlich bittenden Blick hin.
Die beiden Elfen sahen sich ebenfalls stumm an.
Schließlich nickte Sundári. „Das wird möglich sein“,
versprach er, „kommt, hier entlang.“ Sundári ging voraus,
dicht gefolgt von Safáydra. Die beiden verschlangen im
Gehen ihre Finger miteinander und schmiegten kurz die
Schultern aneinander.

„Ja, Meister!“, hörte Srrig sich verlegen sagen, doch seine


Stimme klang ungewohnt – jung. Er sah sich wieder in diesem
Kloster-Innenhof, mit wesentlich weniger Muskeln am Körper
als er heute besaß. Ein anderer Tigermann stand vor ihm und
drückte ihm einen Strohbesen in die Hand. „Dass das nie
wieder vorkommt!“, sagte der ältere Tigermann. Der junge
Srrig nahm den Besen entgegen ohne aufzusehen. Der Meister
schob die Hände in die weißen Ärmel und wandte sich zum
Gehen. Srrig verbeugte sich tief und begann die sinnlose
Aufgabe, den Wüstensand in eine Ecke zu fegen, während der
Wind ihn immer wieder zurückwehte. Das alles geschah in der
glühenden Mittagssonne, wo andere Tigermenschen sich am
liebsten das Fell vom Leib gerissen hätten, keinen Handschlag
taten und im Schatten dösten. Ihre Vorfahren waren durch
Kriege immer weiter nach Süden vertrieben worden, unfähig,
ihre angestammte Heimat zurückzuerobern.
Die Gruppe betrat eine schmale, hohe Höhle, deren
Decke im Fackelschein nicht mehr zu sehen war.
Unvermittelt blieb Srrig stehen. „Ich habe ein ungutes
Gefühl“, flüsterte er. „Raus hier!“, brüllte er plötzlich,
212 packte Taren am Kragen und zog ihn hinter sich her wie
eine Fahne.
Die beiden Elfen blickten sich verwirrt um und
tauschten irritierte Blicke. Dann wurde Sundári von
einem Pfeil in den Hals getroffen. Gurgelnd stürzte er zu
Boden und stierte Safáydra an, die entsetzt zurückprallte.
„Nein!“, schrie sie verzweifelt und stand einfach da, mit
den Händen vor dem Mund.
Sundáris stumme Lippen formten nur ein Wort:
„Lauf!“
Safáydra schüttelte heftig den Kopf und schrie: „Ich
lass’ Dich nicht zurück!“ Sie trat auf Sundári zu, um ihn
zu packen und zu ziehen, da streifte ein neuer Pfeil ihr
Schienbein.
„Lauf doch!“, würgte Sundári kaum verständlich hervor,
während ein Blutschwall über seine Lippen sprang. Seine
Augen wurden glasig.
„Nein!“, schrie Safáydra panisch.
„Komm hierher!“, brüllte Srrig hinter der Biegung
hervor, wo er und Taren in Deckung gegangen waren.
„Sonst sterbt Ihr beide!“
Ein weiterer Pfeil schoss auf Safáydra zu, bohrte sich
durch ihren Oberschenkel und ließ die Nachtelfin schreiend
zu Boden stürzen. Doch anstatt endlich in Sicherheit zu
kriechen, robbte sie mit Hilfe des gesunden Beines ganz
neben Sundári, dessen Blick inzwischen gebrochen war.
Schluchzend legte Safáydra ihren Kopf auf seine stille
Brust, sah in seine toten Augen und blieb liegen.
„Tja, dann sterben sie eben beide“, presste Taren tonlos
hervor.
„Ja, sieht so aus“, seufzte Srrig. Als wäre Randolph 213
persönlich hier, konnte der Tigermann für einen Moment
den strafenden Blick seines Freundes vor sich sehen.
Nie hätte der nobelste und weiseste der vier Könige
Unschuldige zurückgelassen. Randolph war das vielleicht
einzige Wesen auf Hevas Leib, dessen Meinung Srrig stets
blind zu akzeptieren bereit war.
Auf allen vieren sprengte der Tigermann mit
übermenschlicher Schnelligkeit in die Höhle zurück.
Beinahe hätte man ihn für einen echten Tiger gehalten, der
im Sprung angreifen wollte. Srrig packte die kreischende
Safáydra wie ein Spielzeug und sprintete nur auf den
Hinterbeinen zurück in die Deckung.
Die Elfin schrie und schlug wild um sich. Srrig packte
sie an den Handgelenken und schubste sie unsanft an die
Felswand. Er trat ihr auf den Fuß, von dem er spürte, dass
sie ihn trotz des Pfeiles damit hatte treten wollen. „Hör
mir zu! Sundári ist tot, aber das ist kein Grund für Dich,
ihm zu folgen! Beruhige Dich! Wir müssen hier weg, und
nur Du kennst einen anderen Weg!“
Elendig schluchzend sank die Elfin an Srrigs Schulter.
Schließlich brachte Safáydra hervor: „Wir müssen den
Gang zurück und dann bald links.“
„Gehen wir“, sagte Srrig darauf und ergriff die Elfin an
der Taille. Mühelos wie einen leeren Rucksack legte er sie
sich über die Schulter, nur vorsichtiger.
214 7

Im Gehen legte Taren Safáydra die Hand auf die


Beinwunde und murmelte ein Gebet. Plötzlich fiel der
Pfeil zu Boden und die Wunde schloss sich. „Jetzt wirst Du
zumindest nicht mehr verbluten“, sagte Taren und wischte
sich umständlich die Hand an einem alten Tuch ab,
gleichzeitig die Armbrust festhaltend, während die Elfin
ihn von Srrigs Schulter herab undeutbar musterte. „Wenn
wir in Sicherheit sind und ich mehr Ruhe habe, kann ich
mich auch noch besser um die Wunde kümmern“, fügte
Taren hinzu. „Aber allmählich werden die vielen Gebete
anstrengend. Ich bin zwar kein Zauberer, doch auch Bruder
Mond fordert Tribute für seine Gunst, wie alle Götter.“
Er wischte sich über die nasse Stirn und versuchte
vergeblich, seinen unsicheren, schleppenden Gang zu
verbergen, der von seiner Erschöpfung durch die wundersam
wirkenden Gebete herrührte. „Zaubervorgänge“ aller Art
mochten subtil und unscheinbar verlaufen, egal ob bei
Tempelkriegern, Zauberern oder sonst jemandem – die
schädlichen Wirkungen auf den Körper taten dies nicht.
„Du bittest einen Gott, für Dich die Arbeit zu machen,
und dafür erschöpft er Dich?“, fragte Safáydra irritiert von
Srrigs Schulter herab.
Etwas pikiert funkelte Taren die Nachtelfin an und
antwortete: „Ja, genau so ist das. Durch meine Gebete lenke
ich einen winzigen Teil der Kraft von Bruder Mond.“
„Wir Elfen nennen das Zauberei“, erwiderte Safáydra
vorsichtig.
„Zauberei ist götterlästerlich unter Menschen“, knurrte 215
Taren reflexartig. „Es ist eine dunkle und verbotene
Frucht. Nur was die Götter uns bereitwillig geben, dürfen
wir benutzen. Jegliches andere Wissen ist dämonischen
Ursprungs. Schade, dass ihr Elfen diese Wahrheit in
Sachen Zauberei missachtet oder vergessen habt.“
„Das glauben die Menschen?“, wunderte sich Safáydra,
ehrlich bemüht, nicht spöttisch zu klingen.
„Ja, allerdings“, knurrte Taren und starrte noch finsterer
drein. „Die Prophezeiung von Theb Nor lehrt uns seit jeher,
dass Wissen an sich zunächst ,böse‘ ist und den Dämonen
im vergangenen Glorreichen Zeitalter den Dolchstoß in
den Rücken Hevas ermöglichte, um sie zu überwältigen.
Wir verloren das schlechte Wissen glücklicherweise wieder
und schlugen die Dämonen zurück, und nun passen
die Götter genau auf, was wir besitzen dürfen und was
nicht.“

Schließlich verbannten sie den Widersacher,


Doch mitsamt des bösen Wissens ihrer Zeit.
Die Welt blieb zerstört und leer zurück, sie sah
Das Ende des Glorreichen Zeitalters.
Fort geschritten vom Fortschritt,
Sollte die Welt in die Wirklichkeit zurück.
216 Safáydra unterdrückte ein Grinsen und schwieg. Ihr
Volk betrachtete die genannte Prophezeiung, die Wissen
aller Art verteufelte, als Aberglauben der Jungen Völker, die
noch an Götter glauben mussten, um sich zu orientieren
und einen Halt im Leben zu haben. Sie konnten nach
elfischer Meinung noch nicht allein auf eigenen Füßen
stehen.
Ihre Gesichtszüge verzogen sich wieder gequält; das
Gespräch hatte sie nur kurz vom Tod ihres Gefährten
ablenken können. Sie befühlte ihr Bein, während Srrig
sie weiterhin so mühelos trug, als sei sie bloß ein kleines
Wanderbündel.

Nachmittags erreichte Mèras Reisegruppe ein


Menschendorf mit strohgedeckten Bruchsteinhäusern.
Eine breite Straße lud sie ein und führte ihre Blicke bis
direkt vor die Tür eines großen Hauses, das eine Herberge
zu sein schien: Zwei Reihen Fensteröffnungen mit grün
bemalten Läden zeugten von vielen kleinen Zimmerchen
auf zwei Etagen. Ein übermächtig dickes Strohdach
bedeckte das Haus; nur ein rauchender Steinkamin ragte
daraus noch hervor.
„Wir werden viel Zeit verlieren, wenn wir hier bleiben,
statt später in der Wildnis zu übernachten“, murmelte
Mèra. „Ich habe sowieso das Gefühl, wir werden viel zu
viel Zeit verbrauchen, bis wir unser Ziel erreichen. Ich
fühle im Nacken, wie die Dinge sich zuspitzen.“
„Laura und ich brauchen keine Herberge, meinetwegen
können wir auch noch weiterreisen“, erklärte Jade und 217
zupfte an ihrer Kapuze. Ihre Wangen waren inzwischen
tiefrot und ein wenig Haut schälte sich ab.
„Vor allem in einem Menschendorf brauchen wir keine
Herberge“, brummte Laura abfällig.
Mèra senkte den Blick und murmelte noch leiser: „Das
wird alles nicht reichen. Die Zeit läuft mir schneller davon,
als ich gedacht hätte.“ Etwas lauter entschied sie dann:
„Wir bleiben hier. Ich werde einen Zauber vorbereiten und
gegen feindliche Spürzauber tarnen; dieser Zauber wird
uns unbemerkt bis zu dem Gefährten bringen, den ich in
der Ferne spüren kann. Das geht immer noch schneller, als
wenn wir über Land weiterreisen, zumal Jades Pferd nun
zwei Frauen tragen muss. Spätestens ab der Grenze der
Chimärier wäre das Ganze obendrein genauso gefährlich
wie der Zauber.“
Leiser fügte sie hinzu: „Damit die Dämonen meinen
Zauber nicht aufspüren können, muss ich eine sehr starke
Tarnung aufrechterhalten. Das wird lange dauern und ich
werde in dieser Zeit abwesend und verwundbar sein. Ich
hoffe, ich kann mich auf Euch verlassen, mich zu schützen
– während der nächsten ein bis zwei Tage.“
„Natürlich“, nickte Jade sofort. Auch Laura schien sich
auf die Aufgabe zu freuen und lächelte. Nur Athónons
Steinmiene rührte sich nicht, verdüsterte sich sogar eher
noch. Sein Blick traf sich mit Mèras Blick; traurig und
verlegen sah die geheimnisvolle Elfin weg.
Auch Taffi waren die subtilen Blicke zwischen Athónon
und Mèra nicht entgangen. Das Chamäleon krabbelte
nun ganz aus Athónons Rucksack, aus dem es bisher nur
218 den Kopf gesteckt hatte. Es hängte sich mit den Krallen in
Athónons Wams, vor seine Brust.
„Ja, Taffi?“, fragte Athónon ohne Lächeln.
Taffi sagte gar nichts und blickte den Gnom nur
durchdringend mit seinen seltsamen, schwarzen Augen
an, während die Gruppe langsam von den Pferden zur
Herberge getragen wurde.
„Die Herberge ist doof!“, krähte Zeeris’ Stimme aus
dem Nichts. „Die haben gar keine eingelegten Augäpfel!
Ich habe schon mal geguckt ...“ Trübsal blasend setzte er
sich rücklings auf Athónons Pferd und lehnte sich an den
breiten Gnomenrücken.

Nervös schaute Laura sich um, als die Gruppe von


den Rappen gestiegen war. Sie führten ihre Tiere an den
Zügeln zum Stall direkt neben der Herberge.
Jade berührte ihre Tochter am Ellbogen und raunte ihr
ins Ohr: „Halt Dich an Athónon, wenn Du mit Menschen
zu tun hast. Er kennt sich noch viel besser als ich mit
diesen Wesen aus, außerdem beherrscht er deren Sprache
am besten von uns, abgesehen vielleicht von Mèra.“
Athónon trat vor, auf den höchst pickeligen Stallburschen
zu, der am Eingang stand und die Reisegruppe mit
offenem Mund anstarrte. „Hier, Junge, kümmere Dich
um unsere Pferde“, sagte Athónon trocken und drückte
dem Stallburschen eine halbe Goldmünze in die Hand.
Mit großen Augen stierte der Junge das Geschenk an,
von dem er vermutlich mehrere Wochen bequem leben
konnte. Er nickte eifrig und ergriff die Zügel der Rappen.
„Natürlich, Herr! Ihr werdet absolut zufrieden sein!“,
versicherte der Jugendliche mit krächzender Stimme. Die 219
Münze verschwand in seiner Faust.
„Lektion Nummer eins über Menschen: Egal was sie
sagen, Gold ist ihr höchster Gott“, wisperte Jade spöttisch
zu Laura.
„Wirklich?“, flüsterte Laura irritiert, die den Scherz
nicht verstanden hatte.

Die Gruppe betrat den großen Schankraum der


Herberge, wieder ging Athónon voran. An mehreren
klobigen Eichentischen saßen sicherlich zwanzig
Menschen, die mit schäumenden Trinkhörnern und
dampfenden Fichtenholzschalen beschäftigt waren
oder sich unterhielten. Auf einem großen Tisch vor der
Kaminseite des Schankraumes lag ein halb gegessenes
gebratenes Schwein; um den Braten herum saßen derbe,
laute Menschengestalten, die grölten und lachten, sich das
Bier in die Bärte laufen ließen und große Schweißflecken
unter den Ärmeln hatten. Gerade warf einer von ihnen
einen Holzscheit ins prasselnde Kaminfeuer. Alles in allem
hing eine feuchtwarme Dunstwolke im Schankraum, die
insbesondere die drei Elfinnen dazu brachte, die zierlichen
Nasen zu rümpfen.
Laura versuchte, eine gewisse Scheu zu verbergen.
Sie schielte verstohlen zu den Seiten, während Jade eher
angewidert den Blick stur geradeaus richtete. Mèra folgte
Athónon teilnahmslos.
Einige Gäste starrten die drei Elfinnen und den Gnom
mit offenem Mund an, was insbesondere Laura sichtlich
unangenehm war. Die Tavernengeräusche verebbten
220 jedoch nicht ganz; nicht alle Gäste sahen zum ersten Mal
Elfen und Gnome, und nicht alle waren von so schlichtem
Gemüt, dass sie jedes fremde Gesicht nur mit einem
dumpfen Schafsblick begaffen konnten.
Gerade als Athónon den Wirt ansprechen wollte, der
bereits lächelnd hinter der rustikalen Eichentheke – einem
sehr langen, schmalen Tisch – auf die Neuankömmlinge
wartete, sprang ein junger Mann mit einem bunten
Stirnband auf. Er ging geradewegs auf Laura zu.
„Na, so eine Freude! Was für ein betörender Anblick!“,
rief der junge Mann auf Elfisch und zog sich das Stirnband
vom Kopf; auch er war ein Halbelf. Sein Gesicht war ehrlich
und fröhlich und besaß ein paar hellbraune Barthärchen.
Ohne abzuwarten, ergriff er Lauras Hand und schüttelte
sie kräftig. „Willkommen in der Herberge ,Schwanenteich‘
im Dorf der Reisenden, Felswegheim!“, rief der Halbelf.
„Mein Name ist Wenndur, ich bin hier der hauseigene
Barde. Setz Dich doch zu mir, ich brauche dringend eine
neue Geschichte für meine Lieder, und Du siehst mir aus,
als könntest Du sie mir erzählen!“ Sein Menschendialekt
machte sein Elfisch etwas hart, aber im Prinzip sprach er
es fließend und fehlerfrei.
Wenndur zog Laura mit sanfter Gewalt an seinen Tisch,
der aus zwei dicken, langen Stammscheiben dunklen
Eichenholzes zusammengefügt war und auf vier Beinen
aus dünnen Buchenstämmen stand. Die Halbelfin starrte
verlegen grinsend hinter sich, wo noch immer Jade, Mèra
und Athónon standen. Offensichtlich spürte der Barde
nicht im Geringsten, wen er in Lauras Begleitung vor sich
hatte. Er hatte die drei anderen keines Blickes gewürdigt.
Laura ließ sich die dreiste Einladung etwas scheu 221
gefallen und alle Umstehenden sahen sofort, dass das
junge Mädchen sich durchaus gern schmeicheln ließ und
zudem die forsche Art des Barden keineswegs verteufelte.
„Mutiges Bürschlein“, zischte Jade leise und legte eine
Hand ans Schwert. Sie wollte auf Wenndur losgehen und
ihn zurechtweisen, doch Mèra hielt sie kopfschüttelnd am
Arm zurück.
Die Elfin flüsterte: „Er ist reichlich dreist, aber doch
nur ein harmloser Barde; lass ihn und Deine Tochter
ruhig gewähren. Wer weiß, vielleicht erhalten wir auf
diese Weise sogar nützliche Informationen über den Ort.“
Jade funkelte die Elfin aufgebracht an. „Natürlich ist es
am Ende Deine Entscheidung“, beschwichtigte Mèra sie
daraufhin.
Mèra schob Athónon zur Theke weiter, beide zeigten
keine erkennbare Regung im Gesicht.
Jade blieb einen Moment unschlüssig stehen und sah zu,
wie Wenndur ihrer Tochter einen Schemel an den Tisch
rückte. Laura nahm Platz und lächelte vergnügt dabei.
Die nachtelfische Kriegerin schlenderte in Wenndurs
Rücken und legte ihm locker ihre schlanke Hand in den
Nacken. Dann beugte sie sich mit einem kühlen Lächeln
über seine Schulter, um ihm mit melodiösem Akzent in
der Menschensprache ins Ohr zu raunen: „Sie ist übrigens
meine Tochter, Freundchen. Du benimmst Dich lieber.
Ich habe schon gefährlichere Männer als Dich getötet.
Dies ist kein Spiel.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte
Jade Mèra und Athónon an die Theke. Ihr Blick verriet
den Begleitern Jades aufgewühlte Sorgen.
222 Wenndur war für einen Moment das Grinsen vergangen,
doch als Jade verschwand, verbreiterte sich sein Mund
wieder fröhlich und er zwinkerte Laura zu. „Ich liebe
diesen Dialekt, wenn Elfen ,Mensch‘ sprechen“, raunte
er in elfischer Sprache, grinste breit und rollte mit den
Augen.
Laura hatte kein Wort der Menschensprache verstanden,
aber sie kannte ihre Mutter und schaute ihr wütend nach.
Es saßen noch zwei Menschen am Tisch, ebenfalls junge
Männer, die Wenndur als Tommo den Hufschmied und
Finngrad den Zimmermann vorstellte. „Sie sind Flüchtlinge
der heimischen Kinderherden und herrschsüchtiger
Weiber!“, lachte Wenndur. Nachdem er seinen Scherz
auch in Menschensprache vorgetragen hatte, schlug er
seinen dicken Bierkrug an die ebenfalls hoch gehaltenen
Krüge der beiden, während Laura unsicher zusah. Sie
wagte nicht zu fragen, wie der Menschenscherz gemeint
war und lächelte dünn mit. Sie versuchte sich einzureden,
dass Menschen genauso wenig alle gleich waren wie Elfen.
Dass die Menschen hier nicht automatisch ihre Feinde
waren.
„Ich bin Laura“, stellte sie sich dann selbst in beiden
Sprachen vor, wobei ihre Sprachkenntnis für kaum
mehr als das reichte. Sie versuchte, möglichst souverän
dabei zu wirken, trotz der fremden Umgebung, die sie
verschüchterte.
„Noch einmal willkommen, Laura! Was willst Du
trinken?“, fragte Wenndur laut und erfasste ihre Schulter.
„Was trinkt man hier denn so?“, fragte sie unsicher auf
Elfisch zurück und streifte Wenndurs Hand ab.
„Na, einen Gerstensaft natürlich!“, entgegnete 223
Wenndur; ein eigenes Wort für Bier gab es im Elfischen
nicht. „Heda, Wirt, ein Bier für unseren neuen Gast!“, rief
er über die Schulter, wieder in Menschensprache.
Jade drehte sich auf dem Absatz herum und funkelte
ihre Tochter vorwurfsvoll an. Laura zog zur Antwort nur
die Schultern hoch und grinste schief, was Jade wiederum
seufzend den Kopf schütteln ließ.
„Sie weiß hoffentlich, was Alkohol ihrem Körper antut“,
murmelte Mèra zu Jade.
„Sie hat Geschichten darüber gehört“, seufzte Jade
besorgt. „Ach, man sollte meinen, sie hätte aus ihrem
Fehler gestern gelernt. Jetzt lässt sie sich sogar freiwillig
mit diesen Wesen ein!“
„Sie sind nicht alle böse“, entgegnete Mèra, „sonst
dürften wir gar nicht hier sein.“
Jade musterte Mèra noch für einen Augenblick. Dann
grinste sie plötzlich dünn, hielt die gefalteten Hände vor
den Mund und wisperte: „Er sieht gut aus, oder? Für einen
Halbelfen jedenfalls ...“
Mèras Lächeln jedoch war kaum sichtbar, sie senkte
den Blick ein wenig. „Ja, ein charismatischer Jüngling“,
hauchte sie.
Jades Lächeln gefror. Sie spürte, dass Mèra etwas
verschwieg. „Betrifft es meine Tochter?“, fragte sie nur mit
einem Kloß im Hals.
Leicht überrascht sah Mèra sie an. Die Halbgöttin
verneinte und sah verlegen wieder weg.
Jade nickte betreten und mit großen Augen.
224 Nachdem Athónon beim Wirt Topta eine weitere
Goldmünze hinterlassen hatte, erklärte der eifrig seinen
vermeintlich reichen Gästen den Weg die dunkle
Holztreppe hinauf zu den bestellten Einzelzimmern. Die
Treppenbohlen bogen sich in der Mitte durch und waren
abgewetzt von zahllosen Füßen. Während Jade, Mèra
und Athónon sich anschickten, die Zimmer zu beziehen,
brachte Topta Lauras Bier an den Tisch.
„Darf man wissen, was Euch in unser ehemaliges
Flüchtlingsdorf treibt?“, fragte Topta mit breitem Grinsen
und blickte auf Laura hinab.
Die musterte den Wirt jedoch nur fragend und schielte
dann hilfesuchend zu Wenndur hinüber. Der übersetzte
Toptas Frage, und übersetzte auch Lauras zögerliche
Antwort: „Wir sind auf der Durchreise, um einen Freund
zu besuchen.“
„Und dafür braucht Ihr sogar unelfische, eiserne
Kettenhemden? Oder ist die Gegend hier wirklich schon
so gefährlich geworden?“, fragte Topta mit einem leichten
Lauern in der Stimme. Sein Lächeln wurde falsch. Bevor
Wenndur überhaupt die Frage übersetzen konnte, fügte
Topta eilig hinzu: „Nun, das ist Eure Angelegenheit. Zu
viel Neugier haben die Götter ohnehin verboten. Und
eigentlich seht Ihr ja auch nicht so aus, als wolltet Ihr
Ärger machen. Aber ich warne Euch trotzdem: Wenn Ihr
in meinem Haus einen Streit anzettelt, hole ich auf der
Stelle die Dorfwache!“ Mit diesen Worten verabschiedete
sich Topta und kehrte hinter seinen Tresen zurück.
„Abenteurer, pah. Allesamt Verlierer!“, spottete er im
Gehen leise.
„Was hat er denn gesagt?“, wollte Laura wissen, „es 225
klang irgendwie feindselig.“
„Er hat sich nur gewundert, wieso Du in seiner
wunderschönen Heimat ein Kettenhemd zum Reisen
trägst“, übersetzte Wenndur sehr frei. Auch der Barde
kannte die Gebote der Menschengötter wider jegliches
Wissen, das nicht für den Alltag benötigt wurde; Neugier
war ein überaus verpönter Wesenszug unter Menschen.
Obgleich dem eher unreligiösen Wenndur das egal war,
war er es doch gewohnt, seine Mitmenschen nicht in
Verruf zu bringen und im Zweifel zu ihren Gunsten zu
reden.
Lauras Miene verfinsterte sich. „Die Rüstung hatte mich
bereits einmal gegen zwei Menschenkrieger beschützen
müssen. Außerdem war dies vor zwanzig Jahren noch
ein Kriegsschauplatz gegen Chimärier und Tiefenweltler.
Meine Mutter und der Gnom in unserer Begleitung,
Athónon, haben hier auch gekämpft und die Gegend erst
zu dieser ,wunderschönen Heimat‘ gemacht!“
„Wirklich?“, platzte es aus Wenndur heraus und er
strahlte bis über beide Ohren. „Das musst Du mir alles
erzählen! Daraus mache ich ein Lied! Oder besser gleich
zwei Lieder!“, rief er und beugte sich erwartungsvoll vor.
„Na los, zier Dich doch nicht! Und gib ruhig ordentlich
an, das macht das Lied sowieso viel besser! Und vergiss
Dein Bier nicht! Geschichten sind mein täglich Brot, ich
muss so neugierig sein!“
Mit einem dünnen Lächeln begann Laura zunächst von
ihrer eigenen Heldentat zu berichten, während Wenndur
leise für Tommo und Finngrad übersetzte. Die drei
226 Zuhörer sahen Laura mit einer Mischung aus Skepsis und
Respekt an, während sie erzählte. Sie zog den Kragen ihrer
Tunika und des Kettenhemdes von ihrer Schulter und
präsentierte ihre rosige, gut verheilte Narbe. Sie wunderte
sich still, dass sie ihren Arm nach solch einer Verletzung
wieder ganz normal bewegen konnte.
Von einem Nachbartisch schielten wieder zwei gepflegte
Menschen in hellen Roben herüber, ein Mann und
eine Frau, die nur sehr langsam ihr Hundefleisch aßen
und an dem Wein in ihren noblen, blauen Krügen aus
Keramik bloß nippten. Laura bemerkte die Blicke in ihrer
Begeisterung über ihren Kampf nicht.

„Ich fange gleich mit der Vorbereitung an“, erklärte


Mèra, kaum dass das Trüppchen den engen, weiß
verputzten Flur am Ende der Treppe erreicht hatte. „Es
wäre schön, wenn immer einer von Euch beiden Wache
halten könnte, direkt in meinem Zimmer.“
„Ich komme sofort“, erwiderte Athónon darauf und
verschwand in seinem eigenen Zimmer.
Taffi streckte nun wieder den Kopf aus dem Rucksack.
„Ja, ja, ich bleibe hier und passe auf die Sachen auf. Wie
immer“, maulte das Chamäleon, ohne dass Athónon etwas
gesagt hätte.
„Danke“, antwortete Athónon freundlich und schloss
die Tür wieder hinter sich.
Auf dem Flur vor Mèras Tür hielt Jade den Gnom noch
einmal auf. Sie beugte sich zu ihm herab und erfasste seine
Schultern. Leise wisperte sie: „Meinst Du, ich sollte nach
unten gehen? Vielleicht sollte lieber ich zuerst wachen und
Du behältst an meiner Stelle diesen halbelfischen Streuner 227
im Auge?“
Athónon dachte einen Moment lang nach. Dann
entgegnete er: „Nein, Du wärst im Moment vermutlich
zu abgelenkt, um zu wachen. Geh Du nur hinunter in
irgendeine Nische, dann wird Deine Tochter sich schon
nicht allzu beobachtet fühlen.“
„Na gut“, brummte Jade und schlich die Treppe hinab,
während Athónon in Mèras Zimmer trat.
Vorwurfsvoll musterte der Gnom die Elfin.
„Was habt Ihr, Athónon?“, fragte sie sanft, während sie
in ihrem Rucksack kramte.
Der Gnom schilderte: „Ich erinnere mich daran, wie
ihr Euch mit einem Dämonenschwert durchbohrt habt
und nicht daran sterben konntet, so sehr ihr das auch zu
jenem Zeitpunkt herbeigesehnt hattet. Wieso habt Ihr
den anderen gesagt, ihr wäret verwundbar und bräuchtet
Wachen? Was führt Ihr im Schilde? Ich sehe manchmal
Dinge in meinen Träumen, wie Ihr wisst ... Und die
gefallen mir im Moment gar nicht.“
Mèra hielt inne, ihren Rucksack auszupacken, und
wandte sich Athónon zu. Seufzend erklärte sie: „Ich sehe
auch Dinge in meinen Träumen. Einiges hat sich geändert.
Wenn mich diesmal ein Schwert durchbohren sollte ...
werde ich sterben. Der Suchzauber, dann Lauras Heilung,
all das hat mich schon jetzt weitaus mehr angestrengt, als
es normal für mich gewesen wäre. Ich ... bin wohl etwas
außer Form.“ Sie sah Athónon nicht mehr an, sondern
packte weiter ihren Rucksack aus.
228 Jade versuchte, nicht zu sehr zum Tisch ihrer Tochter
zu schielen. Sie setzte sich an einen wackelnden Ecktisch
neben der Treppe. Ein zerzauster Mensch schnarchte dort
mit dem Kopf auf dem Tisch und umklammerte einen
halb leeren Krug mit schal gewordenem Bier. Der Gestank
des Mannes und seines Bieres schnürte Jade die Kehle zu,
aber wenigstens saß sie so nicht im Blickfeld ihrer Tochter
und des anderen Halbelfen.

„Da ist ihre Aufpasserin“, sagte Tommo der Hufschmied


grinsend zu Wenndur.
Wenndur schielte kurz über die Schulter und übersetzte
dann für Laura: „Deine Mutter macht sich wohl Sorgen
um Dich.“ Grinsend deutete er mit dem Kopf in Jades
Richtung.
Verärgert ließ Laura den Blick sinken und seufzte
leicht. „Ich verlasse unser Dorf zum ersten Mal“, erklärte
sie kleinlaut und umfasste ihren Krug mit beiden Händen.
Zuversichtlicher sagte sie: „Aber ich habe schließlich
meinen eigenen Willen und meine Begleiter verstehen
nichts vom Feiern.“
Unsichtbar über ihr schwebend dachte Zeeris
schnippisch bei sich: „So, ich verstehe also nichts vom
Feiern? Püh!“
„Na, wie auch immer“, rief Wenndur lauter, „ich hole
jetzt meine Laute und dann probieren wir unser neues
Lied aus!“ Begeistert sprang er auf.
„Nein!“, rief Laura erschrocken, sprang ihm hinterher
und hielt ihn am Arm fest. „Ich will das nicht. Das muss
nicht gleich jeder hier hören.“
„Wen genau meinst Du mit ,jeder‘?“ Wenndur grinste 229
und schielte unmerklich in Jades Richtung.
„Komm schon, lass das“, bat Laura verärgert.
Seufzend setzte der Barde sich wieder und brummte: „Na
gut, vielleicht später. Später muss ich sowieso auftreten,
sonst bringt Topta mir nichts zu essen!“

Jade vergaß für einen Moment ihre Sorgen und musste


lächeln, wie sie ihre neugierige Tochter am Tisch des
Barden und seiner Freunde beobachtete. Auch Jade
hatte sich als blutjunge, damals noch blonde Elfin und
Rüstungsmacherin, geradezu magisch zu Athónon, Cesius
und Xelos hingezogen gefühlt. Zu einer Zeit, noch bevor
Jade je wirklich ihr Dorf verlassen hatte, waren diese
fremden Wesen in der elfischen Taverne eingekehrt und
hatten in einer seltsamen Sprache miteinander geredet,
mal ernste Mienen machend, mal tief und ehrlich aus dem
Bauch lachend. Auch Jade war damals beleidigt gewesen
und hatte nicht verstanden, wieso die drei Fremden ihre
Begleitung in die Wildnis, zu irgendeiner feindseligen
Höhle, nicht gewollt hatten.
Jades Lächeln verging. Laura schlug scheinbar denselben
Weg wie sie ein, konnte Jade das zulassen? Konnte sie es
ändern? Laura hielt das schmerzvolle, entbehrungsreiche
Abenteurerdasein tatsächlich für erstrebenswert – oder
hatte es zumindest bis gestern getan. Jade sah das jedoch
anders und hoffte, Laura würde dieselben Schlüsse ziehen,
bevor sie einmal weniger Glück als gestern hatte. War Jade
etwa alt geworden, bloß weil sie so dachte?
Manche Entscheidungen erkannte der nüchterne,
230 berechnende Geist vielleicht als falsch; doch die Seele,
der Sitz der Wahrheit, bestand auf ihnen, um sich frei
und lebendig zu fühlen. Und jene Elfen, die völlig ohne
Risiko ihre Lebenszeit nur absaßen, anstatt wirklich zu
leben, mochte Jade auch nicht. Doch welches Risiko war
lebenswert, welche Erfahrungen waren es wert, selbst
gemacht zu werden, und welche Risiken und Erfahrungen
waren tödlich? Konnte Laura das erkennen, seit sie
hoffentlich eine Lehre aus dem Überfall zog, den sie nur
haarscharf überlebt hatte? Auch Jade hatte damals nicht
verstanden, warum sie nicht ernst genommen worden
war.
„Nun, aber einen gleichaltrigen, gutaussehenden Barden
kennenzulernen, ist vermutlich ein erträgliches Risiko
und eine annehmbare Erfahrung“, schmunzelte Jade im
Stillen.
Das stinkende, schnarchende Menschending vor ihr
hob träge den Kopf und unterbrach ihre Gedanken. Es
lallte mit rauer Stimme: „He ... wer bist ’n Du? Von Dir
habe ich gerade geträumt!“
Jade starrte den Mann mit leichtem Entsetzen an und
versteifte sich auf ihrem Schemel. „Dagegen war Cesius
ja mindestens ein Halbelf!“, dachte sie angewidert.
Glücklicherweise fiel der Kopf des Mannes schon im
nächsten Moment wieder auf den Tisch und gab weiter
Schnarchgeräusche von sich.
„Was darf ’s sein?“, fragte Topta die Nachtelfin von der
Seite, mühsam sein Grinsen unterdrückend.
„Nichts!“, rief Jade eilig, sprang auf und rannte die
Treppe hinauf.
Kopfschüttelnd zog Topta sich wieder hinter die 231
Theke zurück. „Elfen, pah. Magere Hungerhaken und
Kostverächter. Schlechte Gäste“, grummelte er. Still
grübelte er weiter: „Besonders die schwarzhaarigen sind
immer so düster drauf, kommen oft auch nur bei Nacht
raus, pfff.“ Was ein Nachtelf war, wusste jenseits des
Elfenvolkes so gut wie niemand.

Melek hatte den Ausbruch des Tigerwesens und Tarens


nicht mitbekommen, weil er noch mit Alynde beschäftigt
gewesen war. Fassungslos hatte er den reglosen Körper
angestarrt. Allmählich hatte er begriffen, was er getan
hatte ... oder hatte es Ressu getan? Wie auch immer, er war
dem Bösen wieder anheimgefallen, wie vor vielen Jahren
schon einmal, als ein böser Geist ihn verflucht hatte.
Als Melek Messer war er bekannt geworden. Der
jüngste Mörder der ganzen Region, der seine eigene
Familie kaltblütig erstochen hatte. Ein Tempelkrieger aus
irgendeiner großen Stadt war sein Erzfeind und ständiger
Verfolger geworden, doch Melek hatte dessen Namen
nie bewusst gehört und ihn auch nie gesehen. Gozbad,
der Geist, der an den verfluchten Wurfdolch gebunden
war, hatte Melek stets gewarnt und fliehen lassen. Der
Tempelkrieger auf seinen Fersen hatte ihn nie erwischt.
Melek war aus seinen dunklen Gedanken hochgeschreckt
und von Alynde fortgesprungen, als er das Gebrüll von
Chimäriern gehört hatte. Er war so knapp noch durch
das herabrasselnde Tor gesprungen, dass das Gitter einen
232 Kratzer an seiner linken Wade hinterlassen hatte. Als
Melek schon die Füße der Chimärier auf der Treppe nach
oben gesehen hatte, war er in Deckung gesprungen – und
auf dem Zwerg gelandet, der zu Gebraks Gefolge gehört
hatte. Die beiden hatten sich nur giftig angefunkelt, aber
keinen Ton gesagt, bis die Chimärier durch die Gänge
ausgeschwärmt waren.
Als die schweren Schritte der Riesen verklungen waren,
wagten sie es endlich, durchzuatmen.
„Nett, wie Du mit Frauen umgehen kannst“, spottete
Brommil leise.
Melek sah schuldbewusst zu Boden. „Halt ’s Maul,
Zwerg“, raunte er ohne große Überzeugungskraft.
„Mach Dir nichts draus, Junge, auch Monster brauchen
Liebe“, bohrte Brommil weiter in der Wunde.
„Wer ist hier das Monster?“, wollte Melek den Zwerg
anbrüllen, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken
und er brachte nur ein heiseres Würgen hervor.
„Sollen wir das Tor für die anderen Sklaven öffnen?“,
überlegte Brommil laut.
Melek dachte kurz nach. „Nein, das scheppert viel zu
sehr. Da oben stehen bestimmt noch Wachen herum.
Lass uns wenigstens unsere eigene Haut retten, anstatt
gemeinsam mit den anderen Sklaven zu sterben.“
Brommil nickte ernst. „Sehe ich auch so. Helden beißen
einfach zu früh ins Gras für meinen Geschmack.“
Mit finsteren Mienen schlichen sie vom Gitter und von
der Treppe fort, durch den pechschwarzen Gang.
„Ich taste die linke Wand entlang, Du die rechte“,
flüsterte Brommil.
Melek nickte unsichtbar im Dunkeln. Mit der freien 233
Hand tastete er nach der Tonscherbe, die er als Messer im
Gürtel trug.

Taren von Silberberg ... Silberberg. War das vielleicht


der Name der Stadt, aus der damals dieser Tempelkrieger
gekommen war? Bruder Mond, natürlich! So hieß der Kult,
zu dem der Kerl gehört hatte! Der Dummkopf, dem Melek
stets einen Schritt voraus gewesen war, da Gozbad ihn immer
rechtzeitig gewarnt hatte. Sollte das Taren gewesen sein?
Der war eigentlich ein ganz netter Kerl, auch wenn er etwas
distanziert schien.
Es hatte Jahre gedauert, bis Melek trotz des Fluches
einen Funken eigenen Willen entwickelt hatte und Gozbads
Ratschläge, wer alles den Tod finden musste, infrage zu stellen
begann.
Melek wusste bis heute nicht, ob es eine Gnade oder eine
Strafe für ihn war, dass Gozbad sich deshalb eines Tages
kurzerhand einen anderen Träger gesucht hatte. Wie aus
einem dunklen Fiebertraum war Melek erwacht, nach
Jahren des Massenmordens. Der neue Träger war einfach
verschwunden und hatte Melek nicht angerührt.
Melek hatte sich das Leben nehmen wollen, doch ohne
Gozbad war er wieder nur ein willensschwacher dummer
Junge, dem der Mut dazu gefehlt hatte. Er war ziellos durchs
Land gestriffen, hatte jeglichen Kontakt gemieden und sich
jede Nacht in den Schlaf geweint, halb wahnsinnig vor
Schuld und Einsamkeit.
Während er wieder einmal überlegt hatte, sich endlich
umzubringen, war das Dorf, in dem er sich gerade versteckt
234 gehalten hatte, von einem Spähtrupp der Chimärier
geplündert worden. Völlig teilnahmslos hatte er sich als Sklave
mitnehmen lassen.
Als die Chimärier erfahren hatten, dass sie Melek Messer
gefangen hatten, dessen Name selbst bei ihnen bekannt war,
hatten sie ihn sofort in die Arena der fernen Küstenstadt
Harkýior bringen lassen, tief im Imperium. Dort sollte
er kämpfen. Melek hatte sein Schicksal bereitwillig in die
Hände der Götter gelegt und war davon ausgegangen, dass
er im Kampf sterben würde, zur Strafe für seine Taten. Doch
nun ...
„Hier geht ein Gang ab“, flüsterte Brommil und riss
Melek aus seinen Gedanken. „Sollen wir den nehmen?“,
fragte der Zwerg unschlüssig.
„Ich kenne mich hier genauso wenig aus wie Du“, gab
Melek zurück, „und hören kann ich auch von nirgendwo
etwas.“
„Also abgemacht, wir gehen links“, raunte Brommil und
bog in den Gang ein. Melek folgte ihm stumm. Neben
den Schritten des Zwerges schien er lautlos zu schweben.

Nach einigen weiteren Biegungen seufzte Safáydra


traurig und murmelte: „Lass mich jetzt runter Srrig. Ich
glaube, ich kann humpeln. Die Wache sollte mich zuerst
sehen, die sind alle nervös.“
Srrig setzte die Nachtelfin behutsam auf den Boden
und versicherte sich, dass sie wirklich stehen konnte, bevor
er sie losließ.
Safáydra humpelte einige Schritte weit und blieb dann 235
stehen. „Goldkatze!“, rief sie das elfische Losungswort in
die Dunkelheit.
„In Ordnung“, kam die Antwort halblaut zurück.
„Ich bringe zwei Fremde mit, die zwei Schlangenblüter
für uns getötet und eine dritte verjagt haben“, rief Safáydra
und winkte Taren und Srrig zu sich.
„In Ordnung. Wo ist Sundári?“, fragte die Wache aus
der Dunkelheit.
Safáydras Augen schimmerten feucht, ihre Lippen
zitterten kurz und ihre Finger gruben sich in den Stoff
ihrer Kleidung. Sie riss sich abrupt wieder zusammen und
antwortete mit vibrierender Stimme: „Er hat es leider nicht
zurückgeschafft.“
„Tut mir leid“, rief die Wache mitfühlend. Lauter
fügte die Stimme hinzu: „Kommt alle rein. Willkommen
in Quirmó, der einzigen Stadt der Nachtelfen weit und
breit.“
„Eine gute Nachricht habe ich doch für Dich, Safáydra“,
sagte beim Passieren der Nachtelf, der mit gespanntem
Bogen hinter einem Fels wachte.
Safáydra musterte die Wache traurig.
„Es mag Dich nicht wirklich trösten, aber ... Egal.
Wir haben eine Schlangenblüterin mit einem Bolzen der
Chimärier in der Schulter gefasst. Sie wird gerade verhört“,
berichtete der Elf mit einem zaghaften Lächeln auf den
Lippen. „Ich glaube, es war eine der Hexen, jedenfalls war
sie ziemlich hässlich; sie trug eine braune Robe und hatte
keine Waffen dabei.“
236 Undeutbar musterte Safáydra die Wache. Erst nach
mehreren Lidschlägen reagierte sie mit einem Nicken.
„Gut“, sagte sie knapp und hinkte weiter. „Kommt mit“,
seufzte sie, ließ den Kopf hängen und winkte Srrig und
Taren hinter sich her.
„Safáydra?“, rief die Wache den dreien nach.
Die Elfin wandte sich noch einmal um. „Ja?“
„Habt ihr denn nun herausgefunden, was die
Schlangenblüter verbergen?“, wollte die Wache wissen.
„Nein, leider nicht“, seufzte Safáydra mit kraftloser
Stimme und humpelte weiter.
Kaum hörbar flüsterte Srrig auf ‚Mensch‘ in Tarens
Ohr: „Sie ist äußerst angespannt. Sieh, wie sie ständig den
Impuls unterdrückt, die Fäuste zu ballen. Etwas stimmt
nicht.“
Auch Taren war das nicht entgangen, er nickte stumm.
Abrupt blieb Safáydra stehen und wirbelte herum. Sie
lächelte verlegen zu Boden und zeigte nur auf eins ihrer
langen, spitzen Elfenohren. Elfen waren in der Tat für ihre
enorme Sinnesschärfe bekannt, wenn auch nicht unbedingt
dafür, die Menschensprache zu kennen. Srrig und Taren
hielten inne und schauten drein wie zwei Jünglinge, die
bei einem Streich ertappt worden waren.
Plötzlich blickte die Nachtelfin böse und angriffslustig,
doch genauso schnell brach ihr Wille wieder und sie sackte
sichtlich zusammen. Schluchzend setzte sie sich auf einen
Stein und vergrub das Gesicht in den Händen. Taren und
Srrig schauten sich ernst an.
Unter Tränen berichtete die Elfin: „Sundári und ich
wissen, was die Schlangenblüter verbergen. Wir wollten
einen Handel mit ihnen machen und dieses armselige Dorf 237
hier verraten und verlassen. Doch irgendwie ... konnten wir
es dann nicht. Wir zogen unseren Handel zurück; damit
waren die Schlangenblüter leider nicht einverstanden.
Sie wollten aus uns herausholen, durch welche Tunnel sie
Quirmó finden konnten, und jagten uns, bis wir auf Euch
beide trafen. Den Rest kennt ihr. Die drei Schlangenblüter,
die uns auf den Fersen gewesen sind, waren mittlere
Anführerinnen einer Splittergruppe aus ,Amazonen‘, mit
denen wir ins Geschäft kommen wollten.“
Die Wache am Eingang des Ganges sprach als Erstes:
„Das solltest Du lieber dem Rat erzählen, bevor sie es von
der Hexe erfahren müssen.“
Safáydra nickte unglücklich. Sie erhob sich wieder und
schlurfte mit einer Hand auf der Beinwunde voraus.
Völlig unvermittelt sprengte sie dann an Srrig, Taren
und der Wache vorbei in die Dunkelheit, erstaunlich
schnell für ihr verwundetes Bein. Niemand versuchte sie
aufzuhalten; Taren machte keine Anstalten, die Armbrust
zu heben.
„Kann sie da draußen überleben?“, fragte Taren
die Wache; seine Stimme verriet nicht allzu viel
Anteilnahme.
„Keine Ahnung“, entgegnete der Elf, „aber wenn unser
Rat sie des Verrats für schuldig befunden hätte, wäre sie
sowieso hingerichtet worden. Ich weiß ja nicht, was genau
sie den Schlangenblütern schon gegeben oder erzählt hat.
Wenn Ihr bei uns beliebt werden wollt, solltet Ihr den
Wachen weiter hinten im Gang davon erzählen, damit ich
meinen Posten dafür nicht verlassen muss.“
238 „Natürlich“, nickte Taren knapp. Er und Srrig
marschierten tiefer in den Gang.
Srrig murmelte beiläufig: „Sie hat nicht gesagt, was es
nun war, das diese Schlangenblüter verheimlichen.“
Taren stutzte, zischte dann etwas Unverständliches und
biss sich auf die Lippe.
„Goldkatze!“, hörten sie hinter sich abermals Safáydras
Stimme, diesmal jedoch zitternd und ängstlich.
„Komm ins Licht!“, rief die Wache misstrauisch und
blickte kurz zurück zu Srrig und Taren, die stehen blieben
und sich umdrehten.
Eine stark lispelnde, zischelnde Kriegerin in einer
Lederrüstung knurrte: „Wirklich nedd von ihr, unsss
herzzzuführen, an den Nebeneingang midd nur einer
Wache.“ Sie schob Safáydra mit einem Kupferdolch an
der Kehle vor sich her. Die Kriegerin war offensichtlich
eine Schlangenblüterin mit menschlichem Anteil: Zuerst
wirkte sie wie eine schwarzhaarige Menschenfrau, doch
ihre Haut glitzerte silbergrün und ihre Giftzähne und ihre
gespaltene Zunge waren nicht zu übersehen. Und sie kam
nicht allein. Im Halbdunkel folgten ihr etliche gerüstete
Gestalten, die sich die Stiefel mit Stoff umwickelt hatten,
um weniger Geräusche zu machen.
Der wachestehende Elf starrte für einen Moment auf die
Angreifer, dann brüllte er „Alarm!“ Er wirbelte herum und
lief los, doch ein Pfeil durchbohrte ihn schon nach zwei
Schritten. Mit einem schrillen Schrei brach er zusammen.
Die Angreifer begannen nun ebenfalls zu laufen und
trampelten über ihn hinweg. Safáydra wurde noch immer
mit dem Dolch an der Kehle vorweggeschoben.
Srrig und Taren zögerten nicht länger und sprengten den 239
Gang entlang, Alarmrufe und „Nicht auf uns schießen!“
auf den Lippen. Zwei Pfeile sausten ihnen nach, einer striff
Tarens Stiefel und einer ritzte Srrigs Ohr.

Glahnir wünschte seinem letzten Kunden einen


schönen Abend. Dann warf er hinter ihm die Brettertür
zu und riss den schwergängigen, breiten Bronzeriegel
vor den Türrahmen im Bruchstein. Durch die kleine
Fensteröffnung sah er im Haus gegenüber eine junge Frau
mit zwei Kindern lachen und spielen. Glahnir seufzte
gepresst und schlug die Fensterläden mit einem energischen
Ruck zu. Auch hier zerrte er verbissen an einem breiten
Bronzeriegel, bis das Metall sich widerwillig durch den
Bügel bewegt hatte und das Fenster verschloss.
Glahnir stapfte am dunklen Holztresen seines
Krämerladens vorbei ins Hinterzimmer, wo ein kleines,
niedriges Kohlenbecken neben dem Durchgang für
Licht und Wärme sorgte. Reihum verschloss Glahnir
die drei weiteren Fensterläden mit ihren unwilligen
Bronzeriegeln.
In der hintersten Ecke des kahlen Raumes stand ein
Wassereimer. Glahnir beugte sich darüber und streckte
die Hände zum Wasser aus, zögerte jedoch, kurz bevor
seine Fingerkuppen die Wasseroberfläche berührt hätten.
Er betrachtete sein Spiegelbild im Halbdunkel: das Bild
eines allmählich alternden, hageren Mannes mit dunklem
Haar.
240 Er rasierte sich jeden Tag und schnitt regelmäßig um
seine Ohren herum das Haar weg, sodass er als sehr
gepflegt in seinem Dorf galt, fast schon übertrieben
reinlich. Mit einer Hand fuhr er sich von den Schläfen
aus durchs Haar und betrachtete den höher werdenden
Ansatz. Mit der anderen Hand strich er sich über die tiefer
werdenden Falten um seinen Mund herum. Einst hatte
man ihm fröhliche Augen nachgesagt, doch er konnte sie
nicht mehr im spiegelnden Wasser entdecken.
Ruckartig stieß er die Hände in den Eimer und
schaufelte sich Wasser ins Gesicht. Prustend rieb er sich
über Augen und Wangen und den Hals hinab. Ohne noch
einmal in den Eimer zu blicken, erhob er sich und eilte zu
seinem Schlaflager, einem großen Strohhaufen mit einer
dicken Wolldecke. Eine zweite, dünnere Decke lag bereit,
von ihm ergriffen und über ihn gezogen zu werden. Doch
Glahnir stutzte mitten in der Bewegung und starrte mit
offenem Mund auf seinen Schlafplatz.
Eine schwarzhaarige Schönheit mit einem dünnen
Kleid räkelte sich darauf und blickte lasziv zu Glahnir auf.
Mit dem Zeigefinger lockte sie ihn zu sich, doch er blieb
stehen. „Wer bist Du? Wie bist Du hier hereingekommen?“,
stammelte der Krämer.
„Ist das etwa wichtig?“, raunte die Schöne und strich
mit ihren roten Fingernägeln über ihren Bauchnabel,
der sich unter dem Stoff abzeichnete. Langsam spreizte
sie Glahnir einen Schenkel entgegen und zog den Saum
ein wenig höher, sodass ihre makellosen Unterschenkel
sichtbar wurden.
Glahnir begann zu schwitzen und sein Herz schlug
höher. Er ballte die Fäuste und grinste hilflos. „Das ist ein 241
Scherz!“, stammelte er. „Jemand hat Dich bezahlt, um sich
über mich lustig zu machen!“
Die Schöne schürzte die Lippen und schüttelte langsam
den Kopf. „Ich mag Dein Gesicht!“, hauchte sie lustvoll,
„massiere meinen Nacken, bitte.“ Geschmeidig glitt sie
auf den Bauch und rieb ihre Wange auf der Wolldecke,
während sie Arme und Beine von sich streckte und wohlig
raunte.
Glahnir begann zu zittern und starrte die Schöne
fassungslos an. Er wischte sich mit dem Handgelenk über
die Stirn, schluckte schwer und rannte plötzlich in den
Verkaufsraum. „Wo bist du, Scherzbold? Willst du mein
dummes Gesicht sehen? Oder ist das ein Trick, mich
insgeheim auszurauben? Was soll das?“ Der Krämer rannte
hinter den Tresen und griff unter einen doppelten Boden.
Seine Hand fand ein klimperndes Säckchen; beruhigt zog
er die Finger zurück, doch dafür sah er sich nun weiter
fieberhaft im Halbdunkel um.
„Komm schon her zu mir!“, schnurrte die Schöne aus
dem Hinterzimmer.
Glahnir blickte gehetzt zu ihr, eilte jedoch in genau
die entgegengesetzte Richtung. In einem Holzregal lagen
einige Kupfermesser in verschiedenen Größen. Glahnir
griff sich das längste und hielt es entschlossen vor sich.
„Was immer du willst, du wirst mich nicht übertölpeln,
Frau! Ich werde nicht auf deinen Körper hereinfallen!“
Die Frau drehte sich auf die Seite und musterte Glahnir
spöttisch. „Siehst du, deswegen bist du immer noch allein“,
raunte sie, „du greifst einfach nicht zu, wenn sich dir mal
242 eine Gelegenheit bietet. Wirklich schade für mich ... und
dich.“
Glahnir leckte sich hektisch über die Lippen und
wischte sich einige Schweißtropfen von der Stirn. „Das ist
keine Gelegenheit!“, rief er schließlich.
Die Frau erhob sich. „Du bist ein Dummkopf und ein
Schwächling“, sagte sie kalt und stolzierte auf nackten
Füßen zu ihm. Glahnir hob mit zitternder Hand das
Messer vor sich und starrte die Schöne furchtsam an.
Langsam hob sie ihre Hand und strich mit den Fingern
Glahnirs Unterarm bis zum Handgelenk empor. Hilflos
sah der Krämer zu, wie sie ihm das Messer aus der Hand
nahm und es dann demonstrativ neben sich zu Boden
fallen ließ. „Das habe ich mir leichter vorgestellt“, sagte
sie enttäuscht.
Mit den roten Fingernägeln beider Hände strich sie
ihm über die Brust und kam mit ihren Lippen den seinen
näher. Stocksteif stand Glahnir da und starrte die Schöne
nur an. Sie stutzte, legte den Kopf schräg und verdrehte
schließlich die Augen ein wenig genervt. Sie packte
Glahnirs Hände und drückte sie auf ihre Taille, dann
strich sie wieder mit den Nägeln über seine Brust. Glahnirs
Finger striffen unwillkürlich weiter über ihre weiche Haut
unter dem hauchdünnen Kleid, während er die Fremde
noch immer ängstlich anstarrte. „Du bist so süß, mein
kleiner Schwächling!“, flüsterte die Fremde und stieß ihn
mit einem plötzlichen Ruck gegen das scheppernde Regal.
Sofort drückte sie sich dort wieder an ihn und küsste
ihn wollüstig. Abermals rieben sich ihre Nägel auf seiner
Brust.
Glahnir verstand nicht, was er fühlte: Sie küsste ihn, 243
doch sie schien raue Bartstoppeln zu haben, wenn er
nicht hinsah. Seine Hände glitten unter ihr Kleid und
ihre Schenkel hinauf – ihre Beine sahen glatt aus, fühlten
sich jedoch wie haarige, muskulöse Männerbeine an.
Allmählich begann Glahnirs Brust zu brennen, während
die seltsame Fremde weiter darüber rieb und kratzte.
„Was geht hier vor?“, keuchte Glahnir und wollte die
Fremde von sich stoßen, doch er drückte wie gegen eine
Wand, sie war viel stärker als er.
Sie legte den Kopf neben sein Ohr und murmelte
fremdartige Worte.
„Geh weg von mir!“, schrie Glahnir panisch und begann
zu strampeln, doch die Fremde packte seine Handgelenke
und hielt ihn eisern fest. Seine Brust brannte immer heißer,
allmählich wurde sengender Schmerz daraus. Er wollte um
Hilfe schreien, doch die Fremde zog ihn an den Haaren
nach unten und rammte ihm ein Knie mit solcher Macht
in den Bauch, dass er würgend zusammenbrach. Während
er sich noch krümmte und keinen Ton herausbrachte,
schleifte die Fremde ihn mühelos ins Hinterzimmer und
setzte sich grinsend auf ihn. Sie rutschte auf seinen Lenden
hin und her und musterte ihn dabei enttäuscht.
Der Schmerz in Glahnirs Brust wurde unerträglich.
Er wandte sich verzweifelt hin und her und bäumte sich
auf, doch die Frau hielt ihn unerbittlich fest. Glahnir
roch brennendes Fleisch und sah Rauch von seiner Brust
aufsteigen. Er wollte wild losschreien, doch die Frau schlug
ihn mit einem einzigen Fausthieb bewusstlos. Plötzlich
hatte sie die Stimme eines Mannes, als sie sagte: „Was für
244 eine bemitleidenswerte Kreatur du doch warst. Hast mir gar
keinen Spaß gemacht. Warst gerade gut genug, um mir als
Opfer zur Anrufung meiner Götter zu dienen.“ Lauter und
leicht singend, fuhr die Männerstimme fort: „Möge deine
,Kraft‘ auf mich übergehen, möge dein brennendes Blut
die dunklen Herrscher erfreuen und eine andere Kreatur
meiner Wahl unverwundbar machen! Darum bitte ich, oh
dunkle Herrscher von Bedhârva! Nehmet mein Blutopfer
an, sehet die Euch heiligen Runen in seinem brennenden
Fleisch, und wisset, dass Eure Gunst stets nur zu Eurem
Vorteil eingesetzt werden wird!“
Glahnirs Körper zuckte unkontrolliert am Boden,
während seine Brust in einem schwarzen Feuer aufloderte.
In der Ferne schienen infernalische Stimmen zu kreischen,
während die Frau sich erhob und allmählich wieder ihre
wahre Gestalt annahm: Die Gestalt eines grauhaarigen,
breitschultrigen Mannes. Der Mörder verschränkte die
Arme vor der Brust, grinste zufrieden und stand stolz da.
In seinen bösartigen Augen spiegelte sich das Höllenfeuer
wider, das er beschworen hatte.
„Wenn du nur nicht so ein Schwächling gewesen wärst,
Glahnir, dann hätte das Ganze noch viel aufregender sein
können, und hätte noch mehr dunkle Energie produziert.
Aber es wird schon reichen. Und meine Vergnügungen
kann ich mir auch woanders holen.“
8 245

Tommo und Finngrad waren gerade gegangen, Laura saß


nun allein mit Wenndur am Tisch. Die beiden Halbelfen
schwiegen für einige Augenblicke und lächelten dünn
in sich hinein. Sie hatten über eine Stunde nur geredet,
entweder von Lauras großem Kampf oder von Wenndurs
kleinen Reisen auf der Suche nach Liedern.
Laura hatte sich gewundert, dass Wenndurs Lieder
allesamt einfache Unterhaltung ohne große Anliegen oder
Lehren waren. Wenndur hatte lächelnd erwidert, dass er
wichtige Dinge lieber ohne Schnörkel äußerte, während
er seine Kunst nur zur Freude seiner Zuhörer verwenden
wollte und nicht, „um ihnen den mahnenden Zeigefinger
unter die Nase zu halten.“
Der Bratengeruch, der ständig von der großen Tafel am
Kamin herüberschwebte, ließ Lauras Magen leise knurren.
Die Menschen, die an jenem klobigen, großen Tisch
saßen, waren inzwischen ebenfalls ruhiger geworden und
sahen satt, müde und zufrieden aus. Ihr Schweißgeruch,
die stickige Luft des Schankraums fielen Laura inzwischen
nicht mehr auf. Das Murmeln der Gäste war leiser
geworden, da sie weniger geworden waren.
Laura sah in ihren Krug. „Schon wieder leer“, murmelte
sie mit gespielter Trauer und vermied es, Wenndur dabei
anzublicken. Sie wollte keinen zu dreisten Eindruck bei
dem Barden hinterlassen – auch wenn sie in der Tat
hoffte, er würde ihr ein weiteres Bier spendieren, nicht
zuletzt gegen den Hunger. Sie hatte vergessen, ihre Mutter
246 oder Athónon um Münzen zu bitten; sie besaß keine, da
unter Elfen nur getauscht wurde und kein Münzhandel
existierte.
Die Halbelfin hatte in ihrem Heimatdorf erzählt
bekommen, wie schädlich der Alkohol der Menschen für
Elfen sei; aber sie fühlte nur einen gewissen, gleichmäßigen
Schwindel, der sie eher fröhlich stimmte, als dass sie dies als
Vergiftung empfand. Vielleicht war ihr menschliches Erbe
der Grund, dass sie Alkohol besser vertrug als reinblütige
Elfen.
Wenndur blickte mit einem wissenden, gönnerhaften
Grinsen in Lauras junges Gesicht. „Wenn Du ein drittes
Bier trinkst, denkt Deine Mutter, ich will Dich betrunken
machen, falls ... sobald sie wiederkommt“, raunte er
verschwörerisch und zwinkerte Laura zu.
„Betrunken?“, fragte die Halbelfin mit einem
Stirnrunzeln, da sie den Ausdruck nicht kannte. Ein ganz
klein wenig wunderte sie sich über ihre schwere, unwillige
Zunge.
Wenndur grinste breit; er überspielte damit jedoch
nur die gewisse Sorge, vielleicht wirklich Ärger mit
den Fremden zu bekommen, wenn er die Naivität und
Unwissenheit des Mädchens noch weiter ausnutzte.
Wenndurs Masche war vielleicht dreist, aber er war
kein Narr. Er war nicht viel älter als Laura, doch erfahren
genug, um entschlossene Kämpfer zu erkennen, wenn
er sie vor sich hatte. Und Jade und Athónon waren
sicher welche, nicht nur, weil Laura das erzählt hatte. In
Wenndurs Ohr klangen noch Jades Worte nach, sie hätte
schon gefährlichere Männer als ihn getötet ... Er glaubte
ihr das ohne Vorbehalt. Sowohl Athónon als auch Jade 247
sahen nicht unbedingt stark aus, aber Kraft allein machte
keinen großen Kämpfer aus, das hatte Wenndur jeder
erzählt, der es wissen musste und den er danach für seine
Lieder befragt hatte.
Wenndur hatte in den Augen der Fremden unzweifelhaft
erkannt, wie erfahren sie waren, dass sie dem Tod schon
oft ins Auge gesehen haben mussten. Zweifellos wären sie
noch weitaus interessantere Quellen für neue Lieder als
die junge Laura, doch Wenndur war realistisch: Zwischen
ihm und Personen wie Jade und Athónon lagen Welten,
sie würden sich nicht mit ihm abgeben. Bloß aus der alten
Elfin, die noch zu der Gruppe der Fremden gehörte, wurde
er nicht schlau; sie erschien ihm widersprüchlich, aber
er hatte sie nur kurz gesehen, und Laura hatte ebenfalls
nicht viel von jener Mèra erzählt. Vielleicht würde ja sie
Wenndur ein paar Geschichten erzählen, wenn sie mal im
Schankraum saß.
„He, Barde, hast Du nicht was vergessen?“, rief Topta in
diesem Moment.
„Tut mir leid, ich muss jetzt arbeiten. Nicht weglaufen!“,
raunte der Halbelf Laura verschmitzt zu. Er drückte ihre
Hände, die auf dem Tisch lagen, und stand auf. Lauras
aufleuchtender Blick folgte ihm die Treppe hinauf.

Während sie vorhin ihr Erlebnis mit den Räubern in


Ruhe noch einmal erzählt hatte, war ihr erst richtig klar
geworden, wie viel Glück sie eigentlich gehabt hatte und
wie gefährlich so ein Abenteuer eigentlich war. Und wie
groß und wertvoll ihr menschliches Erbe, die unelfische
248 Zähigkeit. Falls nicht noch mehr dahintersteckte, als sie
zu denken bereit war ...
Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen, sie hatte ein
Abenteuer erlebt. Im Nachhinein hätte sie gern darauf
verzichtet. Sie rieb ihre Hüfte, wo der Pfeil sie durchbohrt
hatte. Mèra hatte die Wunden geheilt, doch selbst ihre
Magie war nicht allmächtig; sie hatte Laura gesagt, dass
ihre Hüfte vielleicht nie wieder ganz die alte Beweglichkeit
zurückerlangen würde – anders als ihre Schulter, obwohl
die immerhin von einem Speer durchbohrt worden war.
Laura hob probeweise das linke Bein ein paarmal. Sie
spürte, dass die Sehne nur unwillig mitspielte und einen
dumpfen, ziehenden Schmerz erzeugte, wenn Laura
genau darauf aufpasste, was sie in der Hüfte fühlte. Das
war nichts, was sie im Kampf bemerken würde, aber
doch eine erste Warnung ihres Körpers; wie würde es
sein, wenn sie immer wieder verletzt würde und sich die
Blessuren ansammelten? Sie würde außerdem nicht immer
eine leibhaftige Mèra neben sich haben, die über eine so
grandiose Heilmagie verfügte.
Wie musste Athónon sich fühlen, der drei Jahrzehnte
lang ständig wieder verletzt worden war?

Laura verstand nicht, weshalb ihre Mutter ihr verboten


hatte zu erzählen, wer Mèra eigentlich war. Oder wer
jemandem wie Mèra gefährlich werden sollte. Doch die
Halbelfin hatte auch gespürt, dass man ihr nicht alles
sagte. Sie hatte sich an das Verbot gehalten und gewisse
Einzelheiten gegenüber Wenndur ausgelassen. Ihre Mutter
hatte auch mit den Muskeln von Menschenmännern recht
gehabt und damit, dass Abenteuer und Kämpfe alles 249
andere als spaßig und heroisch waren ... und Laura war
momentan noch zu verschüchtert, um ihren Dickkopf
schon wieder durchsetzen zu wollen.

Wenndur rannte kurze Zeit später in den Schankraum


zurück, in frischer, gelb-blauer Kleidung und mit einer
Laute in der Hand. Niemand machte eine besondere
Ankündigung; Wenndur begann einfach leise zu singen
und zu zupfen, während er gemächlich von Tisch zu Tisch
schlenderte. Nun, bei Laura kam er vielleicht ein bisschen
öfter vorbei und wurde an ihrem Tisch auch stets etwas
langsamer als bei den anderen. Wenndurs Lieder waren
allesamt dezent-fröhlich; nicht zu aufdringlich, aber
dennoch zu einem Schankraum passend. Sein Charisma
wuchs mit seiner Musik und seiner sanften Bewegung.
Laura schloss manchmal die Augen, um dem filigranen
Lautenspiel und den ergreifenden Akkordwechseln zu
lauschen. Die Worte der Menschensprache verstand sie
ohnehin nicht.
Als Wenndur beim Singen und Spielen gerade wieder
einmal um Laura herumstrich und ihr zuzwinkerte,
betrat eine junge Menschenfrau die Herberge. Sie funkelte
Wenndur sofort böse an, kaum dass sie ihn sah. Wenndurs
Lächeln verblasste ein wenig, er schlenderte auffällig eilig
zum nächsten Tisch.
Die Frau trug weite, grüne Reiterhosen, jedoch eine enge
Tunika in Blassblau. Ihre braunen Locken waren gekonnt
geschnitten, sodass Laura erst im zweiten Moment auffiel,
dass diese Wellen nicht von Natur aus perfekt Gesicht und
250 Schultern umspielten. Die Frau setzte sich unaufgefordert
zu Laura.
„So, Du bist also die Nächste“, sagte sie in der Sprache
der Menschen.
Laura starrte sie nur irritiert an und antwortete langsam:
„Ich verstehe nicht Deine Sprache.“
Die Frau hob verstehend das Kinn und redete in
gebrochenem Elfisch weiter: „Ah so, noch besser, eine
Fremde. Ich sagte: Du bist also die Nächste. Wusstest Du,
dass Du schon seine dritte in diesem Jahr bist?“ Zwar galt
unter Menschen auch Geheimniskrämerei als Sünde, doch
andererseits hielt die Frau ihr Handeln für einen noblen
Gefallen gegenüber dem scheinbar naiven Mädchen, und
für eine gerechte Strafe gegenüber Wenndur.
Laura starrte die Frau für einen Moment entgeistert an,
bevor sie erwiderte: „Ich bin nicht ,die Nächste‘. Ich bin
sowieso nur auf der Durchreise. Was willst Du von mir?
Ich bin nicht allein hier. Meine Freunde sind oben, aber
ich will keinen Ärger.“
„Ach, wirklich?“, fragte die Frau etwas spöttisch und
gedehnt. „Meine Mutter ist Wahrsagerin und ich kann
auch in den Händen lesen, jedenfalls von Menschen. Wenn
es stimmt, was Du sagst, hast Du gewiss nichts dagegen,
dass ich in Deinen Handlinien Deine Zukunft lese, wie
die Götter sie für Dich offen vorzeichnen?“
Laura starrte ihr Gegenüber mit offenem Mund an. Ihr
Konkurrenzdenken stand der Menschin förmlich auf die
Stirn geschrieben, fand Laura, also was hatte sie vor?
„Du kannst die Zukunft vorhersagen?“, fragte Laura
zweifelnd, aber auch neugierig.
„Ich kann verstehen, was die Götter deutlich sichtbar 251
vorzeichnen“, erklärte die Frau mit Worten, die sie unter
Menschen nicht in religiöse Schwierigkeiten bringen
konnten. „Erwarte keine Einzelheiten. Aber ich kann
zum Beispiel sehen, ob Du bald sterben musst oder bald
ein Kind bekommst oder andere einschneidende Dinge
eben.“
„Das will ich wissen!“, rief Laura aufgeregt und legte
ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf den
Tisch. „Wie heißt Du eigentlich?“, fragte die Halbelfin mit
einem vorsichtigen Lächeln.
„Mariella“, antwortete die Frau und beugte ihr Gesicht
über Lauras Hände. „Du bist zu neugierig, um unter
Menschen zu leben … Du wirst bald ein Kind bekommen,
das Du nicht wolltest. Es wird Dich in Trauer und Armut
stürzen“, erzählte sie sofort. Doch dann wurde sie plötzlich
still. Ihre Augen weiteten sich mehr und mehr. Ganz
langsam sah sie zu Laura auf, die sie verwundert musterte.
„Erzähl mir von Deinem Vater“, hauchte Mariella mit
ungläubigem Blick.
„Er ist ein elfischer Waldläufer und ziemlich stark. Was
ist mit ihm?“, fragte Laura nervös.
Mariella blickte wieder in Lauras Handflächen, dann
hob sie langsam abermals den Kopf und raunte: „Ich meine
Deinen leiblichen Vater. Erzähl mir von dem.“
Lauras Miene wurde düster und sie zog die Hände
zurück. „Nein“, antwortete sie schlicht und funkelte
Mariella böse an. „Wieso willst Du das wissen?“
Unheilvolle, quälende Gedanken drängten sich ihr auf
– erneut musste sie an ihre unelfische Kraft im Kampf
252 gegen die zwei Räuber denken. Sie kniff die Augen zu
und zischte durch die Zähne, zwang sich so, ihre Ahnung
weiter zu verdrängen.
Mariella lehnte sich seufzend zurück und faltete
die Hände im Schoß. Plötzlich grinste sie gehässig und
knurrte: „Ich weiß nicht, wer mir mehr leidtun soll, dieser
untreue Streuner Wenndur oder Du.“ Sie stand auf und
verließ die Herberge wieder.
Laura blieb mit aufgerissenen Augen zurück. „Ich kriege
bald ein Kind?“, wisperte sie ängstlich und verknotete die
Finger ineinander. Sie starrte Wenndur nun mit einer
wahren Flut aus Gefühlen an, guten wie schlechten.

Laura wollte schon aufstehen und sich auf ihr Zimmer


zurückziehen, da trabte Athónon die Stufen hinab in den
Schankraum. Er nickte Laura kurz zu und bemerkte sofort
ihre verwirrte Miene. Doch bevor er zu ihr kam, ließ er
sich von Topta einen Bronzetopf mit Wasser geben, den er
auf einem Gitter im Kamin platzierte.
„Deine Mutter hält jetzt für die nächsten Stunden
Wache bei Mèra“, berichtete der Gnom.
Das war der mit Abstand längste Satz, den er seit Beginn
der Reise zu Laura gesagt hatte.
Mit einer geschmeidigen, wenn auch nicht schnellen
Bewegung setzte er sich auf den für ihn großen Schemel an
Lauras Tisch. „Amüsierst Du Dich unter den Menschen?“,
wollte der Gnom dann wissen und lächelte sogar fast ein
bisschen. „Dein Gesichtsausdruck sieht etwas belämmert
aus“, fügte er hinzu.
Laura überspielte zunächst ihre neuen Sorgen. Sie
schaute in ihren leeren Bierkrug und antwortete dann: „Ja, 253
ich amüsiere mich durchaus. Liegt nur ein bisschen schwer
im Magen das Zeug, und irgendwie ist mir schwindelig.“
Athónon erwiderte gedehnt: „Das habe ich nicht
gemeint.“
Mit kecker Miene antwortete Laura darauf: „Ich weiß
...“ Doch danach fiel ihre dünne Fassade zusammen, düster
fügte sie hinzu: „Sie sind halt nicht alle gleich – Menschen,
meine ich. Wenndur ist in Ordnung. Aber eben war eine
Frau da, die angeblich die Zukunft vorhersagen kann und
die meinte, ich würde bald ein Kind bekommen!“
Athónon antwortete ernst und ruhig: „Du solltest nicht
alles glauben, was Dir jemand sagt. Ich nehme außerdem
an, Du weißt, wie Du vermeiden kannst, ein Kind zu –“
„Ja, ja“, winkte Laura ab, „es ist nur ... Ach, ich weiß
auch nicht. Ich kann nicht nachdenken wegen dieses
Gerstensafts. Außerdem hab ich Hunger.“
Ein Mundwinkel Athónons zuckte leicht nach oben,
doch seine Augen schauten ein wenig besorgt. „Ich hole
was zu essen“, sagte er, rutschte vom Schemel und ging zu
Topta.

Mit zwei dampfenden Fichtenholzschalen und zwei


großen Holzlöffeln kam der Gnom zurück. „Toptas Eintopf
von gestern Abend“, kommentierte er. „Stand jetzt schon
wieder seit dem frühen Abend auf dem Feuer, aber ich habe
etwas Wasser nachgeschüttet.“ Achselzuckend ergänzte er:
„Wird satt machen. Halt Dir nur die Nase zu.“
Lauras Hunger kämpfte einen Moment lang mit dem
braungrauen Anblick und dem beißenden Geruch des
254 Eintopfes. Dann stach sie den Löffel hinein und verschlang
das fremdländische Gericht.
Athónon aß wesentlich langsamer und hörte Laura
nun geduldig zu, während sie mit träger Zunge erzählte:
„Weißt Du, diese Frau war vielleicht neidisch auf mich und
wollte mir nur Angst machen – ich bin ja nicht blöd! Aber
nicht alles, was von Menschen stammt oder mit ihnen zu
tun hat, ist automatisch schlimm, finde ich. Sieh mich an,
ich bin zur Hälfte Mensch, und mein leiblicher Vater ...“
Ihre Miene wurde hart und düster. „Sie hat mich ganz
unvermittelt nach meinem Vater gefragt!“
Athónon legte den Kopf ein wenig schräg und seine
Augenschlitze wurden noch schmaler. Sein gefüllter Löffel
sank wieder zur Schale zurück.
Plötzlich hatte Laura einen Kloß im Hals. Schon
wieder dachte sie an den Überfall zurück, den sie beinahe
nicht überlebt hatte. Ihre Mutter hatte nie richtig davon
erzählt, doch ihr muss es in der Tiefenwelt vor zwanzig
Jahren ähnlich ergangen sein; damals war sie von Athónon
und dessen Gefährten gerettet worden, denen sie aus
Abenteuerlust nachgelaufen war – weil sie ernsthaft
gedacht hatte, sie könnte der überaus erfahrenen Gruppe
helfen. Genau wie Laura heute.
Plötzlich wurde ihr kochend heiß und sie wusste, dass
ihr Kopf hochrot angelaufen war.

Athónon wechselte das Thema, als Lauras Blick immer


finsterer wurde. Ohne eine Miene zu verziehen, jedoch ein
wenig mit dem Löffel gestikulierend, gab er zu bedenken:
„Dir ist hoffentlich bewusst, dass Du keine Chance hast,
die Mimik oder Absicht eines Nicht-Elfen zu durchschauen, 255
da Du noch nie mit ihnen zu tun hattest.“
Eigentlich hatte er sie aufmuntern wollen. Lauras Blick
erhellte sich allerdings keineswegs. „Ich bin auch ein Nicht-
Elf“, brummte sie niedergeschlagen.
Athónon ließ sich seinen Fehlgriff in keiner Weise
anmerken. „Du weißt genau, was ich meine. Deine
Mutter macht sich nicht zu Unrecht Sorgen, und auch Du
müsstest es inzwischen besser wissen, als so völlig sorglos
zu sein“, wies er sie zurecht. „Wir wissen nicht, ob uns
nicht vielleicht schon jemand auf den Fersen ist, der Mèras
Zauberei im Dorf aufgespürt hat.“
Laura starrte den Gnom überrascht an. „Was?“, entfuhr
es ihr mit kribbelnden Nackenhärchen.
„Natürlich sprechen Mèra und Deine Mutter das Dir
gegenüber nicht aus, es ist ja ohnehin nur eine Vermutung“,
erklärte Athónon und faltete die Hände auf dem Tisch;
sein Löffel lag nun in der leeren Holzschale. „Deshalb
solltest Du ja auch nichts von Mèra erzählen. Das hast Du
doch nicht, oder, Mädchen?“
Laura beugte sich vor und tuschelte: „Nein, habe ich
nicht. Sag, wie können wir rechtzeitig erkennen, ob uns
jemand verfolgt? Du bist doch Kundschafter, Du musst
das doch wissen! Sicher wurdest Du außerdem bei Deinen
Abenteuern schon ganz oft von Feinden belauert!“
„Wir können wachsam sein. Wir können Fehler
vermeiden, junges Mädchen“, gab Athónon nur zurück.
Verlegen senkte Laura den Blick. „In wie große
Schwierigkeiten habe ich Euch wirklich gebracht?“, fragte
sie ganz leise.
256 „Noch in gar keine“, antwortete Athónon, „aber gegen
wie viele Dämonen hast Du schon gekämpft?“
Laura schwieg. Erst im zweiten Moment wurden ihre
Augen immer größer. „Dämonen?“, wisperte sie und sah
ungläubig in Athónons Gesicht.
„Siehst Du, Du wirst uns vermutlich keine Hilfe sein.
Aber wir werden womöglich auf Dich aufpassen müssen,
das heißt auf jemanden, der gar nicht weiß, was auf ihn
zukommt.“
„Meine Mutter hat gegen Dämonen gekämpft?“,
hauchte Laura nur mit neuer Ehrfurcht.
„Gegen ,Dämonische‘ – Halbdämonen –, gegen
Schlangenmenschen, gegen Chimärier und gegen
einige weitere Tiefenweltler“, zählte der Gnom ohne
Gefühlsregung auf. „Also gegen so ziemlich alles, was
uns begegnen könnte, außer einem leibhaftigen Geist
oder Dämon. Und dann kommt noch dazu, dass sie als
Nachtelfin solche Wesen verletzen kann, Du aber nicht.
Ich habe wenigstens eine verzauberte Waffe, welche diese
Fähigkeit für mich besitzt. Du hingegen könntest gar
nichts ausrichten.“
„Ich könnte im Weg stehen“, sagte Laura bitter und
verschränkte die Arme, „dann stirbt wenigstens keiner von
Euch großen Helden, sondern nur ich.“
„Dein Sarkasmus hilft uns jedenfalls auch nicht.
Verstehst Du jetzt, wieso Deine Mutter wollte, dass Du
daheim bleibst?“, konterte Athónon trocken.
Laura biss sich auf die Unterlippe und ließ den Kopf
hängen. Wieder dachte sie an die traurigen Teile der
Geschichte ihrer Mutter und an ihr eigenes Erlebnis.
Schließlich raunte sie kleinlaut: „Was soll ich jetzt tun? 257
Zurückreiten?“
„Das wäre vermutlich sicherer für uns alle, als wenn Du
uns noch weiter begleitest“, erwiderte Athónon ruhig.
„Ach, Athónon!“, jammerte Laura, „ich habe doch
Angst um Mutter! Ich will irgendetwas tun, um ihr bei
dieser Bürde zu helfen!“
„Und nebenbei willst Du als große Heldin dastehen“,
entlarvte Athónon sie mit einer beiläufigen Handbewegung.
„Ich kenne Deine Mutter ein bisschen. Glaub mir, sie
würde viel lieber ihre ganze Erfahrung und ihren Status im
Dorf aufgeben, wenn sie sich ihre Abenteuer dafür erspart
hätte. Genauso wie ich auch übrigens. Sie sieht genau, wie
Du ihre eigenen Fehler Schritt für Schritt wiederholst,
und das erträgt sie selbstverständlich nur schwer.“
„Ja, und mich hätte sie auch nie bekommen, ohne ihre
Fehler“, flüsterte Laura mit erstickter Stimme und sah weg.
Sie zog die Schultern hoch, als könnte sie sich dahinter
verstecken.
„Du denkst, Du bist nicht wertvoll genug, nicht geliebt,
nicht willkommen, ist es das?“, fragte Athónon sanft.
Laura nickte mit glitzernden Augen.
„Deine Mutter liebt Dich über alles. Würde sie sich sonst
solche Sorgen machen?“, beschwichtigte Athónon sie. „Du
hast ihren Stolz und ihre Sturheit geerbt. Ich bin sicher,
sie findet Stolz für eine große Seele wichtig, denn nur wer
stolz ist, hat auch Antrieb – alles andere sind Ausreden der
Schwächeren. Vom lethargischen Elfentum hält auch sie
nicht viel. Aber Du musst die Kontrolle über Deinen Stolz
behalten, sonst wirst Du selbst schwächer.“ Dass Athónon
258 selbst schon lange allen Stolz verloren hatte, verschwieg
er. Seine einzige Absicht war, Jades Sichtweise zu erklären
und Laura zu trösten. Wie immer tat Athónon nur das,
was nötig war – ohne einen Gedanken an sich selbst.
„Hey, ihr Trauerklöße! Was ist los? Ich gebe mir hier
Mühe!“, rief Wenndur von der Seite und stimmte ein
schnelles Trinklied an, zu dem er besonders laut sang und
besonders schnell durch den Schankraum tanzte. Einige
Menschen, insbesondere die am Tisch vor dem Kamin,
sangen aus voller Kehle mit und hoben begeistert die
Bierkrüge.
„Will ich den Text verstehen, Athónon?“, fragte Laura
mit einem dünnen Grinsen.
„Ich glaube nicht“, erwiderte Athónon, und Laura war
sich sicher, dass seine beiden Mundwinkel kurz nach oben
gezuckt waren – was bei Athónon sonst nur an großen
Feiertagen üblich war, wie in Lauras Dorf gescherzt
wurde.

Der Gnom schlenderte noch einmal zum Kamin. Seine


Tunika als Schutz gegen die heiße Bronze benutzend, trug
er eilig den Kessel mit dem sprudelnden Wasser zum Tisch
zurück. „Teezeit“, sagte er nur und knotete einen kleinen
Lederbeutel von seinem Gürtel ab.
Laura war aufgefallen, dass Athónon ganz leicht hinkte,
doch sie wollte nicht danach fragen. Sie wollte jetzt nicht
noch mehr über Blut und Kämpfe hören. Sie beäugte
die verschiedenen Blättchen, Kräuter und Krümel, die
Athónon in den Bronzekessel streute, nachdem das
Wasser sich beruhigt hatte, und roch auch eingehend
daran. Die Tochter eines elfischen Waldläufers erkannte 259
Minze, Schafsgarbe, Steinklee, Hainbuche, Weißdorn
und Hagebutte – doch das war bestenfalls die Hälfte der
Zutaten, die Athónon mit konzentrierter Miene in den
Kessel streute. Aus einem anderen Beutel entnahm der
Gnom dann vorsichtig einen einzelnen, winzigen Krümel,
um ihn andächtig ins Teewasser fallen zu lassen.
Laura hatte die Nase in die Nähe des Krümels gehalten,
bevor er ins Wasser gefallen war. Sie hatte aber nur feststellen
können, dass der Krümel ein wenig scharf gerochen hatte
und vermutlich nicht mehr taufrisch gewesen war. Doch
worum es sich handelte, konnte sie nicht mal raten. Sie
hatte zwar im ersten Moment einen Verdacht gehabt, doch
sie musste sich irren, denn Athónon würde kaum eine
tödliche Giftpflanze in den Tee werfen.
„Was sind das alles für Zutaten? Wird das irgendein
Zaubertrank?“, grinste Laura neugierig. „Das letzte hat
wie ,Elfentod‘ gerochen, aber das war sicher etwas anderes,
oder?“
Athónon sah auf, ein Mundwinkel zuckte nach oben.
„Es kommt bei vielen Pflanzen nur auf die Dosis an, ob sie
giftig oder anregend sind.“
Lauras Lächeln wich, sie starrte Athónon mit offenem
Mund an. Ihre Hände umklammerten die Tischkante.
„Du hast gerade Elfentod in den Tee geworfen?“, fragte
sie heiser.
Athónon hielt nur prüfend die Nase über den Kessel,
schloss genussvoll die Augenschlitze und rührte den Tee
mit einem kleinen Holzstab um, den er ebenfalls in einem
Ledertäschchen am Gürtel getragen hatte.
260 „Du bist ja nur eine halbe Elfin“, sagte er staubtrocken.
Bevor Laura darauf reagieren konnte, fügte er hinzu: „Das
war ein Scherz.“
Athónon holte demonstrativ Luft und erzählte dann:
„Das Rezept und die Kräuter stammen von einem alten
Zwergendruiden, den ich mal traf, sein Name war Steinwolf.
Du musst Dir wirklich keine Sorgen machen. Schon viele
Menschen, Elfen und Tigermenschen waren von diesem
Tee sehr begeistert. Gnome und Zwerge natürlich auch.
Deine Mutter hat ihn früher ebenfalls getrunken. Einige
der Kräuter stammen aus dem tiefen Süden, aus Steppen
und Wüsten. Man bekommt sie hier nicht, wenn nicht
gerade mal ein Tigermensch mitsamt seiner Teeblätter sich
bis hierher verirrt.“
Laura rümpfte skeptisch die Nase und ging auf die
Ablenkung nicht ein. „Die Elfentod-Sträucher sind das
Erste, was unsere Kinder zu meiden lernen. Eine Handvoll
der Blätter reicht, um einen erwachsenen Elfen binnen
einiger Stunden zu töten.“
„Ja, aber ich habe etwas von der Wurzel in den Tee
getan, und auch nur einen Krümel“, entgegnete Athónon
ruhig.
„Und was ist da sonst noch drin?“, fragte Laura unwillig,
„Hexenkraut? Wolfsbohnen? Blätter vom Todesbaum? Hey,
Todesbaum würde helfen, dass ich garantiert niemals ein
Kind bekomme, dann hätte diese Mariella sich wirklich
geirrt.“
Athónon blickte sie nur kurz ohne sichtbare Regung an,
dann steckte er die Nase noch tiefer in den Kessel und sog
den Dampf ein. „Für diese Teemischung würden reiche
Menschen sicher ein oder zwei Goldstücke hergeben. 261
Probier ihn wenigstens.“
Ohne Worte und etwas missmutig schob Laura ihren
leeren Krug in Athónons Richtung. „Ist das viel, eine
Goldmünze?“, fragte sie.
Ein Mundwinkel des Gnomes zuckte nach oben,
während er den Kessel kurz hochhob, um Lauras Krug
aufzufüllen. Dann stellte er den Kessel schnell wieder ab
und lutschte an seinen verbrannten Fingern.
„Du zuerst“, sagte Laura angriffslustig.
Athónon stand auf und holte sich einen leeren Krug von
Topta, der dem Gnom kopfschüttelnd nachsah. Athónon
schüttete den Krug randvoll mit dem würzigen Kräutertee
und schlürfte so viel, wie die Temperatur schon zuließ.
Laura nippte kurz an ihrem Tee und wollte demonstrativ
die Nase rümpfen, doch nachdem die ersten Tropfen ihre
Zunge hinabgelaufen waren, schaute sie den Gnom mit
neuem Respekt an.

„Wieso machst Du ausgerechnet jetzt und hier so einen


aufwendigen, wertvollen Tee?“, wunderte sich Laura.
„Trink“, antwortete Athónon nur. Er sprach nicht mehr
über Sympathien – zu oft waren die Gemeinten kurz
darauf gestorben.
„Wer war mein leiblicher Vater?“, fragte Laura plötzlich
ganz leise.
Athónon verschluckte sich und wischte sich über den
Mund. Seine Finger strichen über seinen dampfenden
Krug, während er Laura finster anblickte. „Ich habe ihn
erschlagen, und das war kein Verlust“, sagte er kalt.
262 Laura biss sich auf die Lippe, doch sie wollte sich nicht
so schnell abspeisen lassen. „Wieso ist diese Mariella
zusammengezuckt, als sie meine Handflächen sah? Sie
hat mich unumwunden nach meinem leiblichen Vater
gefragt.“ Fordernd starrte sie Athónon ins reglose Gesicht.
Es kostete sie viel Kraft, ihren Blick gegen das subtile
Charisma des Gnomes durchzuhalten.
„Ich bin der Falsche, um Dir davon zu erzählen. Trink
Deinen Tee“, blockte Athónon und setzte seinen Krug an
die Lippen.
„Er war kein gewöhnlicher Mensch aus der Tiefenwelt,
nicht wahr? Mutter hat manchmal solche Andeutungen
gemacht ...“, flüsterte Laura.
„Konzentriere Dich darauf, wer Du bist. Horche in
Dich hinein: Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?
Nein. Also trink jetzt Deinen Tee“, brummte Athónon.
„Ach nein, gibt es nicht?“, schoss es Laura schmerzvoll
durch den Kopf. „Und woher willst Du wissen, was in mir
ist?“, hauchte sie geheimnisvoll, doch Athónon schüttelte
nur unmerklich den Kopf und trank weiter.
Lauras Herz krampfte sich zusammen, plötzlich fröstelte
sie. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“

„Kennst Du Dich mit Flüchen und Magie gut aus?


Immerhin besitzt Du ein magisches Tier“, wechselte Laura
das Thema und nippte am heißen Kräutertee. Sie sah auf
der dampfenden Oberfläche des Tees, dass ihre Finger
leicht zitterten. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“
„Ich besitze Taffi nicht“, erwiderte Athónon. „Er ist ein
eigenständiges Lebewesen mit eigenem Willen.“
„Woher kommt Taffi, was ist das für ein Wesen?“, fragte 263
Laura weiter. „Er ist ein verfluchter Zweibeiner, nicht
wahr? Ich habe solche Geschichten am Lagerfeuer gehört.
Sucht Ihr zu zweit nach einer Möglichkeit, Taffi in seine
wahre Gestalt zurückzuverwandeln?“
Athónon blickte etwas irritiert auf. Er hatte Taffi nie
gefragt, woher er eigentlich kam und zu welcher Art er
gehörte. Das Chamäleon begleitete Athónon, seit der
Zaubermeister Tugibenn verstorben war, bei dem Taffi
zuvor gelebt hatte. „Taffi ist ganz sicher kein verfluchter
Zweibeiner“, antwortete Athónon jedoch überzeugt.
„Du wirst ja rot!“, lachte Laura mit einem gewissen
Erstaunen.
Athónon schwieg beklommen. Er wollte nicht zugeben,
wie peinlich ihm war, dass er in fünfundzwanzig Jahren
nie ernsthaft gefragt hatte, woher Taffi kam und was
genau er eigentlich war. Taffi war eben Taffi, das Faktotum
eines verstorbenen, genialen Zaubermeisters; nie hatte sich
jemand darüber gewundert.
Laura hielt sich förmlich an ihrem Krug fest und
schwieg. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches in Dir?“ Athónon
hatte ihr indirekt eine Antwort auf die Frage nach ihrem
leiblichen Vater gegeben, aber sie wünschte sich, sie hätte
nie gefragt. Der Ungewissheit war blanke Angst gewichen,
die sie nur mühsam unterdrücken konnte – Angst davor,
welches Erbe in ihr schlummerte und vielleicht eines Tages
freibrach. Sie registrierte hilflos, dass ihre Augen brannten
und dass ihr Herz schon die ganze Zeit viel zu schnell und
zu hart schlug.
264 „Was hast Du denn?“, hörte sie Athónons besorgte
Stimme plötzlich und schreckte hoch.
Leise schniefend, schüttelte sie zur Antwort den Kopf.
„Langsam wird mir einiges klar“, hauchte sie traurig.
Athónons Augenschlitze lagen fragend auf ihrem
Gesicht.
„Woher willst Du wissen, was in mir ist?“, fragte sie den
Gnom noch einmal. „Du kennst mich doch gar nicht.“
Ein Mundwinkel Athónons zuckte leicht nach oben. „In
meinem Alter erzählen einem die Gesichter Geschichten,
ganz ohne Worte“, versicherte er ihr. Seine Augenschlitze
wurden dabei etwas größer und Laura sah zum ersten Mal
die bernsteinbraune Iris um seine Pupillen. Er legte seine
faltigen, kleinen Hände auf Lauras. „Es ist nichts Böses
in Dir“, wiederholte er. Natürlich wusste er genau, was sie
bewegt hatte; er hatte die Andeutung keineswegs zufällig
gemacht.

Taffi döste auf Athónons Rucksack, als plötzlich ein


Falke zum Fenster hereinschoss und schrie. Taffi sprang in
die Höhe und fiepte erschrocken, doch der Falke griff ihn
nicht etwa an – er landete etliche Falkenfußbreit entfernt
auf dem Boden und beäugte das magische Wesen, das die
Farbe des Rucksacks angenommen hatte. Die Tür wurde
aufgerissen und schloss sich wieder. Erst dann wurde
Zeeris sichtbar; das Teufelchen fletschte die Zähne, hob
drohend die Krallen und knurrte den Falken an. Dieser
stand jedoch nur ruhig da und musterte Taffi und Zeeris.
Auf telepathische Weise sprach der Falke mit nobler 265
Stimme in den Köpfen der beiden: „Grüße! Ich bin
Botschafter Skar. Ich suche alle klugen Tiere auf, damit
sie mir zur untergehenden Sonne folgen, solange, bis der
salzige Wasserrand kommt. Wir klugen Tiere sammeln
uns dort, um den einzig wahren Gott anzubeten, ihn, der
alles hört und sieht und uns Stärke und eine gemeinsame
Sprache schenkt. Sogar das große Rudel des Wolfes Lon
und der ehrwürdige Bär Nam gehören unserem Heer an.“
„Ich bin aber kein Tier!“, krähte Zeeris beleidigt. Skar
ignorierte das Teufelchen und schaute Taffi an.
„Ihr betet einen Gott an, wie die Zweibeiner?“, fragte
Taffi reserviert.
„Nein, nicht wie die Zweibeiner“, erklärte Skar, „die
Zweibeiner nehmen nur und vernichten immerzu. Sie
denken nicht richtig. Sie haben keinen Einklang mit der
Natur, sie sind Falsche, sie sind eine Krankheit, eine Plage
und Seuche. Sie jagen und töten uns. Sie töten unsere
Wälder, um sich zu wärmen und eckige Höhlen zu bauen,
nur weil ihnen das Fell ausgefallen ist – als wäre das unsere
Schuld. Sie wissen nicht einmal, wie klug manche Pflanzen
sind und welch schöne Gedichte sie zum Sonnenaufgang
singen können. Die Zweibeiner benutzen unseren Gott
wie ein Werkzeug, ob er das mag oder nicht. Sie fragen gar
nicht.“ Skar reckte den Kopf stolz in die Luft und breitete
die Flügel ein wenig aus, bevor er weiterredete: „Wir wollen
jetzt Rache für all die Toten, und unser Gott wird uns
helfen. Es wird Krieg geben gegen die Zweibeiner.“
„Krieg? Wer ist Euer Gott?“, fragte Taffi leise.
„Die Zweibeiner nennen ihn Magie, aber er hat keinen
266 Namen. Er ist überall und durchdringt alles. Er ist ein Teil
der Natur, er ist in allen lebenden und toten Dingen, auch
in Dir und mir. Er will auch nicht länger so schlecht von
den Zweibeinern behandelt werden. Er wird uns Stärke
geben und uns in die Schlacht führen. Er wird uns Flüche
lehren, die grausamer als die der Zweibeiner sein werden.
Ihre gigantischen Rudel werden im Chaos versinken und
sich gegenseitig zerfleischen, ganz ohne Hunger.“
Taffi und Zeeris starrten sich betreten an. Schließlich
antwortete Taffi: „Einige Zweibeiner sind meine Freunde,
ich kämpfe nicht gegen sie. Und einen Krieg werdet Ihr
verlieren! Sie werden Euch mit ihren Pfeilen töten, selbst
wenn es stimmt, dass die Magie auf Eurer Seite ist.“
Skar seufzte. „Wie Du meinst. Doch bedenke, dass dann
auch Dich unsere Flüche treffen können.“ Damit schoss er
aus dem Fenster hinaus gen Himmel.
„Das sollten wir den anderen erzählen!“, rief Zeeris
aufgeregt.
„Nein“, widersprach Taffi. „Wir müssen sie nicht
beunruhigen. Tiere wie Skar oder ich sind extrem selten.
Skar wird nur eine Handvoll ,Krieger‘ zusammenbekommen
und seinen Krieg wieder vergessen. Die Tiere werden sich
verbittert in die Wälder zurückziehen, Nachkommen
haben, die nicht so klug wie sie sind, und irgendwann
einsam sterben, ohne irgendetwas verändert zu haben.“
Zeeris schwebte für einen Moment auf der Stelle und
starrte Taffi überfordert an. „Woher weißt Du das?“, fragte
das Teufelchen schließlich.
„Ich hatte Glück, weil ich mich mit Zweibeinern
anfreunden konnte und sie inzwischen gut genug kenne,
268 um sie zu verstehen, anstatt sie zu hassen. Aber nicht alle
meine Seelenverwandten sind dazu gewillt. Es gibt sehr
viel Hass unter ihnen. Zum Glück sind sie so wenige.“
Zeeris dachte angestrengt darüber nach. „Ich fliege
wieder runter und passe auf Athónon und Laura auf“,
sagte er dann nur und verschwand.

Mèras Herbergszimmer war spartanisch mit einem


Strohlager, einem kleinen Tisch mit Schemel und einer
winzigen, quadratischen Truhe aus Kirschbaumholz
eingerichtet. Die hell verputzten Wände verdeckten die
dicken Eichenbalken in den Raumecken nicht ansatzweise,
doch der Kontrast zwischen hellem Putz und dunklem
Holz verlieh dem Raum einen gewissen Charme. In der
Mitte der Wand gegenüber der Tür stand ein kleines
Fenster mit grün bemalten Holzläden offen. Es ließ die
letzten, orangeroten Sonnenstrahlen des Abends herein.
Mèra kniete reglos auf einem Stofftuch in einer freien
Raumecke. Ihre Hände lagen locker aufeinander, mit
den Handrücken nach unten. Die einzigen Anzeichen
für Magie, die Jade beim Wachehalten ausmachen
konnte, waren das Luftflimmern um Mèra herum, die
Schweißperlen auf ihrer Stirn und ihr hypnotischer,
seltsamer Gesang.
Der leise Gesang schien uralte Fragmente elfischer
Lieder zu beinhalten, folgte aber keinem festen Rhythmus
oder Schema. Einige Stellen berührten Jades Seele so tief,
dass sie schauderte. Andere fand sie bloß seltsam, trotz
Mèras göttlich schöner Stimme. Manchmal hielt die Elfin 269
einen Ton sehr lang, dann folgten andere Töne, die so
schnell wieder verklangen, dass Jade der Melodie kaum zu
folgen vermochte. Auch hatte der Gesang keine Sprache
und bestand nur aus verschiedenen Klängen; die meisten
erzeugte Mèra mit fast geschlossenem Mund. Manche
Klänge schienen keinen natürlichen Ursprung zu haben,
auch wenn sie aus ihrer Richtung kamen.
Jade lag mit verweinten Augen an der Wand gegenüber
von Mèra, neben dem Strohlager. Nur Jades Schultern
und ihr Kopf lehnten an der Wand; die langen Beine
hatte sie angezogen, nicht zuletzt, damit sie nicht in der
Abendsonne lagen. Die Arme und Hände ließ sie neben
dem Körper liegen, ebenso wie ihr Schwert zu ihrer
Rechten. Ihren Mantel hatte sie nicht mit ins Zimmer
zum Wachen genommen, doch ihr Kettenhemd trug sie
noch immer unter dem Lederwams. Ihr langes Haar,
das sie im Kettenhemd sonst zum Zopf trug, hatte sie
geöffnet und ausgekämmt. Manchmal spielten ihre Finger
gedankenverloren mit einer Strähne, bevor ihr Arm wieder
schlaff neben ihren Körper fiel.
Jade starrte die alte Elfin schon die ganze Zeit wütend
an. Die Nachtelfin glaubte ihre Todesgewissheit inzwischen
sogar selbst zu spüren, auch ohne Träume oder Visionen.
Doch sie war bereit, ihre Pflicht zu erfüllen und ihr Dorf
und ihre Familie dadurch zu beschützen – insbesondere,
da nun ihre Tochter auf der Reise dabei war. Jade wagte es
nicht, Laura zurückzuschicken; der Weg war offensichtlich
gefährlich und Laura nicht gewillt, im Dorf zu bleiben.
Vielleicht hatte die Jugendliche etwas dazugelernt, aber
270 vielleicht noch nicht genug. Lieber passte Jade auf ihre
Tochter selbst auf – solange sie das noch konnte. Ihre
Augen brannten wieder kurz, doch sie riss sich zusammen.
Äußerlich lag sie vielleicht nur da, doch innerlich war sie
hellwach und lauschte auf jedes Geräusch, egal ob von der
Straße oder vom Flur.
Ihr Magen knurrte und sie wusste, sie durfte nicht
schlapp werden, wenn es plötzlich zu einem Kampf kam.
Momentan hatte sie eigentlich gar keine Lust, etwas zu
essen. Sie hatte ihren Rucksack ins Zimmer mitgebracht
und zog ihn nun zu sich. Nach kurzem Wühlen holte sie
ein kleines Lederbündel hervor und wickelte es aus. Darin
befanden sich vor Honig klebende Reiskörner, Mandeln,
Haselnüsse und verschiedene Getreidekörner, Weizen,
Hafer und Roggen hauptsächlich. Gelangweilt kaute
Jade die Kraftnahrung vor sich hin, so leise, dass sie noch
immer hörte, wie die Menschen auf der Straße über die
elfischen Neuankömmlinge tuschelten und gelegentlich
auf dem Flur ein Gast ihre Tür passierte.
Der Wasserschlauch an Jades Rucksack war leer, doch
sie durstete lieber ein wenig, als Mèra einen Augenblick
allein zu lassen. Ihr überragendes Pflichtbewusstsein hatte
sie zur Anführerin der Dorfwache gemacht und sie ihren
Status zurückerlangen lassen, obwohl sie in der Tiefenwelt
zur Nachtelfin geworden war. Manche Elfen wurden
so geboren, andere wachten über Nacht mit schwarzem
Haar auf, und Jade hatte dieses Opfer gebracht, um die
bösartigen Kreaturen der Tiefenwelt verletzen zu können,
egal welche Aberglauben über Nachtelfen damals noch in
ihrem Dorf kursierten. Dass sie Dämonen im Allgemeinen
verletzen konnte, nicht nur jene speziellen Tiefenweltler, 271
war ihr jedoch neu gewesen. Bevor Mèra ihr die ganze
Wahrheit verraten hatte, war Jade nicht bewusst gewesen,
dass sie jene Tiefenweltler nicht hatte bekämpfen können,
weil es sich um dämonische Kreaturen gehandelt hatte.
Jades Leben zog an ihr vorbei, so als schliche der Tod
bereits in ihrem Rücken auf und ab. Immer wieder musste
sie Erinnerungen zurückzwingen, um ihre Wachschicht
ernsthaft zu betreiben. Das Bild, das sich ihr am meisten
aufdrängte, war die fünfjährige Laura, die strahlend ihre
kleinen Hände nach der Mutter ausstreckte und mit
großen Augen zu ihr aufsah – während Jade Bärenblut von
ihrem Schwert gewischt hatte.
Die Nachtelfin zog die grüne Wolltunika aus dem
Rucksack, die Laura damals getragen hatte; Jade hatte
sie selbst gewoben. Inzwischen wusste sie, weshalb ihre
innere Stimme ihr gesagt hatte, das alte Andenken mit
auf die Reise zu nehmen, obwohl Athónon und Mèra
ihr Schicksal erst unterwegs für sie offenbart hatten.
Die Tunika hatte ein paar Flicken bekommen, aber
Laura hatte sie nie hergeben wollen, bis sie hoffnungslos
herausgewachsen war. Jade knotete die Tunika um ihre
Taille. Dort würde Athónon sie sofort sehen, um seinem
Versprechen nötigenfalls nachzukommen, Jades Familie
etwas von ihr zurückzubringen. Mit Laura konnte sie
darüber unmöglich reden.

Wenndur sah durch Zufall zur Tavernentür, als diese


272 gerade aufschwang. Mitten im Gesang stockte er, auch
die Laute verstummte. Nur ganz langsam fand er ins Lied
zurück, beendete es aber mit einer letzten Wiederholung
des Refrains und stimmte dann wieder etwas Ruhigeres
an, von der Tür abgewandt.
Auch Laura starrte entgeistert den beeindruckenden
Menschen an, der die Herberge betreten hatte.
Der neue Gast war ein zernarbter Hüne mit einem
braunen, schmalen Haarstreifen in der Kopfmitte. In der
Seite seiner Nase befand sich eine riesige Kerbe. Seine Arme
waren dicker als Lauras Beine. Eine schwere Eisenscheide
baumelte an seiner Seite, zweifellos war das Schwert
darin auch aus Eisen. Seine kleinen Schweinsäuglein
funkelten kalt und böse. „Wirt! Bier!“, brüllte er durch
den Schankraum, weitaus lauter als Wenndurs Gesang
war. Der Hüne stieß einen Betrunkenen vom Schemel
und setzte sich an dessen Platz. Der Betrunkene krabbelte
eilig davon und verließ die Taverne.
Athónon raunte zu Laura: „Wenn Du ihn noch einen
Lidschlag länger anstarrst, wird er Ärger machen.“
Erschrocken wandte Laura das Gesicht ab. Sie beugte
sich über den Tisch und wisperte: „So habe ich mir einen
Ork oder Troll vorgestellt!“
„Ein richtiger Troll hätte sich den Kopf an der Decke
gestoßen und wäre nur längs durch die Tür gekommen“,
gab Athónon achselzuckend zurück. Natürlich hatte er
auch solche Wesen schon gesehen.
Topta brachte dem neuen Gast wortlos ein Bier und
verschwand hastig wieder hinter die Theke.
Ein weiterer Gast trat ein, nicht so groß und stark wie
der Hüne, und mit einer eher geduckten und weniger 273
stolzen Haltung. Aber mit ebenso unsympathischen,
kalten Augen. Den Augen eines Mörders. Er brummte
etwas und setzte sich zu dem Hünen. Die beiden tuschelten
miteinander, nicht sehr ernst, aber durchgängig.
Athónon sah nicht zu den beiden hin, aber Laura glaubte
an der konzentrierten Miene des Gnoms zu erkennen, dass
er sie zu belauschen versuchte. Seine Hände lagen flach auf
den Tisch gedrückt.
Laura warf gelegentlich verstohlene Blicke zu den
unheimlichen Gestalten. Sie hätte gern Wenndur nach
ihnen befragt, doch der hielt sich so weit wie möglich von
den beiden Menschen fern, sodass er auch Athónons und
Lauras Tisch nebenan nicht mehr erreichte.
Lauras Herz blieb fast stehen, ihr Blut rauschte plötzlich
wild in ihren Ohren, als der Hüne mit dem Kopf in genau
ihre Richtung deutete. Die andere Gestalt, mit den Augen
eines Mörders, sah sie direkt an. Dann stand der Riese
sogar auf und kam auf sie zu.
Laura versteifte sich, zog die Schultern an und hauchte
furchtsam Athónons Namen.
Der Gnom nickte nur, eine Hand wanderte unter den
Tisch.
„He, Du! Was starrst Du so, hä?“, pöbelte der Mensch
sie in grauenhaftem Elfisch an. Er stank auf mehr als eine
Armesweite beißend nach Schweiß und Stall.
„Ich starre gar nicht!“, schoss es wie ein Pfeil aus Laura
heraus, während sie vor sich auf den Tisch starrte.
Der Mensch packte sie am Haarschopf und riss ihren
Kopf zur Seite.
274 „Au!“, schrie Laura wie ein kleines Kind und hielt still.
Athónon sprang auf, sein Schemel fiel um. Seine Hand
lag am Schwertgriff. Kalt funkelte er den Menschen an.
„Ist nur ’ne Halbelfin, Fujesh“, brummte der Mensch
an den Hünen gewandt, ohne jedoch Laura loszulassen.
Wenndur hatte zu spielen aufgehört und stand wie
versteinert neben der Theke. Topta stand kreidebleich
dahinter und rührte sich ebenfalls nicht.
„Lass sie sofort los und verschwinde“, knurrte Athónons
alte Stimme.
Den weißhaarigen, kaum über den Tisch ragenden
Gnom ignorierend, hielt der Mensch seinen Mund direkt
an Lauras Ohr und zischte: „Hast Du eine blonde Elfin
gesehen? Sie hat graue Strähnen im Haar. Mmh?“ Laura
zitterte am ganzen Körper, ihre Lippen bebten und sie
starrte Athónon verzweifelt an, aber sie schwieg.
„Antworte!“, brüllte der Mensch speichelspuckend in
Lauras Ohr und zog kräftig an ihren kurzen Locken.
Laura fuhr zusammen und stieß einen spitzen Schrei
aus, doch sie antwortete noch immer nicht und starrte nur
weiter flehend Athónon an.
Der zog sein eisernes Kurzschwert.
Der Mensch bei Laura schüttelte sich kurz und ließ die
Halbelfin los. „Magie!“, zischte er dann an den Hünen
gewandt und trat einen Schritt zurück. Der Hüne sprang
auf, beide standen nun drohend vor Athónon.
Etwas enttäuscht starrte der Gnom für einen Lidschlag
auf seine Zauberwaffe, die Gegner mit schwächerem
Willen schon beim Ziehen betäuben konnte. „Lauf hoch“,
knurrte Athónon zu Laura.
Als habe sie nur auf den Startschuss gewartet, sprengte 275
Laura davon und überschlug sich auf den Stufen beinahe.
Der kleinere der beiden Feinde zog ein eisernes Wurfmesser
und holte in Lauras Richtung aus.
Athónon bekam große Augen und sprang auf den
Tisch, um den Feind anzugreifen. Doch in dem Moment
warf er bereits.
Athónon, der als guter Schütze ein exzellentes Augenmaß
besaß, sah sofort, dass die Bahn genau stimmte. Er schloss
die Augen.
Mit einem lauten Knall fiel das Wurfmesser mitten in
der Bahn scheppernd zu Boden.
„Au!“, schrie Zeeris und wurde sichtbar. In seinem
hellen Panzer befand sich eine minimale Kerbe. „Das gibt
’nen blauen Fleck!“, krähte er vorwurfsvoll und stemmte
die Fäuste in die Hüfte, auf der Stelle schwebend.
Die beiden Menschen starrten das Teufelchen an, jedoch
mehr verärgert als überrascht. Offensichtlich kannten sie
solche Wesen – ganz im Gegensatz zu den meisten anderen
Tavernenbesuchern, die bleich und mit großen Augen auf
Zeeris starrten.
Der Messerwerfer zuckte im allerletzten Moment
zurück, gerade als Athónon wie aus dem Nichts mit dem
Kurzschwert nach seiner Kehle stach.
Der Hüne zog sein mächtiges Schwert und riss
kurzerhand den ganzen Tisch um, auf dem Athónon
gestanden hatte. Der klappernde Bronzekessel und die
berstenden Krüge verbreiteten am Boden eine dampfende
Teepfütze. Athónon rollte sich elegant ab und stand schon
wieder, kaum dass der Tisch zum Liegen gekommen war.
276 „Bist ’n erfahrenes Kerlchen, was?“, knurrte der Mensch
mit den Augen eines Mörders. „Ich sehe in Deinem Blick,
dass Du auch schon oft getötet hast. Doch wir sind zu
zweit, und wir haben ein wenig längere Arme als Du ...
Außerdem bist Du nicht mehr gerade der Jüngste! Das
Beste für Dich wäre, wenn Du schnell verschwindest,
Zwergen-Opa!“
„Ich bin ein Gnom und kein Zwerg“, erwiderte Athónon
trocken und rührte sich nicht.

Laura polterte durch Mèras Tür und schrie: „Wir


brauchen sofort –“
Jade sprang auf und hielt den Zeigefinger an die
Lippen. Ganz leise flüsterte sie: „Nicht so laut, Du störst
den Zauber! Was ist denn los?“
Laura zischte völlig aufgelöst: „Da sind zwei riesige
Menschenkrieger, die Ärger machen! Athónon braucht
sofort Hilfe!“
Jade packte wortlos ihr Schwert und rannte mit Laura
die Treppe hinab; ihr Haar wehte wie ein schwarzes Tuch
hinter ihr auf.

„Noch eine Elfin!“, knurrte der Hüne, als er Jade auf


der Treppe sah.
„Aber nicht blond“, winkte sein Kumpan ab.
Jade und Laura stürmten mit gezogenen Waffen zu
Athónon, der reglos vor den beiden Kriegern stand. Zeeris
schwebte über ihm.
„Vier halbe Portionen gegen zwei ganze? Klingt fair!“,
grinste der Hüne teuflisch aus seinen Schweinsäuglein.
„Ach, schon gut“, fluchte er dann jedoch und steckte das 277
Schwert weg. Er setzte sich wieder zu seinem Bierkrug, als
sei nichts gewesen. Sein Kumpan folgte seinem Beispiel.
Athónon raunte zu Jade empor: „Sie suchen eine blonde
Elfin mit grauen Strähnen im Haar. Sagt Dir das was?“
Jade schluckte und verstand gerade noch rechtzeitig,
bevor sie einen verräterischen Kommentar gemacht hätte.
Sie verneinte knapp und schüttelte unmerklich den Kopf.
Hastig stapfte sie dann die Treppe wieder hinauf, zurück
zu Mèra.
Zeeris wurde unsichtbar; das Letzte, was Athónon von
ihm gesehen hatte, war das Grinsen, welches das Teufelchen
immer dann aufsetzte, wenn es etwas ausheckte.
Topta half Athónon und Laura, den Tisch wieder
aufzustellen. Wenndur musizierte weiter, als sei nichts
gewesen.
„Der Ärger ist noch nicht vorbei“, raunte Athónon
beiläufig, so leise, dass Laura es fast nicht hörte. Die
Halbelfin und der Gnom blieben noch eine kurze Weile
sitzen, doch mit den beiden zwielichtigen Gestalten im
Nacken fühlten sie sich einfach nicht wohl.
Laura winkte auf der Treppe noch zaghaft zu Wenndur
hinüber, der noch immer musizierte. Er lächelte ihr etwas
wehmütig hinterher.
Im oberen Flur angekommen, winkte Athónon Jade
aus dem Zimmer und flüsterte, um Mèra nicht zu stören:
„Wir sollten besser alle im selben Zimmer bleiben, um
uns gegenseitig Schutz bieten zu können. Ich hole meine
Sachen rüber.“
Jade nickte und bat Laura, auch ihre Sachen
278 mitzubringen. Die Tochter gehorchte zögerlich, während
sie mit großen Augen auf ihre alte, geliebte Wolltunika
starrte, die ihre Mutter um die Hüfte trug. Jade entging
der Blick natürlich nicht, aber sie schwieg und zog sich
wieder in Mèras Zimmer zurück.

„Schon gut, wir haben das Gespräch gehört. Kommt


schnell in Deckung“, rief eine Stimme auf Elfisch, deren
Besitzer Srrig und Taren nicht sehen konnten.
Die beiden rannten auf eine Barrikade im Gang zu, die
aus zwei Eichenturmschilden von Chimäriern bestand und
beinahe doppelt so hoch wie Taren aufragte. Die Schilde
mussten uralt sein, die Schuppen benutzten seit Jahrzehnten
keine Holzschilde mehr. Ein kleiner Spalt stand offen,
durch den Srrig und Taren sich hindurchzwängten.
Direkt hinter den beiden wuchteten einige Nachtelfen
die Schilde wieder aneinander. An die Schilde gelehnt,
standen einfache Holzleitern, auf denen je zwei
Bogenschützen warteten und durch die Sichtschlitze in
den Gang zielten.
Ein kräftiger Nachtelf in einer schäbigen Lederrüstung
nahm Srrig und Taren in Empfang. „Habe ich das richtig
verstanden, Safáydra ist eine Verräterin?“
Taren presste die Lippen aufeinander, während Srrig zu
dem Menschen hinabfunkelte. „Das geht uns nichts an“,
brummte Taren und schüttelte den Kopf.
Srrig berichtete jedoch ohne weiteres Zögern: „Ja, sie
hat Euch verraten. Ich weiß allerdings nicht, ob sie die
Schlangenblüter bewusst hergeführt hat oder ob sie nur 279
verfolgt worden ist. Auf jeden Fall wäre es klug, sofort
zu schießen, sobald die Feinde ankommen. Safáydra lebt
zwar noch, aber ihr würdet sie ja sowieso hinrichten lassen,
wenn ich das richtig verstanden habe.“
Taren blickte den Tigermann sprachlos an.
Der Nachtelf verbarg seine gewisse Überraschung über
diesen ausführlichen Bericht nur leidlich und erwiderte:
„Nun, lebend wäre sie mehr wert, wenn sie weiß, was die
Schlangenblüter zu verbergen haben. Vielleicht kriegen wir
es aus der gefangenen Hexe nicht heraus. Außerdem kann
ich Safáydras Hinrichtung nicht allein entscheiden. Das
muss der Rat zunächst untersuchen, falls sie wenigstens
teilweise unschuldig ist.“
Srrig legte den Kopf schräg und fragte provokant:
„Und dafür wollt Ihr das Leben der anderen Elfen hier
riskieren?“ Noch böswilliger knurrte er: „Safáydra ist eine
Verräterin. Sie bekommt, was sie verdient.“
Tarens Blick wurde immer verwunderter über die
plötzliche Wut des Tigermannes. Beim Stichwort „Verrat“
schweiften seine Gedanken für einen Moment ab.
Noch während Nenúriel im Silberberger Tempel von
Bruder Mond ihre Wunde auskuriert hatte, waren zwei
Kontaktpersonen in der Stadt aufgetaucht und hatten sich
dezent nach Freiwilligen umgehört, die vielleicht gewillt
waren, sich mit einem zivilen Chimärier-Paar zu treffen
– einem Paar, das mit der Herrschaft des Imperators nicht
einverstanden war. Die Vision war einfach: Nur gemeinsam
konnte man den Imperator stürzen. Der Tempelvorstand, der
von Tarens wechselhaftem Abenteurer- und Kopfgeldjäger-
280 Leben wusste, war sofort damit einverstanden gewesen, dass
Taren der Sache nachging. Und wenn er schon dort war, erfuhr
er vielleicht auch, warum Silberberg nicht entschlossener
angegriffen wurde.
Nenúriel sollte ihn vorwändig deshalb begleiten, weil
sie durch ihre Abwesenheit am sichersten vor weiteren
Anfeindungen in der Menschenstadt war, insbesondere vor
der unmittelbar drohenden Rache des Hauptmannes Swefan,
den sie verraten hatte.
Jetzt kam Taren sich unglaublich dumm vor. Darrakos,
der Initiator dieser Vision gegen den Imperator, war selbst
verraten worden von seiner listenreichen Gefährtin Ressu
– was immer diese ihrerseits im Schilde führte.
Auf der Reise waren Taren und Nenúriel sich immer
nähergekommen: Weitab vom Tempel und dessen moralischen
Vorgaben in Bezug auf Nicht-Menschen, hatte Taren sich
nicht länger gegen die Anziehungskraft der Elfin gewehrt, die
mehr als nur seine Beschützerinstinkte geweckt hatte.

Srrig rüttelte an Tarens Schulter und zischte: „He!


Träumst Du? Der Tanz geht los.“ Zu den Nachtelfen rief
Srrig: „Schießt doch! Sie ist eine Verräterin!“
„Wieso willst Du unbedingt, dass sie stirbt?“, fragte
Taren verärgert.
Mit großen Augen musterte ihn Srrig. Schließlich
knurrte der Tigermann: „Verrat ist das Letzte. Außerdem
könnte der Ansturm ganz leicht aufgehalten werden, wenn
diese Elfen einfach schießen würden.“
„Ein Leben ist nicht viel wert für Dich, was?“, brummte
Taren und sah weg.
„Nicht das Leben von Verrätern“, erwiderte Srrig. 281
Normalerweise stellte Taren sich solchen philosophischen
Diskussionen, doch bei Srrig wagte er es nicht; er war sich
nach wie vor nicht sicher, ob er einen Göttergesandten vor
sich hatte.
Jenseits der Barrikade hörten sie die Schlangenstimme
der Anführerin wieder: „Ergebdd Euch, und wir lassssen
Euch alle am Leben, auch die Verrädderin. Wehrdd Euch,
und Ihr werdedd alle sssdderben!“
Srrig und Taren sahen nicht, was vorging. Doch
plötzlich ging ein furchtsames Raunen durch die Reihen
der Nachtelfen.
„Was ist?“, fragte Srrig scharf nach oben, an die Elfen
bei den Sehschlitzen gewandt.
„Ein Chimärier in Eisenrüstung, mit einer riesigen
Keule. Er wird unsere Barrikade einfach eintreten!“,
flüsterte der Nachtelf hysterisch zurück.
„Dann schießt, ihr Schwächlinge!“, schrie Srrig. Er
sprang auf und rannte unruhig hin und her.
Die Anführerin rief triumphierend von der anderen Seite:
„Wenn Ihr ssschießssdd, tödde ich die Verrädderin!“
„Na und?“, schrie Srrig zurück.
Taren fasste ihn am Arm und raunte: „Das ist nicht
Deine Entscheidung, mein Freund.“
„Wir werden hier auch sterben, wenn diese Nachtelfen
einen Fehler machen“, knurrte Srrig eindringlich zurück.
Wie ein Tiger im Käfig rannte Srrig hin und her. „Habt
Ihr Nahkampfwaffen für uns?“, fragte er plötzlich einen
Nachtelfen. Der schüttelte jedoch nur den Kopf und
zuckte mit den Achseln.
282 „Habt Ihr schon nach Verstärkung geschickt?“, fragte
Taren einen anderen Nachtelfen.
Der Nachtelf nickte knapp, doch dann spähte er sofort
wieder an einem Spalt zwischen Schild und Gangwand
nach draußen, sichtlich verängstigt.
„Ich habe diese Armbrust, soll ich zum Schießen an
den Spalt?“, fragte Taren denselben Nachtelfen; der nickte
darauf und ließ Taren an den Spalt.
Srrigs stummer Blick forderte Taren auf: „Töte die
Verräterin und rette die Elfen.“ Taren wandte sich ab.
Ein Nachtelf auf der Leiter raunte zu den anderen:
„Das sind alles Frauen! Das müssen diese Amazonen
sein! Vielleicht greifen sie ohne Wissen oder Billigung der
anderen Schlangenblüter an!“

Einer der Nachtelfen hatte schon die ganze Zeit reglos in


einer Ecke gesessen, wie schlafend, aber stark schwitzend.
Um seinen Hals hing ein silbernes Amulett mit mehreren
Saphirsplittern darauf. Der Mann fiel Taren und Srrig erst
auf, als er plötzlich leise zu singen begann und sich wie
in Trance hin und her wiegte. Aus einer mitgebrachten
Ledertasche neben sich zog er ein Kupferfläschchen, aus
dem er sich noch nicht geronnenes Blut auf den linken
Arm schüttete. Er malte mit dem Zeigefinger einige
Symbole ins Blut, während es seinen Arm hinabtropfte.
In seinem Schoß lag ein einzelner Pfeil, um den herum
die Luft für einen Moment flimmerte. Das frische Blut
auf seinem haarlosen Arm floss jetzt in falsche Richtungen
oder tropfte vom Boden zum Arm zurück.
Plötzlich nahm er den Pfeil, sprang auf und flüsterte
dem kräftigen Nachtelfen mit der Lederrüstung etwas ins 283
Ohr. Beide grinsten sich geheimnisvoll an. Sie reichten
einem der Bogenschützen auf der Leiter den Pfeil, versehen
mit einer gepolsterten Spitze.
„Was geht da vor?“, knurrte Srrig leise und kniff die
Augen zu schwarzen Strichen zusammen.
Der Bogenschütze zielte sehr sorgfältig und ließ sich
vom ansteigenden Gebrüll der Feinde nicht ablenken. Er
schoss, und plötzlich erschien Safáydra mitten unter den
Nachtelfen.
„Schießt!“, brüllte der Nachtelf in der Lederrüstung
nun.
Helle Todesschreie erklangen, während die
Bogenschützen ungezielt, dafür ziemlich schnell, in den
Gang feuerten. Auch das Brüllen eines Chimäriers war
darunter – beängstigend nah vor der Barrikade. Taren
hatte ihm einen Bolzen ins Herz verpasst; zusammen mit
fünf Pfeilen der Nachtelfen hatte das gerade so gereicht,
ihn zu Fall zu bringen.
„Rückzssug!“, hörten die Nachtelfen die Anführerin
aus dem Geschrei heraus.
Srrig verschränkte die Arme und blickte etwas verlegen
drein. Er brummte: „Ein Teleportationszauber, in einem
Pfeil gespeichert, ausgelöst beim Treffen des Zieles. Sehr
clever, sehr fähiges Kerlchen, auch wenn es nur ein paar
Schritt weit war.“
Taren stand bei ihm und klopfte ihm auf die Schulter.
„Willst Du mir vielleicht erzählen, wieso Du so empfindlich
auf Verräter reagierst?“, fragte er, „falls Du Dich genauer
erinnerst.“
284 Einige Nachtelfen versammelten sich um die
unglückliche Safáydra und fesselten ihre Hände.

Keiner hatte schlafen können. Athónon, Jade und Laura


saßen einfach schweigend da. Athónon trug inzwischen
sein dickes Lederwams. Laura hatte mit einer eindeutigen
Frage in den Augen auf die Wolltunika um Jades Hüfte
gestarrt, doch ihre Mutter weigerte sich standhaft, diese
stumme Frage zu beantworten. Sie konnte ihrer Tochter
unmöglich den Grund nennen.
Mèra kniete noch immer reglos auf ihrem Tuch und
summte fremdartige Melodien. Nach einer Weile schien
es, als würde auf einzelne Töne Mèras eine fremde Stimme
antworten. Als die vermeintlich fremde Stimme auch noch
aus einer anderen Raumecke zu singen schien, wurde es
allen unheimlich, zumal Mèra inzwischen sehr stark
schwitzte und sichtlich zitterte.
Als Mèra nach einer Weile verstummte, verschwand
der Spuk und sie regte sich in ihrer knienden Position. Sie
streckte sich, gähnte leise und kam schließlich ächzend auf
die Füße. Das Stofftuch, auf dem sie ihre Knie gebettet
hatte, blieb liegen. Es gab nun keinerlei Anzeichen mehr
für Zauberei, keine Ritualkreise, keine geheimnisvollen
Zutaten. Keine Spuren.
„Ich brauche eine Pause“, murmelte Mèra, mehr zu
sich, und wischte sich den Schweiß aus den Augen.
Leicht verwundert sah sie sich dann um und erkundigte
sich, wieso nun alle im selben Zimmer saßen. Athónon
berichtete ihr von den beiden Kriegern und wen die zwei 285
suchten. Mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn, die
Lippen zu einem weißen Strich gepresst, sah Mèra zum
Fenster hinaus in die junge Nacht.
Taffi sprang aus Athónons Rucksack auf Mèras Schulter
und wisperte: „Ich halte die erste Wache.“
Mèra nickte sorgenvoll und legte die Fingerspitzen auf
den Fensterrand. „Ist Euer Bogen gespannt, Athónon?“,
fragte sie abwesend.
„Gleich“, murmelte Athónon und kramte aus einem
Lederbeutel in seinem Gepäck eine Bogensehne.
Auch Jade hatte inzwischen den Bogen ihres Gefährten
gespannt und einige Pfeile paratgelegt.
Nachdem Athónon seinen Kurzbogen gespannt hatte,
sah er zu Laura hinüber. „Wie gut kannst Du schießen,
Mädchen?“, fragte Athónon sie.
Sie schaute böse. „Jedenfalls kann ich besser mit dem
Schwert –“
Athónon trat energisch auf sie zu und knurrte: „Jetzt
ist nicht der Zeitpunkt für Ruhm oder Stolz! Nimm den
Bogen! Du schießt über mich hinweg, wenn jemand durch
diese Tür angreift. Verstanden?“
Laura öffnete trotzig den Mund, doch sie schluckte die
Worte hinunter. Sie atmete tief durch, nickte und nahm
den Bogen samt Pfeilköcher entgegen.
„Probier, ob Du ihn genug spannen kannst“, verlangte
Athónon.
Laura sah ihn skeptisch an; er reichte ihr kaum über
die Gürtelschnalle, auch wenn er für seine Größe breite
Schultern besaß. Sie legte einen Pfeil auf und zielte
286 zur Probe auf die Tür. Die letzten Fingerbreit fand sie
tatsächlich anstrengend, doch sie konnte die Sehne ruhig
halten zum Zielen. Ihre Überraschung über die Kraft des
Gnomes behielt sie für sich.
„Ziel lieber zu hoch als zu tief“, versuchte Athónon zu
scherzen, doch es klang ranzig.
Jade hatte die ganze Zeit zugesehen und funkelte ihre
Tochter eindringlich an. Sie musste nichts sagen, Laura
verstand genau, was alle von ihr erwarteten. Sie wusste
eigentlich auch selbst, dass ihr Stolz unangebracht war,
doch es war die Natur des Stolzes, dass er sich immer im
falschen Moment einbrachte.
„Wo ist eigentlich Zeeris?“, fragte Taffi. Niemand
wusste es.
„Der verschwand früher auch schon oft auf der Jagd
nach Augen. Er kam aber auch immer wieder“, murmelte
Athónon.
Mèra erklärte: „Ich muss etwas schlafen. Ich lege mich
in die Mitte, dann kann ich jedem helfen, wenn es sein
muss. Ich schlage vor, Jade und Athónon legen sich an die
Tür und Laura ans Fenster.“
„Klar“, murrte Laura leise und schleifte ihre Sachen
unter das Fenster. Auch Athónon und Jade räumten ihre
Lager wie vorgeschlagen um.
Taffi sprang auf Lauras Schulter und flüsterte ihr ins
Ohr: „Die Bösen kommen oft durchs Fenster. Du hattest
Deine Lektion; sei bitte nicht leichtfertig oder nachlässig.
Für jeden mäßigen Kletterer wäre es kein Problem, bis zu
unserem Fenster zu kommen.“
Laura entgegnete schnippisch: „Du kannst ja auf der 287
Fensterbank schlafen, nachdem ich die Fensterläden
geschlossen habe.“
Taffi sprang vor ihre Brust und hing nun mit den
Krallen in ihrem Kettenhemd, um ihr direkt ins Gesicht
zu sehen. Die untypischen, schwarzen Knopfaugen des
kleinen Wesens funkelten ernst und klug zu Laura auf.
Plötzlich sprach Taffi telepathisch in Lauras Kopf: „Du
bist so ein naives, junges Ding! Vielleicht passiert gar
nichts, aber vielleicht bekommst Du diese Nacht auch
viel mehr, als Du wolltest. Vielleicht sterben wir alle heute
Nacht! Vielleicht nimmst Du mich nicht ernst, weil ich so
klein bin, aber es sei Dir versichert, ich habe schon mehr
Kämpfe erlebt, als Jade und Athónon zusammen. Du wirst
Deine Aufgabe todernst nehmen! Und Du hast nur einen
Versuch. Wenn durch Deine Schuld jemand zu Schaden
kommen sollte, kratze ich Dir die Augen aus!“
Laura wurde erst bleich, dann rot. Sie starrte das
Chamäleon ungläubig an. „Geh weg von mir!“, stammelte
sie. „Geh aus meinen Kopf!“, rief sie halblaut, sodass die
anderen plötzlich zu ihr herübersahen.
Taffi gehorchte kommentarlos und sprang auf die
Fensterbank, und von dort an einen der Fensterläden.
„Kannst jetzt zumachen“, sagte Taffi.
„Das war doch nur ein Scherz“, stammelte Laura und
hob die Handflächen, als wollte sie Taffi eine bessere
Landefläche bieten.
„Nein, es war eine gute Idee“, widersprach Taffi,
„nur sollte dann jemand anderes die erste Wache
übernehmen.“
288 Laura trat ans Fenster. „Du willst wirklich auf diesem
kleinen Vorsprung schlafen?“, versicherte sie sich noch
einmal. „Hör zu, ich habe das nicht so gemeint ...“,
wisperte sie.
„Nein, nein, ich halte das wirklich für eine gute
Idee. Wer würde schon irgendein kleines Tier für einen
Wachposten halten oder es auch nur aus der Ferne sehen?“,
beharrte Taffi.
„Also gut“, sagte Laura und schloss die Fensterläden.
Taffi hielt sich zuerst außen fest, und als die Läden
geschlossen waren, legte das Chamäleon sich auf die
Fensterbank.
„Dann halte ich an Taffis Stelle die erste Wache, wenn
niemand was dagegen hat“, schlug Laura vor.
„Einverstanden“, stimmte Mèra zu, und auch Jade und
Athónon nickten.
„Ich mache die zweite“, meldete sich Athónon.
„Dann ich die dritte und letzte“, schloss Jade die Planung
ab, „so kann Mèra sich von ihrer Magie ausruhen.“
Mèra nickte dankbar und legte sich mit leerem Magen
zum Schlafen; keine gute Basis, wenn man Kämpfe
erwartete.
Laura setzte sich im Schneidersitz auf ihr Lager, mit
dem Rücken an die Wand gelehnt und mit dem Kopf
unter dem Fenster. Den Bogen hielt sie locker in ihrem
Schoß, ein Pfeil lag auf der Sehne. Das Schwert hing an
ihrem Gürtel. Einerseits hoffte sie in ihrer Abenteuerlust
und Neugier, dass etwas passierte – andererseits hatte sie
unsägliche Angst zu versagen. Zum ersten Mal in ihrem
Leben hing wirklich etwas von ihr allein ab, und zwar
nicht weniger als das Leben ihrer Gefährten und das ihrer 289
Mutter.
Laura war hellwach und lauschte auf jedes nichtige
Geräusch. Diesmal gestattete sie sich nicht, in Träumereien
zu versinken, wie auf dem Weg aus dem Dorf, als die
Männer plötzlich vor ihr gestanden hatten.

Es war noch nicht viel Zeit vergangen, da kratzte Taffi


am Fensterladen. „Pst! Ich sehe was! Mach auf und schau
selbst!“, zischelte das Chamäleon.
Leise legte Laura den Bogen neben sich, richtete sich
mit einer Hand am Schwert auf, damit es nicht klapperte,
und öffnete das Fenster. Das Quietschen der Läden kam
ihr entsetzlich laut vor, doch das ruhige Atmen hinter ihr
veränderte sich nicht.
Im blauen Glühen der Nacht bewegte sich ein Schatten
zwischen zwei gegenüberliegenden Häusern. „Zu groß für
Katzen oder Hunde“, wisperte Taffi nüchtern.
„Aber soll ich deswegen schon die anderen wecken?“,
flüsterte Laura zurück und blickte Taffi fragend an.
Nach kurzem Überlegen antwortete Taffi: „Nein,
aber behalte die Schatten im Auge – hinter einem der
Fensterläden, falls ein Pfeil daherkommt.“
Laura nickte. Sie blieb am Fenster stehen, zog aber einen
der Läden wieder zu.
Dann knirschte eine lose Holzbohle im Flur, die
Laura bei ihrer Ankunft schon aufgefallen war. Die
Halbelfin erstarrte vor Schreck und das Blut rauschte
wie ein Wasserfall in ihren Ohren. Ihr Herz begann wild
zu hämmern. Sie atmete immer schneller und ballte die
290 Fäuste, aber sie rief noch keinen Alarm aus. „Ganz ruhig.
Es gibt noch mehr Gäste hier“, flüsterte sie zu sich. Ihre
Mutter, Mèra und Athónon schienen fest zu schlafen und
atmeten tief und ruhig weiter.
Das Knirschen der Holzbohle wiederholte sich, jedoch
langgezogen, als bewegte sich jemand sehr langsam
darauf.
„Ich wecke erst einmal nur Athónon“, schlug Taffi leise
vor, „der wäre sowieso bald als Wache dran.“
Laura nickte und war dankbar für den Vorschlag.
Athónon wachte sofort auf, als Taffi auf seinen Bauch
sprang und ihn mit der langen Zunge unter der Nase
kitzelte.
„Geräusche vom Flur, Schatten beim Haus gegenüber.
Außerdem ist langsam Wachwechsel“, wisperte Taffi.
Athónon setzte sich auf.
In dem Moment zersplitterte die Holztür und die beiden
Krieger vom Abend sprengten ins Zimmer.

Laura stieß einen Alarmruf aus und bückte sich hektisch


nach dem Bogen. Natürlich verrutschte der sorgsam
aufgelegte Pfeil, und bis sie ihn richtig aufgelegt und den
Bogen gespannt hatte, war das Schwert des Hünen bereits
auf Jade niedergesaust.
Laura gefror das Blut, ihre Knie wurden weich, Übelkeit
stieg auf. Doch Jade hatte überragende Reflexe, sie rollte
gerade noch zur Seite und sprang mit dem eigenen Schwert
in der Faust auf die Füße.
Jetzt spannte Laura den Bogen, zielte und schoss. Der
Hüne, der sie gesehen hatte, warf sich zur Seite und trat
Athónon mit dem Knie aus dem Weg, das Kurzschwert 291
des Gnoms ignorierend.
Der andere Krieger konnte Lauras Pfeil jedoch nicht mehr
ausweichen und wurde in die Brust getroffen. Mit einem
gellenden Schrei taumelte er an die gegenüberliegende
Flurwand.
Ohne sich über ihren Triumph zu freuen, schnappte
Laura den nächsten Pfeil und legte ihn auf.
Athónon hatte dem Hünen beim Zusammenprall das
Kurzschwert vor das Schienbein gestochen, hatte die
Beinschiene, die unter dem Hosenstoff versteckt war,
jedoch nicht durchbohren können.
Der Hüne schlug mit voller Kraft nach Athónon.
Der Gnom, der eben erst das Knie des Kriegers vor den
Kopf bekommen hatte, riss das Kurzschwert zwar noch
rechtzeitig hoch, doch ihm fehlte die Kraft. Der Hüne
schlug ihm die Waffe aus der Hand und streifte mit der
Schwertspitze gleichzeitig seinen Kopf. Mit einem heiseren,
abrupt abreißenden Schrei ging Athónon zu Boden und
erschlaffte.
Laura wollte gerade schießen, als etwas durch das Fenster
auf sie zusprang. Sie schrie entsetzt und warf sich auf den
Rücken – anders hätte sie gar nicht mehr ausweichen
können. Zwei riesige Klauen mit dolchgleichen Krallen
verfehlten sie um Haaresbreite. Ein schwarzhäutiger
Albtraum mit rot brennenden Augen beugte sich brüllend
über sie.
Laura war vor Angst gelähmt. „Schieß doch!“, schrie
Taffi telephatisch in ihrem Kopf, erst da spannte sie den
Bogen.
292 Der Pfeil schoss durch das Monstrum hindurch wie
durch Luft.
Gleichzeitig hörte sie ihre Mutter kläglich schreien.
„Hilf Deiner Mutter!“, zischte Mèra und baute sich über
Laura auf, sie stellte sich dem Albtraum in den Weg.
Laura reagierte ohne zu denken, sprang hinter Mèra
hoch und zog das Kurzschwert.
Jade stand mit dem Rücken an der Wand und hielt
mit beiden Händen und aller Kraft den Waffenarm des
Hünen fest, dessen Schwertspitze sich bereits durch das
Kettenhemd in ihre Seite zu bohren begann. Langsam hob
der Krieger die riesige linke Faust; Jade starrte verzweifelt
darauf, während ihr Blut unter dem Kettenhemd
hervorquoll und ihre Arme zitterten.
Laura holte wütend aus und machte einen Satz auf den
Krieger zu, um ihm den Schädel zu spalten. Doch als hätte
er ein Auge im Hinterkopf, glitt er im letzten Moment
einfach zur Seite und donnerte Laura den Faustrücken
ins Gesicht. Die Halbelfin verdrehte sich im Stürzen und
blieb bäuchlings liegen.
Unvermittelt trat der Hüne Jade von der Seite her ins
Knie. Sie zuckte zusammen, dadurch glitt das Schwert des
Gegners tiefer in ihren Körper. Jade bäumte sich stöhnend
auf, dann bogen sich ihre Beine allmählich durch und sie
stürzte auf die Knie.
Ein infernalischer Schrei drang plötzlich durch das
ganze Gebäude. Der Albtraum, der durch das Fenster
gesprungen war, löste sich in einem wilden Flammentanz
auf, nichts als Rauchschwaden und bestialischen Gestank
hinterlassend. Mèra stand noch immer auf ihrem Platz,
die Augen geschlossen; ihre erhobenen Hände zitterten 293
und waren schwarz verkohlt.
Der Hüne riss Jade das Schwert aus der Wunde und
schubste sie achtlos zur Seite. Sie schrie nicht und blieb so
verdreht liegen, wie sie gestürzt war. An Mèra gewandt,
grunzte der Gegner: „Die beiden Elfinnen sind die
Belohnung für später, aber Dich soll ich ausdrücklich töten
und Deinen Kopf als Beweis mitbringen. Fünfhundert
Goldmünzen! Ich muss schon sagen! Du musst wirklich
einiges angestellt haben.“
Mèra schwankte vor Schwäche. Die stundenlange
Zaubervorbereitung, der leere Magen, die Vernichtung des
Monsters und ihre verbrannten Hände, außerdem hatte
sie ihre Kräfte erst kürzlich überhaupt wiedererlangt – all
das war zu viel auf einmal geworden. Sie taumelte zurück
und fiel auf ein Knie. Ein Blutfaden lief ihr aus der Nase.
Auf dem Flur rannten Schritte herbei. Verärgert blickte
der Hüne über die Schulter; er hatte bereits eine Drohung
auf den Lippen liegen, sich besser wieder zu verziehen, statt
neugierig die Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken.
Doch er blickte auf die Pfeilspitze des gespannten Bogens
in Wenndurs Händen, der den Pfeil in genau diesem
Moment losließ.
Er schoss daneben.
Lachend sprengte der Hüne auf Wenndur zu, der
furchtsam zurückwich und nach dem Dolch in seinem
Gürtel tastete.
Plötzlich kreischte der Hüne. Taffi war ihm wie aus dem
Nichts ins Gesicht gesprungen und hatte ihm die Krallen
in die Augen geschlagen. Der Hüne schlug wild mit dem
294 Schwert um sich und brüllte verzweifelt, doch auf einmal
verstummte er: Wenndur hatte die Verzögerung genutzt,
um einen zweiten Pfeil abzuschießen, und diesmal hatte er
genau ins Herz getroffen.
Taffi starrte zitternd direkt unter sich, wo der Pfeil
aus dem Menschenkörper ragte. Vorwurfsvoll blickte er
hinter sich auf Wenndur, doch der zwinkerte Taffi nur
unschuldig zu.
Mit einer zähen Bewegung kippte der Hüne zu Boden
und starb mit einem letzten Röcheln.
Wenndur lief in den Raum, warf den Bogen achtlos zur
Seite und kniete sich neben Laura. Seine gehetzte Miene
verriet, dass er nur selten Blut sehen musste.
„Sie ist nur betäubt. Kümmere Dich um ihre Mutter
und den Gnom, die sind ernster verletzt“, raunte Mèra mit
letzter Kraft, dann ließ sie sich seufzend niedersinken und
schloss die Augen. Ihre Hände rauchten noch immer und
verbreiteten nun, zusätzlich zum Gestank des besiegten
Höllenwesens, den Geruch verbrannten Fleisches.
Unter Taffis wachsamen Augen machte Wenndur
sich ans Werk. Er hatte in einer Gürteltasche sogar
Verbandszeug dabei. Auf dem Flur sammelten sich derweil
einige Herbergsgäste, um neugierig zu sehen, was dort
geschah. „Was ist das für ein unmenschlicher Gestank?“,
wunderten sie sich immer wieder.

„Hörst Du das auch?“, zischte Melek dem Zwerg zu und


blieb stehen.
Brommil hielt an, stieß aber nur einen leisen, fragenden 295
Grunzlaut aus und hielt sich eine Hand hinters Ohr.
Dann hörte er es tatsächlich: ein tiefes, kehliges Singen
in einer kantigen Sprache.
„Das ist ein Chimärier!“, wisperte Melek und tastete
fieberhaft nach einer Deckung in der lichtlosen Schwärze.
„Chimärier singen nicht“, grollte Brommil und ging
entschlossen auf den Gesang zu.
„Bist Du irre?“, zischte Melek. „Ich sage Dir, das ist ein
Chimärier! Vielleicht ist er betrunken oder so was.“
„Chimärier trinken auch nicht“, brummte der Zwerg
und bog um eine Ecke. Seine Schritte hielten abrupt an.
„Da ist Licht. Komm, Junge! Schlimmer kann es ja nicht
werden.“
Melek folgte dem Zwerg mit etwas Abstand. Tatsächlich
flackerte in der Ferne ein Lichtschein.
Die beiden Flüchtlinge erreichten eine kleine Höhle,
von der mehrere Gänge weiterführten. In der Mitte der
Höhle loderte ein kleines Lagerfeuer, und um das Feuer
herum torkelte ein singender, oder besser gesagt grölender
Chimärier.
Brommil und Melek hatten sich an die Wand gepresst,
um nicht entdeckt zu werden. „Verstehst Du den Text?“,
wisperte Melek, worauf Brommil kurz den Kopf schüttelte.
„Ist irgendein Dialekt.“
Der Chimärier trug einen zerbeulten Eisenpanzer, auf
dem vor langer Zeit vermutlich ein schwarzes Wappen
auf rotem Grund zu erkennen gewesen war; heute waren
nur ein paar schwarze und rote Farbreste übrig. Ein
zerschlissener, schwarzer Umhang flatterte gefährlich nah
296 am Feuer entlang, während der grölende Chimärier um die
Flammen herum hüpfte und tanzte. Neben dem Feuer lag
ein Rucksack, und darauf ruhte ein riesiges Eisenschwert,
das trotz aller Scharten noch äußerst tödlich aussah.
Vermutlich musste selbst ein Chimärier es zweihändig
führen. Lang genug dafür war der mit Fell umwickelte
Griff allemal.
Plötzlich hielt der Chimärier an, jedenfalls versuchte er
es; er torkelte noch ein paar Schritte weiter, bis er ganz
zum Stehen kam. Hin- und herwankend schnüffelte er
und hielt die längliche Nase empor.
„Lauwarmes Fleisch!“, lallte er in der Menschensprache.
„Kommt ruhig ans Feuer, ich beiß heut’ nich’! Kommt!
Leistet ’nem alten Mann Gesellschaft.“ Der Chimärier
rülpste laut, was ihn sichtlich amüsierte. „Prost!“, rief er, „is’
noch mehr von da, von dem Zeuch.“ Er wankte zu seinem
Rucksack und brauchte eine Weile, bis er den Knoten
des Lederbandes geöffnet hatte. Sein Drachenschwanz
zuckte ständig hin und her, auch wenn der Rest von ihm
einigermaßen still stand.
„Hier!“, rief er dann laut und hielt eine große, bauchige
Kupferflasche hoch. Er zog den Korken, warf ihn achtlos
weg und setzte die Flasche an den Hals. Mit einem
unartikulierten Grölen lobte er den Geschmack, torkelte
ein paar Schritte und spie dann plötzlich einen Feuerstrahl
unter die Decke. „Ja, das is’ der richtige Stoff! Los, jetzt
kommt endlich raus und trinkt was!“, rief der Chimärier
mit schwerer Zunge.
Dann fiel er der Länge nach neben das Feuer und
begann beeindruckend laut zu schnarchen. Die Flasche
war ihm aus der Hand gefallen und lief aus. 297
Mit großen Augen sprintete Brommil zu der Flasche.
Erst als er sie in Händen hielt und nicht noch mehr
auslief, atmete er erleichtert durch. Er schloss genussvoll
die Augen, setzte die große Flasche mit beiden Händen an
den Mund und nahm einen Schluck.
„Ah! Saufen!“, grunzte der Zwerg und setzte sich auf
einen Stein am Feuer.
Melek schüttelte nur verächtlich den Kopf, kam aber
langsam auch ans Feuer geschlichen.
„Das Vieh hat recht, der Stoff ist gut!“, krächzte Brommil
mit heiserer Stimme und hielt Melek die Flasche hin.
„Nein, danke. Ich lebe lieber weiter, wenn die
Saufkumpane von dem Monstrum herkommen“, knurrte
Melek und starrte finster ins Lagerfeuer.
Brommil winkte nur ab und nahm den nächsten Zug.
„Was stinkt hier so?“, fragte Melek plötzlich gequält
und verzog das Gesicht. „Faule Eier?“
Selbst Brommil starrte angewidert drein, erhob sich
und setzte sich auf einen anderen Stein, weiter weg vom
schnarchenden Chimärier.
„Sollten wir den Kerl nicht fesseln oder töten, oder
wenigstens sehen, was in seinem Rucksack ist?“, fragte
Melek nach einer kurzen Weile genervt.
„Mach doch“, gab Brommil spitz zurück. „Ich habe
mich schon einmal direkt drangetraut, um die Flasche zu
retten. Du bist dran.“
Meleks Augen weiteten sich etwas.
Brommil versetzte lakonisch: „Außerdem sehe ich
hier nichts, womit man einen Chimärier wirksam fesseln
298 könnte. Wenn, dann solltest Du ihn gleich töten. Dann
erfahren wir allerdings nicht mehr, wo wir hier eigentlich
sind und wie wir hier wieder rauskommen. Oder wo es
noch mehr von diesem vorzüglichen Teufelsgebräu gibt.“

Inzwischen war auch die Verstärkung der Nachtelfen


eingetroffen: zwanzig Kämpfer in Lederrüstungen,
bewaffnet mit kurzen, dicken Kupferschwertern und
Kurzbögen. Der Barrikadentrupp erstattete Bericht, dann
blieb ein Teil der Verstärkung gleich als Wachwechsel
zurück, während die anderen Nachtelfen die Barrikade
wieder verließen. Die gefesselte, hinkende Safáydra wurde
unsanft vorausgeschubst, während Srrig und Taren höflich,
aber bestimmt eskortiert wurden.
Unvermittelt nahm Srrig das Gespräch mit Taren
wieder auf: „Ich weiß nicht, wieso ich so empfindlich auf
diese Verräterin reagiert habe. Ich kann mich nach wie vor
nur bruchstückhaft an mein Leben erinnern. Ich glaube
aber, dass ich verraten wurde und deshalb überhaupt in
diese missliche Lage geraten bin. Ist nur so ein Gefühl.“
„Erstaunlich viele Elfen sind in der Zauberei bewandert,
viel mehr als bei den anderen Völkern“, berichtete Taren
und kratzte sich am Bart. „Vielleicht gibt es hier einen, der
einen Heilzauber für Dein Gedächtnis kennt.“
„Für Tigermenschen? So weit im Westen?“, brummte
Srrig missmutig und ballte unmerklich die Fäuste.
„Den Versuch ist es doch wert, oder?“, ermunterte Taren
ihn. Er wollte Gewissheit. Bei einem göttlichen Gesandten
würde die Zauberei eines Sterblichen entweder abprallen 299
oder das zurückgekehrte Gedächtnis würde für Klarheit
sorgen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte Taren einen
der Nachtelfen: „Habt Ihr einen Zauberer unter Euch, der
ein verlorenes Gedächtnis zurückbringen könnte?“
Der Nachtelf antwortete, ohne nachdenken zu müssen:
„Der alte Velýthoel kann solche Dinge. Er ist unser bester
Zauberer und Lehrer. Vielleicht empfängt er Euch.“
„Vielleicht?“ Taren drehte irritiert den Kopf.
„Nun, er befasst sich eigentlich nur mit wichtigen
Angelegenheiten unserer Stadt, weil das schon mehr als
genug Aufgaben für nur eine Person sind. Wenn ich es mir
recht überlege, solltet Ihr es wohl zuerst bei einem anderen
Zauberer versuchen, zum Beispiel Myándirel; wenn der
Euer Problem nicht lösen kann, es aber für wichtig erachtet,
wird er Euch sicher an Velýthoel weiterempfehlen.“
„Gut, wo finden wir Myándirel?“, fragte Taren höflich.
„Oh, das weiß so ziemlich jeder bei uns, fragt Euch
einfach durch; ich könnte Euch den Weg auch beschreiben,
aber Ihr müsst oft abbiegen. Das ist schwer, sich zu merken“,
führte der Elf mit einigen kreisenden Gesten aus.
Taren bedankte sich mit einem Nicken und blickte
vielsagend zu Srrig. Der machte eine finstere Miene und
hing seinen Gedächtnislücken nach.
„Ich weiß, dass ich wieder gesund werde, weil ich immer
treu und den Göttern gefällig war! Wofür sollten sie mich
bestrafen wollen? Ich habe doch nichts falsch gemacht!“ Srrig
hielt die Hand einer wunderschönen Tigerfrau mit beiden
Händen fest, während er an ihrem Bett saß. Seine Augen
schimmerten, während er nur klägliche Versuche zustande
300 brachte, zu lächeln. Er küsste hilflos ihre Hand, er wusste
nicht, was er sonst noch hätte tun können.
„Pass auf unsere Söhne auf “, hatte seine Gemahlin noch
geflüstert, bevor sie an jener seltsamen Krankheit gestorben
war, für die es keine Heilung zu geben schien.
Als er ihren Körper zur Feuerbahre gebracht hatte und die
traditionellen Worte hätte sprechen müssen, die ihre Seele
zu den Göttern hätten geleiten sollen, brachte er sie nicht
heraus. Die anwesenden Tigermenschen begannen befremdet
zu murren und Srrig anzustarren, doch er stand einfach nur
da, seine Kiefer knirschten wütend aufeinander. Schließlich
stieß er einen wilden Schrei aus und ballte die Faust gen
Himmel: „Verräter!“ An das heillose Chaos, das dieses Sakrileg
hervorgerufen hatte, erinnerte er sich jedoch kaum.

Die grauenhafte Armee des Dämonengottes


Schlachtete die Sterblichen mit Leichtigkeit ab.
Selbst die Götter wollten zunächst nicht helfen,
Um die Sterblichen zu strafen,
Aus vermeintlicher Gerechtigkeit.

Nur vier Könige sahen die Fehlbarkeit


In der Wahl der einst allmächtigen Götter und
Dass selbst die Höchsten beeinflusst wurden.
Sie wagten es trotz himmlischer Warnungen,
Die Götter selbst anzuprangern.
Die Stadt der Nachtelfen erstreckte sich in einer 301
riesigen Höhle und bestand aus etwa vierzig einfachen
Hütten, die einige wenige Steinhäuser in der Mitte
weitläufig umringten. Mehrere weitere Gänge verliefen
in alle Richtungen im Dunkeln. Zahlreiche magische
Lichtkugeln schwebten lautlos über den Hütten und
an den Gängen. Sie sorgten für eine sonnenfarbene,
manchmal jedoch auch bunte Beleuchtung; grasgrün
und hellblau schienen die beliebtesten Farben nach der
gleißenden Sonnenfarbe zu sein. Auch der Rauch einiger
Kohlenbecken zog in diversen Spalten in der Höhlendecke
ab, aber nicht sehr schnell, sodass eine dünne Rauchwolke
über der Stadt schwebte. Es war taghell und angenehm
warm in der großen Stadthöhle.
„Vermutlich löschen sie die magischen Lichter über
Nacht, um einen Rhythmus zu haben“, spekulierte Taren.
Der Nachtelf, den Taren nach Myándirel gefragt
hatte, hatte ihm geraten, zunächst links am Rand der
Stadt entlangzulaufen und dann in den zweiten Tunnel
einzubiegen; dort ginge die Stadt nämlich noch weiter.
Der Nachtelf in der Lederrüstung, der an der Barrikade
das Kommando gehabt hatte, blieb noch einen Moment
bei Srrig und Taren stehen und erklärte ihnen: „Ihr seid
uns willkommen, solange Ihr unsere Gesetze achtet. Die
sind nicht kompliziert, benehmt Euch einfach friedlich.
Wir haben nichts von Wert und auch nichts zu verbergen.
In der Mitte dieser Höhle wohnen unsere Ratsmitglieder;
wenn es dringende Probleme gibt, wendet Euch direkt
an sie. Ich denke, alles Weitere findet Ihr ganz schnell
heraus. Bleibt, solange Ihr mögt. Wenn Ihr rechts an
302 den Hütten entlanglauft und dem ersten Tunnel nach
dem Eingang folgt, kommt Ihr in eine kleine Höhle mit
mehreren Nischen; das ist unsere Gästehöhle, wo Ihr euch
zurückziehen könnt. Wir haben auch eine Taverne, aber
die ist klein und besitzt keine Gästezimmer. Habt Ihr
noch Fragen?“
Srrig und Taren blickten sich an und schüttelten dann
den Kopf. „Danke für Eure Hilfe und Gastfreundschaft“,
erwiderte Taren diplomatisch.
„Keine Ursache“, lächelte der Nachtelf, verneigte sich
knapp und folgte dann seinem Trupp, der die Verräterin zur
Stadtmitte brachte, zu den Häusern der Ratsmitglieder.
„Tja, dann auf zu diesem Zauberer“, seufzte Srrig
beherzt.

Als Laura zu sich kam und nichts weiter spürte als


nur ihre pochende, gebrochene Nase, begann sie leise zu
lachen. Sie hatte nicht damit gerechnet, überhaupt wieder
aufzuwachen, doch sie befand sich noch immer in Mèras
Zimmer.
Athónon, dessen rechtes Auge von einem dicken
Verband umwickelt war, funkelte sie jedoch böse an; ihr
Lachen erstarb sofort wieder.
„Mutter?“, flüsterte Laura und bekam schlagartig
Angst. Sie richtete sich ein wenig zu schnell auf und sah
Sternchen, doch dann entdeckte sie Jade auf einem Lager
neben sich, friedlich schlafend, von Kettenhemd und
Lederwams befreit und fachmännisch verbunden. Ihr
blassrotes Unterhemd, das die Haut vor dem Kettenhemd 303
geschützt hatte, wurde von zwei gekreuzten Stick-
Schwertern über dem Brustkorb verziert und brachte Laura
zum Schmunzeln. Sie wurde jedoch wieder sehr ernst, als
ihr Blick auf die kleine, grüne Wolltunika fiel, die sie als
Kleinkind getragen hatte und die ihre Mutter noch immer
um die Hüfte trug.
„Deine Mutter hat eine Fleischwunde in der Seite, nichts
allzu Ernstes“, erklärte Athónon mit hängenden Armen
und unterbrach damit Lauras aufsteigende, vage Ahnung,
wieso ihre Mutter sich diese Tunika umgebunden hatte.
„Und Mèra?“, fragte Laura besorgt und sah zu der
anderen schlafenden Elfin herüber.
„Sie ist sehr schwach“, berichtete Athónon gedämpft.
„Was immer das für ein Biest war, das da durchs Fenster
gekommen war – Mèra hatte Mühe, es zu besiegen. Es hat
ihre Hände verbrannt, aber ich nehme an, meine magische
Decke kann das heilen.“
„Was ist passiert, nachdem der Hüne mich
niedergeschlagen hatte?“, wollte Laura wissen. Ihre Finger
zupften an ihrer Decke.
„Taffi und Wenndur haben ihn besiegt“, erzählte
Athónon, fast hätte sein Mundwinkel nach oben gezuckt.
„Wenndurs erster Bogenschuss war danebengegangen, aber
Taffi hat dem Hünen die Augen zerkratzt, und dadurch
hatte Wenndur Zeit für einen zweiten Schuss. Der hat
dann genau gesessen.“
„Wird Dein Auge auch wieder gesund?“, fragte Laura
leise.
Athónon antwortete nicht sofort. „Wir werden sehen“,
304 sagte er tonlos. „Wenn Mèra die Decke nicht mehr braucht,
kann ich mich ja wieder selbst drunterlegen, dann wird
das schon“, fügte er zuversichtlich hinzu. „Mit meiner
eigenen Heilmagie traue ich mich so etwas Kompliziertes
jedenfalls nicht“, murmelte er.
„Werden wir jetzt noch einmal angegriffen ...“, wisperte
Laura.
Athónons Miene verfinsterte sich. „Ja, irgendwer muss
das Vieh wohl beschworen haben, das uns angegriffen
hat; nicht einmal Xelos hätte so etwas vermocht, soweit
ich weiß. Außerdem hat Mèra etwas von einem Kopfgeld
gemurmelt, das auf sie ausgesetzt worden sei – von wem
auch immer.“ Athónon unterdrückte den Reflex, schon
wieder nach seinem Augenverband zu tasten, wie er es in
der letzten Stunde ständig getan hatte.
„Athónon? Hätte ich früher Alarm geben müssen?“,
flüsterte Laura; ihre Stimme war kurz davor zu brechen,
und in ihren Augen schimmerten kleine Seen.
Athónon verzog wie gewohnt keine Miene, doch er
antwortete mit sanfter Stimme: „Du hast Deine Sache
sehr gut gemacht. Du hast einen der Gegner getötet, noch
bevor er richtig im Raum gestanden hatte. Du hättest mir
den Rücken freigehalten, hättest Du diese Höllenbrut mit
Deinem Bogen verletzen können. Glaub mir, Du hast
nichts falsch gemacht. Wir hätten Deine Pfeile passend
verzaubert, hätten wir geahnt, dass wir einem dämonischen
Vieh begegnen würden. So etwas dürfte es gar nicht mehr
geben ... Du konntest unmöglich mehr ausrichten, als Du
getan hast. Bedenke, man geht aus keinem ernsten Kampf
ohne Verletzungen heraus. Dass niemand von uns sterben
musste, ist ein großer Triumph. Vielleicht verstehst Du ja 305
jetzt noch etwas besser, was Deine Mutter Dir ersparen
wollte. Und dann stell Dir erst vor, wie Du Dich fühlen
würdest, wenn ein Kamerad gefallen wäre, auch ohne die
Schuld von irgendwem.“
Laura nickte mit einem Kloß im Hals und legte die
Hände auf den Bauch. „War das wirklich ein Dämon?“,
wollte sie wissen und musterte Athónon eindringlich. „Ich
dachte, die gibt es nur in Geschichten! Oder dass sie unsere
Welt zumindest nicht persönlich betreten könnten.“
Athónon knurrte mürrisch: „Wäre das ein echter
Dämon gewesen, wären wir jetzt alle tot. Nein, das war nur
irgendein geistloses Vieh, ein sogenannter Dämonischer,
beschworen durch verbotenes Wissen aus dem Glorreichen
Zeitalter; entweder war das ein ehemaliger Sterblicher,
der sich mit den falschen Mächten eingelassen hat, oder
es war ein niederes Monstrum aus der Geisterwelt. Im
letzteren Fall müssen wir befürchten, dass sein Beschwörer
davon noch mehr rufen kann, wenn er nur genug Zeit hat.
Doch auch im ersteren Fall kann es noch viel mehr davon
geben.“
„Hoffen wir das Beste“, raunte Laura.
„Ja ... Hoffnung“, spottete Athónon verächtlich und
wandte sich ab, um nach Mèra zu sehen.

Mèra hob müde die Lider und ließ ihre ozeanischen


Augen auf Athónon ruhen. „Du hättest es mir sagen
müssen“, flüsterte sie kraftlos und war überraschend zum
Du übergegangen.
Athónon stutzte und fragte irritiert: „Was sagen?“
306 Mèra flüsterte: „Was schiefgelaufen ist, als Du und
Deine Freunde mich auf Hevas Leib zurückholten. Das
Seelengefäß ... es war zerbrochen, nicht wahr? Daher bin
ich jetzt so schwach, daher die grauen Strähnen. Daher
hat die Tarnung nicht funktioniert. Ich lebe, aber ich bin
nicht die alte, nicht die echte Mèra. Meine Erinnerungen
gehören nicht zu diesem schwachen Körper. Jeder Pfeil,
jede Klinge könnte mich töten, auch wenn ich noch die
Gedanken und das Wissen dieser Halbgöttin namens
Mèra habe. ,Miriam‘ gefällt mir sowieso besser.“
Athónons Kehle schnürte sich unwillkürlich zu. Er
schwieg.
Etwas lauter fuhr Mèra fort: „Da die Tarnung nun
dahin ist, werde ich uns direkt teleportieren, sobald ich
wieder die Kraft dazu habe. Mit Srrig an unserer Seite
werden wir sicherer sein als jetzt. Außerdem müssen die
Feinde uns dann erst neu aufspüren.“ Ihr Blick wurde kalt,
kaum hörbar hauchte sie: „Seine Seelenkugel habt ihr doch
nicht auch zerbrochen, oder?“ Für einen kurzen Moment
loderten ihre Augen vor feurigem Zorn.
Athónon schüttelte den Kopf. „Nein, Hoheit, nur
Eure ... fiel zu Boden. Durch die besondere Kristallstruktur
waren diese Gefäße extrem empfindlich, daran hatte sich
anscheinend auch mit Zauberei nichts ändern lassen.“
„Nenn mich nicht Hoheit“, knurrte Mèra leise und
wandte das Gesicht ab. „Wie ich schon sagte, die Königin
starb vor zwanzig Jahren, als ihre Seelenkugel zerbrach.
Nur ein schwacher Schatten blieb von ihr zurück.“ Mit
harter Miene starrte sie zur Decke.
Athónon ließ den Kopf hängen, seine Mundwinkel
verzogen sich nach unten. „Ich bringe Euch etwas zu 307
essen“, murmelte er, ging zu seinem Rucksack und kramte
darin.

„Heda, wie geht es Euch?“, rief Wenndur fröhlich und


trat durch die Trümmer der Tür ins „Krankenzimmer“.
Ein Rest des Gestanks von dem dämonischen Wesen
hing noch immer in der Luft, bemerkte er mit einem
unmerklichen Naserümpfen.
Mèra und Athónon reagierten nicht auf ihn, doch
Wenndur störte sich nicht daran. Er ignorierte die beiden
ebenfalls und setzte sich neben Laura, die inzwischen am
Lager ihrer schlafenden Mutter saß.
„Wird sie wieder gesund?“, raunte er mitfühlend in
Lauras Ohr und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Laura ließ es sich gefallen und lächelte den Barden
zaghaft an. Sie ignorierte die Tatsache, dass ihr Herz sofort
schneller schlug. „Ich habe gehört, Du hast uns mit einem
heldenhaften Bogenschuss gerettet?“, fragte sie.
„Ach, na ja“, winkte Wenndur mit falscher Bescheidenheit
ab. „Willst Du mit zum Krämer kommen?“, fragte er dann
sofort und umschloss ihre Schultern noch etwas fester,
beinahe streichelte er sie mit den Fingern.
In Jades schlafendem Gesicht zuckte ein kleines
Grübchen ihrer Mundwinkel.
Laura sah verlegen weg und errötete leicht, doch bevor
sie antworten konnte, fügte Wenndur hinzu: „Er ist
übrigens tot. Er ist letzte Nacht bestialisch aufgeschlitzt
worden. Auf seiner Brust prangt ein seltsames Brandmal,
das irgendwie unheimlich aussehen soll, heißt es. Da
308 dieses Dämonending letzte Nacht genau dieses Zimmer
angegriffen hat, hätte man gern, dass einer von Euch sich
das mal ansieht. Jemand von der Dorfwache wartet schon
im Haus des Krämers.“
Laura starrte dem Barden erschrocken ins Gesicht.
Dann sah sie zu Athónon hinüber, der noch immer vor
seinem Rucksack kniete und darin wühlte.
„Wir sollten uns nicht aufteilen“, murmelte der Gnom
finster, ohne innezuhalten.
Laura richtete sich auf und atmete tief durch. Egal was
Athónon gesagt hatte, egal dass sie einen Feind erschossen
hatte, sie erinnerte sich gerade nur sehr schmerzhaft
daran, dass sie nichts gegen das Dämonenwesen hatte
tun können und nicht mal hinterrücks den Krieger hatte
niederschlagen können, der ihre Mutter fast getötet
hätte. Etwas frostiger und trotziger, als sie gewollt hatte,
erwiderte sie in Athónons Richtung: „Aber wie Du schon
sagtest, ich bin euch allen hier keine Hilfe. Da gehe ich
lieber Informationen sammeln, das ist eine Aufgabe,
die ich vielleicht eher bewältigen kann. Ich werde das
Brandmal abzeichnen, dann kannst Du es Dir mit Mèra
auch ansehen.“
„Pass auf Dich auf“, antwortete Athónon nur, mangels
einer besseren Abschiedsformel.
Laura nickte und lächelte etwas beschämt, doch sie
sagte nichts weiter. Gemeinsam mit Wenndur verließ sie
das Zimmer. Sie achtete jedoch darauf, gerade so schnell
vorwegzulaufen, dass sie Wenndurs Arm an ihrer Schulter
unauffällig entkam.
„Wusstest Du, dass Halbelfen seltener als Goldmünzen 309
sind?“, grinste Wenndur auf der Treppe. „Nur selten bringt
die Liebe zwischen Menschen und Elfen ein Kind hervor,
wenn es überhaupt mal so eine Liebe gibt.“
Laura antwortete nicht und sah zu Boden.
„Du bist bald fort, und dann sehen wir uns nie wieder“,
raunte Wenndur etwas traurig. Er unterdrückte den
Impuls, sie schon wieder zu berühren.
„Na und?“, fragte Laura kalt zurück, doch ihr gequälter
Blick verriet sie. Beléothvel, der sie nach ihrem Räuberkampf
vor dem Tod gerettet hatte, hatte sie zwar schon halb
vergessen, aber sie hatte andere Gründe, so abweisend zu
sein. Sie hörte Athónons und Taffis Warnungen wieder
im Hinterkopf, vorsichtig und wachsam zu sein, sich
nicht ablenken zu lassen und keine Fehler zu machen –
die schließlich jemanden das Leben kosten konnten. Sie
hatte die Übungen der Dorfwache stets wie Spielereien
empfunden, wie einen Sport, in dem sie oft gewann.
Doch jetzt plötzlich wusste sie, wie der Ernst eines echten
Kampfes sich im Vergleich dazu anfühlte – weit jenseits
davon, bloß um Trophäen zu kämpfen.

Die beiden Halbelfen durchquerten den leeren


Schankraum, in dem Topta den Boden fegte. Sie grüßten
den Wirt knapp und verließen die Herberge. Schon an der
Ecke des Hauses sahen Laura und Wenndur am Ende der
Seitenstraße die große Menschentraube vor dem Haus des
Krämers.
Sie waren noch keine drei Schritte weit gekommen,
da fasste Wenndur Laura am Arm. Er blickte ihr ernst
310 in die Augen. „Willst Du mir weismachen, es wäre nicht
schade, würden wir uns nicht wiedersehen? Wie viele
andere Halbelfen kennst Du, die Dich wirklich verstehen
können?“
Laura erwiderte den Blick zuerst kühl, doch dann
wurden ihre Augen weich und sanft. Geradezu hilflos
stand sie da, als Wenndurs Finger zärtlich über ihre Wange
und ihren Hals hinabstrichen. Sie hörte nur Rauschen und
Prickeln und fühlte nur Hitze, Knistern und ihr rasendes
Herz. Vorsichtig wanderten Wenndurs Hände um ihre
Taille. Sie schluckte und ließ die Lider hinabsinken, ihre
Lippen reckten sich seinen entgegen – doch plötzlich riss
sie sich los. Feuer und Eis wüteten in ihr, deutlich zu sehen
in ihrem Gesicht.
Sie brauchte ein paar Lidschläge, um wieder richtig zu
sich zu kommen, ihr war, als wäre sie geschlagen worden.
Im Gehen, ohne über die Schulter zurückzublicken,
sagte sie: „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Das Leben
meiner Reisegefährten und meiner Mutter könnte davon
abhängen, dass ich keine Fehler mache und keine Zeit
vertrödele.“
Wenndur holte sie schweigend ein. Erst kurz vor der
Menschentraube raunte er Laura noch ins Ohr: „Wir
wissen aber beide, was wir gerade gefühlt haben. Nicht
dass Du denkst, ich würde immer nur an das eine denken,
aber ich will auch keine Chance verpassen, verstehst Du?“
Laura schnaufte genervt durch die Nase und blieb
stehen. „Ja, ja, aber im Moment existiert keine Chance,
klar?“, zischte sie zu Wenndur, dann drängelte sie sich
durch die Menschentraube ins Haus des Krämers.
Selbst die bunten Keramiken in den Holzregalen und 311
die gebrauchten Kleider auf einem Holzständer in der
Ecke waren nicht angerührt worden. Alle Fässer und
Kisten mit unbedeutenden Alltagswaren, Löffeln, Schalen,
Götterstatuetten, Kettchen, Döschen und Fläschchen aller
Größen und weiterer Plunder standen noch wohlsortiert
an ihren Plätzen. Das Chaos, das Laura im Inneren des
Hauses erwartet hatte, existierte nicht. An der Stirnseite
des Raumes, an einem großen Tresen, standen weitere
Menschen, einer davon mit einem Speer in der Hand.
Sie verstummten, als Laura und Wenndur hereinkamen,
und musterten die beiden Halbelfen. Einer der Menschen
flüsterte seinem Nachbarn etwas zu.
„Ah, Laura!“, krähte Zeeris direkt über ihr und wurde
sichtbar.
„Ein Dämon! Da!“, schrien die Dorfbewohner und
spritzten in Windeseile auseinander, auf Zeeris zeigend.
„Ah! Was? Wo?“, schrie Zeeris und flog panisch im
Kreis, „die gibt es doch gar nicht mehr!“
Laura stemmte die Fäuste in die Hüfte und blickte
tadelnd zu Zeeris auf. Sie hatte vielleicht die Worte nicht
genau verstanden, doch was vorging, verstand sie sehr
wohl.
„Sie meinen Dich, Du Dummerchen!“, rief Wenndur
lachend. Zu den Dorfbewohnern, die rings um Laura
und Wenndur herum in Deckung gegangen waren, sagte
Wenndur beschwichtigend: „Das Wesen ist alles andere als
ein Dämon. Es heißt Zeeris und ist harmlos, es ist sogar
ein Freund der Reisenden, die angegriffen worden sind.“
Wenndur überhörte einige murrende Stimmen hinter
312 vorgehaltener Hand, die über Fremde lästerten und
darüber, welche Probleme die Fremden ins Dorf geschleppt
hätten. Noch wagte es scheinbar niemand, der Reisegruppe
um Mèra gar die indirekte Schuld am Tod des Krämers
zu geben. Auch übersetzte der Barde das Gemurre nicht
für Laura, um sie nicht unnötig zu beunruhigen. Er sah
außerdem in ihren Augen, dass sie den Ton und die Blicke
der Menschen schon zur Genüge verstand.
Im Hinterzimmer des Hauses entdeckte Laura zwei
nackte Füße, die hinter dem Durchgang hervorlugten. Als
sie darauf zuging, flog ihr Zeeris bis kurz vors Gesicht und
druckste mit seinem lückenhaften Elfisch herum: „Äh,
also, weißt Du ... Die Augen waren ja zuerst noch drin,
aber ich dachte, wo er sowieso tot ist, und bevor die Augen
schlecht werden ...“
Enttäuscht und wütend blieb Laura stehen und funkelte
das Teufelchen vorwurfsvoll an. Sie hob ruckartig die
flache Hand und drohte Zeeris auf unelfische Weise mit
einer Ohrfeige.
„Öh, ich geh dann mal!“, rief Zeeris hastig und flog
blitzschnell zum Fenster hinaus. Wie ein Pfeil schoss er
gen Himmel und außer Sicht.
Kopfschüttelnd ging Laura weiter und fuhr sich mit der
erhobenen Hand durchs Haar, dicht gefolgt von Wenndur.
Laura stellte fest, dass ihre Locken von Schweiß, Schmutz
und Straßenstaub bereits widerspenstig geworden waren,
doch dieses Problem vertagte sie auf viel später.
Der Mensch mit dem Speer wandte sich ihr zu, als sie
ihn passierte. Er sagte: „Ist kein schöner Anblick. Ihr gehört
zu dieser Reisegruppe, die letzte Nacht angegriffen worden
ist? Man sagte mir, dass zwei Elfen und eine Halbelfin 313
sowie ein Gnom dazugehören.“
Laura nickte nur, sie hatte die Sprache gar nicht
verstanden. Sie betrat das Hinterzimmer. Der Anblick der
verstümmelten Leiche ließ ihren Magen rumoren, doch sie
beherrschte sich. Sie hatte schon oft Tiere ausgenommen;
bei Zweibeinern war der Anblick jedoch unangenehmer,
vor allem bei so brutalen Verstümmelungen. Wenigstens
war der Krämer kein Elf gewesen, dann hätte sie der
Anblick wohl noch stärker berührt.
Sie hasste sich für einen Moment dafür, das gedacht
zu haben. Sie wollte die Arroganz ihres Dorfes gegenüber
Nicht-Elfen nicht unbewusst übernehmen.
Wenndur war anscheinend weniger abgebrüht;
totenbleich stand er neben Laura und musste krampfhaft
ein Würgen unterdrücken.
Durch ein Fenster in diesem Zimmer kam Zeeris
wieder hereingeflogen. Er rief in Menschensprache: „Ich
habe übrigens gesehen, wer das war!“ Stolz reckte Zeeris
die Brust vor.
„Du hast was?“, stutzte Wenndur ungläubig. Auf einmal
lächelte er bis über beide Ohren und rief: „Und das sagst
Du jetzt erst?“
Der Mensch mit dem Speer blickte neugierig über
Lauras Schulter. „Rede schon, Du ... Ding. Was immer Du
bist. Wer hat das getan?“, verlangte er zu wissen.
Wenndur übersetzte Zeeris’ Bericht für Laura.
Zeeris beschrieb einen alten Menschen mit kalkweißer,
runzliger Haut und halb kahlem Schädel, trotz des Alters
groß und kräftig. Laura, die Pergament und Kohlestift
314 dabei hatte, zeichnete ein grobes Bild anhand seiner
Angaben.
Der Mann mit dem Speer nahm das Bild mit und
gab es einigen weiteren Speerträgern, die draußen
warteten. Niemand kannte ihn, aber Wenndur hörte
bruchstückhaft, dass die Dorfwache notfalls jedes Haus
einzeln durchsuchen wollte.
Laura zeichnete derweil auf einem weiteren
Pergamentbogen das Brandmal von der Brust des Krämers
ab.
Von der Seite raunte Wenndur gespenstisch auf Elfisch:
„Das war ein Blutopfer für eine Beschwörung. Ich habe
mal einen Reisenden davon erzählen hören. In einer großen
Stadt hat das mal ein neidvoller Händler für einen Fluch
gegen einen Konkurrenten so ähnlich angefangen. Doch
er hatte sich mit den falschen Mächten eingelassen, der
Fluch traf ihn selbst, außerdem verfolgte ihn der Geist des
Opfers fortan, bis der Händler völlig wahnsinnig wurde
und sich eine Schlucht hinabstürzte. Die Geschichte ist
leider viel zu düster für ein Tavernenlied.“
„Toll“, kommentierte Laura nur unwillig. Es hatte sie alle
Kraft gekostet, so unwirsch und abweisend ihm gegenüber
zu klingen, und es tat ihr noch im selben Moment schon
wieder leid.
Gekränkt blickte Wenndur sie an und zog sich etwas
von ihr zurück, um den Raum zu inspizieren.
Laura machte beim Zeichnen immer wieder Pausen,
weil sie immer wieder Wenndurs hübsches und zärtliches
Gesicht vor sich sah, so sehr sie dieses Bild auch
abzuschütteln versuchte. Sie würde gerade eigentlich
nichts lieber tun, als seine Bartstoppeln zu berühren, denn 315
so etwas hatte sie noch nie berührt. Doch sie hatte weitaus
zu viel Angst davor, ihre Gefährten und ihre Mutter im
Stich zu lassen, nur um sich mit einem „dahergelaufenen“
Barden zu vergnügen.
„Wie kommst Du voran?“, flüsterte ihr Wenndur ins
Ohr, als er neben ihr hockte. Die warme Nähe seiner
Lippen an ihrem Gesicht ließ ihre Hände zittern. „Geh
weg, Du störst mich!“, log sie mit bebender Stimme.
Wenndur lächelte wissend und erhob sich wieder.

Auf dem Rückweg sprang plötzlich ein wolfsähnlicher


Hund aus einem Fenster auf Laura und Wenndur zu. Er
überschlug sich förmlich vor Bellen neben ihnen.
Laura prallte erschrocken zurück, aber Wenndur lachte.
„Das wird hier gerade Mode, sich Hunde zu halten, für die
Schafherden beispielsweise. Leider sind die Hunde nicht
besonders helle, nehmen sich zu wichtig und glauben
ständig, ihr Revier verteidigen zu müssen. Manche Clans
in der Wildnis verhalten sich so ähnlich, hörte ich von
einem Reisenden.“
Der Hund bellte immer noch wie wild geworden.
„Wenn Du nicht sofort wieder verschwindest, landest
Du über dem Kochfeuer!“, schnauzte Laura den Kläffer
böse an.
Für einen Lidschlag hielt das Tier inne. Dann bellte es
erneut voller Inbrunst.
Laura stampfte mit dem Fuß auf, machte sich groß
und knurrte laut. Mit einem Winsellaut sprang der Hund
zurück. „Feigling!“, lachte Wenndur über den Hund. Mit
316 finsteren Blicken kam der Besitzer endlich aus dem Haus,
ergriff sein Tier und verschwand mit ihm von der Straße.
Drinnen kläffte der Hund Laura und Wenndur wieder
nach.
„Wir hätten ihn doch braten sollen. Wie soll ein so
dummes Vieh denn bei irgendetwas hilfreich sein?“,
wunderte sich Laura im Gehen.
„Keine Ahnung!“, lachte Wenndur, „aber andere Hunde
mit stärkeren Herren sind besser erzogen.“
Er wollte die Gelegenheit nutzen, nach Lauras Fingern
zu tasten. Energisch und mit einem feindseligen Seitenblick
zog sie ihre Hand jedoch weg.

„Ich brauche zwei Leibwächter, die mit mir in die


Herberge gehen, um die alte Elfin zu töten“, rief ein
Mensch; eine Hand thronte auf dem goldenen Knauf
seines Gehstockes. Die andere Hand hatte er als Faust
in die Hüfte gestemmt. Er war der Mann aus Zeeris’
Beschreibung: bleich, faltig, halb kahl und trotz seines
Alters groß und kräftig. In einer von Feuern erleuchteten
Höhle stand er vor einem Dutzend unheimlicher Krieger,
die in Fetzen und Leder gehüllt waren. Ihre Gesichter
waren entstellt und ihre Augen blitzten mordgierig.
„Ihr geht selbst?“, grunzte einer der Krieger.
„Fujesh war mein bester Mann und ist gescheitert. Also
muss ich es selbst in die Hand nehmen, das Kopfgeld zu
verdienen. Wenn dieser weißhaarige Elf die Wahrheit gesagt
hat, ist die Elfin alt und schwach, und ihr einziger Schutz
sind die Anführerin irgendeiner Elfen-Dorfwache und ein 317
alter Gnom mit kurzen Armen. Wenn das so stimmt, weiß
ich nicht, wie Fujesh und sein Kumpan scheitern konnten,
insbesondere, da ich ein irrsinniges Wesen der Tiefenwelt
mit dämonischen Kräften ausgestattet hatte, um Fujesh
zu unterstützen. Offensichtlich ist der Auftrag doch nicht
ganz so leicht, aber ich werde auch nicht den Fehler des
Hochmutes begehen, den Fujesh vermutlich beging. Die
Informationen des Auftraggebers könnten falsch oder
veraltet sein, und wer weiß, es mag wider Erwarten auch
Elfen und Gnome geben, die richtig kämpfen können.
Wie auch immer – wer begleitet mich nun für jeweils
fünfunddreißig Goldmünzen?“

Manche der Nachtelfen, denen Srrig und Taren


begegneten, starrten die Fremden furchtsam an,
insbesondere Tarens riesige Armbrust, und wichen
den beiden weiträumig aus. Andere nickten ihnen mit
vorsichtiger Freundlichkeit zu. Jene fragte Srrig nach dem
Weg zu Myándirel dem Zauberer.
In einigen der kleineren Höhlen standen ebenfalls
Kohlenbecken anstelle magischer Lichtkugeln zur
Beleuchtung, doch hier zog der Rauch noch schlechter ab,
kratzte im Hals und machte das Atmen unangenehm und
schwer.
„Wenn diese Elfen so gut zaubern könnten, würden sie
sich doch überall magische, rauchlose Lichter beschwören,
oder?“, grummelte Taren. „Ihre Zauberer müssten doch
318 problemlos Licht für alle herbeizaubern können.“
Srrig lachte freudlos: „Und Du willst sogar, dass sie in
meinem Geist herumpfuschen.“
Srrig und Taren mussten noch einige weitere Male in
immer neue Tunnel abbiegen und durchquerten noch drei
weitere, kleinere Höhlen mit vereinzelten Gruppen von
Hütten. Viele der Nachtelfen, die so weit außen lebten,
husteten die ganze Zeit und sahen krank aus; inzwischen
biss der Rauch der Kohlenbecken schon in den Augen. Die
Zahl der Nischen, die über eine magische Beleuchtung
anstelle eines Kohlenbeckens verfügten, nahm immer
mehr ab. Taren fragte mit einem gewissen Ärger in der
Stimme einen der Nachtelfen, wieso sie den Rauch in
Kauf nähmen.
Von gelegentlichem Räuspern und Husten
unterbrochen, erklärte der Nachtelf: „Wir glauben, dass
die Magie ein lebendes Wesen ist und nicht einfach so
missbraucht werden darf für niedere Belange. Vielmehr
muss man harmonisch mit ihr auskommen und sie um
ihre Gunst bitten: Wenn sie uns das Licht nicht freiwillig
gibt, müssen wir eben Feuer machen mit Kohle oder Holz
von der gefahrvollen Oberwelt der Chimärier.“
Taren starrte den Elfen noch für einen Moment mit halb
offenem Mund an, dann wandte er sich kopfschüttelnd
zum Gehen. Leise murmelte er zu sich: „Sie beten einen
falschen Gott an, dabei waren ausgerechnet die Elfen
immer so arrogant zu denken, beten und bitten wäre
kindisch und Götter wären nur Aberglaube.“
Schließlich kamen die beiden an eine kleine Höhle ohne 319
weitere Tunnel. Auch hier stand der beißende Rauch in
der Luft. Eine geschlitzte Lederplane verhängte zwar den
Eingang zur Höhle, war an einer Seite jedoch aufgerollt
und festgebunden, sodass man ins verrauchte Innere
blicken konnte.
Zusätzlich zu dem Rauch, den ein kleines Feuer darin
erzeugte, blies ein Nachtelf unbestimmbaren Alters noch
würzigen Pfeifenrauch in die Luft. Mit verquollenen
Augen musterte er die Fremden. Sein halblanges, glattes
Haar war zerzaust und stumpf. Hinter ihm lagen jede
Menge Holzscheite.
Srrig rief schon vom Tunnel aus freundlich in die
Höhle: „Seid gegrüßt! Ich heiße Srrig, das ist Taren. Seid
Ihr Myándirel?“
Der Nachtelf nickte und zog an seiner Pfeife.
Srrig blieb am Eingang der Höhle stehen, verneigte
sich knapp und fragte: „Kennt Ihr einen Zauber, um ein
verlorenes Gedächtnis zurückzubringen?“
„Wessen? Eures?“, fragte Myándirel träge; seine Stimme
kratzte rau.
Srrig nickte und wechselte einen kurzen, vielsagenden
Blick mit Taren, dessen Miene sich bereits verdüstert
hatte.
„Dürfen wir hereinkommen?“, fragte Taren matt.
„Bitte, setzt Euch. Raucht ’ne Pfeife, dann merkt Ihr
den anderen Rauch nicht so.“
Srrig und Taren setzten sich zu dem Nachtelfen, der
trübsinnig ins prasselnde Feuer starrte. Wortlos reichte
Myándirel dem Tigermann die Pfeife weiter.
320 Etwas unschlüssig hielt Srrig sie in der Hand, nahm dann
jedoch einen Zug und reichte sie sofort an Taren weiter.
An Myándirel gewandt, fragte der Tigermann: „Wieso lebt
Ihr in diesem Rauch? Ich bin erst eine Stunde hier und
halte es schon kaum noch aus! Glaubt Ihr etwa auch, dass
Ihr die Magie nicht zwingen dürft, für rauchloses Licht
zu sorgen?“
„Man gewöhnt sich daran“, krächzte Myándirel. „Wer zu
meinem Volk gehört, hier unten, zwischen Tiefenweltlern,
Schlangenmenschen und Chimäriern, abgeschnitten vom
Tageslicht und von der Natur, der ist ohnehin froh, wenn
er nicht so alt werden muss. Es gab mal eine einheitliche,
magische Beleuchtung, aber die fiel ständig aus, weil die
Fanatiker in den Kleinen Höhlen – überall jenseits der
Haupthöhle – den Zauber ständig auflösten. Also kehrten
viele von uns zum guten, alten Feuer zurück. Wer weiß,
vielleicht stimmt es ja sogar, dass die Magie lebt und sich
eines Tages für den ständigen Missbrauch rächen wird.
Die Haupthöhle ist inzwischen vor dem Auflösen der
Lichtzauber geschützt, aber in den Kleinen Höhlen gibt
es immer wieder Streit um das magische Licht. Es war mir
zu umständlich, ständig einen Schutz gegen ,feindliche‘
Magie aufrechterhalten zu müssen, zumal auch solch ein
Schutz ja nicht gerade unfehlbar ist. Der Schutz in der
Haupthöhle wird permanent überwacht, aber damit sind
mehrere Elfen auch Tag und Nacht beschäftigt. Unsere
gesellschaftliche Situation ist nicht optimal, sagen wir es
so.“
Betroffen starrte Srrig den Nachtelfen an, der nun von
Taren die Pfeife wieder entgegennahm und daran zog.
In das peinliche Schweigen hinein fragte Myándirel: 321
„Also, wessen Gedächtnis soll ich doch gleich auf die
Sprünge helfen?“
„Meinem“, antwortete Srrig gepresst.
„Tigermenschen“, brummte Myándirel. „Warte.“ Er
stand auf und ging in eine Ecke, wo ein abgewetzter
Leinenrucksack lag. Myándirel behielt die Pfeife im Mund
und kramte in dem Rucksack, dabei murmelte er mit sich
selbst. Immer wieder wischte er sich mit dem Handrücken
über die Augen. Schließlich holte er einen kleinen,
dunkelblauen Stein hervor, der zwar glatt poliert war,
doch andererseits etliche Macken aufwies. Myándirel hielt
sich den Stein ganz nah vor die Augen und musterte ihn,
ständig blinzelnd. „Ich seh’ nicht mehr so gut“, brummte
er beiläufig, „aber das müsste der Richtige sein.“
Wenig begeistert folgte Srrigs Blick dem Nachtelfen
zurück ans Feuer. „Und Du weißt wirklich, was Du tust?“,
fragte Srrig etwas besorgt.
„Keine Bange“, brummte Myándirel, noch immer
mit der Pfeife im Mund. „Schlimmer kann es ja kaum
werden.“
Srrigs Augen weiteten sich.
„Das war ’n Witz“, nuschelte Myándirel trocken. „Aber
falls es doch schlimmer wird, geht Ihr einfach zu Velýthoel
in der Haupthöhle, zu den Reichen, da zieht der Rauch
bestens ab und so. Velýthoel ist ziemlich beschäftigt, aber
er ist der größte Zauberer hier. Ich war mal sein Schüler.
Wenn Ihr ihm sagt, Ihr kommt von mir und ich habs
vermasselt, dann wird er Euch weiterhelfen. So, jetzt mach
die Augen zu, äh ... Srrig.“
322 Srrig starrte den Zauberer versteinert an. Auch Taren
musterte den Nachtelfen düster.
„Was genau tut Ihr jetzt?“, fragte Taren gedehnt.
Myándirel antwortete staubtrocken: „Zaubern.“
„Geht es vielleicht etwas genauer?“, knurrte Taren.
„Wenn Ihr Euch auskennt, wieso kommt Ihr dann zu
mir?“, fragte Myándirel achselzuckend, „und wenn Ihr
Euch nicht auskennt, wieso sollte ich dann Einzelheiten
nennen? Also, Srrig, soll ich Dir helfen oder nicht?“
Srrig atmete tief ein und aus, dann schloss er die Augen
und seufzte: „Fang an.“
Myándirel behielt auch jetzt die Pfeife im Mund. Mit
einer Hand umfasste er den dunklen Stein so fest, dass
seine Knöchel weiß hervortraten. Die andere Hand legte
er Srrig auf das Stirnfell.
Für eine gefühlte Ewigkeit passierte nichts weiter, als
dass der Nachtelf ruhig und entspannt durch die Pfeife
einatmete und deren Rauch durch die Nase wieder ausstieß.
Dass Myándirel sich überhaupt anstrengte, erkannte Taren
nur daran, dass dem Nachtelfen allmählich Schweißperlen
auf der Stirn wuchsen. Mehr und mehr zuckten außerdem
seine Augenbrauen zusammen, bis sich eine tiefe
Sorgenfalte herausgebildet hatte, die bestehen blieb. Dann
fing das ganze Gesicht des Zauberers zu zucken an, mal
nach links, dann nach rechts. Hin und wieder verzog er
angewidert die Mundwinkel. Seine Hand, die den Stein
umklammerte, zitterte leicht.
Er zog auf einmal die Hand von Srrigs Stirn zurück,
lutschte an seinem Zeigefinger und malte unsichtbare
Symbole in Srrigs Gesichtsfell.
Plötzlich riss er Augen und Mund auf, seine Pfeife 323
fiel zu Boden. Ganz langsam zog er die Hand weg und
entspannte die andere Hand, welche den Stein hielt.
Srrig hielt die Lider noch geschlossen, doch darunter
bewegten sich seine Pupillen.
Taren blickte ständig zwischen beiden hin und her.

Schon zum zweiten Mal setzte der Zwerg die Flasche


an, nur um festzustellen, dass sie längst leer war. „So ’n
Mist“, lallte er und kratzte sich über die Bartstoppeln, die
inzwischen zu sprießen begonnen hatten. Zwerge hatten
ungewöhnlich starken Bartwuchs.
Melek hatte seine Tonscherbe aus dem Gürtel gezogen
und starrte auf die harten Schuppen am Hals des
schnarchenden Chimäriers. Doch irgendetwas hielt ihn
davon ab, das vermeintliche Feindwesen zu töten. Zögerte
er, obwohl oder gerade weil es wehrlos war?
Melek wusste, was die menschliche Gemeinschaft von
ihm erwartete; die eigenen Leute waren heilig, aber Feinde
musste man töten, bevor die es umgekehrt taten. Doch
Wehrlose zu töten, war das nicht generell verwerflich,
unabhängig von der Volkszugehörigkeit? Und war dieser
Chimärier überhaupt ein Feind, bloß weil er zum selben
Volk wie die Feinde der Menschen gehörte?
Sicher gab es Menschen, die Meleks Fragen leicht hätten
beantworten können, doch keiner davon war hier, er musste
allein entscheiden. Brommil war schon nüchtern keine
Hilfe gewesen, und nun war er obendrein betrunken.
324 Und noch eine Frage stellte sich Melek: Was die
Gemeinschaft wollte, war schön und gut, aber ging Melek
das überhaupt etwas an? Er gehörte ja nicht dazu. Wenn
„Melek Messer“ ein Dorf betreten hatte, war er stets von
den etwas älteren Bewohnern so feindselig angestarrt
worden, als hätten sie seine Gedanken lesen können, selbst
wenn er freundlich zurückgelächelt hatte. Es war ihm nie
gelungen, durch Höflichkeit und Freundlichkeit etwas
zu erreichen, die Menschen waren ihm gegenüber stets
unwillig geblieben, und immer war dann sofort Gozbad
zur Stelle gewesen, der verfluchte Geist, und hatte Melek
dazu gebracht, jeden zu töten, der ihn angestarrt oder
nicht zuvorkommend genug behandelt hatte.
„Du grübelst zu viel, Junge!“, lallte Brommil von der
Seite. „Ich seh’ das doch in Deinem Gesicht. Auf den
Bauch musst Du hören!“
Manchmal waren die einfachsten Ratschläge doch die
besten. Melek steckte die Tonscherbe weg und ging zum
Rucksack des Chimäriers. Der junge Mann fand einen
gebratenen Fleischklumpen darin und biss sofort hinein.
„He! Gib mir was ab!“, verlangte Brommil und sprang
auf.
Melek riss die Hälfte des Bratenstücks ab und warf sie
Brommil zu, der sich darauf wieder hinsetzte. Als Nächstes
zog der Junge fluchend seinen blutigen Finger aus dem
Rucksack; er hatte einen scharfen Bronzedolch gefunden,
den er nun, weitaus vorsichtiger wühlend, hervorholte
und sich andächtig in den Gürtel schob. Der Griff aus
Buchenholz war viel zu dick für Meleks Hand, aber jeder
Dolch war besser als eine Tonscherbe, außerdem hatte der
Bronzedolch des Chimäriers den Vorteil, recht schwer und 325
entsprechend wirksam zu sein, von seiner professionellen
Schärfe ganz zu schweigen.
Plötzlich packte eine riesige Klaue Meleks Wams im
Rücken und schleuderte den Jungen ins Lagerfeuer.
Kreischend sprang Melek auf und wälzte sich am Boden,
um die Flammen an seiner Kleidung zu löschen.
Der Chimärier grollte kehlig und rollte sich auf den
Bauch, von wo er sich schwerfällig erst auf alle viere schob
und sich dann bis in den Kniestand hocharbeitete.
„Was seid Ihr? Spione von Tebaarsha, die mir
nachstellen, oder was?“, knurrte der Chimärier laut in
Menschensprache. „Sagt dem Miststück, ein echter Mann
will eben nicht mit ’ner Frau bloß reden, egal wer sie ist, und
lieber verbringe ich den Rest meines Lebens hier draußen,
als zu ihr zurückzukriechen und mich zu erniedrigen!“
Melek und Brommil sahen sich mit offenen Mündern
an.
„Klingt mir, als wäre Tebaarsha ein ziemlich herrisches
Weib, was?“, äußerte Brommil vorsichtig.
Der Chimärier grunzte abfällig und brummte
dann: „Sie ist die Matriarchin hier unten. Sie führt die
Gegenkultur zur Stadt Harkýior an, füttert Künstler und
Krüppel durch. Sie glaubt tatsächlich, die Weibchen wären
genauso gute Herrscher wie richtige Chimärier. Pah! Alles
trotziges Wunschdenken von Gerechtigkeit! Dass so eine
schwache Seele sich an der Macht halten kann, muss ein
Witz irgendwelcher fremden Götter sein! Der Imperator
würde so was nie zulassen, wenn er davon wüsste!“
Stöhnend stemmte sich der Chimärier auf die Füße.
326 „Heiße übrigens Paaldrag, und was seid Ihr für mickrige
Sklaven?“
Brommil musste den Kopf in den Nacken legen, um
dem Chimärier ins schuppige Drachengesicht zu blicken.
„Wir sind keine Sklaven mehr! Ich bin Brommil, das ist
Melek“, rief der Zwerg nach oben.
Paaldrag stutzte. „Wie, Ihr seid keine Sklaven mehr?
Sind Euch plötzlich Schuppen gewachsen, und reicht Ihr
mir wenigstens bis zur Schulter? Nein, ich glaube nicht!
Solange Euch kein Schwanz über Nacht wächst, bleibt Ihr
Sklaven. Nicht dass es mich interessiert, aber Ihr müsst
die Wirklichkeit eben akzeptieren. Andere Chimärier sind
nicht so nachsichtig und großherzig wie ich.“
Während Brommil und Melek halb betreten, halb
wütend an dem Chimärier vorbeistarrten, fing das riesige,
fünfhundert Pfund schwere Wesen plötzlich so schallend
an zu lachen, dass der Widerhall der Höhle in den Ohren
schmerzte.
„Reingelegt!“, brüllte der Chimärier atemlos und hielt
sich vor Lachen den Bauch. Seine Stummelflügel zuckten
unkontrolliert und aus seinen Nasenlöchern stieg Rauch
auf. Als er sich ein wenig beruhigt hatte und die irritierten,
unwilligen Blicke der Niederen bemerkte, lachte er erneut:
„Ich schere mich nicht um dieses Gerede von Niederen
und Herrschern, nicht hier unten. Hier sind wir alle gleich,
die wir auf zwei Beinen laufen.“ Er sah auf Brommil und
Melek herab und legte den Kopf schief. „Na ja, fast gleich
jedenfalls“, knurrte er amüsiert.
9 327

Athónon weckte Jade mit einem sanften Griff um ihren


Unterarm. Langsam schlug sie die Augen auf und atmete
tief ein. „Ich habe nichts mehr zu essen im Rucksack und
hole uns was aus dem Schankraum“, murmelte er, „bleibst
Du solange wach?“
„Sicher, danke. Ich habe vielleicht Hunger!“, gähnte
Jade und setzte sich vorsichtig auf. Sie verzog das Gesicht
ein wenig und hielt sich die Seite, doch die Wunde schien
tatsächlich nicht ganz so schlimm ausgefallen zu sein.
Athónon nickte ihr zu und verschwand.
Jade stemmte sich schließlich sogar auf die Füße und
schlurfte müde zu Mèra hinüber. Erst dabei sah sie sich
verwundert um und fragte: „Wo ist denn Laura?“
Mèra antwortete schleppend: „Sie ging mit Wenndur
ein Brandmal abzeichnen; ein Mensch starb in der Nacht.
Vielleicht betrifft es uns.“
Die Nachtelfin ließ sich ihre Sorge nicht anmerken und
strich sich das Haar hinter die Ohren. „Wie geht es Dir,
Miri... ich meine, Mèra?“, fragte sie.
Mèra schloss die Augen für einen Moment. „Nicht
gut“, entgegnete sie mit schwacher Stimme. „Meine
Hände scheinen immer weiter zu brennen. Ich werde noch
etliche Stunden Erholung brauchen, trotz der magischen
Decke. Dann aber werde ich uns von hier fort zu Srrig
teleportieren.“
„Tja, aber Wachen brauchst Du trotzdem vorerst noch“,
ergänzte Jade.
328 Wehmütig schaute die Nachtelfin durch das Fenster,
auf den hell von der Sonne beschienenen Weg. Weder
Staub noch Schlamm hätten sie jetzt gestört, wenn sie nur
im Sonnenlicht über diesen Weg hätte spazieren können.
„Ich kann die Helligkeit fast nicht ertragen. Seit zwanzig
Jahren lebe ich in der Nacht“, hauchte sie.
Mèra wandte ihr Gesicht von der Nachtelfin ab; auf ihrer
Miene wechselten sich Schuldgefühl und Kaltherzigkeit
ab.

Athónon ging zielstrebig zu den Resten des Bratens


vom Vorabend. „Ich darf doch?“, fragte er beiläufig. Ohne
Toptas Antwort abzuwarten, zog er einen schlichten
Eisendolch aus dem Gürtel und schnitt den kalten Braten
in Streifen. Der große Griff verriet, dass die Waffe für
Menschen und nicht für Gnome gedacht war.
„Sicher, Herr, nehmt, so viel Ihr wünscht! Eure
Bezahlung war mehr als ausreichend“, rief der Wirt,
während er den Tresen polierte.
Ein alter Mann betrat die Herberge. Er stützte sich auf
einen Stock mit goldenem Knauf und hinkte zum Tresen.
„Ich hätte gern ein Zimmer“, erklärte er freundlich, kurz
bevor er beim Tresen ankam.
„Natürlich. Einzelzimmer?“, riet Topta und starrte
unverhohlen auf den Goldknauf am Stock des alten
Mannes.
„Ja, danke“, nickte der Mann.
Athónon warf mit seinem gesunden Auge einen kurzen
Seitenblick über die Schulter – und schnitt sich fast in
den Finger. In einer kurzen Vision sah er Jade, die mit
durchschnittener Kehle in ihrem Blut lag. Vorwurfsvoll 329
starrten ihre toten Augen in Athónons Richtung. Mèra
stand mit verschränkten Armen neben ihr und funkelte
mitleidlos zum Fenster hinaus.
Denselben Traum hatte er in jeder Nacht gehabt, seit
Jade ihn aus seiner Höhle geholt hatte. Priester würden
diese Gabe wohl als große Ehre und als Segen darstellen,
doch Athónon empfand sie oft eher als Fluch oder Bürde.
Als Athónons Blick wieder klar wurde, schaute er
abermals über die Schulter. Der alte Mann war längst am
Ende der Treppe verschwunden, im oberen Flur.
Athónon ließ den Dolch und das Fleisch fallen und
sprengte mit der Hand am Kurzschwert die Treppe hoch.
„Mèra! Jade!“, schrie er scharf.

Die beiden Elfinnen hatten den Ruf gehört. Doch der


alte Mann war längst in ihr Zimmer getreten.
Seine Augen loderten vor Mordlust. Er senkte den
Kopf und drehte den Knauf seines Gehstockes, worauf
eine eiserne Messerklinge aus dem unteren Ende sprang.
„Wartet nicht auf den Gnom, der stirbt auch gleich“,
knurrte er. Der Alte schwang den Stock herum und hielt
ihn wie ein Schwert nach unten. Mit der Spitze scharrte er
an der Wand, es klang wie ein Knurren.
Jade ignorierte ihre Fleischwunde und sprang auf.
Hinter sich hörte sie noch Mèra keuchen: „Ich kann Dir
nicht helfen!“
Jades Schwert und ihr Kettenhemd lagen hinter dem
Angreifer, auf ihrem Lager bei der Tür. Sie hatte nicht
mal einen Dolch im Gürtel und nur ein besticktes
330 Unterhemd ohne Ärmel am Leib. Sie kreuzte die Arme
nah vor der Brust, wie der Tempelkrieger Cesius es ihr für
den unbewaffneten Kampf gezeigt hatte. „Lass Dir lieber
die Arme, als Hals oder Brustkorb zerschneiden!“, hatte
er gesagt. Für einen Augenblick fühlte sie Angst, doch sie
wusste, dass sie sich der Furcht nicht hingeben durfte: Sie
würde sonst nur noch fliehen, aber nicht siegen können.
Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen und
stach bis in den Hals. Ohne Waffen einen erfahrenen
Schwertträger zu besiegen, war fast aussichtslos, und so
einen Kampf ohne Wunde zu gewinnen, unmöglich.

Der Angreifer stürmte brüllend vor: „Für die dunklen


Herren von Bedhârva!“ Er schwang den Stock so plötzlich
von der Wand weg zu Jades Hals hoch, dass sie nicht
mehr ausweichen konnte. Sie drehte dem Schlag jedoch
reflexmäßig die Arme entgegen und rettete so ihr Leben.
Jade erhielt einen tiefen Schnitt durch beide Unterarme;
die abgebrühte Kriegerin zuckte allerdings bloß kurz
zusammen und schrie nicht mal.
Stattdessen trat sie dem Angreifer mit dem rechten Fuß
zwischen die Beine; er war über ihre enorme Reichweite
sichtlich überrascht.
Dennoch blieb es beim Versuch, ihn richtig zu treffen.
Der Angreifer – zu erfahren, um sich völlig übertölpeln zu
lassen – wich im allerletzten Moment flink zur Wandseite
aus und schlug mit dem Stock Jades rechtes Bein nach
außen in den Raum weg. Ein Schnitt in der Wade ließ sie
beim Auftreten unterdrückt stöhnen, außerdem stand sie
nun zu breit und unbeweglich da.
Als der Angreifer den Stock mit der Klinge 331
zurückschnellen ließ, diesmal zur Wandseite hin durch
Jades Hals, rannte die Nachtelfin mit einem riesigen Schritt
in seine Schulter, dem tödlichen Hieb zuvorkommend.
Die Wand im Rücken, halb im Rücken des Gegners, stand
Jade jetzt sicher und packte Waffenhand und Schopf des
Feindes.
Ihre Arme hatten durch die Schnitte nicht viel Kraft,
doch sie verstand es, ihre Angriffe aus den stärkeren Beinen
heraus zu führen.
Jade schob ihre Brustseite gegen den Ellbogen des
Alten und zerrte seinen Waffenarm gleichzeitig zurück,
überstreckte ihn. Jade zog mit aller Gewalt daran und
zischte durch die Zähne, aber es gelang ihr nicht, die Waffe
aus der Hand zu hebeln. Ihr fehlte der Schwung, einen so
viel stärkeren Gegner auf diese Weise zu entwaffnen.
Der Gegner ruderte mit seinem freien Arm, den Jade
nicht erreichen konnte. Doch solange sie seinen Kopf nach
hinten zog und seinen Waffenarm streckte, kam er mit der
freien Hand nicht an seine eigene Waffe heran – konnte
also nicht die Hand wechseln und die Nachtelfin erstechen.
Die Kontrahenten waren sich ebenbürtig und lieferten
sich ein Unentschieden. Als wäre es ein ungelenker Tanz,
rangen sie keuchend und wütend zischend miteinander.

Auf einmal stürmte der Alte brüllend mit der Schulter


vor, die leichte Elfin rammend und schiebend. Sie krachte
gegen die nahe Wand, überrascht und überrumpelt von
der großen Kraft. Die Wucht trieb ihr die Luft aus den
Lungen.
332 Der Alte rammte ihr in einer einzigen Bewegung auch
noch den Ellbogen des Waffenarms in den Solarplexus,
mit solcher Macht, dass Jade fast den Würgereflex nicht
unterdrücken konnte. Mit aufgerissenem Mund starrte sie
in das lüsterne Gesicht des Alten. Spürte abermals Furcht,
die sie niederringen musste.
Der Alte riss seine Waffe aufwärts frei und schnitt Jade
durch die Handfläche. Hätte sie den Hieb nicht geahnt
und die Hand nicht in den Weg gehalten, hätte er ihr
stattdessen den Hals aufgeschnitten. Die Kriegerin verlor
mehr und mehr an Boden.
Jade keuchte unterdrückt, biss die Zähne zusammen
und spannte sich an, um von der Wand und der Waffe
fortzukommen. Noch immer konnte sie kaum atmen.
Mit der linken Faust, fast so breit wie Jades Taille, schlug
der Alte ihr in den Magen, als sie fortspringen wollte. Sie
hatte sich zu sehr auf die Waffe konzentriert und die Faust
nicht gesehen – der Alte hatte das erkannt. Sie keuchte laut
und krümmte sich mit verzerrter Miene, weiter die Waffe
im Auge behaltend. Der Alte packte ihr Elfenohr und ihr
Haar und zog ihren Oberkörper noch tiefer dem Boden
entgegen. Vorgebeugt stand sie da, konnte die Füße nicht
richtig zum Treten heben. War ihrem Mörder ausgeliefert.
Der Feind holte siegessicher mit der Waffe zum Stich aus.

Als er die Nachtelfin aufspießen wollte, schlug sie mit


dem Unterarm die Klinge nach außen. Gleichzeitig schlug
sie ihm die andere Hand zwischen die Beine.
Der Alte schrie wütend, krümmte sich etwas und ließ
Jades Ohr los. Verzweifelt stieß sie sich von der Wand ab,
direkt an der Waffe vorbei und in den Angreifer hinein. 333
Nur wenige Krieger besaßen so viel Mut; die meisten
hätten der Klinge aus dieser Lage niemals ausweichen
können.
Jade klemmte sich den Arm des Gegners unter ihre
linke Achsel, hielt so die Waffe fest und verkrallte sich
mit der Hand zusätzlich in seinem Ärmel. Mit der rechten
Handwurzel wollte sie ihm unter die Nase schlagen, trotz
zerschnittener Handfläche.
Der ebenbürtige Gegner ahnte den Angriff allerdings
voraus und zog den Kopf zur Seite. Jade schmierte ihm
bloß noch ihr Blut ins Gesicht.
Sie spürte seine Kraft im Arm, sie hatte ihn wegen
seines Alters unterschätzt. Arroganz konnte ein tödlicher
Fehler sein. Allmählich gewann die Furcht die Oberhand.
Sie ließ nicht zu, dass auch noch ihr prophezeites Schicksal
sich in ihre Gedanken zwängte und sie endgültig von
Panik übermannt wurde. Der pure Anflug davon hatte sie
bereits die Gelegenheit gekostet, den Feind mit dem Knie
zu treffen.

Der Alte schlug ihr mit der Linken kurzerhand selbst


auf die Nase. Jade stöhnte und verdrehte benommen die
tränenden Augen, sie musste sich am Waffenarm des
Gegners regelrecht festhalten. Ihre blutende Hand hielt
sie einfach nur hoch als unbeholfene Deckung. Der Alte
packte diese Hand und zog sie zur Seite. Bevor Jade richtig
begriff, was er vorhatte, schlug er ihr mit unsäglicher Kraft
die Stirn auf die ohnehin schon gebrochene Nase. Ihr
Hinterkopf knallte gegen die Wand und hinterließ einen
334 Blutfleck. Ohne das Ergebnis davon abzuwarten, drehte
der Alte sich vor ihr um die eigene Achse und schleuderte
den schlaffen Elfenkörper über die Hüfte zu Boden.
Leise lachend trat er ihr auf den Kopf. Während sie
sich wimmernd aufbäumte, holte er mit seinem befreiten
Waffenarm weit aus, um ihr die Messerklinge endlich in
den Leib zu rammen.
Mèra hatte sich stumm auf die Füße gequält und rannte
in den Alten hinein, hielt seinen Waffenarm mit beiden
Händen fest. Er wankte jedoch kaum, sondern stieß die
geschwächte Elfin weit von sich zu Boden zurück.
Der Alte drehte den Stiefel mit seinem vollen Gewicht
auf Jades Gesicht, was sie halb wütend, halb kläglich
aufschreien ließ. Dann wandte er sich Mèra zu.
Mit einem piepsenden Schrei sprang Taffi auf sein
Gesicht zu, doch der Alte hatte exzellente Reflexe und
schlug Taffi mit der Linken aus der Luft. Kreischend
knallte das Chamäleon gegen die Wand, fiel zu Boden und
blieb reglos liegen.

Der Alte spürte, dass Jade sich am Boden zu befreien


versuchte. Er stieß sofort zu, gerade als Jade sich auf die
Seite rollte. Der Stich riss ihr Hemd und ihre Haut auf
dem Rücken auf, doch es blieb bei einem Streifer.
Jade riss ihren Kopf mit einem Schmerzensschrei frei,
ihre Gesichtshaut und ihr Ohr wurden von der Ledersohle
des Mannes aufgerissen. Sie sprang vor einem weiteren
Hieb der Waffe zurück, stolperte rücklings, rollte sich
geschickt ab und stand wieder auf den Füßen.
Der nächste Hieb verfehlte ihre Kehle nur knapp – doch
stattdessen ging er wie Butter durch ihre Wange und blieb 335
in ihrem Oberkiefer stecken.
Jade kreischte erbärmlich vor Schmerzen und wagte es
nicht, sich zu rühren. Die Splitter ihrer Schneidezähne
rieselten in einem Blutstrom ihre Lippen hinab.
„Wie ein Fisch an der Angel“, knurrte der Alte
triumphierend.
Mit einem Ruck riss er die Waffe frei und trat der
vorwärtstaumelnden, kreischenden Jade mit der ganzen
Sohle vor die Brust; sie war in den mächtigen Tritt förmlich
hineingerannt. Jade stürzte zu Boden und hielt sich
zitternd und wimmernd das Gesicht. Sie rang verzweifelt
nach Atem, hustete schmerzvoll und spuckte Blut.

Der Alte baute sich vor Mèra auf, die sich Jade zugedreht
hatte, den Angreifer nun aber aus dem Augenwinkel
ansah. „Keine Ahnung, wer Du bist, aber Dein Kopf ist
fünfhundert Goldmünzen wert“, knurrte der Alte.
„Nur zu“, hauchte Mèra und kniete sich vor ihn. Sie
streckte die Arme mit den wunden Händen zu den Seiten
aus, schloss die Augen und senkte den Kopf. „Geht Hevas
Leib eben zugrunde für fünfhundert Goldmünzen“,
wisperte sie eisig. Ihre Vorhersehungen hatten sie zu dem
Schluss kommen lassen, dass ihr Tod auch das Schicksal
der Sterblichen besiegeln würde. Es handelte sich bei jenen
Worten keineswegs um einen Anflug von Arroganz. Mèra
versuchte nicht mal zu zaubern – sie war zu geschwächt.
336 Athónon war die Treppen hinaufgestürmt und zog das
magische Kurzschwert, als ihm zwei Gestalten vor Mèras
Tür entgegentraten. Ganz am Ende des Flures stand eine
Tür offen; womöglich hatten die Gegner dort auf ihren
Anführer gewartet.
Die Kräfte von Athónons magischer Waffe griffen
beim Ziehen nach dem Willen der beiden Angreifer.
Einer der beiden, ein menschlicher Muskelberg mit
einem quadratischen Gesicht, bekam in der Tat einen
dümmlichen Gesichtsausdruck, ließ seinen gezackten
Streitkolben sinken und stand einfach da.
Der andere Gegner, kaum größer als Athónon und
in einen dunklen Umhang gehüllt, kicherte jedoch
mit schriller Stimme. Er warf den Umhang von sich;
Athónon blickte in das abstoßend hässliche Gesicht
eines dämonischen Tiefengnoms, leichenblass, kahl,
mit uringelben Augen und faulen Zähnen unter der
Hakennase. In seinen ledrigen Segelohren steckten
Fingernknochen als Schmuck. Seine dunkle Zunge spie
Athónon Gestank und Speichel entgegen, während er
mit zwei gebogenen Eisendolchen zu wirbeln begann und
Athónon zurückdrängte.
Athónon blieb völlig ruhig, er hob nicht mal das
Kurzschwert allzu hoch. Viele Gegner hätte allein
diese todesverachtende Ruhe im Moment der Gefahr
beeindruckt oder gar eingeschüchtert, wenigstens aber
stutzig gemacht. Doch dieser Tiefengnom war an seinen
zahlreichen Narben selbst als Veteran zu erkennen, auch
wenn sein unkontrollierter, wilder Kampfstil auf wenig
Ruhe und Disziplin hindeutete.
Athónons Pupillen zuckten kein bisschen. Er ließ 337
sich exakt so weit treiben, wie es nötig war, um den
Wandteppich neben sich greifen zu können. Er riss ihn mit
einem Ruck von der Wand und schleuderte ihn über den
Kopf des Tiefengnomes. Fast gleichzeitig schlug Athónon
auf eine der beiden Dellen im Wandteppich ein, wo sich
zweifellos einer der beiden Dolche des Gegners befand.
Das messerscharfe Kurzschwert säbelte sich tief durch den
Stoff und das Fleisch des Gegners. Dunkles Blut spritzte
und ein tierhafter Schrei tönte durch die ganze Herberge.
Unbeholfen wirbelte der Tiefengnom mit der gesunden
Hand unter dem Teppich herum, um ihn loszuwerden.
Athónon huschte derweil an ihm vorbei und schnitt
dem hypnotisiert dastehenden zweiten Gegner die Kehle
durch. Während der Mensch zusammenbrach, warf der
Tiefengnom gerade den Teppich von sich und starrte
irritiert die Treppe hinab. „Hier bin ich“, dachte Athónon
im Rücken des Gegners, bevor er ihm das Schwert in den
knackenden Hinterkopf schlug.

„Nein!“, kreischte Jade blutspuckend und sprang den


Alten an, gerade als er Mèra erstechen wollte.
„Hast Deine Lektion wohl immer noch nicht gelernt,
was?“, knurrte der. Er wollte ihr das Knie ins Gesicht
rammen und ihr den Knauf seiner Waffe in den Nacken
schlagen, doch dann sah er Jades Eisenschwert in ihrer
Faust.
Sie holte von unten aus, um nach oben zum Kopf zu
338 schlagen. Als der Alte sich auf eine entsprechende Parade
vorbereitete und die Waffe hob, riss Jade das Schwert mit
beiden Händen nach unten und ging sogar mit in die
Hocke. Sie hackte dem Gegner trotz ihrer aufgeschnittenen
Unterarme das Bein am Knie ab. Wild schreiend schlug
der Alte noch nach Jade, doch die Nachtelfin trat einfach
einen Schritt zurück und sah mit tiefer Befriedigung
zu, wie der Feind am Boden allmählich ruhiger wurde.
Gleichzeitig fühlte sie, wie ihre eigenen Knie weich wurden,
sie verschluckte sich abermals an ihrem Blut, das aus
ihrem Oberkiefer in ihren Hals pulste. Das Eisenschwert
fiel polternd aus ihrer kraftlosen Hand. Mit der anderen
Hand umklammerte sie ihr Brustbein, wo der mächtige
Tritt ihre Rippen zum Knirschen gebracht hatte.
Mèra ergriff die magische Decke, obwohl sie ihre Hände
kaum einsetzen konnte. Sie hielt den zerschundenen Stoff
gerade noch rechtzeitig als Knäuel unter Jades Kopf, als
diese vor Schwäche zusammenbrach. Mèra bettete die
Nachtelfin dann behutsam auf einem anderen Kissen und
breitete die magische Decke über ihr aus. „Du wirst wieder
gesund“, flüsterte sie fürsorglich und strich der Nachtelfin
über die nasse Stirn. Für einen Moment blickte Mèra
jedoch über Jade hinweg ins Leere. Ihre Nackenhärchen
sträubten sich, ihre Schultern zogen sich eng zusammen
und ein neuer, stechender Geruch von Hass und Schmerz
drang in ihre feine Elfennase. Traurig wisperte sie in Jades
Ohr: „Was gleich geschieht, ist allein Deine Entscheidung.“
Mèra blickte ausdruckslos hinter sich. Sie wusste, dass sie
nicht mehr schnell genug aufspringen konnte.
Jades Gesicht war mit ihrem Blut besudelt, immer 339
wieder verschluckte sie sich daran und bekam kaum
Luft. Sie öffnete die Lider und sah Mèra an, die hinter
sich blickte. Plötzlich weiteten sich Jades Augen. Ohne
zu denken ergriff sie Mèra und rang sie zu Boden, weg
von dem sterbenden Krieger, der sich wutschnaubend zu
ihnen geschleppt hatte. Jade bäumte sich schreiend auf,
als die Stockklinge sich nun in ihren Rücken bohrte statt
in Mèras. Der Alte packte sie wutschäumend am Schopf
und riss ihren Kopf in den Nacken, während er auf seinem
verbleibenden Bein kniete; die Klinge bohrte sich bis zum
Holzschaft des Stockes durch ihre Rippen. Jade ruderte
hilflos mit den Armen und röchelte kläglich, dabei starrte
sie flehend zu Mèra; doch die Elfin schloss nur die Augen.
Der Alte riss seine Waffe aus Jades Rücken und schnitt
ihr tief durch den Hals. Abrupt fiel sie ihm leblos in den
Arm.
„Langsam reichts mir mit Euch Elfenpack!“, knurrte
der Alte, stieß Jade achtlos von sich und zog sich, eine
Blutspur hinterlassend, weiter auf Mèra zu. Die Elfin sah
ohne jeden Ausdruck im Gesicht zur Tür.
In dem Moment kam endlich Athónon ins Zimmer
gerannt, von seinem Kurzschwert tropfte frisches Blut.
Ohne Zögern rannte er auf den sterbenden Kämpfer zu
und schlug ihm die Waffe mit dem Kurzschwert aus der
Hand, was den Mann zwei Finger kostete. Athónon trat
ihm unter die Nase und stach ihm die Klinge ins Herz.
Dann ließ der Gnom die Waffe einfach stecken und sprang
zu Jade, die reglos auf der Seite lag.
340 Auf Jades Rücken prangte ein Blutfleck um eine
Stichwunde. Bevor Athónon nachsah , was ihr sonst noch
fehlte, hatte er die magische Decke neben ihr gepackt
und sie der Nachtelfin über den Körper geworfen. Dann
erst drehte er sie behutsam auf den Rücken. Er sah ihr
zerschnittenes, blutüberströmtes Gesicht und ihre
durchgeschnittene Kehle. Ihre toten Augen starrten ihn
vorwurfsvoll an. Wie in seinen Albträumen.
Völlig ausgebrannt blieb Athónon einfach sitzen. Tränen
hatte er schon lange nicht mehr für all die gefallenen
Kameraden, die er schon zu Grabe getragen hatte. Sein
Blick fiel auf die kleine Wolltunika um Jades Hüfte, deren
Ärmel unter der Decke hervorlugten.
Mèras Teilnahmslosigkeit regte ihn plötzlich auf. Sie
rappelte sich hoch, schlang die Arme um den Körper und
blickte ausdruckslos zum Fenster hinaus.
„Ihr könntet sie zurückholen“, raunte Athónon tonlos.
„Ihr habt so etwas schon einmal vollbracht.“
„Ich bin zu schwach“, erwiderte Mèra matt. „Und selbst
wenn nicht, dürfte ich es nicht. Es gibt auch für mich
Regeln.“
„Regeln?“, knurrte Athónon. Er stand auf und ballte
die Fäuste. „Regeln?“, schrie er plötzlich wütend, „sie
hat Dein Leben gerettet und ihres dafür gegeben! Sie hat
zwei Töchter und einen Gefährten, der sie liebt! Sie wollte
Dich nicht begleiten! Du hast sie belogen, damit sie es tut!
Gehörte das auch zu den Regeln?“
„Ihr Schicksal hat sich erfüllt. Sie selbst traf die
Entscheidung mit dem Herzen“, erwiderte Mèra kalt und
verschränkte die Arme. Wie in Athónons Albtraum.
Athónon prallte wie geohrfeigt zurück. Er wirbelte auf 341
dem Absatz herum, stürmte zu seinem Gepäck und warf
es Mèra vor die Füße.
Als sie ihn fragend anstarrte, knurrte der Gnom nur:
„Behalte die Decke und das Kurzschwert, die Du mir
beide mal zum Geschenk gemacht hattest. Ich brauche sie
nicht länger; ich sehe auch mit nur einem Auge mehr als
mir lieb ist. Ich gehe.“ Sicher würde Laura das Andenken
von Jade selbst mitnehmen. Er wollte nur noch weg.
„Und wohin glaubst Du noch fliehen zu können? Glaubst
Du, die drohende Allianz zwischen dem Imperator und
den Dämonen wird auch nur ein einziges Fleckchen von
Hevas Leib nicht erobern?“
Athónon hörte gar nicht hin. Er wandte sich zur Tür –
und zuckte abermals zurück. Laura stand im Türrahmen,
leichenblass, und starrte auf ihre tote Mutter.
Mit einem plötzlichen Ruck sprengte sie an Athónon
vorbei und kniete sich neben Jade. Dann platzte der
Schmerz mit einem kläglichen Schrei aus ihr heraus. Sie
packte ihre Mutter und schüttelte sie, als würde sie davon
aufwachen. Doch Jades tote Augen blieben ungerührt.
Athónons gesundes Auge funkelte noch einmal böse zu
Mèra, doch die wandte sich mit leerer Miene ab.
Laura schluchzte in Athónons Richtung: „Wieso habe
ich nicht auf Dich gehört? Ich hätte nicht weggehen
dürfen! Du hättest mich aufhalten müssen!“
Seufzend setzte Athónon sich neben sie, legte ihr einen
Arm auf die Schulter und raunte: „Vielleicht, aber das kann
niemand wissen. Wenn Du geblieben wärst, würdet Ihr
jetzt vielleicht beide hier liegen. Ich hatte den Raum auch
342 verlassen, um etwas zu essen zu holen, und genau in dem
Moment ist es passiert. Ich könnte mir selbst genauso viel
Schuld geben, doch so funktioniert das Schicksal nicht.“
Flehend blickte Laura zu Mèra hoch. „Wenn Du
wirklich eine Halbgöttin bist ...“, begann sie, doch Athónon
unterbrach sie.
„Vergiss Mèra. Sie wird uns niederen Sterblichen nicht
helfen“, knurrte der Gnom.
Überrascht blinzelte Laura ihn an. „Was? Was sagst Du
da?“, stammelte sie.
„Sie kann uns nicht helfen, sie muss ihre Regeln
einhalten“, berichtete Athónon abfällig; er spie die Worte
förmlich aus.
Laura blickte wieder hoffnungsvoll zu Mèra auf. „Also
könntest Du meine Mutter zurückbringen?“, fragte sie
leise.
Als Mèra nur gequält wegsah, sprang Laura auf und rief:
„Wenn Du es kannst, musst Du es tun! Wieso willst Du
sie nicht retten? Das verstehe ich nicht, und das erklärst
Du mir lieber, hörst Du?“
„Ich kann es nicht“, erwiderte Mèra darauf ungerührt
und schloss die Augen. Sie schlang wieder die Arme um
den dürren Körper und wollte das Zimmer verlassen, doch
Athónon packte sie am Arm.
„Wozu eine Welt retten, in der Regeln wichtiger sind als
Liebe und Freundschaft?“, wisperte der Gnom. In seinem
faltigen Augenschlitz schimmerte eine einzelne Träne.
Mèras Augen weiteten sich, ihre zusammengepressten
Lippen wurden schmal und weiß und sie schluckte
schwer.
Vom Flur hörten sie plötzlich Wenndurs Stimme: „He, 343
was ist hier denn passiert, was sind das für tote Krieger
auf der Trep... Oh.“ Der Barde sah ins Zimmer; sein
Blick fiel auf Laura, die sich mit ihrer toten Mutter im
Arm schluchzend hin- und herwiegte. Bitterlich weinend
schloss Laura Jades Lider und knotete die kleine Tunika
los.
Mèra kniete sich vor Athónon und flüsterte: „Du
vergisst, dass ich nicht die alte Mèra bin. Außerdem bin
ich geschwächt. Ich könnte eine Wiederbelebung zwar
versuchen, aber es gibt keine Garantie auf Erfolg. Die
Chance, dass ich dabei selbst sterbe, ist allerdings weitaus
höher, und wer kümmert sich dann um die Dämonen? Eine
Wiederbelebung ist aus Sicht der Geisterwelt, der Welt der
Magie, außerdem wie ein riesiges Leuchtfeuer, sichtbar bis
in die fernsten Winkel für jeden mittelmäßigen Zauberer,
der danach sucht. Von überall her werden unsere Feinde
anströmen und uns vernichten. Jetzt könnten wir noch
Glück haben, ich teleportiere uns weit weg, zu Srrig, der
uns beschützen kann. Vielleicht verlieren unsere Feinde
sogar unsere Spur. Verstehst Du nicht, dass wir die
Tatsachen abwägen müssen, anstatt uns von Gefühlen
blenden zu lassen?“
Athónon ohrfeigte die Halbgöttin. „Und, wie fühlt sich
diese Tatsache an?“, zischte er giftig.
Mèra blieb mit geschlossenen Augen einfach sitzen.
Doch sie verstand plötzlich, was Athónon hatte sagen
wollen. Sie betrachteten lediglich zwei verschiedene Seiten
derselben Medaille.
344 Wenndur, der mit immer größer werdenden Augen
gelauscht hatte, setzte sich nun einfach daneben und sagte
mit felsenfester Entschlossenheit: „Wiederbelebungen
und Dämonen sind ja wohl das Beste, was einem Barden
für sein Repertoire passieren kann. Ich habe zwar keine
Ahnung, was für göttliche Gestalten Ihr seid, aber Ihr
werdet mich ganz sicher nie wieder los. Also, wann fangen
wir an?“
„Nicht noch ein Kind“, seufzte Mèra, erhob sich und
wandte sich ab.
Auch Athónon ließ Wenndur einfach sitzen und ging
zu Laura zurück, die noch immer schluchzend ihre tote
Mutter an sich drückte.
„Das war jetzt vielleicht etwas taktlos ...“, murmelte
Wenndur schuldbewusst zu sich selbst und errötete.

An die Zeichnung des Brandmales dachte niemand


mehr. Die feindseligen Dämonenzeichen hätte aber
ohnehin niemand entziffern können, eher hätte der
Widerhall des Brandmalzaubers, weitergetragen durch das
Pergament, noch weiteren Schaden angerichtet.
Würde es Auswirkungen auf Laura haben, dass sie, wenn
auch ohne bewusstes Wissen, mächtige Dämonenzeichen
geschrieben hatte ...?

„So, Ihr seid also auch Ausgestoßene“, grollte Paaldrags


kehlige, tiefe Stimme.
Brommil grinste schief und meinte: „Man kann die
Gesellschaft am besten beurteilen, wenn man von außen 345
draufguckt – nicht aber, wenn man mittendrin steckt und
sich von den Strömen dort blind treiben lässt. Ich bin als
Söldner nie reich geworden, aber wesentlich zufriedener als
mancher Händler. Tja, doch dann kam das Imperium.“
Paaldrag lächelte böse und zog die Augen zu schmalen,
geschuppten Spalten zusammen. „Zum Glück bin ich
nicht das Imperium, sonst würde ich jetzt Angst vor Dir
kriegen, Zwerg.“
Brommil atmete tief durch die Nase ein, schob die Brust
vor und verkündete: „Das wäre nur recht so! Immerhin
war auch ich ein großer Krieger in meiner Jugend!“
Beide fingen gleichzeitig an zu lachen.
Melek saß auf der anderen Seite des Feuers, den Kopf
auf einer Hand abgestützt, und stocherte mit einem Ast
in den Flammen herum. Ihr Narren! Ihr wart nie wirklich
außen vor.
„Ja, sich aus dem goldenen Käfig der Gemeinschaft zu
befreien, ist eine schwer zu erreichende Wohltat“, grollte
Paaldrag, „aber hier unten leben nur solche wie Du und
ich, die das Imperium nicht haben wollte. Künstler vor
allem, aber zum Beispiel auch solche, die das Kämpfen
nicht so lustig finden wie wir zwei. Kämpfer wie ich, die
nicht ausreichend im Gleichschritt marschiert sind. Und
auch ein paar Weibchen. Du musst wissen, die sind bei
unserem Volk leider noch seltener als bei Euch Zwergen.
Das Imperium hält sie deshalb gefangen, und nicht wenige
wollen ihrem Schicksal entfliehen. Tebaarshas Matriarchat
kommt ihnen da natürlich gerade recht, denn hier können
sie nicht nur frei leben, sondern sogar Herrscherinnen
346 oder Priesterinnen werden. Das imperiale Religionsverbot
gilt hier unten nämlich auch nicht, und die uralten Kulte
blühen wieder auf.“
Brommil lachte verhalten: „Na, dass die gleich so
übertreiben müssen – anstatt mit ihrer Freiheit zufrieden
zu sein.“
„Ja, wirklich schlimm!“, brüllte Paaldrag und schlug
sich vor Lachen auf den Schenkel.
10 347

„Ich habe schon einmal gegen die Götter rebelliert, wie


Ihr wisst“, sagte Mèra und lächelte dünn. Sie kniete sich
vor Athónon und legte die Hände in den Schoß. „Ihr habt
recht. Eine so kalte Welt, in der ich Jade – der ich mein
Leben verdanke – einfach sterben lasse, könnten wir gleich
den Dämonen überlassen. Und selbst wenn ich bei dem
Versuch sterbe ... Ich habe lange genug gelebt, sie nicht,
und sie hat eine Familie. Ich habe niemanden mehr.“ Sie
hatte für Jahrhunderte drei Freunde gehabt, die nun fort
waren, und sie fühlte – nichts.
„Das stimmt nicht ganz“, flüsterte Athónon und drückte
ihre Hand. Ein einzelner Streit konnte seine Zuneigung
für die Halbgöttin nicht zum Wanken bringen.
Mèra ließ sich nicht anmerken, dass sie gerührt war.
Sie stemmte sich mühsam auf die Füße und erklärte:
„Zunächst sollten wir umziehen. Offensichtlich weiß
jedermann, wo wir zu finden sind. Sobald wir an einem
geeigneten Ort sind, brauche ich Ruhe. In dieser Zeit
werde ich wieder völlig abwesend sein und Ihr müsst mir
Schutz bieten.“ Sie wurde leiser. „Vielleicht sind wir danach
beide tot, Jade und ich. Auf jeden Fall werde ich danach
so geschwächt sein, dass ich mich vermutlich kaum noch
auf einem Pferd werde halten können. Trotzdem müsst Ihr
dann dafür sorgen, dass wir alle so schnell und so weit
wie möglich wegkommen vom Ort des Zaubers, denn die
Menge der magischen Energie, die dort fließen wird, lockt
unsere Feinde an wie das Licht die Motten.“
348 „Lasst das unsere Sorge sein“, erwiderte Athónon
entschlossen.
„Wo sind eigentlich Taffi und Zeeris?“, fragte der Gnom
plötzlich.
Aus einer Ecke des Raumes kam ein leises Stöhnen.
„Taffi!“, rief Athónon und rannte zu dem Chamäleon.
„Schön, dass mich jemand vermisst“, röchelte Taffi. Er
hatte die Farbe der Wand angenommen, beinahe hätte
Athónon ihn übersehen.
Der Gnom hob das kleine Wesen behutsam auf seine
Hände und schloss sein gesundes Auge. „Zum Glück kenne
ich Dich schon so lange, das macht das Zaubern bei Dir
etwas einfacher“, murmelte Athónon und konzentrierte
sich auf seine Heilmagie.
Taffi raunte genussvoll, als die wohltuende Heilkraft
durch seinen Körper strömte. Er räkelte und streckte sich,
und nach wenigen Lidschlägen sprang das Chamäleon
dem Gnom bereits wieder auf die Schulter, wenn auch
nicht ganz so flink wie sonst.

Der Barde hatte seinen neuen „Freunden“ – jedenfalls


nannte er sie so – von einer Höhle im Westen der Stadt
erzählt, wo er als Kind oft gespielt hatte. Natürlich
kannten auch andere Dorfbewohner die Höhle. Aber
zumindest für Fremde war sie recht gut verborgen und
sie besaß nur einen schmalen Eingang, war also gut zu
verteidigen. Andererseits konnte sie dadurch erst recht zur
Todesfalle werden.
Wenndur hing sich seine Laute über die Schulter, dann
trug er Jades leblosen Körper; die anderen folgten ihm.
Nur Zeeris blieb verschwunden, doch er würde die Truppe 349
schon wiederfinden, wie jedesmal.

Laura war die Einzige gewesen, die Wenndur sofort


bereitwillig erlaubt hatte, die Gruppe zu begleiten.
Mèra und Athónon schwiegen dazu. Sicherlich war ein
zusätzlicher Mitstreiter nützlich, insbesondere da Wenndur
diese Höhle kannte. Doch Mèra und Athónon wussten
auch, in welche Gefahr der unerfahrene Halbelf geraten
konnte, und sie mussten bereits auf Laura aufpassen, so
wie sie es auffassten.
„Wir können ihm nicht absprechen, dass er uns beim
ersten Angriff mit seinem glücklichen Schuss alle gerettet
hat“, war Mèras nachdenklicher Kommentar zu Athónon
diesbezüglich gewesen – während Wenndur und Laura
schon längst fest davon ausgegangen waren, dass der Barde
sie fortan begleiten würde.
„Denkt bloß an die Blicke, die sich beide vor dem
letzten Kampf zugeworfen haben“, hatte Athónon darauf
nur geseufzt, anstelle einer echten Antwort.
„Sie vergisst sich vielleicht wieder, aber sie könnte
es inzwischen auch besser wissen“, hatte Mèra genickt,
bemüht, echte Sorge um die Sterbliche zu empfinden;
dazu war sie durch ihr unvorstellbares Alter oft nicht mehr
fähig, so sehr sie das auch bedauerte.

Wenndur legte sich Jades Körper quer vor den Sattel


ihres Rappens. „Und wie lenkt man so ein Ding jetzt?“,
fragte er unschuldig. Alle starrten ihn an. „War nur ein
Witz!“, rief er und winkte ab, doch niemand lachte. Die
350 Gruppe verließ so schnell wie möglich das Dorf. Wenndur
erwies sich als passabler Reiter.

Zeeris kaute missmutig auf der Handvoll Vogelaugen,


die er im Luftkampf gegen einen Entenschwarm erbeutet
hatte. „Winzige Dinger!“, grummelte er. Während er die
Enten gejagt und mit seinen scharfen Klauen zerfetzt hatte,
hatte er allerdings auch den alten Menschen gesehen, der
den Krämer für sein blutiges Ritual ermordet hatte. Dieser
alte Mensch war in die Herberge von Zeeris’ Freunden
gegangen.
„Nie bringen sie mir Augen mit!“, hatte Zeeris beleidigt
zu sich selbst gesagt, sich gegenüber in einen Baum gesetzt
und weiter seine Entenaugen gekaut. Doch er rutschte auf
seinem Ast unruhig hin und her, kratzte sich ständig und
fror – dieselbe, sorgenvolle Reaktion, die Menschen in
Form von Hitzewallungen zeigen konnten.
„Ach, die können da drin allein auf sich aufpassen!
Die haben doch Athónon und Mèra! Und Taffi!“, krähte
Zeeris und verschlang die letzten Entenaugen. „Aber
mal sehen, was der alte Doofmann so in seinem Haus
versteckt!“, rief Zeeris voller Tatendrang und ließ sich aus
dem Baum purzeln. Erst kurz vor dem Boden setzte er
die Flügel ein, flog eine scharfe Aufwärtskurve und sauste
dann auf das Haus zu, aus dem der Alte gekommen war.
„Zeerisrisrisrisris!“, machte das rote Teufelchen mit den
ergrauten Schuppenrändern freudig und donnerte mit
dem Kopf durch das morsche Holz eines Fensterladens.
„Aha!“, rief Zeeris empört und reckte den Zeigefinger 351
in die Luft, „hier muss mal einer Licht machen.“
Plötzlich stank es nach Schwefel und die ganze Faust
des Teufelchens fing Feuer. „Ah!“, schrie Zeeris entsetzt,
wedelte wild mit der Hand und pustete kräftig auf das
Feuer ein. „Na ja, obwohl ...“, überlegte er dann und
behielt das Feuer kurzerhand, wie es war. Aufgrund seiner
halbdämonischen Natur war er völlig unempfindlich
gegenüber Feuer.
Von draußen hörte er empörtes Geschrei über einen
kleinen, dämonischen Einbrecher, doch er konnte sich
ja nicht um alles gleichzeitig kümmern. Den Einbrecher
würde er später stellen, jetzt musste er erst einmal das
Rätsel um die Behausung des Ritualmagiers ergründen.
„Wieso wissen die überhaupt, was ein Dämon ist?“,
wunderte Zeeris sich beiläufig, „es gibt doch gar keine
Dämonen! War sicher nur ein Schimpfwort.“
Mit erhobener Faustfackel sah Zeeris sich nun im
Haus um – einem einzelnen, nicht sehr großen Raum aus
unverputztem Bruchstein, in dem es nur wenig zu sehen gab:
ein paar alte Decken, einen morschen Fichtenholztisch mit
einem schiefen, selbstgezimmerten Schemel davor sowie
ein Loch im Boden, in das eine Holzleiter hinabführte.
„Moment mal – ein Loch im Boden mit einer Leiter?“,
fragte Zeeris sich laut. Vorsichtig schnuppernd, trippelte
das Teufelchen auf das Loch zu und hielt die brennende
Faust darüber. In der Tiefe begann ein grob behauener
Steingang in irgendsoeine Himmelsrichtung zu führen,
die Zeeris sowieso nicht auseinanderhalten konnte.
„Ob ich das den anderen sagen sollte?“, überlegte Zeeris
352 laut. „Ach nein, die sind bestimmt noch mit den drei
Feindlingen beschäftigt, das gucke ich mir selbst an!“, rief
er und hüpfte flatternd zum Gang hinunter. Fast sofort
stellte Zeeris fest, dass der Gang ziemlich steil in die Tiefe
führte. „Sieht aus wie ein alter Zwergentunnel!“, grübelte
Zeeris. „In denen waren wir ja früher oft unterwegs.“
Schon nach wenigen Lidschlägen erreichte Zeeris eine
riesige, unterirdische Höhle, die ihn an seine Heimat
erinnerte: ein Hohlraum aus Vulkangestein, von einem
Vulkanausbruch erschaffen. Von Weitem hätte man gar
nicht erwartet, dass das Dorf an einem ehemaligen Vulkan
gebaut worden war, denn mehr als ein großer Hügel, auf
dem das Dorf stand, war davon nicht übrig.
In der Höhle brannten so viele magische Lichtflächen
unter der Decke und an den weiteren Abzweigungen, dass
Zeeris’ Fackel gar nicht auffiel.
Deshalb bemerkte ihn die etwa zwanzigköpfige
Söldnergruppe auch nicht, die an einer zugigen Spalte
an einem Lagerfeuer saß. Der Braten, den sie über den
Flammen drehten, erinnerte Zeeris an eine kindliche
menschliche Form.
Die Söldner waren hingegen keine normalen Menschen,
sondern allesamt entstellte, fahlhäutige Dämonische
mit bösen Augen. Einer kaute auf einem gebratenen
Menschenarm herum. Ein anderer teilte sich mit einem
dritten ein langes, muskulöses Bein. Zeeris wurde
unwillkürlich unsichtbar, nur seine Faustfackel wäre hinter
dem Höhleneingang noch zu sehen gewesen.
Schräg gegenüber des kleinen Lagerplatzes schimmerte
eine bläuliche, türgroße Fläche an der Wand. Zweifellos
war die Fläche magischer Natur, doch was genau sie tat 353
oder darstellte, wusste Zeeris nicht. Daher begann er
ein Gebet an die Friedensgöttin Domaore zu murmeln,
außerdem tat er so, als schwenke er ein Weihrauchgefäß;
er mochte die Art der Ausführung dieses Zaubers zwar
nicht, aber genau so hatte es der verstorbene Tempelkrieger
Cesius ihm vor langer Zeit beigebracht. Also machte er es
auch so, sicherheitshalber.
Binnen weniger Lidschläge erlosch das Feuer um Zeeris’
Faust. Dafür verwandelte sich nun seine Wahrnehmung.
Sie wurde auf die magische Ebene der Geisterwelt verlagert,
um magische Muster zu erkennen; auf diese Weise konnte
jemand, der sich mit Zauberei wirklich auskannte, aktive
Zauber finden und analysieren. Zeeris hatte jedoch
nicht damit gerechnet, dass der Zauber an der Wand,
den er betrachten wollte, so stark war, dass er ihm grell
entgegenbrannte und blendete. Immerhin konnte Zeeris
noch vermeiden, einen Schreckensschrei auszustoßen, der
die Dämonischen am Lager aufgescheucht hätte.
Zeeris schüttelte sich und begann den Zauber von
Neuem. Diesmal jedoch baute er den „Filter“ ein, den ein
anderer verstorbener Freund von Athónon dem Teufelchen
vor langer Zeit gelehrt hatte; der Zauberer Xelos hatte zu
Lebzeiten als Meister der Geisterwelt gegolten, und damit
auch als Meister der magischen Analyse. Er hatte sogar
mit Dämonen jenseits von Hevas Leib sprechen können,
obwohl ihn deswegen – vielleicht zu recht – niemand
gemocht hatte.
Zeeris fluchte leise, weil der Zauber scheiterte; er war
in Gedanken abgedriftet, hatte die Konzentration verloren
354 und als magisches Muster nur völligen Blödsinn gewoben,
der sich in der Geisterwelt schon wieder aufzulösen begann
– noch bevor Zeeris die magische Strömung überhaupt zu
Ende durch seinen Körper geleitet hatte.
In dem Moment glühte die blaue Zauberfläche auf und
ein weißhaariger Elf mit roten Augen trat hindurch in die
Höhle. Mit riesengroßen Augen drückte Zeeris sich im
Eingang an den Fels, beobachtete und lauschte gebannt.

Der Albino trug schwarze, feinste Seidenkleidung mit


roten Rändern. Er blieb knapp hinter der magischen
Fläche stehen und stemmte die Hände in die dürre Hüfte.
Mit schneidender, dünner Stimme und ohne Gruß redete
er auf die Söldner ein: „Euer Anführer Modakiu ist nun
ebenfalls gescheitert, auch seine zwei Leibwächter sind
tot. Wenigstens ist es Modakiu gelungen, die Nachtelfin
zu töten und Streit zu säen. Doch das wahre Ziel bleibt
bestehen: Ich biete fünfhundert Goldmünzen für den
Kopf der blonden Elfin mit den grauen Strähnen. Ihre
Begleiter sind mir egal. Die ganze Gruppe verlässt in
diesem Moment das Dorf. Sie suchen eine Höhle auf, die
viele Dorfbewohner hier ebenfalls kennen. Also, bestimmt
einen neuen Anführer, treibt die Elfin auf, tötet sie und
bringt mir ihren Kopf hierher, dann sind fünfhundert
Goldmünzen Euer. Je mehr Männer ihr darauf ansetzt,
desto mehr müssen sich den Lohn teilen, doch desto
sicherer wird der Mord endlich gelingen. Eine feindliche
Kämpferin ist nun tot, doch bedenkt, dass Modakiu und
seine Leibwächter nicht gerade unerfahren gewesen sind
und nun ebenfalls tot sind. Die Entscheidung, wie viele
Männer Ihr ansetzt, ob ihr gar weitere Eurer Leute aus der 355
Tiefenwelt heraufholt, liegt bei Euch. Aber bringt mir den
verdammten Kopf! Und vergesst nicht, tretet nicht durch
das Tor, es würde Euch dahinter nicht gefallen. Wartet
hier in den Zwergengängen auf mich, wenn Ihr die Elfin
getötet habt.“
Mit diesen Worten drehte der Elf sich um und
verschwand durch die magische Fläche.
Zeeris’ Augen dampften schweflig und er wimmerte
leise: „Jade! So ein Mistkerl! Ich würde Euch ja die Augen
herausreißen, wenn Ihr nicht so viele wärt!“ Doch schon
im nächsten Moment vergaß Zeeris seine Trauer wieder
und starrte neugierig auf die blaue Fläche, durch die
der Elf erschienen und wieder verschwunden war. Die
Warnung, nicht hindurchzutreten, machte das Teufelchen
selbstverständlich erst recht gespannt. Unruhig kratzte
Zeeris sich immer wieder am Kopf, ohne den Blick von
dem magischen Portal nehmen zu können. Ein bisschen
interessierte es ihn zwar auch, wer der Albino war und wieso
er Mèras Tod wollte, obwohl er selbst ein Elf war; doch das
Verlangen, die andere Seite des Portales zu sehen, wurde
immer stärker und stärker. „Zeerisrisrisrisris!“, machte
Zeeris so schnell, dass er beinahe wie eine Klapperschlange
klang. Dann sauste er mit voller Fluggeschwindigkeit
durch das Portal; die Söldner hielten ihn für einen verirrten
Vogel im Sturzflug.

Zeeris knallte mit dem Kopf gegen eine weiche, seltsame


Fläche. „Augen!“, schrie er zuerst verzückt, doch dann
sofort: „Oh, oh!“
356 Er hatte eine Riesenspinne gerammt, die direkt
am Ausgang des Portals auf der Lauer gelegen hatte.
Zischend langte das Biest mit zwei riesigen, haarigen
Beinen nach Zeeris, doch das Teufelchen raste mit voller
Geschwindigkeit bis direkt unter die Decke der neuen
Höhle. „Puh!“, machte Zeeris und starrte mit jagendem
Herzschlag nach unten. „He! Du bist gar keine Spinne!“,
rief er plötzlich.
Das vieläugige, haarige Wesen unter ihm stand auf
zwei starken Orkbeinen und hielt eine mächtige Axt in
zwei Orkarmen, gleichzeitig besaß es allerdings auch zwei
Paar Spinnenbeine, die vom verwachsenen, buckeligen
Rücken hervorsprangen und nach vorn gerichtet waren.
Der riesige, überschwere Kopf des Wesens besaß an der
Unterseite ein Maul voller unförmiger Zähne und war
ansonsten voller Spinnenaugen, an allen Seiten und in
verschiedenen Größen. Das Wesen zischte böse, sabberte
sich auf die haarige Brust und reckte Zeeris die Axt
entgegen. An der Unterseite des Buckels, aus dem auch die
vier Spinnenbeine entsprangen, tropfte Fadenflüssigkeit,
die am Boden kleben blieb.
„Du bist ja im Kontinent!“, lachte Zeeris und streckte
dem Spork den Zeigefinger entgegen. Er wusste auch nicht
genau, was der Ausdruck „im Kontinent“ bedeutete, aber
Xelos und Cesius hatten ihn manchmal benutzt.
Sporks, halb Spinne, halb Ork, gehörten zu den
magischen Schöpfungen der Chimärier, denen sie skurrile
Namen gegeben hatten, um ihre Angst vor den manchmal
sehr gefährlichen Kreaturen zu überspielen.
Zeeris und der Spork verstummten gleichzeitig, als
plötzlich ein tiefes Brummen näher kam. Der Spork 357
quiekte kläglich und rannte in eine Ecke, um sich dort
leidlich hinter einigen Holzkisten zu verstecken. Zeeris
starrte gebannt geradeaus, wo sich die Höhle weit ins
Dunkle erstreckte. Neben dem Portal stand ein kleines
Kohlenbecken, doch das spendete nicht viel Licht.
In der Schwärze der Höhle begann die Decke plötzlich
ölig zu schillern und zu vibrieren. Der Spork quiekte lauter.
Endlich verstand Zeeris, was er sah: Das ölige Schillern
stammte von den gigantischen, irisierenden Flügeln einer
Trobelle, einer Kreuzung aus Troll und Libelle. Zwei der
herabpendelten Libellenarme hatten die Muskeln und
riesigen Hände eines Trolls. Die Höhle war breit, sicher
über zehn Meter, doch die brummenden Libellenflügel
füllten die Breite fast ganz aus. Zeeris spürte bereits den
beträchtlichen Luftzug, der ihn an die Wand zu drücken
begann, während die Trobelle langsam näher schwebte.
„Verdammte Chimärier! Konnten die mit ihren
Experimenten nicht die Natur in Ruhe lassen?“, krähte
Zeeris panisch. Sein Stimme ging im Dröhnen der
Trobellenflügel unter.

Wenndur führte die Truppe über einen flachen Bach


und in einen lichten Birkenwald mit moosigem Unterholz.
Ein breiter Pfad stieg dort allmählich einen Hügel hinauf,
aber Wenndur führte die Gruppe am Fuße des Hügels
entlang, bis sie die Köpfe in den Nacken legen mussten,
um den Hügelrand noch zu sehen.
358 „Hier ist es“, rief er nach einer Weile und ließ sich
vorsichtig aus dem Sattel gleiten, damit Jades Körper
nicht womöglich hinterherfiel. Vor einem ovalen Loch in
dem aufragenden Hügel – einem Auge ähnlich, aber etwa
schulterbreit – blieb Wenndur stehen.
„Müssen wir da etwa reinkriechen?“, fragte Laura
unbehaglich und rümpfte die Nase. „Ich mag enge Gänge
nicht sonderlich, vor allem nicht ... so ... enge Gänge.“
„Keine Sorge!“, beruhigte Wenndur sie, „der Gang
wird mit jeder Armlänge etwas breiter. Bevor Du bis zehn
gezählt hast, kannst Du dahinter schon fast stehen. Ich
mache mir eher Sorgen um das Licht; denn in Fackelrauch
werden wir da drin ganz schnell erstickt sein.“ Leise und
verlegen brummte er: „Daran hatte ich vorher gar nicht
gedacht.“
„Das wird kein Problem sein“, beschwichtigte ihn
Athónon. „Ich kann ein magisches, rauchloses Licht
herbeizaubern. Wenn ich mich ein wenig vorher darauf
konzentriere, wird es mir sicher gelingen, dieses Licht
sogar für einige Stunden zu rufen, bevor ich es erneuern
muss.“
Wenndur schnaufte demonstrativ erleichtert. Geradezu
vergnügt rief er: „Na, dann hinein!“
Er hob Jade vom Sattel, legte sie vor den Eingang und
kroch zunächst voraus. Dann kam sein Arm noch einmal
zurück, packte Jade am Kragen und schleifte sie hinter
sich her.
„Wir sind nicht allein!“, rief er plötzlich alarmiert.
Athónons Hand wanderte sofort zum Schwertgriff.
„Aber die Füchse haben zum Glück einen eigenen
Ausgang. Jedenfalls glaube ich, dass es Füchse waren. Ist 359
echt dunkel hier drin“, fügte Wenndur hinzu.
Ohne sichtbare Regung ließ Athónon die Waffe wieder
los.
Laura schüttelte grinsend den Kopf.
„Geht schon mal vor, ich konzentriere mich jetzt auf die
Lichtkugel“, murmelte Athónon,setzte sich auf den Boden
und schloss die Augen. Mit den Händen formte er eine
flache Schale.
Mèra hatte sich dünne Handschuhe angezogen, um ihre
wunden Hände zu schützen. Sie war damit beschäftigt,
die Pferde bei einer großen, dicht gewachsenen Hainbuche
neben der Höhle anzubinden, in der Hoffnung, sie
würden so nicht schon von Weitem auffallen. Auch das
Gepäck wollte sie noch abschnallen, daher kroch Laura
als Nächste in den Gang. Ein bisschen mulmig war der
Halbelfin sichtlich dabei zumute, doch sie war tapfer. Sie
schob ihren eigenen Rucksack vor sich her und presste die
Lippen aufeinander.
Sie war einmal als Kind in einer Felsspalte stecken
geblieben, durch die alle anderen Elfenkinder gerade so
durchgepasst hatten. Damals hatte ihre kleine Schwester
Lishárial das erste Mal über Laura gelacht und mit dem
Finger auf sie gezeigt, noch bevor sie wirklich hatte
sprechen können.
Mèra legte Jades und Wenndurs Gepäck zunächst neben
den Eingang und schob sich mit ihrem eigenen Rucksack
in den Gang. „Bist Du stark, Wenndur?“, rief sie in die
Dunkelheit.
„Wieso?“, kam seine Stimme seltsam gedämpft zurück.
360 „Kannst Du Jades und Dein eigenes Gepäck gleichzeitig
hier durchschieben?“, rief Mèra zurück.
„Das wird schon gehen. Kommt erstmal rein, ich
krieche dann zurück und passe auf Athónon auf, bis der
mit seinem Zauber fertig ist“, antwortete Wenndur. Der
Waldboden verschluckte einen guten Teil seiner sonst
klaren Stimme, ohne dass der Barde wirklich weit weg
gewesen wäre.

Draußen öffnete Athónon die Augen. Vor seinem


Gesicht schwebte eine Lichtkugel in der Farbe milden
Sonnenlichtes. Zufrieden zuckte ein Mundwinkel nach
oben – aber nur kurz. Gerade als der Gnom sich erhob
und die Lichtkugel seiner Bewegung exakt folgte, steckte
Wenndur den Kopf aus dem Eingang.
„Ah, Du bist schon fertig. Du musst nur noch Dein
eigenes Gepäck und Deine Leuchtkugel mitnehmen, ich
nehme den Rest hier“, erklärte Wenndur. Er nahm die
zwei Rucksäcke vom Eingang und verschwand damit
wieder im Dunkeln.
Athónon testete sicherheitshalber seine Lichtkugel,
indem er sie an trockenes Laub hielt; nichts geschah. Er
packte seinen Rucksack und schob sich durch den erdigen
Gang. Aus seinem Rucksack kam Taffis gedämpfte
Stimme: „He, zerdrück mich nicht!“
Die Luft war stickig und feucht, doch der Geruch von
Humus erinnerte Athónon schwach an seine unterirdische
Gnomen-Heimat; fast konnte er sich nicht mehr
erinnern.
Die Höhle im Inneren des Hügels war gerade groß
genug, dass sie alle im Kreis sitzen konnten. Jades Körper 361
lag in der Mitte. Athónon ließ sein Licht über ihr unter
die Decke schweben; es reichte nun gerade, um eine
Dämmerstimmung zu erzeugen. Auf dem Waldboden, der
die Gruppe umschloss, wirkte das milde Licht plötzlich
bleich und unnatürlich.
„Ich hätte es wohl stärker machen sollen. Aber dann
müsste ich es ständig erneuern, weil es in der schwierigeren
Variante nie lange halten würde“, murmelte der Gnom.
Mèra erklärte mit fester Stimme: „Ich werde mich sofort
einstimmen. Jede Stunde, die Jade tot ist, macht eine
Erweckung schwieriger. Meine Vorbereitung wird einige
alte Gesänge beinhalten müssen. Ich schlage deshalb
vor, dass Ihr Euch damit abwechselt, auch am Eingang
Ausschau zu halten, ob jemand auf uns aufmerksam wird.
Vergesst die Bögen nicht.“
Laura rief mit einer gewissen Erleichterung: „Ich gehe als
Erste wieder raus!“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern
packte Bogen und Köcher und kroch nach draußen.
Wenndur meinte: „Es ist mir egal, wann ich schlafe
oder wache, aber den Gesang will ich hören!“
„Dann bleib zunächst hier, ich werde recht bald dazu
kommen“, erwiderte Mèra.
Athónon nickte. „Gut, dann löse ich Laura in ein paar
Stunden ab.“
Wenndur fragte Mèra: „Stört es Euch, wenn Athónon
und ich leise reden, bis Ihr singt? Ich würde zu gerne mehr
über all das hier erfahren, wer Ihr seid ...“
Mèra entgegnete: „Das ist keine gute Idee. Ich brauche
Ruhe hierfür. Dann geh lieber mit nach draußen. Du
362 kannst ja zurückkommen, wenn Du den Totengesang der
Dahnrud hören willst.“
„Dahnrud?“, fragte Wenndur mit leuchtenden Augen.
Über jene mysteriösen, götterähnlichen Wesen, den
Ureinwohnern der Welt, hatte er bisher nur Legenden
gehört. „Athónon?“, fragte er den Gnom.
„Na schön“, brummte Athónon, „kriechen wir gleich
wieder zurück.“ Plötzlich stockte er und sah Mèra an. „Es
sei denn ...“, begann er.
„Ja?“, fragte Mèra etwas teilnahmslos.
„Was ist, wenn ein dämonisches Wesen direkt in dieser
Höhle auftaucht, angelockt von der Magie? Sollte nicht
jemand hier drinbleiben? Außer Taffi, meine ich. Nur Jade
konnte noch Dämonische rechtzeitig spüren, abgesehen
von Euch, aber Ihr seid abgelenkt.“
Wenndur machte einen anderen Vorschlag: „Gut,
dann bleibt Athónon mit seiner magischen Klinge hier,
und Laura erklärt mir draußen, wer Ihr Leute eigentlich
seid. Wir werden die Augen schon aufhalten! Ich komme
zurück, sobald ich diesen Gesang höre.“
Athónons Mundwinkel zuckte nicht. „Einverstanden“,
sagte er zögerlich, sah aber auch fragend zu Mèra.
„Mir ist es egal, ich werde nichts mitbekommen“,
entgegnete sie uninteressiert und kniete sich hinter Jades
Kopf. Sie ging davon aus, dass es vollkommen egal war, wo
Athónon wachte – er würde so oder so alles mitbekommen,
da war sie sich sicher.
„Also abgemacht!“, rief Wenndur und kroch aus der
Höhle. Falls er verstanden hatte, wie gering er von seinen
Begleitern eingeschätzt wurde, zeigte er dies nicht.
Athónon fragte Mèra: „Soll ich die Decke Euch 363
überlegen oder Jade?“
„Gute Frage“, murmelte Mèra, während sie die
Handschuhe auszog.

Als Wenndur sich vor Laura wieder erhob und sich


den Dreck aus den Kleidern klopfte, sagte Laura sofort
scharf: „Damit eins klar ist, ich bin zum Wachehalten
hier.“ Demonstrativ ließ sie den Blick schweifen und
ignorierte Wenndur. „Es ist schon ... jemand gestorben!“,
schluchzte sie unterdrückt, riss sich jedoch schnell wieder
zusammen.
„Schon gut!“, rief Wenndur leise, „aber vielleicht kannst
Du mir erzählen, wer diese Mèra und dieser Athónon sind.
Sobald Mèra mit ihrem Totengesang beginnt, gehe ich
auch wieder, den will ich mir nämlich genau anhören.“
Laura schnaubte leicht durch die Nase. Ohne ihren
wachsamen Blick vom Horizont des Birkenwaldes zu
nehmen, begann sie die wenigen Dinge zu erzählen, die
sie dank ihrer Mutter über Mèra und Athónon wusste.
„Athónon hat meiner Mutter mal das Leben gerettet,
noch vor meiner Geburt. Sie war im Tiefenreich verwundet
worden und wäre verblutet. Sie war damals gerade erst
Anführerin der Wache geworden. Ihre Vorgängerin ist auch
schon unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen;
angeblich war sie eine Verräterin, aber darüber weiß ich
nichts. Einer der damaligen Freunde von Athónon, ein
Mensch, brachte meiner Mutter das Kämpfen erst richtig
bei – oder besser gesagt, das Bewusstsein dafür, wie wenig
die meisten Elfen im Vergleich zu kriegserprobten Völkern
364 vom Kämpfen verstehen. Irgendein böser Fluch brachte
Athónons Gefährten den Tod. Seitdem war auch meine
Mutter in kein Abenteuer mehr gezogen. Bis jetzt.“
Wenndur unterbrach sie sanft: „Und dieser Freund von
Athónon, war das Dein Vater?“
Lauras Blick wurde für einen Moment gequält. Plötzlich
sog sie scharf die Luft ein und blockte kühl: „Nein.
Darüber will ich nicht reden.“
„Na gut, dann erzähl mir von Mèra“, bat Wenndur.
„Sie ist eine Halbgöttin“, fiel Laura mit der Tür ins
Haus.
Wenndurs Kiefer klappte herunter und seine Augen
begannen zu leuchten, während er sich all die Geschichten
vorstellte, die eine Halbgöttin zu erzählen haben musste.
Es gab Legenden über Halbgötter und Götter, die auf
Hevas Leib wandelten. Doch sie waren so selten, dass
ein Sterblicher nicht hoffen konnte, ihnen jemals zu
begegnen.
Laura fuhr fort: „Sie und Athónon kennen sich wohl
schon lange, aber ich weiß nicht, woher. Auch reden die
beiden sich ständig mit dem respektvollsten ,Euch‘ an,
obwohl sie andererseits alte Freunde zu sein scheinen. In
irgendeiner vergangenen Epoche soll Mèra die Königin
eines vereinten Elfenreiches gewesen sein, doch ich habe
zuvor nur Märchen und Legenden gehört, in denen es so
etwas gegeben hat. Das muss also schon ziemlich lange her
sein, und dann wäre Mèra auch verdammt alt. Aber gut,
sie ist eine Halbgöttin. Vielleicht altern die ja nicht, ich
kenne mich damit nicht aus.“
Sie seufzte kurz und schloss dann ihren Bericht: „Tja,
das war schon so ziemlich alles, was ich über Mèra weiß. 365
Ist ja nicht so, dass irgendeiner dieser Überhelden sich
die Mühe gemacht hätte, mir alles in Ruhe zu erzählen.
Und es war mir auch unangenehm, denen ständig Löcher
in den Bauch zu fragen. Eigentlich sollte ich anfangs gar
nicht dabei sein.“
„Na, so ein Glücksfall!“, rief Wenndur. „Spätestens jetzt
musst Du doch an das Schicksal glauben.“ Er legte ihr eine
Hand auf die Schulter, doch Laura zog sie verärgert weg.
Ihre Miene wurde plötzlich wütend.
„Schicksal? War es etwa das Schicksal meiner Mutter,
den Tod zu finden?“, schrie sie ihn an. Waren das nicht
exakt Mèras Worte gewesen?
Schnell beruhigte Laura sich wieder und zischte: „Ich
habe gesagt, ich bin zum Wachen hier. Auf keinen Fall
wird noch jemand sterben, weil ich mich habe ablenken
lassen von ... so einem dahergelaufenen ...“
Wenndur begann immer breiter zu grinsen. „Schon
gut“, lachte er gedrückt. „Wir setzen dieses Gespräch fort,
wenn wir dieses Abenteuer überstanden haben und Deine
Trauerzeit vorbei ist.“
Laura schüttelte nur verständnislos und wütend den
Kopf über Wenndurs Arroganz. Plötzlich wirbelte sie
herum und rief: „Ach! Kannst Du mal Athónon die
Zeichnung von dem Brandmal geben? Ist in meinem
Rucksack. Vielleicht kann er ja was damit anfangen.“
Wenndur kroch nicht zurück, sondern rief in den
Gang, was Laura ihm aufgetragen hatte. Er konnte kaum
die Augen von ihr lassen. Als er sich wieder aufrichtete,
fragte er leise: „Du glaubst doch nicht wirklich, dass uns
366 hier draußen jemand findet, oder? Kaum jemand kennt
diesen Ort. Wir sind sicher.“
Lauras Herz raste, ihr Atem zitterte. Furchtsam starrte
sie an Wenndur vorbei zum Horizont, als er an sie herantrat
und zärtlich mit einer Hand durch ihre Locken und über
ihre kleine Ohrspitze fuhr. „Lass das“, bat sie mit brüchiger
Stimme. Ihr Blick funkelte in hilfloser Wut vor sich hin.

„Die Augen wären ja schon lecker“, grübelte Zeeris und


rieb sich das Kinn, während er die riesige, brummende
Trobelle vor sich näher schweben sah. Er hatte es
aufgegeben, sich gegen den Luftzug zu stemmen, sondern
hatte sich kurzerhand flach an die Wand gelegt, sodass
er mit den eigenen Flügeln nur noch die Höhe halten
musste.
„Ach nö, das Ding ist mir zu groß und brummt zu laut“,
entschied er sich dann jedoch und wurde kurzerhand
unsichtbar. Etwas fröstelte ihn die Anstrengung allmählich
zwar, doch ein- oder zweimal traute er es sich gewiss noch
zu, bevor sein Flügelschlag unregelmäßig zu werden
drohte.
Im Tiefflug entging Zeeris dem Flügelsturm der
Trobelle und tauchte unter dem Monstrum ab, hinein
in die Schwärze, aus der es gekommen war. Ein klein
wenig fürchtete das Teufelchen sich plötzlich an diesem
von Monstern bewohnten Ort, mitten in der Dunkelheit.
Hinter Zeeris quiekte der Spork immer lauter, vermutlich
hatte die Trobelle ihn gefunden. Vor Zeeris tauchte nun
ein neuer Lichtschein mit neuen Geräuschen auf. Aus 367
lauter Neugier vergaß er den Spork augenblicklich.

„Die Matriarchin wünscht, dass Ihr diesen weißhaarigen


Elfen findet, der uns unser Territorium abspenstig
macht“, raunte eine Chimärierin in einer dunkelgrünen
Robe. Sie sprach zu fünf weiteren Chimäriern, zu denen
sie leicht aufsehen musste. In der rechten Hand hielt sie
ein goldenes Zepter, in dessen Kopf ein kleiner, doch
hervorragend geschliffener Rubin eingefasst war. Dieser
Rubin wurde von zuckenden Flammen umtost, die
ihnen Licht spendeten. Die Chimärier, die ihre Order
hier entgegennahmen, trugen bronzene oder lederne
Rüstungsteile, waren aber keineswegs so gleichförmig
geordnet wie die imperialen Truppen. Auch besaßen
sie keine Wappen oder sonst ein Erkennungsmerkmal.
Selbst die Waffen waren bei jedem Krieger andere; einer
hatte eine schwere Eisenlanze geschultert, ein anderer
trug Bronzeaxt und Eichenschild, ein weiterer ein großes
Eisenschwert, wieder ein anderer zwei Armbrüste und der
letzte einen steinernen Kriegshammer.
„Was ist mit der Trobelle und dem Geistertroll? Sollen
wir diese Kreaturen töten, wenn wir sie finden?“, fragte
einer der Krieger.
Die Robenträgerin erwiderte: „Ja, tötet diese
widernatürlichen Geschöpfe. Sie sind nichts weiter als
seelenlose Symbole des falschen Weges des Imperiums.
Früher war dieser unterirdische Ort hier ein Zentrum
der magischen Forschung. Gebt also acht, es irren
wahnsinnige und feindselige Kreaturen durch die Gänge,
368 bis sie endlich Erlösung finden. Doch alles was heute zählt,
ist die Vertreibung dieses dreisten, elfischen Zauberers.
Er wird seine Lektion lernen. Und denkt daran, die
Schlangenblüter folgen nun einem anderen Herrn und
sind nicht länger unsere Freunde. Jetzt geht, der Segen der
Vergessenen Götter ist mit Euch!“
„Ja, Hohepriesterin!“, riefen die Chimärier entschlossen
und marschierten davon.

Wirre Bilderblitze durchschossen Srrigs Gedanken, seit


Myándirels Zauber vollendet war. Mèras Gefährte Cerýllion
hatte sie verraten, und mit ihr die anderen drei Könige, die
seit dem Glorreichen Zeitalter als unsterbliche Götterdiener
gegen die Dämonen gekämpft hatten: Srrig selbst, Randolph
und T’ral. Durch seinen Schädel jagten zweitausend Jahre
Geschichte, von einer zerstörten und neu erbauten Welt.
Plötzlich bestanden die Götter darauf, die dämonische
Gefahr sei gebannt und die Vier Könige sollten nach
Jahrhunderten des Krieges endlich Frieden finden. Gegen
ihren Willen wurden die Vier Könige von den Göttern in
Seelengefäße gesperrt – auf Eis gelegt.
Die Dämonen – Piraten, Rebellen, Eroberer – lauerten
in ihren Verstecken auf ihre Chance und suchten Verbündete
unter den Sterblichen. Sie wollten die primitive, kleine Welt,
in welcher jedoch die magische Strömung außergewöhnlich
stark war, für sich erbeuten. Die Götter jener Welt waren für
sie nur überalterte Schwächlinge, welche dieses seltene Paradies
nicht verdienten. Nur hier konnten beispielsweise Wunden
dank der Magie binnen weniger Lidschläge verheilen, die 369
anderswo zum Tod geführt hätten.
Die Dahnrud, die sphärischen Ureinwohner dieses
Paradieses, waren für ihre schwache Entschlusskraft bekannt
und wollten sich nicht einmischen.
Mèras Gefährte Cerýllion, ebenfalls unsterblich und später
glühender Anhänger des Imperators Schattenwacht, hielt
den Kontakt zwischen dem Imperator und den Dämonen
aufrecht, während er den Göttern vorgaukelte, der Drache
allein hätte die Kontrolle über das Dämonenproblem.
Am Strand von Harkýior sah Srrig Cerýllion jetzt wieder,
wo schon einmal ein Bild durch seinen Kopf geschossen war;
er sah den weißhaarigen Elfen mit den roten Augen, in
schwarz-rote Seide gewandet, mit kaltem Blick. Srrig sah ihn
die Arme ausbreiten und uralte, machtvolle Worte murmeln.
Doch dies war die Zukunft, nicht die Vergangenheit, und
sie veränderte sich ständig; die Bilder wirbelten undeutlich
durcheinander.
Etwas oder jemand hatte Srrig bis nach Harkýior gezogen;
stand hier der offene Kampf gegen Cerýllion bevor? Oder sollte
Srrig hier einen weiteren Gefährten befreien? War es gar eine
höhere Absicht, dass er hier auf den Menschen Taren getroffen
war, der – für einen Sterblichen – ein guter Kamerad und
Kämpfer und ein fähiger Heiler war?
Was auch immer der höhere Plan der Götter war, Srrig
war nun bereit dafür.
Er öffnete die Augen und lächelte grimmig.
370 Mèra hob das Kinn und saß nun kerzengerade vor
Jades Kopf. Ihre verbrannten Hände berührten die
Schläfen der Toten. Die magische Decke lag glatt über
Jade ausgebreitet, sodass ihr Umriss sich abzeichnete. Eine
leise Melodie schwebte plötzlich in der Höhle, ohne dass
Mèra die Lippen bewegte. Die liebliche alte Weise ließ
Athónon frösteln und ergriff sein Herz. Sie war so stark,
dass aus seinem gesunden Auge plötzlich eine Träne lief.
Der Gnom erschauerte.
Taffi kroch aus dem Rucksack, legte sich obendrauf
und lauschte andächtig.
Auf einmal würgte Mèra gequält und krümmte sich. Sie
riss Augen und Mund weit auf und stürzte auf die Seite, in
Athónons zugreifende Arme. Bäumte sich immer wieder
auf wie bei einem Krampfanfall. Athónon konnte sie kaum
festhalten. Ihr entsetzter Blick erkannte den Gnom nicht,
sie stierte verzweifelt ins Leere und schien keine Luft zu
bekommen.

Hilflos ließ Laura den Bogen sinken. Ihre Lider fielen


herab und sie schmiegte ihr Gesicht an Wenndurs zärtliche
Hand. Plötzlich ließ sie den Bogen aus der Hand fallen,
packte Wenndur am Kragen und drückte ihn gegen den
aufragenden Hügel. „Ich halt’s nicht mehr aus!“, stöhnte
sie mit gespielter Lüsternheit und rieb sich mit ihrer Hüfte
fest an seiner. „Wenn Du Dich noch einmal so an mich
heranpirschst, während ich Wache habe, schneide Ich Dir
die Quelle Deiner dummen Gedanken ab!“, schnurrte sie
lasziv. Wenndurs Hände, die eben noch über ihre Hüfte
gestrichen waren, hielten inne. Schlagartig ließ Laura den
verdutzten Barden stehen. Sie nahm den Bogen wieder zur 371
Hand, drehte Wenndur demonstrativ den Rücken zu und
ließ den Blick durch den Birkenwald schweifen.
„Hörst Du das? Der Gesang!“, frohlockte Wenndur,
als sei gerade nichts geschehen. Er kniete sich vor den
Eingang.
Laura packte ihn jedoch am Wams und hielt ihn zurück.
Leise flüsterte sie: „Ja, aber ich höre nicht nur etwas, ich
sehe außerdem auch was. Bleib hier. Nimm meinen Bogen,
ich nehme mein Schwert.“
Wenndur wurde bleich und sah erst zu Laura hoch,
dann in die Richtung, in die sie gebannt starrte.
Drei gerüstete und behelmte Reiter mit erhobenen
Klingen galoppierten über einen Hügel auf sie zu. Noch
waren sie weit weg, doch der lichte Birkenwald würde ihre
Geschwindigkeit kaum bremsen können.
„Wir müssen rein! Den Eingang können wir problemlos
verteidigen!“, schrie Wenndur und wollte Laura zu Boden
ziehen, doch sie riss sich frei.
„Sie haben Fackeln am Sattel. Wenn wir jetzt
reinkriechen, werden sie die einfach anzünden, sie in den
Eingang legen und uns ersticken“, knurrte Laura und
funkelte die Angreifer böse an. „Das war ja ein toller Plan“,
hauchte sie vorwurfsvoll.
Wenndur antwortete bitter: „Los, gib den Bogen her,
einen erwische ich vorher noch.“
Wortlos drückte Laura ihm den Bogen in die Hand,
warf ihm den Köcher vor die Füße und zog das eiserne
Kurzschwert.
Hatte sie darauf nicht gewartet, mit dem Schwert in der
372 Hand in vorderster Front zu kämpfen? Aber wieso zitterte
sie dann so und spürte ihre weichen Knie nicht mehr ...?
Wenndur legte einen Pfeil auf, zielte kurz und schoss.
Der Pfeil flog etwas zu tief und traf anstelle des Reiters
dessen Fuchs in den Kopf. Ross und Reiter stürzten, doch
die anderen beiden Angreifer galoppierten nun in einer
leichten Kurve auf die beiden Halbelfen zu – um sie im
Vorbeireiten zu erschlagen, anstatt vor der Höhle anhalten
zu müssen.
„Ich muss meine Angst bezwingen, oder wir sind alle
tot!“, flüsterte Laura zu sich selbst. Ihre geweiteten Augen
wurden schmaler, während sie ihr schmerzhaft rasendes
Herz vergaß und plötzlich ganz klar vor sich sah, was
sie zu tun hatte. Bei den Übungen der Wache hatte sie
sich das mehrmals vorstellen müssen, und jedesmal hatte
sie die Lösung der Aufgabe widerwärtig und unelfisch
empfunden und dagegen protestiert. Doch jetzt verstand
sie es plötzlich. Es ging nicht anders und sie dachte auch
an nichts anderes mehr, ihre Gedanken bündelten sich auf
genau eine Handlung, auf das Wesentliche, frei von allen
naiven Affekten.
„Tut mir leid“, wisperte Laura und blickte dem Hengst,
der auf sie zustürmte, direkt in die Augen. Als sie das
feindliche Schwert auf sich zurasen sah, sprang sie in die
Hocke unter der Waffe hinweg und hackte dem Tier das
hintere Fesselgelenk durch.
Der Fuchs des zweiten Reiters bäumte sich auf und
musste zur Seite ausweichen. Der Reiter des Hengstes flog
über den Kopf seines kläglich wiehernden Tieres hinweg,
genau vor Wenndurs Füße.
Laura sprang über das zappelnde Tier am Boden hinweg 373
auf den tänzelnden Fuchs zu. Dessen Reiter zögerte nicht
lang, sondern sprang mit den Füßen auf den Sattel und
von dort im hohen Bogen Laura entgegen.
Die Halbelfin hielt ihm überrascht das Schwert
entgegen, doch der fahlhäutige Reiter schlug es mit seiner
eigenen Waffe zur Seite und begrub Laura förmlich unter
sich. Er trug eine bronzene Rüstung, außerdem war er ein
Bär von Mensch; Laura rang verzweifelt nach Luft, konnte
jedoch nur röcheln und den viel zu schweren, dämonisch
grinsenden Feind furchtsam anstarren. Ihr Kampfeswille
brach so schnell, wie er entstanden war. Plötzlich zappelte
sie nur noch in Panik und wimmerte.
Der Feind über ihr grinste hässlich mit fauligen Zähnen
und drückte Laura eisern zu Boden. Sie drehte den Kopf
angewidert zur Seite und sah, wie der dritte Reiter, dessen
Fuchs Wenndur getroffen hatte, sich inzwischen befreit
hatte und ebenfalls auf sie zuhinkte. Als sie verzweifelt
versuchte, sich trotz des immensen Gewichts ihres Gegners
aufzubäumen, schlug er ihr die behelmte Stirn auf die
Nase. „Nicht schon wieder die Nase“, dachte Laura – und
hielt sich mit aller Kraft an diesen Worten fest, um nicht
das Bewusstsein zu verlieren.

Wenndur ließ den Bogen fallen und zog seinen


Kupferdolch vom Rücken. Doch der leichenblasse Gegner
vor ihm war zwei Schultern breiter und einen Kopf
größer als der Halbelf, außerdem trug der Dämonische
diverse Rüstungsteile. Er hielt locker ein Eisenschwert
in der Hand, das so lang und dick war, dass Wenndur es
374 vermutlich nicht mal zweihändig richtig hätte schwingen
können. Überhaupt war Kupfer gegen Eisen eine schlechte
Ausgangsbasis für Wenndur.
Der Feind biss sich absichtlich auf die Lippe und
spuckte Wenndur herausfordernd das Blut entgegen.
Einen Veteranen hätte das kaum beeindruckt, doch der
unerfahrene Barde wurde noch bleicher. Er wich einen
weiteren Schritt zurück. Dabei drehte er allerdings den
Dolch in der Hand, sodass er ihn nun an der Spitze hielt.
Der Gegner zögerte kurz, doch das reichte Wenndur:
Er holte aus, warf und traf den Feind in die Kehle. Der
Krieger bäumte sich krächzend auf und stürzte tot um.
„Na, da haben sich die Tavernenspiele ja doch gelohnt!“,
knurrte Wenndur nervös, riss den Dolch aus der Wunde
und spurtete ohne Zögern auf Lauras Gegner zu. Er wäre
sofort vor Angst geflohen, hätte er sich nicht Hals über
Kopf in Laura verliebt; schließlich war er kein geübter
Krieger. So jedoch trieb die noch größere Angst um Lauras
Leben ihn in den Kampf.
Der dämonische Krieger hielt Laura für bewusstlos.
Als er den Halbelfen aus dem Augenwinkel anrennen sah,
sprang er auf und schwang das Schwert mit einem kehligen
Schrei, um Wenndur aufzuschlitzen. Der Barde sprang im
letzten Moment zurück, doch der Lufthauch der schweren
Klinge ließ ihn die Augen weit aufreißen. Wenndurs Herz
hatte für einen Schlag ausgesetzt und donnerte nun um so
heftiger gegen seine Rippen.
Laura, noch halb besinnungslos, trat dem Feind von
der Seite her ins Knie, was ihn wenigstens kurz wanken
ließ, auch wenn sie nicht richtig getroffen hatte. Wenndur
wollte seine Chance nutzen; mit dem Mut der Verzweiflung 375
und dem Dolch voran rannte er in den Gegner, auf dessen
Kehle zielend. Doch der Krieger drehte sich elegant aus
der Bahn und schwang gleichzeitig das Schwert mit voller
Kraft gegen Wenndur.
Der Halbelf brach in die Knie und krümmte sich.
Sein Brustkorb war aufgerissen. Fassungslos starrte er
Laura an, die schluchzend zurückstarrte. Wenndur kippte
vornüber, seine toten Augen glitten an ihr vorbei. Soviel
zum Schicksal, von dem der Barde so gern geredet hatte.
Laura hatte die Beine unter Wenndur gerade noch
weggezogen und sprang nun mit feuchten Augen auf die
Füße. „Dafür werdet ihr zahlen!“, schrie sie die beiden
gerüsteten Krieger an, die grinsend und mit erhobenen
Schwertern näher kamen. Lauras Sicht war verschwommen
vor Tränen und ihr Blut floss in Strömen aus ihrer Nase,
doch sie erlaubte sich nicht, sich über das Gesicht zu
wischen oder ihrem brodelnden Hass nachzugeben. Sie
spürte, dass die beiden Feinde überaus erfahren waren und
auf jeden noch so kleinen Fehler nur warteten, selbst wenn
einer von seinem Sturz hinkte.
Schon wieder war jemand gestorben, den sie geliebt
hatte. Innerlich raste sie vor Wut und Angst, doch die
tödliche Gefahr ließ sie bloß reagieren und nicht denken.
Wieder fühlte sie sich, als beobachtete sie nur ihren Körper
von außen, der kampfbereit die beiden Gegner taxierte.
376 Athónon ließ Mèra los, die sich am Boden weiter quälte.
Der Gnom zog das Schwert und drehte sich langsam um.
Jade hatte sich erhoben und die Decke achtlos
weggeworfen. Sie grinste den Gnom nun feindselig
an. Durch die zerschnittene Wange sah das besonders
abstoßend aus.
„Na los! Töte mich! Sonst töte ich Dich!“, grunzte Jade
mit verzerrter Stimme.
Das Schwert in Athónons Faust zitterte leicht. Hinter
seinem Rucksack, hinter Jade, lugte Taffi mit großen
Augen hervor.
Jade schritt zu ihrem Gepäck, wo ihr Schwert in der
Scheide ruhte.
Als sie danach griff, sprang Athónon vor und boxte ihr
mit dem Knauf seiner Waffe unter die Nase.
Jade lachte nur dreckig und begann langsam ihr Schwert
zu ziehen, während ein einzelner Blutfaden aus ihrer Nase
lief und von ihrer Oberlippe tropfte.
Athónon wusste aus Erfahrung, dass jegliches Zögern
gegenüber Dämonen ein tödlicher Fehler sein würde.
Er durchbohrte Jade mit seiner eigenen Klinge.
Schon zum zweiten Mal musste er einen besessenen
Freund töten; doch jetzt war keine Zeit, alten Erinnerungen
nachzuhängen.
Die Nachtelfin brach würgend und gurgelnd über
Athónon zusammen, ihr Blut lief über sein weißes Haar in
sein Gesicht. Sie stürzte gekrümmt neben ihn.
„Athónon?“, würgte Jade hervor und starrte den Gnom
plötzlich fragend und verzweifelt an, während sie die
Klinge in ihrem Bauch umklammerte. „Wieso ... hast Du
das ...“, keuchte sie unter Tränen. 377
Athónon ließ den Schwertgriff los. Er ballte die Fäuste
und schloss das gesunde Auge, er stand einfach nur da und
hörte die Nachtelfin qualvoll röcheln.
„Hilf mir!“, stöhnte sie und kniff die Augen zusammen.
Athónon konnte hören, dass sie keine Luft bekam und
verzweifelt um jeden Atemzug kämpfte.
Ihr warmes Blut lief Athónons Wangen hinab und
benetzte seine reglosen Lippen. Plötzlich gab er sich einen
Ruck, packte die Decke und legte sie Jade wieder über die
Schultern.
Die Nachtelfin wurde allmählich ruhiger, während
Athónon sich zu ihr kniete. Ihre zitternden Finger hielten
sich am Schwertgriff fest, unter der Decke. „Sag
Laura ... dass ich sie liebe“, hauchte sie und starrte an
Athónon vorbei. Der Gnom hörte, wie ihre Hände mit
einem leisen Platschen auf den Boden fielen, nicht länger
die Waffe umklammernd.
Er nahm ihren Kopf in den Arm und strich ihr mit
der anderen Hand über das Gesicht. „Die Decke wird
Dich heilen“, raunte er mit bebenden Lippen. Mit den
Fingern tupfte er die Blutfäden weg, die ihre Mundwinkel
hinabgelaufen waren. Sie sah ihn mit ihren großen
Jadeaugen furchtsam an. Ihre Lippen bewegten sich, aber
sie brachte kein Wort heraus. Athónon schloss abermals
das gesunde Augenlid und fühlte, wie der Körper in seinen
Armen erschlaffte und nicht länger zitterte.
Als Athónon das Augenlid wieder hob, lag Jade ein
zweites Mal mit ungläubigen, toten Augen vor ihm, doch
diesmal mit seiner eigenen Klinge im Leib. Die Decke war
378 zum ersten Mal, seit sie in Athónons Besitz war, nicht stark
genug gewesen. Sein Kopf ruckte hin und her, doch er war
zu betäubt, um etwas zu denken.
Mèra lag auf dem Rücken und starrte still zur
Höhlendecke. Athónon war sich nicht sicher, ob sie lebte,
da flüsterte sie plötzlich: „Geh und hilf Laura.“
Athónon riss das Schwert aus Jades Körper und robbte
blitzschnell nach draußen.

Der Krieger rechts von Laura hob drohend das Schwert


und sprang grimmig vorwärts. Laura wich zurück und
riss ihre eigene Klinge automatisch zur Parade hoch.
Der Angreifer hielt jedoch inne, gleichzeitig explodierte
in Lauras Bein ein dumpfer Schmerz, der sie auf das
Knie fallen ließ. Der andere Gegner hatte sich aus einem
unsichtbaren Winkel genähert und ihr von der Seite den
Oberschenkel aufgeschnitten. Solche Übungen hatte
Laura nie im Dorf gehabt. Sie wollte aufspringen, doch
sie taumelte nur und fiel wieder auf das Knie; sie spürte
keinen wirklichen Schmerz, doch die Muskeln gehorchten
einfach nicht. Laura starrte gehetzt und panisch die Feinde
an. Aus ihrem Bein schoss das Blut wie eine Fontäne in die
Luft.
Der erste Gegner schlug ihr mit der Breitseite aufs
Handgelenk. Laura schrie verzweifelt, konnte jedoch die
Waffe nicht festhalten. Gleichzeitig wurde ihr seltsam
schwindelig. Ihr Atem beschleunigte immer mehr, ihr
Herz raste wild, dennoch schien es ihr, als bekäme sie
kaum Luft. Die linke Hand presste sie auf den tiefen
Schnitt in ihrem Bein, während sie ihre Waffenhand nicht
mehr spürte. Ihre Kehle zog sich zu, als sie das warme 379
Blut in dicken Strömen durch ihre Finger pulsieren fühlte.
Der zweite Krieger setzte seinen Fuß auf ihre Schulter
und stieß sie leise lachend zu Boden. Als die beiden
gerade triumphierend vor Laura standen und sie gierig
anstarrten, verdrehte sie bereits vor Schwäche die Augen
und spürte, wie Ohnmacht sie umfing. Wo war jetzt
ihre unelfische Zähigkeit? Unter ihrem Bein bildete sich
rasch eine erkaltende Blutlache. Unscharf betrachtete sie
mit einem seltsamen Staunen die Gräser und Blätter des
Waldbodens, an denen ihr Blut abperlte. In dem Moment
sprang Athónon aus dem Eingang und rannte stumm auf
die Gegner zu.
Einer der beiden starrte wie hypnotisiert auf das
Kurzschwert des Gnomes und ließ seine Waffe sinken.
„He, was ...“, fluchte der Zweite und schüttelte sich, doch
bei ihm wirkte der Zauber der magischen Waffe nicht.
Ohne Gefühlsregungen schlug der verbliebene Krieger
mit dem Schwert nach Athónon und trat gleichzeitig nach
ihm, doch Athónon duckte sich tief unter der schweren
Waffe hinweg und hackte dem Gegner gleichzeitig mit
beiden Händen das Kurzschwert ins Bein, ohne sich
vom Fuß treffen zu lassen. Noch bevor der schreiende
Krieger etwas anderes tun konnte, war Athónon an ihm
vorbeigelaufen und hatte ihm auch noch ins andere Bein
gehackt. Der Krieger brach mit wütendem Geschrei
zusammen, verstummte aber abrupt, als Athónon ihm die
Klinge ins Rückgrat rammte.
Dann näherte der Gnom sich dem hypnotisiert
dastehenden Krieger. Sorgsam hielt er die Klingenspitze
380 empor und setzte sie ihm genau zwischen die Rippen aufs
Herz. Mit der zweiten Hand schlug Athónon auf den
Knauf und durchbohrte den Brustkorb des Mannes.
„Was zum ...“, stöhnte der Krieger noch, als sein
Bewusstsein kurz zurückkehrte, nur um ihn dann für
immer zu verlassen.
Athónon steckte die Klinge weg und bedankte sich in
Gedanken bei ihr; das tat er viel zu selten. Er wusste, dass
magische Gegenstände eine Seele besaßen und manchmal
gelobt und gestreichelt werden wollten. Dasselbe galt auch
für die Decke. Nach über zwanzig Jahren war Athónon
mit seinen beiden Artefakten so vertraut, dass sie durchaus
auch ohne Worte wussten, wie sehr er sie wertschätzte.
Doch Athónon hatte gespürt, dass seine Klinge nun eine
kleine Aufmerksamkeit verlangt hatte. Die Artefakte
redeten natürlich nicht, doch sie vermittelten ihren
Besitzern manchmal unterschwellige Gefühle, wenn sie
sich bemerkbar machen wollten.
Nachdem hinter ihm der Krieger zu Boden gestürzt
war, hatte der Gnom sich zu Laura gekniet und ihr stark
blutendes Bein verbunden. Sie hatte inzwischen das
Bewusstsein verloren, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn
und ihr Atem war dünn und flach. Wenigstens musste
Athónon ihr jetzt noch nicht erklären, dass das Blut ihrer
Mutter in seinem Gesicht zu trocknen begann.
„Die magische Decke hatte Jade nicht retten können“,
dachte Athónon noch einmal irritiert. Nur langsam wurde
ihm klar, was geschehen war, was er getan und wen er
und Laura verloren hatten. Im Moment des Todes der
Nachtelfin war er zu betäubt gewesen, um die subtilen
Gefühle der magischen Decke zu verstehen, doch er würde 381
wohl dringend ein Gespräch nachholen müssen. Er konnte
sich nicht vorstellen, dass die Decke aus Vernachlässigung
ihre Wirkung nicht hatte entfalten ... wollen. Dennoch
bekam Athónon für einen Moment ein schlechtes
Gewissen, weil er schon seit ein paar Jahren nicht mehr
wirklich auf das Artefakt geachtet hatte; zu sehr erinnerte
es ihn an die Abenteuer, die er nicht gewollt hatte. Eher
befürchtete Athónon allerdings, die magische Seele würde
sich nun Selbstvorwürfe machen, die es zu zerstreuen galt.
Jades Tod war schmerzvoll für Athónon, doch er würde
seine Wut nicht an diesem treuen Artefakt auslassen.

Mèra kam mit Athónons, Lauras und ihrem eigenen


Rucksack mühselig aus der Höhle gekrochen. Von
Wenndurs Gepäck hatte sie sich lediglich die Laute über
den Rücken gehängt. Taffi saß auf ihrer Schulter, auf der
magischen Decke, die sie sich ebenfalls umgelegt hatte.
Mèra konnte kaum stehen und hielt sich verkrampft den
Bauch. Ihre Lider flatterten ein wenig, während sie sprach:
„Wir müssen sofort weg. Ich teleportiere uns. Danach
wirst Du mich wohl tragen müssen, falls wir nicht direkt
vor Srrigs Füßen landen. Aber wir haben keine Wahl. Die
nächste Welle ist schon unterwegs. Sie haben nur darauf
gewartet, dass ich eine weitere Verbindung zur Geisterwelt
herstelle. Die halten sie jetzt selbst aufrecht und benutzen
sie, um Hevas Leib zu betreten. Das alles war wohl geplant,
seit sie wussten, wie schwach ich bin.“
Athónon schwieg mit steinerner Miene.
Eiskalt zischte Mèra: „Jetzt weißt Du, wofür die Regeln
382 da sind, die ich gebrochen habe. Von den Göttern und
Dahnrud haben wir keine Hilfe mehr zu erwarten ... nach
diesem Verrat.“
11 383

Athónon legte Laura seine magische Decke über, als


er ihren Atem kaum noch hören konnte und alle Farbe
aus ihrem Gesicht verschwunden war. Mèra nickte dazu
nur müde. Er strich mit den Fingern über einen Zipfel
der Decke und versuchte zu spüren, was die Seele des
Artefaktes empfand. Wie er es vermutet hatte, fühlte die
Decke sich schuldig und schämte sich, denn sie spürte
umgekehrt Athónons und Lauras schmerzvollen Verlust.
Der Gnom versuchte, sich versöhnlich zu stimmen, um
die Decke seine Meinung wissen zu lassen.
Schließlich setzten Mèra und er sich in den Schneidersitz
und ergriffen jeweils eine Hand der bewusstlosen
Halbelfin. Das Gepäck lag in ihrer Mitte, von ihrem Kreis
umschlossen. Taffi saß darauf und schnupperte; er hielt
nach Zeeris Ausschau.
Äußerlich schien Mèra nur die Augen zu schließen,
doch Athónon spürte sofort, wie mächtige Magie zu
fließen begann. Die magische Kraft, einer Windströmung
ähnlich, wurde aus der Umgebung in einen Strudel
gezwungen, der ihre Körper durchdrang. Mèra begann zu
zittern. Die Natur in solch einem Ausmaß zu manipulieren
und zu verbiegen, war eine Tortur für den Körper und
konnte schwache Kreaturen töten. Mèras Händedruck
wurde immer fester, sie schwitzte. Längst fühlte Athónon
sich wie seekrank, so wurde er von magischen Strömen
gebeutelt und durchtost. Dabei befand er sich nur am
Rande des Zyklons; der wirkliche Sturm tobte in Mèras
384 Körper. Ihre Nase begann zu bluten, sie musste mehr und
mehr um jeden Atemzug ringen und legte den aschfahlen
Kopf in den Nacken.
Athónon erinnerte sich plötzlich an gewisse
Worte seines verstorbenen Gefährten Xelos: „Was?
Gruppenteleportation? Bin ich verrückt? Das würde mich
in Stücke reißen! Oder Euch! Und was auf dem Weg durch
die Geisterwelt alles lauern könnte! Und erst das Wissen
um lebende Körper, das nötig ist, damit am Ziel dasselbe
ankommt, was die Reise antrat!“
Xelos hatte am Höhepunkt seines Könnens als einer
der mächtigsten Zauberer von Silberberg gegolten.
Einmal hatte er eine ganze Horde von Kriegern mit einem
Feuerball zerfetzt.
Plötzlich wurde es dunkel um Athónon und er fühlte
sich in seiner Brust, als wäre er von einer Klinge durchbohrt
worden. Doch noch bevor er Angst bekommen konnte,
schien auf einmal alles wieder völlig normal zu sein. Mèras
knochige Hand entglitt der seinen jedoch, als die alte Elfin
auf den Rücken fiel und leise, aber anhaltend wimmerte.

Sehen konnte Athónon nichts, es war stockdunkel um


ihn herum. „Taffi? Keine Zeit zum Zaubern, weißt Du, wo
die Fackeln –“, flüsterte der Gnom.
„Schon gut“, raunte das Chamäleon zurück. Plötzlich
entzündete sich eine sprühende Farbkugel über ihren
Köpfen, die wie ein Regenbogen schillerte. Die Lichtkugel
beleuchtete einen unförmigen, grauen Höhlengang mit
vereinzelten Stalagmiten und Stalaktiten, die sich über
viele Jahrhunderte allmählich entgegengewachsen waren.
Beeindruckt starrte Athónon in die leuchtende 385
Regenbogen-Kugel. Als sein Blick langsam zu Taffi
wanderte, grinste das Chamäleon verschmitzt und meinte:
„Du hast vorher nie gefragt! Nach allem hast Du verlangt,
nach Feuerbällen, magischen Fallen, Löchern in Wänden,
aber nie nach einer simplen Lichtkugel. Komisch, was?“
Athónons Mundwinkel zuckte beinahe nach oben, doch
ihm war jetzt nicht nach lachen zumute. Laura lag unter
der Decke; sie atmete flach, aber regelmäßig, also kroch
der Gnom zu Mèra.
Sie hatte das Bewusstsein verloren, wimmerte nicht
mehr und war leichenblass. Sie atmete nur noch sehr
schwach und Athónon fand beinahe ihren Puls am Hals
nicht. Der Gnom blickte zwischen ihr und Laura hin und
her und schluckte.
Langsam zog er Laura die Decke vom Körper, während
er sie undeutbar musterte. Ihre Kastanienfiguren fielen
ihm wieder ein und brachten seine Hände zum Schwitzen,
doch er hörte nicht auf, die Decke von ihr zu nehmen.
Behutsam legte er die Decke dann um Mèras Schultern.
Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne hinter das schlanke
Ohr.
„Sie bedeutet Dir ziemlich viel, oder?“, fragte Taffi.
Athónon blickte sich kurz zu Taffi um, dann rappelte
er sich auf und schaute in die Runde. „Ein Höhlengang“,
wisperte er überflüssigerweise. Er sah nicht wieder zu
Laura, die reglos dalag.
„Du solltest Dir mal das Gesicht waschen, bevor Laura
Dich fragt, wessen Blut Du da getrunken hast“, riet ihm
Taffi, mit einem Ton in der Stimme, den Athónon nicht
386 zu deuten verstand. Die Gnomenfinger ballten sich zu
Fäusten und Athónon musste abermals schwer schlucken.
Taffi konnte knallhart sein.
Taffi sprang neben Laura und rieb seinen Kopf an
ihrem verwundeten Bein. „Ich kümmere mich um den
Schnitt, mach Dir keine Sorgen“, murmelte er. Athónon
atmete unmerklich auf. Eine Wunde wie Lauras zu heilen,
hätte ihn vermutlich sehr geschwächt, und noch wusste er
nicht, ob nicht gleich um die nächste Biegung ein Feind
nur darauf wartete, leichte Beute zu machen.
„Wir haben übrigens Zeeris verloren, wie es aussieht“,
redete Taffi etwas schleppend weiter. „Ich hatte ihn selbst
mit einem Zauber für das Aufspüren von Magie und
Lebewesen nicht in unserer Nähe entdecken können“,
fügte das Chamäleon hinzu.
Athónon klappte der Kiefer ein wenig herunter. „Das
kannst Du auch? So schnell?“, staunte er anerkennend.
Taffi antwortete nicht sofort. Als er weiterredete, kam
die trockene Antwort nur sehr schleppend: „Ich habe
mehrere Jahrzehnte bei Meister Tugibenn gelebt. Was hast
Du erwartet? Dich hat er nur drei Monate ausgebildet, und
auch nur in Heilmagie.“ Taffi rieb noch immer den Kopf
an Lauras Bein. „Jetzt muss ich mich aber doch auf das
Zaubern konzentrieren“, raunte er und schloss die Augen.
„Ist schwieriger als gedacht.“
„Natürlich“, flüsterte Athónon und sah dem Chamäleon
noch einen Moment bei seiner eigenwilligen Form des
Zauberns zu, die es nur anwendete, wenn ein sehr schwerer
Zauber zu bewerkstelligen war, der eine Unterstützung
durch Gesten erforderte. Athónons Einschätzung war
also richtig gewesen, die Heilung hätte ihn selbst so sehr 387
angestrengt, dass er sich vermutlich gleich neben die
Halbelfin hätte legen können, und dann hätte niemand
mehr – außer Taffi – auf Feinde reagieren können.
Athónons Mundwinkel zuckte kurz nach oben. „Taffi ist
also über Jahrzehnte von einem Meisterzauberer ausgebildet
worden“, dachte er mit einem leichten Kopfschütteln.
Athónon sah den greisen Gnomenmagier Tugibenn vor
sich, auf seinen Stock gestützt, immer breit grinsend. Gerade
wenn man dachte, Tugibenn habe das Gemüt eines Kindes,
sagte er etwas sehr Weises, das genau den Punkt traf. Immer
wenn Athónons Welt zu bersten drohte, kochte Tugibenn
einfach einen Tee, und mit seiner scheinbar sorglosen Art
munterte er Athónon wieder auf. Am Grund von Athónons
Rucksack lag noch heute eine orange gefärbte Tunika, auf
die ein bunter Fisch gestickt war. Manchmal gab der Fisch
magische Blasen von sich und blubberte leise. Tugibenn hatte
eine ganze Kollektion dieser Tuniken hergestellt. Taffi schlief
gern darauf.
In Athónons Rucksack befand sich auch Tugibenns
Teekanne, die, obwohl irden, so gut wie unzerbrechlich
war und Tee beliebig lange warm halten konnte. Athónon
benutzte sie selten auf Reisen, um keinen Neid von Dieben
und Zauberern zu provozieren; letztere hätten gern anhand
der Kanne die Zeitenmagie erlernt. Natürlich hatte Athónon
auch verschiedenste Lederbeutel mit Tee eingesteckt, weitere
Erbstücke des lange toten Meisters.
Tugibenn war geopfert worden von den seherischen
Vier Königen. So wie Jade geopfert worden war. Athónon
kamen die alten, verdrängten Bilder wieder ins Gedächtnis;
388 Tugibenn hatte eine gigantische Trugbildmagie inszeniert,
die sein uraltes Herz überanstrengt hatte. Doch nur so
hatte der alte und neue König der Menschen, Randolph,
seine göttliche Legitimation erhalten, um sein Volk erneut
unter einem Banner gegen die Dämonen und Chimärier
zu vereinen – vor der Zeitreise, die alles geändert hatte. Bis
dahin waren die Vier Könige eine Zeit lang unerkannt auf
Hevas Leib umhergereist. Kaum jemand hatte noch von ihnen
gewusst. Die Götter selbst hatten sich offenbar nicht dazu
herabgelassen, einen Herold zu schicken, der ihre Absichten
verkündete oder wenigstens die Pläne der Vier Könige offiziell
billigte – den Grund hatte Athónon nie erfahren.
Mangels eines echten Götterzeichens hatte Tugibenn durch
seine meisterhafte Trugbildmagie einen göttlichen Herold
inszeniert. Alles hatte schnell gehen müssen. Kein anderer
eingeweihter Zauberer war greifbar gewesen, um einen so
komplizierten Zauber zu wirken; der Meisterzauberer T’ral,
ein anderer der Vier Könige, war jenseits von Hevas Leib in
einen Kampf gegen Dämonen verwickelt gewesen und hatte
nicht zur Verfügung gestanden.

Nach einer kurzen Weile hörte Taffi auf, seinen Kopf


an Lauras Bein zu reiben. „Meine Haut ist ganz wund!“,
piepste er und schielte nach oben, als könnte er seinen
eigenen Kopf sehen. Im nächsten Augenblick musste er
selbst grinsen.
„Athónon?“, stöhnte Laura, als sie zu sich kam. „Was
ist mit meiner Mutter? Konnte Mèra sie retten?“ Sie
versuchte, sich aufzurichten, war jedoch zu geschwächt
und gab schnell wieder auf.
Athónon schluckte und kniete sich zu der Halbelfin. 389
Sie sah ihn nur kurz und intensiv an, während er noch
schwieg. Da schluchzte sie laut und schloss die Augen
wieder.
Der Gnom legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter
und raunte heiser eine Floskel: „Es tut mir so leid.“ So
ehrlich sein Mitleid auch war, er war außerstande, es zu
zeigen.
Mit seinem Ärmel wischte er sich dann das Gesicht
halbwegs sauber, doch auch in seinem weißen Haar klebte
das Blut. Er überlegte, ob er Laura den Abschiedsgruß
ihrer sterbenden Mutter überbringen sollte. Täte er das,
müsste er auch schildern, wie er den besessenen Körper
mit dem Schwert durchbohren musste und wie die Decke
versagt hatte, und Athónon war nicht sicher, wie Laura
das aufnehmen würde. Andererseits spürte er, dass Laura
weniger leiden würde, wenn sie den letzten Zweifel darüber
verlieren würde, dass sie mitnichten ein ungeliebtes Kind,
eine traumatische Bürde oder ein Fehler für ihre Mutter
gewesen war.
Als hätte sie Athónons Gedanken gelesen, zupfte Laura
den Gnom am Ärmel und musterte ihn ernst. „Sag mir
die Wahrheit“, hauchte sie. Für einen Moment wirkte sie
zerbrechlich wie eine dünnwandige Keramikfigur.
Athónon wurde rot.
„Was hat sie wirklich von mir gehalten?“, fragte Laura.
„Du musst es doch wissen. Du kanntest sie länger als
ich alt bin. Und ich will jetzt keine Floskeln hören, die
habe ich neunzehn Jahre lang gehört. Ich weiß, woher ich
komme, ich weiß, wie sehr meine Mutter gelitten hat.“
390 Ihre Stimme begann zu beben und ihre Kehle zog sich
immer enger zusammen. „Ich weiß, was die anderen Elfen
im Dorf getuschelt haben. Sag mir die Wahrheit, wie hat
meine Mutter über mich gedacht?“
Athónon schaute überraschend warmherzig zurück und
antwortete: „Sie hat Dich geliebt und geschätzt, glaub mir.
Ich weiß es. Sie hat mir vor langer Zeit mit leuchtenden
Augen von Deinen ersten Schritten erzählt und wie viel
Angst sie bei Deinem ersten sportlichen Ringkampf
hatte. Sie hat mich ja jedes Jahr besucht. So etwas erzählt
man nicht, wenn man sein Kind nicht liebt. Glaube ich
jedenfalls. Ich habe selbst ja keine Kinder.“ Bei den letzten
Worten wurde Athónon immer leiser und kraftloser.
Laura schwieg bedrückt und schloss die Augen, doch
dann wollte sie wissen, was bei Mèras Zauber schiefgelaufen
war.
„Die Dämonen haben scheinbar nur darauf gewartet,
dass Mèra so einen Zauber versucht. Sie platzten
dazwischen; wir sind mit Mèras Teleportationszauber
entkommen, aber jetzt ist sie bewusstlos vor Schwäche“,
berichtete Athónon. Er verstand es meisterlich, vom
Einfall der Dämonen auf Hevas Leib zu berichten, als sei
dies bloß eine Lappalie, um die er sich morgen zwischen
Frühstück und Mittagessen schon kümmern würde.
Laura schluckte, ihre Augen weiteten sich. Athónons
Stimme hatte sie nicht vollkommen getrogen. „Echte
Dämonen?“, wisperte sie furchtsam.
Athónon nickte.
„Was ist mit Deinem Auge?“, flüsterte Laura
ahnungsvoll.
Der Gnom tastete reflexartig danach. „Ich weiß es noch 391
nicht. Im Moment braucht Mèra die Decke dringender als
ich. Sie atmet kaum. Sie hat auch keine äußeren Wunden,
die man heilen könnte, es war der Zauber“, murmelte er.
„Du opferst Dein Auge für sie“, sagte Laura halblaut. Es
klang wie ein Vorwurf.
Athónon sah Laura intensiv ins Gesicht. „Ja, vielleicht“,
antwortete er nach einigen Lidschlägen. „Auf jeden Fall
reichen meine Heilkenntnisse nicht aus, um ein zerstörtes
Auge zu behandeln; das ist etwas ganz anderes als eine
Fleischwunde oder ein gebrochener Knochen.“
„Hat man ihr nicht langsam genug Opfer gebracht,
dieser falschen Göttin?“, zischte Laura plötzlich kalt.
Unter Schmerzen richtete sie sich doch noch auf. Ihre
Hand wanderte zum Schwert neben ihr, doch Athónon
griff in ihre Finger und hielt sie fest.
Er erzählte leise: „Glaub mir, sie hätte keine Angst
zu sterben, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Ganz
im Gegenteil, sie sehnt den Moment ihrer Erlösung von
diesem Schicksal herbei. Sie hätte aber sicherlich Angst
davor, dass in Momenten der Schwäche, wie diesem, ein
verbittertes Mädchen sie sinnlos tötet. Denn damit wären
all die Wesen, die schon wegen ihr in den Tod gegangen
sind, umsonst gestorben – auch Deine Mutter.“
Laura stürzte dem Gnom weinend in die Arme.

„Ich werde mal meine bescheidenen Heilkünste an


Deinem Bein weiter ausprobieren“, sagte Athónon nach
einer Weile. „Taffi hat die Vorarbeit geleistet, aber ich
glaube, gehen kannst Du damit immer noch nicht.“
392 Laura nickte stumm. Sie blickte etwas erstaunt, aber
auch dankbar auf Taffi, der wieder einmal auf Athónons
Rucksack lag und zurückgrinste.
Athónon nahm Laura den Verband ab und legte die
Hand auf den tiefen Schnitt. Er war es gewohnt, andere
Wesen als Gnome zu heilen, daher verwirrte ihn das
ungewohnt große Bein nicht weiter, als er sich das Muster
seines Zaubers vorstellte, wie es sich mit der realen Welt,
mit Lauras Wunde verwob.
Nach einem langen Moment war die Wunde nun ganz
geschlossen, nur eine blasse Narbe blieb zurück. Laura
erhob sich vorsichtig und belastete neugierig das geheilte
Bein. „Es ist wie neu!“, rief sie.
„Na ja“, winkte Athónon ab, ein Mundwinkel zuckte
nach oben. „Ich werde mich hier jetzt mal umsehen“, sagte
er dann, nahm eine Fackel und sein Kurzschwert und
schlich von dannen.
Laura blickte zu Mèra, ihre Miene füllte sich mit Hass
und ihre Finger wanden sich ganz langsam um den kalten
Griff ihrer Waffe.

„Danke für Deine Hilfe“, sagte Srrig höflich und neigte


den Kopf, bevor er sich erhob.
Myándirel starrte den Tigermann noch immer mit
offenem Mund an. „War mir eine Ehre“, stammelte er
kaum hörbar.
„Komm“, sagte Srrig zu Taren und eilte voraus, „jemand
braucht unsere Hilfe.“
Etwas verdutzt seine Neugier zügelnd, hastete Taren 393
dem Tigermann hinterher.

An der Barrikade fragte Srrig den neuen Wachhabenden:


„Können wir später zurückkehren, um Unterschlupf zu
finden? Wir könnten Euch dafür zum Beispiel im Kampf
helfen, falls die Schlangenblüter noch einmal angreifen.“
„Das wird kein Problem sein. Solange kein Verdacht
gegen Euch besteht, sind wir nicht sehr abweisend“,
erklärte der Nachtelf freundlich.
Srrig und Taren ließen sich eine Fackel geben. Dann
verabschiedeten sie sich und zwängten sich durch den
Spalt der beiden Turmschilde.
Srrig schloss für einen Moment die Augen. „Hier
entlang“, sagte er dann plötzlich und lief los.
Taren rannte ihm keuchend hinterher. „Ich nehme an ...
Du hast ... Dein Gedächtnis ... zurück?“
„Ja!“, rief Srrig mit neuer Entschlossenheit; er musste
sich zügeln, nicht noch schneller zu laufen, damit Taren
einigermaßen mithalten konnte.

Mèra hob mit einiger Mühe die Lider – und blickte


Laura ins wütende Gesicht. „Komm her zu mir“, hauchte
Mèra schwach.
„Ich will aber nicht mit Dir reden“, giftete Laura
zurück.
Mèras Lider wiegten sich für einen Moment träge auf
und ab, doch sie gewann den Kampf um ihr Bewusstsein
394 und flüsterte: „Danke, dass Du mich eben nicht getötet
hast.“
Laura wurde blass. Ihre Wut wich dem Schrecken.
„Du ... weißt das?“, wisperte sie.
„Meine kleine Alarmglocke hat geläutet“, lächelte Mèra
dünn. „Aber ich hätte nichts tun können. Auch jetzt
noch nicht, und jetzt ist Athónon nicht hier, um Dich
zurückzuhalten.“
Die beiden musterten sich eindringlich. Mèras Lächeln
erstarb. „Er hat recht, ich fürchte mich nicht“, hauchte
Mèra. „Tu es, wenn Du musst. Ich bin sowieso nicht mehr
die Alte und kann meine Aufgabe nicht erfüllen.“
„Was?“, stammelte Laura und wich zurück. Sie war
keine kaltblütige Mörderin, sie würde es nie ernsthaft
fertigbringen, eine wehrlose Mit-Elfin zu töten.
Laura kniete sich neben Mèra und schaute ihr lange in
die ozeanischen Augen. Ihrem Blick konnte sie standhalten,
anders als Athónons. „Nein“, sagte die Halbelfin endlich
und lächelte kühl, „Du bist mit Deinem Schicksal gestraft
genug. All die toten Gesichter Deiner Opfer, die Du jede
Nacht im Schlaf sehen musst ... Außerdem töte ich keine
Wehrlosen.“
Mèras Gesicht verzog sich gequält.
Plötzlich drehte sie das Gesicht weg und schloss die
Lider. Ihre Lippen zitterten.
Laura schaute zunächst siegesgewiss auf die Elfin herab,
doch als sie ihr klägliches, unterdrücktes Schluchzen hören
musste und sah, wie Mèra hilflos ihr Gesicht unter ihrer
Hand zu verbergen versuchte, krampfte sich Lauras Herz
doch zusammen.
„Es ... tut mir leid“, hauchte Laura und wandte sich 395
verlegen ab.
„Schon gut“, sagte Mèra und schniefte leise. „Ich bin
sehr, sehr alt, und manchmal bin ich froh, wenn ich
überhaupt noch etwas empfinde – auch wenn es etwas
Unangenehmes ist.“
Sie griff neben sich, wo Wenndurs Laute lag. Mèra war
zu schwach, um das Instrument hochzuhalten, aber sie
legte es sich auf den Bauch und hauchte freundlich: „Ich
habe sie für Dich mitgenommen. Sicher wolltest Du ein
Andenken an Wenndur haben.“
Verlegen und gerührt starrte Laura das Instrument an.
„Ich kann nicht spielen. Behalte sie“, entgegnete sie dann
jedoch bitter.
Mèra musterte Laura nachdenklich. Nach einem
Moment fragte sie: „Soll ich es Dir beibringen?“
Laura schaute beinahe erschrocken drein und sah weg.
„Nein, danke“, stammelte sie, „ich werde mein elfisches
Erwachsenwerden auf später verschieben.“
Sanft erklärte Mèra: „Die Kunst ist ein hervorragender
Weg, vielleicht sogar der einzige Weg, um die eigene
Seele völlig zu erforschen. Für unser Volk ist dies deshalb
der Inbegriff des Lebens, denn die Seele, die Kunst, ist
das Einzige, was uns wirklich über die Tiere erhebt.
Die jüngeren Völker sind stolz auf ihre Werkzeuge und
Errungenschaften, auf ihr Eisen, doch sie haben noch gar
nichts vom Leben begriffen. Deshalb machen die Elfen die
Vorgabe, jeder solle wenigstens eine Kunst meistern, um
als erwachsen zu gelten. Es ist das, was uns auch über die
anderen Völker erhebt.“
396 „Ich will jetzt aber nicht meine Seele erforschen oder
mich über jemand anderen erheben“, gab Laura trotzig
zurück. Sie setzte sich mit dem Rücken an Mèras Beine,
zog die Knie an und schlang die Arme darum. „Schon
wieder enge Gänge!“, murmelte sie missmutig.
Mèra legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie
legte sich die Laute zurecht und begann leise zu spielen.
Laura schloss unwillkürlich die Augen und lauschte.
Mit einem Kloß im Hals drehte sie sich Mèra nach kurzer
Zeit wieder zu und hauchte: „Das ist ja wunderschön!“
Plötzlich sprang sie auf und keuchte entsetzt.
Am Ende des Tunnels stand ein Chimärier in einer
Eisenrüstung und mit einem riesigen Schwert auf der
Schulter.
Laura erstarrte. Sie hatte noch nie wirklich eine solche
Kreatur gesehen; sie hatte nicht gewusst, wie groß sie
wirklich waren, wie viele Muskeln sie hatten und wie
mächtig ihre Schwerter waren. Lauras Kurzschwert wirkte
lächerlich gegen den Chimärier.
„Athónon?“, rief sie zitternd über die Schulter, in
die andere Richtung des Tunnels, wohin der Gnom
verschwunden war.

Der Chimärier rief etwas mit tiefer, grollender Stimme;


Laura erschien es wie Menschensprache, doch was auch
immer es war, sie verstand es nicht.
Taffi, der sich hinter Mèras Rucksack versteckt hatte,
streckte nun plötzlich neugierig den Kopf empor. An Laura
gewandt, flüsterte das Chamäleon: „Er fragt auf Mensch,
ob wir Hilfe brauchen!“
„Ja, klar“, spottete Laura und nahm den furchtsamen 397
Blick nicht von der riesigen Kreatur. Laura schätzte ihn
auf fünfhundert Pfund ohne Rüstung. Wenn er ihr einen
Tritt verpasste, würden ihre Rippen brechen, wenn er mit
dem Schwert zuschlug, würde ihr Kurzschwert wie ein
Spielzeug davonfliegen und ihr Körper würde in der Mitte
durchgehackt. Sie hätte im offenen Kampf überhaupt
keine Chance, sie wusste es, nun, wo sie solch eine Kreatur
sah – und ihr rasendes Herz überschlug sich, weil es das
ebenfalls wusste. Sie drehte sich um und rannte davon,
Mèra und Taffi zurücklassend.
„He!“, schrie Taffi ihr wütend hinterher, „das kannst
Du nicht machen!“
„Ach nein?“, schrie Laura über die Schulter. „Ich werde
nicht auch noch für irgendeinen dummen Kreuzzug mein
Leben wegwerfen!“
Während sie das rief, hätte sie beinahe Athónon über
den Haufen gerannt, dessen Wachsamkeit und äußerst
scharfen Sinne ihren ersten Ruf durchaus wahrgenommen
hatten.
„Was ist los?“ Athónon sah zu Laura auf.
„Ein Chimärier! Mit einem riesigen Schwert! Wir haben
keine Chance!“, rief Laura und wollte schon weiterrennen,
aber der Gnom hielt sie mit überraschender Kraft am
Ärmel fest.
„Lass mich los! Ich werde nicht auch noch sterben!“,
schrie sie panisch, doch Athónons Finger glitten geschickt
zu Lauras kleinem Finger und bogen ihn in der Mitte
durch, als wollte der Gnom einen kleinen Ast zerbrechen.
„Au!“, schrie Laura und ging instinktiv in die Knie,
398 um dem Hebel zu entgehen, doch Athónon hielt sie mit
absoluter Präzision gefangen.
„Hat er schon angegriffen? Ist er losgestürmt, um Dich
zu töten?“, fragte der Gnom und musterte die Jugendliche
mit seinem alten Augenschlitz.
Laura schüttelte den Kopf und starrte Athónon gequält
an. „Lass los!“, bettelte sie, „ich will nicht mit Dir kämpfen
müssen.“
„Ich habe den Chimärier rufen hören. Komm!“, sagte
Athónon und zog Laura am Fingerhebel hinter sich her, so
sehr sie auch zeterte.
Als Athónon zu Mèra und Taffi zurückkam, war der
Chimärier noch nicht näher gekommen. Neben ihm
standen allerdings ein junger Mensch und ein Zwerg und
tuschelten mit ihm.
Laura gab ihr Geschrei auf und hielt still. Als Athónon
bemerkte, dass auch sie die Szenerie beobachtete, ließ er
ihren Finger los.
„Danke!“, zischte Laura giftig und rieb sich demonstrativ
das geschundene Gelenk.
Athónon rief in Menschensprache zu den drei Fremden
herüber: „Ich bin Athónon, meine Begleiter heißen Laura
und ... Miriam. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“

Mèra hörte die Stimmen zunächst noch wie in weiter


Ferne, dann gar nicht mehr. Die Laute entglitt ihren
Fingern. Sie war einfach zu geschwächt und konnte die
Augen nicht länger aufhalten.
Zuerst war sie auf der Wiese, auf der Elfenkinder spielten,
jene Wiese, auf die man geriet, wenn man unter der
magischen Decke schlief. Doch Mèra driftete noch tiefer, bis 399
in ihr Traumland, in das sie sich in schweren Zeiten stets
zurückziehen konnte, um Trost zu finden. Barfüßig spazierte
sie an einem weißen Strand entlang, ein kristallblaues
Meer rauschte sanft unter einem strahlend blauen Himmel.
Harkýior – Jahrhunderte, bevor der erste Stein der Stadtmauer
gelegt worden war. Was war hier noch mal geschehen?
Cerýllion war auch da. Doch hier, in Mèras Traumwelt,
hatte er seinen Verrat nie begangen, hier war er noch immer
ihr geliebter Gefährte, der für sie da war und sie festhielt,
wenn sie sich wieder einmal in den Schlaf weinte.
„Wieso hängst Du noch an der Welt der Sterblichen? Was
können sie Dir geben, was ich Dir nicht geben kann?“, fragte
er zärtlich. Mèra schwieg und blickte liebevoll in Cerýllions
rote Augen und auf sein schneeweißes Haar.
Cerýllion wisperte: „Du hast es selbst gesagt: Auf die Götter
kannst Du nicht mehr zählen. Doch es kann trotzdem so sein
wie früher, ohne Krieg und Leid! Nur wir beide! Komm
zurück zu mir, zurück in unsere Welt. Dies ist nur ein
Traum, aber die Wirklichkeit wartet auf Dich!“
Mèra musterte ihn verständnislos und legte ihm einen
Finger auf die Lippen.
„Was bedeutet Dir dieser Gnom? Er ist sterblich. Kaum
siehst Du einmal nicht hin, schon ist er alt und verblichen“,
raunte Cerýllion.
Die beiden Unsterblichen blickten zur Seite. Athónon
stand am Strand und rief zu Mèra herüber: „Wie alt bist
Du eigentlich? Fast zwanzigmal so alt wie ich! Darauf fällst
Du doch wohl nicht herein, oder? Der führt doch was im
Schilde.“
400 Mèra blickte in Cerýllions zeitloses, schönes Gesicht. Sie
schloss die Augen und schmiegte sich fest an seine Schulter.
Er drückte sie an sich, umschloss ihren schlanken Rücken;
er wusste, wie sehr sie das liebte. Beiläufig sah er zu Athónon
und verschoss einen gleißenden Blitz aus seinen Augen. Der
Gnom brüllte kurz auf, überschlug sich in der Luft und blieb
reglos liegen. Er stank nach verbranntem Fleisch.
Entsetzt starrte Mèra erst Athónons Leiche an, dann
Cerýllion. Fassungslos wich sie von ihm zurück. „Nicht hier!
Diese Welt ist heil!“, wimmerte sie leise.
„Eben“, lächelte Cerýllion. „Gerade deswegen darfst Du
nicht zulassen, dass ein Sterblicher hier eindringt und alles
verdirbt!“
Mèra fühlte sich wie ein Lamm vor einem hungrigenWolf.
Laura lief herüber und rief: „Aber was soll das für eine
Märchenwelt sein, in der er einfach Deine Freunde tötet
– egal wer sie sind?“
Cerýllion winkte amüsiert ab und konterte: „Wie kann
ein Sterblicher Dein Freund sein? Der Gnom konnte Dich
unmöglich verstehen. Nur jemand mit demselben Fluch,
mit demselben Alter kann Dich verstehen! Ich kann Dich
verstehen, und sonst ist niemand mehr da! Kein Srrig, kein
Randolph! Du bist ganz allein! Komm zurück zu mir!“
Ängstlich klammerte sich Mèra wieder an Cerýllion, der
seinerseits Laura kalt anlachte und einen weiteren Blitz
verschoss, der die Halbelfin tötete.
„Komm an den Strand von Harkýior, dort werde ich auf
Dich warten. Und dann werden wir für alle Ewigkeiten
glücklich und frei sein.“
Cerýllion streichelte Mèra mit den Fingerspitzen über die
Wange. Zärtlich berührten sie sich mit Nase und Stirn und 401
fühlten ihre sinnliche, knisternde Hitze, dann küssten sie
sich gierig und vergaßen die Welt der Sterblichen um sich
herum.
Mèra raunte wohlig unter der Decke und regte sich
sacht im Schlaf. „Komm an den Strand von Harkýior, dort
werde ich auf Dich warten.“

Srrig blieb an einer Kreuzung stehen und schloss die


Augen. „Hier lang“, sagte er dann und rannte schon weiter,
kaum dass Taren ihn eingeholt hatte. Mit teils grimmiger,
teils gequälter Miene schnaufte Taren dem Tigermann
hinterher.
Wütend brüllte Srrig plötzlich auf, als er in eine Sackgasse
gerannt war. „Wir müssen aber in dieser Richtung weiter!“,
knurrte er die Wand an.
Taren stützte sich mit den Händen auf den Knien ab
und keuchte: „Vielleicht biegen wir einen Gang früher ab,
um parallel zu laufen?“
Srrig nickte knapp und rannte los. Taren verdrehte
stöhnend die Augen, stemmte den Rücken gerade und
schleppte sich dem Gefährten hinterher.
„Halte durch, es ist wichtig, dass wir uns beeilen!“, rief
Srrig über die Schulter. Damit schürte er Tarens Neugier
noch weiter.
402 Laura gefiel es gar nicht, wie der Zwerg und der junge
Mensch sie anstarrten. Auch die amüsierte Art, wie
der Chimärier sie anstarrte, gefiel ihr nicht. Doch im
Moment unterdrückte sie noch den Impuls, abermals
wegzurennen.
Athónon trat einen Schritt vor, mit der Hand am
Schwertgriff. „Wir suchen keinen Streit“, rief er ruhig zu
den drei Fremden hinüber.
„Ihr würdet ihn auch schlecht vertragen“, lachte
Paaldrag mit seiner Drachenstimme.
Athónon hob nur ungerührt das Kinn und verengte
sein Auge zu einem dünnen Strich. Laura wich einen
Schritt zurück. „Der bringt uns doch um und frisst unsere
Leichen auf!“, flüsterte sie ängstlich und starrte Athónon
an.
„Ich habe bereits einige Chimärier getötet, im
Nahkampf“, rief Athónon trocken zu den Fremden
hinüber; indirekt galt diese Aussage auch Laura.
Paaldrag legte den Kopf schräg. „Komisch, irgendwie
glaube ich Dir das sogar“, raunte der Chimärier. Dann
begann er brüllend zu lachen. Auch Melek und Brommil
grinsten schief und starrten den alten Gnom mit dem
dicken Kopfverband abfällig an.
Laura packte Athónon am Kragen und wollte ihn mit
sich ziehen, fort aus dem Gang, Mèra zurücklassend.
Doch Athónon riss sich frei und funkelte verärgert zu der
Halbelfin hoch.
„Lasst uns einfach in Ruhe“, knurrte Athónon dann
laut in die Richtung der Fremden.
„Sonst was?“, knurrte Paaldrag zurück, plötzlich wieder
todernst. Der Chimärier schnaubte tief und stieß eine 403
Rußwolke durch die Nase.
„Lass uns fliehen!“, flehte Laura in Athónons Ohr.
Athónon raunte zu ihr zurück: „Normalerweise würde
ich auch denken, dass diese Leute bloß Streit suchen. Aber
irgendetwas scheint sie zurückzuhalten, und das ist sicher
nicht meine beeindruckende Erscheinung. Es besteht also
eine vage Hoffnung, dass wir uns friedlich mit ihnen
stellen können. Das wäre mir lieber, als eine wehrlose
Freundin zurückzulassen, von deren Überleben vielleicht
einiges abhängt. Auch wäre mir das lieber, als blind durch
fremde, dunkle Gänge zu irren, wo es vielleicht echte
Feinde gibt.“
Laura schluckte und nickte betrübt.
In dem Moment hörten sie rennende Schritte und ein
schweres Schnaufen hinter sich. Ein unsteter Fackelschein
an den Felsen tanzte herbei.
Athónon wirbelte herum und stellte sich neben Mèra
auf. „Behalte die anderen im Auge!“, zischte Athónon zu
Laura, die in seinem Rücken stehen blieb.
Aus dem Gang rannten ein Tigermann und ein völlig
erschöpfter Mensch herbei; sie blieben zwei Armlängen
vor Athónon stehen.
Der Tigermann ignorierte Athónon und starrte
erschrocken und voller Sorge auf Mèra.
„König Srrig“, flüsterte Athónon ehrfürchtig in der
Elfensprache, worauf der Tigermann ihn überrascht
anblickte.
„Du kennst meinen Namen?“, wunderte er sich und
kam einen Schritt näher.
404 „Ich kenne Mèra“, antwortete der Gnom darauf
und verneigte sich höflich. Seit der Zeitreise hatten
die beiden sich noch nicht wieder gesehen; die einstige
Zusammenarbeit mit Athónon konnte Srrig nicht mehr
kennen.
Laura musterte Athónon irritiert, doch die meiste Zeit
bestaunte sie den Tigermann, den Athónon in elfischer
Sprache gar als König bezeichnet hatte. Sie betrachtete sein
Fell, seine Muskeln, sein Gesicht und seine Reißzähne, die
sich beim Sprechen ein wenig zeigten. Auch dass er auf
nackten Tigerfüßen, auf Zehenspitzen lief, fiel ihr auf.
Srrig drückte derweil dem immer noch atemlosen Taren
die Fackel in die freie Faust und kniete sich zu Mèra. Er
legte ihr die Hand prüfend auf die Stirn und fühlte ihren
Puls am Hals. Erleichtert atmete er durch.
Als Srrig sich wieder erhob, wich Laura instinktiv einen
Schritt zurück. „Und Ihr beiden seid also Freunde von
Mèra?“, fragte der Tigermann und musterte insbesondere
die jugendliche Laura skeptisch.
Athónon nickte.
„Und die da hinten?“, fragte er, ohne zu Paaldrag, Melek
und Brommil hinüberzusehen. „Zwei von ihnen waren mit
mir gefangen, aber den Chimärier sah ich noch nie.“
„Wir haben auch keine Ahnung, was sie im Schilde
führen“, berichtete Athónon nüchtern.
Melek und Brommil tuschelten mit Paaldrag. Dann rief
der Chimärier durch den Gang: „Wir haben hier übrigens
ein großes Feuer, viel Platz und noch etwas Fleisch. Wenn
Ihr Euch dazusetzen wollt, können wir uns die neuesten
Imperator-Witze erzählen.“
Srrig hob daraufhin Mèra auf die Arme. Er lächelte 405
Taffi an, als dieser sich zu erkennen gab, quietschende
Geräusche ausstieß und auf Srrigs Schultern herumsprang.
Diese Bekanntschaft war also schon weitaus älter als die zu
Athónon. Dabei stellte sich die Frage, wie alt Taffi war ...
Taren und Athónon folgten dem Tigermann ohne
Zögern. Taren nahm Athónon außerdem Mèras Rucksack
ab.
Nur Laura blieb zögernd zurück. „Was hat er denn
gesagt? Wieso glaubt ihr dem jetzt?“, wimmerte sie
hilflos.
Taffi sprang von Srrigs Schulter, rannte zurück und
flitzte an Laura hoch. „Du musst Dich nicht fürchten!“,
raunte Taffi ihr ins Ohr und strich mit einer Pfote durch ihr
Lockenhaar. „Nicht wenn Srrig da ist! Er ist ein ziemlich
alter Freund von Mèra, wenn Du verstehst!“
Laura seufzte schwer. Sie nahm allen Mut zusammen,
warf sich ihren Rucksack über die Schulter und folgte der
Gruppe bis in Paaldrags Höhle.

Schließlich saßen alle am Feuer beisammen. Nur Mèra


schlief immer noch. Taffi schlummerte ebenfalls – auf
ihrem Bauch. Genussvoll schmiegte er im Schlaf seinen
Kopf an ihre Brust, was zu belustigten Sprüchen führte.
Die neuen Freunde erzählten sich die Ereignisse der
letzten Stunden und Tage, das meiste übersetzte Athónon
für Laura. Wer Srrig und Mèra wirklich waren, dass die
uralte Decke magisch war und dass sie vor Dämonen
406 flohen, ließen Athónon und Srrig den Fremden gegenüber
allerdings aus.
Paaldrag und Brommil erwiesen sich als derbe Spaßvögel,
während Melek und insbesondere Laura, die kaum etwas
von der Menschensprache beherrschte, nur wenig sagten.
„Habe ich grüne Pickel, oder bist Du bloß neugierig?“,
lachte Srrig herzlich in elfischer Sprache Laura an.
Laura senkte verlegen den Blick und stammelte:
„Entschuldigung. Ich sah zuvor noch nie
Tigermenschen.“
„Bist Du eine Kämpferin, Laura?“, fragte Srrig
aufmunternd. Auch Taren blickte zu ihr, um die Antwort
zu hören und um sich von den bohrenden Fragen über Srrig
abzulenken, der noch nichts von seinem wiedererlangten
Gedächtnis preisgegeben hatte.
Lauras Kehle zog sich zusammen. „Ich habe schon mal
zwei Menschenkrieger allein besiegt“, brachte sie hervor.
Von Stolz auf ihre Tat war keine Spur zu hören.
„Sie kämpft gut“, mischte Athónon sich von der Seite
ein, nachdem er für Paaldrag, Brommil und Melek kurz
übersetzt hatte. „Sie hatte nur kürzlich erst lernen müssen,
dass nicht immer alle Freunde ein Abenteuer überleben“,
fügte der Gnom in beiden Sprachen bitter hinzu.
Laura ließ den Tränen freien Lauf, während sie ins
Feuer starrte. „Meine Mutter starb vor ein paar Stunden“,
hauchte sie, um Tarens und Srrigs fragende Blicke zu
beantworten. „Ich war nicht da, um ihr zu helfen“, zischte
sie wütend. Auch um Wenndur tat es ihr leid, doch das
erzählte sie nicht.
Etwas verlegen sahen die Anwesenden alle für einen
Moment ins Feuer. Paaldrag warf einen dünnen Holzscheit 407
von einem kleinen Stapel nach. Athónon hatte für ihn,
Brommil und Melek sehr kurz Lauras Worte übersetzt.
Taren räusperte sich schließlich und fragte Laura
leise: „Und was genau macht Ihr jetzt hier, wie seid Ihr
hierhergekommen?“
„Das musst Du den Gnom fragen“, entgegnete Laura
spitz, stand auf und zog sich an den dunklen Rand der
Höhle zurück, um allein zu sein. Melek sah ihr am längsten
hinterher.
Taren schaute ihr nur für einen Moment verwundert,
doch auch mitfühlend nach. Schnell wechselte sein Blick
jedoch fragend zu Athónon.
Der Gnom blickte mit seiner Steinmiene ins Feuer und
seufzte leicht durch die Nase. Er blickte zu Srrig auf und
antwortete in der Menschensprache: „Wir haben Srrig
gesucht und gefunden. Wie es jetzt genau weitergeht, weiß
ich auch noch nicht.“
Taren blickte Srrig an; die ohnehin bärbeißige Miene
des Menschen verfinsterte sich weiter. „Woran erinnerst Du
Dich denn nun? Du hast es noch immer nicht erzählt.“
Srrig schaute ernst in die Runde. „Ich kam hierher,
um einen Freund zu befreien und dann den Imperator zu
stürzen, bevor er die Dämonen auf Hevas Leib loslässt.“
Paaldrag prustete los und lachte laut: „Das ist mal ein
guter Plan! Viel Erfolg, ich nehme die andere Richtung!“
Tarens Mund stand offen, doch nach ein paar
Lidschlägen grinste er dünn. „Das sollte wohl ein Scherz
sein?“
Srrig schüttelte langsam den Kopf und blickte den
408 Menschen eindringlich an. Zu Paaldrag sagte er freundlich:
„Ich erwarte natürlich nicht, dass jemand mich und Mèra
begleitet.“
„Mèra?“, stutzte Paaldrag, „ich dachte, sie heißt Miriam.
Oder wen meinst Du?“
„Ihr richtiger Name ist Mèra“, gab Srrig zu, „aber
Athónon trifft keine Schuld; es war klug von Mèra,
einen falschen Namen gegen mögliche Verfolger zu
verwenden.“
Athónon kommentierte nicht näher, dass er Mèras
Namen ganz bewusst vor diesen Fremden hatte
verheimlichen wollen. Sie kannten nach wie vor nicht all
ihre Verfolger.
Paaldrag beugte sich vor. „Jetzt mal im Ernst, mein
Freund“, begann er ohne Spott in der Stimme, „das kann
unmöglich Dein Vorhaben sein. Deinen Freund befreien,
na vielleicht, wenn Du ein großer Kämpfer bist. Aber
Du willst Dich doch nicht wirklich mit dem Imperator
anlegen? Du kommst nicht mal in seine Nähe, und selbst
wenn, er wird beiläufig mit den Pranken winken und Du
wirst tot umfallen.“
Taren nickte ernst und raunte: „Das ist ein
jahrtausendealter Drache, so groß wie ein Haus, sagt
man. Seine goldenen Krallen sollen groß wie Schwerter
sein und seine Zauberkraft geht weit über alles hinaus,
was Sterbliche bewirken könnten. Die Chimärier halten
ihn sogar für einen Gott. Auf keinen Fall kannst Du Dich
mit ihm messen, egal was für ein Krieger Du bist. Das ist
Selbstmord!“
Srrig fühlte sich nicht mal angegriffen. Ruhig erwiderte
er: „Danke für Eure Sorge, meine Freunde.“ Dann stand 409
er auf und sah nach Mèra.
„Wie ist Dein Plan?“, fragte Taren in die Stille.
Etwas überrascht blickte Srrig über die Schulter. „Ich
habe noch keinen“, gab er zu. „Ich bin froh, dass Mèra
noch lebt, und als Nächstes müssen wir mindestens einen
weiteren Gefährten aus dem Palast von Harkýior befreien.
Danach erst ziehen wir weiter nach Pýur, zum Sitz des
Imperators. Doch dies ist das Schicksal, das die Götter uns
aufgebürdet haben.“
Paaldrag grunzte verächtlich. „Du bist ein Spinner!“,
grollte er. „Du hast kein bisschen über Dein Vorhaben
nachgedacht und glaubst auch noch, die Götter hätten Dir
das aufgetragen?“
Srrig ignorierte ihn und tupfte mit einem Zipfel der
magischen Decke über Mèras Stirn.
Taren empfand Paaldrags Kommentar als Lästerung der
Götter, doch Chimärier waren für ihn ohnehin der Feind
– seine Meinung konnte nicht noch schlechter werden.
Zudem meldete sich wieder Tarens rationale Seite. „Er hat
recht“, pflichtete er Paaldrag leise bei. „Du kannst doch
nicht einfach so loslaufen, in die Arme der Chimärier.“
Srrig seufzte leicht. „Doch, kann ich. Ich mache das
seit fast zweitausend Jahren so. Mit der Zeit lässt man
sich nicht mehr verleiten und wählt stets den direkten
Weg. Nur Schwächlinge müssen tricksen und Umwege ...
versuchen.“
Paaldrag lachte laut los. „Der Kerl ist völlig verrückt!“
Selbst Brommil und Melek, die bisher dazu geschwiegen
hatten, schüttelten jetzt grinsend die Köpfe.
410 Athónon hatte die ganze Zeit nur reglos ins Feuer
gestarrt und tat jetzt auch nichts anderes.
Taren jedoch, der zuvor schon gespürt hatte, dass etwas
Großes bevorstand und dass Srrig jemand Besonderes war,
lachte nicht. Er spürte seine Nackenhaare kribbeln. „Und
wer genau bist Du, mein gnomischer Freund Athónon?“,
fragte Taren heiser.
Athónon hob den Blick ein wenig und sah Taren von
der Seite an. „Ich bin da nur irgendwie hineingeraten
und habe seltsamerweise immer überlebt. Ich war einst
ein einfacher Jäger, später Kundschafter, aber gewiss
kein Held. Einige meiner Geschichten würden genauso
unglaubwürdig klingen wie die von Srrig. Er und Mèra
sind, was sie vorgeben, glaub mir.“
Taren musterte Athónon, Srrig und Mèra mit halb
offenem Mund. „Ich weiß“, hauchte er nur.
Paaldrag funkelte ihn grimmig an. „Du wirst diesen
Verrückten doch nicht auf ihren Kreuzzug in den Tod
folgen, oder? Wäre vielleicht schade um Dich.“
Laura trat aus den Schatten wieder ans Feuer. „Mèra
ist keine Halbgöttin“, sagte sie kalt, während ihre Arme
einfach herabhingen. Sie hatte in der Menschensprache
gesprochen; ihr Akzent war noch sehr stark und elfisch-
melodiös, doch offensichtlich hatten ihre Sprachkenntnisse
sich in den letzten Stunden verbessert.
Srrig drehte sich um und funkelte die Halbelfin mit
einer Mischung aus Verwirrung und Zorn an.
„Wäre sie wirklich so mächtig, hätte sie meine Mutter
nicht sterben lassen“, zischte Laura eisig. Sie musste einige
Worte erst suchen, doch sie wurde verstanden.
Selbstzufrieden verschränkte Paaldrag die Arme vor 411
der mächtigen Brust und sah zu Srrig hinüber. Der starrte
Laura finster an.
„Dein Verlust tut mir leid“, sagte Srrig kühl in der
Elfensprache, dann wandte er sich wieder Mèra zu und
strich durch ihr Haar. „Aber es ist für mich nicht wichtig,
was Sterbliche denken“, fügte er noch kälter hinzu.
„Setz Dich und erzähl mir, was geschehen ist, Laura“,
bat Taren, um Srrigs arroganten, verletzenden Kommentar
zu übergehen. Er machte eine einladende Geste neben
sich. Taren hatte die Menschensprache gewählt, sich aber
bemüht, langsam und deutlich zu reden.
Laura folgte der Einladung und strich sich die Haare
hinter die Ohren.
„Du bist eine Halbelfin“, stellte Taren mit steinernem
Ton fest und blickte auf die leichten Spitzen ihrer Ohren.
Laura hielt inne und funkelte Taren angriffslustig an.
„Na und?“, fragte sie keck.
Taren schüttelte den Kopf. „Nichts, meine Gefährtin
war selbst Elfin, aber ... sie starb ... kürzlich.“ Sein Blick
wurde trüb.
„Tut mir leid“, hauchte Laura sanft. Sie druckste
einen Moment herum und fragte dann: „Wirst Du uns
begleiten?“
Anstelle von Taren antwortete Srrig: „Niemand wird
uns begleiten, schon gar kein Kind. Mèra und ich gehen
allein weiter. Es ist zu gefährlich für Sterbliche.“
Laura verzog trotzig das Gesicht und protestierte in
elfischer Sprache: „Ich bin kein Kind mehr. Außerdem
will ich wissen, wie die Geschichte ausgeht, für die meine
412 Mutter starb! Mir ist klar, dass es gefährlich ist, aber ich
werde Euch begleiten! Wenn Du willst, dass ich hierbleibe,
musst Du mich töten.“
Srrig dachte kurz nach. Trocken erwiderte er dann:
„Gut, wenn Du darauf bestehst. Das ist besser, als uns
unnötig in Schwierigkeiten zu bringen.“
Taren und Laura blickten den Tigermenschen ungläubig
an, sogar Athónons Mund klappte etwas auf. Die anderen
hatten das Elfisch nicht verstanden und schauten irritiert
hin und her.
Mèra hob mühsam die Lider und tastete nach Srrigs
Arm. „Sie kann auf mich aufpassen“, flüsterte sie. „Ich
brauche diese Hilfe. Und auch über Athónons Gesellschaft
würde ich mich sehr freuen, er ist mir stets ein treuer
Freund gewesen.“
Diesmal war es Srrig, der ungläubig dreinschaute.
Halblaut wisperte er: „Es sind Sterbliche! Sie werden den
Tod finden! Außerdem würden sie uns angreifbar machen,
wenn wir sie zusätzlich schützen müssten. Wir haben stets
allein gekämpft. Wer abhängig ist, ist schwach.“
„Ich bin so schwach, ich kann nicht mal laufen“,
flüsterte Mèra und lächelte gequält. „Außerdem traust Du
den Sterblichen zu wenig zu, glaub mir.“
Srrig funkelte sie böse an. „Wie konntest Du ein Kind
hierfür einspannen?“, raunte er vorwurfsvoll.
Laura rief zu den beiden herüber: „Das hat sie nicht. Ich
bin meiner Mutter zunächst heimlich gefolgt.“ Sarkastisch
fügte sie hinzu: „Ich wollte meiner Mutter helfen, damit
sie gesund nach Hause zurückkommt.“
Srrig hatte Elfisch weitergeredet, bemerkte er nun;
doch letztlich störte es ihn auch nicht, dass Laura seinen 413
geringschätzigen Kommentar verstanden hatte.
Athónon berichtete: „Ich war nicht viel älter als
Laura, als ich für Eure Belange eingespannt worden bin.
Hauptmann Dalmaan vom Königskult in Tesmir, und
Meister Tugibenn erklärten mir damals, es sei eben das
Schicksal mancher, in diese Dinge hineingezogen zu
werden. Jades Schicksal war es, sich für Mèra zu opfern,
damit sie weiterlebt. Lauras und mein Schicksal war es,
von diesen Dingen zu erfahren, sie zu überleben und bis
hierher dabeizubleiben – wofür auch immer. Eines Tages
wird sich alles zusammenfügen. Manchmal sehe ich es
sogar in meinen Träumen. Aber das brauche ich Euch
wohl nicht zu erklären, König Srrig.“
„Nenn mich nicht so“, knurrte Srrig leise.
„König?“, hauchte Taren. Auch Paaldrag, Melek und
Brommil blickten plötzlich mit großen Augen zu Srrig.
Auf die fragenden Blicke von allen, fügte Srrig noch
hinzu: „Das ist viele Jahrhunderte her.“
„Kann das sein?“, fragte Taren grimmig, „kann eine
Kette von scheinbar willkürlichen Ereignissen, guten wie
schmerzhaften, einen Sterblichen doch auf einer klaren
Bahn einem Ziel zutreiben?“
Athónon nickte, während er wieder ins Feuer starrte.
„Jeder trägt seine Bestimmung in sich“, bestätigte er. „Nur
hat nicht jeder das Glück, sie zu entdecken. Und von denen,
die es tun, ist nicht jedem eine angenehme Bestimmung
vergönnt.“
Srrig erhob sich und sah skeptisch in die Runde. In der
Menschensprache erklärte er: „Wer auch immer meint,
414 mitkommen zu müssen, unsere erste Aufgabe wird es
sein, einen Menschen namens Randolph aus dem Palast
von Harkýior zu befreien. Ich kann ungefähr fühlen, wo
er ist, denn ein starkes Band verbindet uns. Wir brechen
auf, sobald es Mèra wieder gut genug dafür geht. Solange
werden wir uns ruhig verhalten, um keine weiteren Feinde
anzulocken. Ich glaube, bei den Nachtelfen, einige Gänge
weiter, sind wir willkommen.“

„Was, ein Chimärier zählt zu Euren Freunden?“, rief der


vorgeschobene Wachposten der Nachtelfen, als Srrig und
Taren ihre neuen Begleiter nach vorn gewunken hatten.
Mèra wurde von Laura und Melek gestützt und hatte sich
die magische Decke eng um die Schultern gezogen.
Paaldrag knurrte laut in sehr kantigem Elfisch: „Ich
bin ein Ausgestoßener des Imperiums, und in Tebaarshas
Matriarchat bin ich auch nicht mehr willkommen. Auf
jeden Fall bin ich kein Feind der Elfen.“
„Könnt Ihr Euch selbst verpflegen?“, wollte der
Wachposten wissen.
„Ich bin Kundschafter“, rief Athónon zur Antwort.
„Ihr müsst mir nur einen Weg nach draußen weisen, dann
besorge ich Nahrung.“
Die Wache schwieg; vermutlich dachte der Elf
angestrengt nach. Schließlich rief er: „Die brauchbaren
Wege nach draußen haben wir an die Schlangenblüter
verloren. Der Wachhabende an der Barrikade soll die
Entscheidung treffen, ob ihr in die Stadt dürft. Geht vor.“
Etwas verschüchtert musterte der einzelne Elf die 415
Prozession, die ihm beim Passieren freundlich zunickte.
An der Barrikade hörten sie fast dieselbe, skeptische
Frage noch einmal: „Was? Wir sollen einen Chimärier
hereinlassen?“
Paaldrag wiederholte mit seinem lückenhaften Elfisch:
„Ich bin kein Feind der Elfen. Ich bin ein Ausgestoßener des
Imperiums, und auch ein Ausgestoßener von Tebaarshas
Matriarchat.“
„Dann bist Du wohl streitsüchtig, wenn Du es Dir
mit jedem verscherzt!“, rief eine andere Stimme hinter
der Barrikade, die dadurch einiges Gelächter unter den
Nachtelfen hervorrief.
Paaldrag knurrte verächtlich vor sich hin und kratzte
sich nervös am Hals.
Hinter der Barrikade ging ein emsiges Murmeln
vonstatten, doch sie blieb geschlossen.
Etwas verlegen trat Paaldrag von einem Fuß auf den
anderen. „Ich werde mich zurückziehen, wenn sie nur
mich nicht reinlassen wollen“, knurrte er kleinlaut.
„Also gut!“, rief da eine Stimme hinter der Barrikade.
„Wir lassen Euch alle rein, aber wenn Ihr Ärger macht,
werden wir mit unseren Pfeilen nicht zögern!“
„Keine Sorge“, rief Srrig und verneigte sich höflich.
Die Barrikade wurde etwas weiter als sonst geöffnet,
sodass auch Paaldrag sich hindurchzwängen konnte.
Einige Pfeile blieben auf ihn gerichtet, bis die Gruppe sich
bereits durch den Gang Richtung Stadt entfernte.
„Wenn wir die Stadt erreicht haben, führt gleich der
nächste Gang rechts in eine Gästehöhle“, berichtete Srrig.
416 „Dort können wir ein Lager aufschlagen.“
„Und wundert Euch nicht über den Rauch in einigen
Gängen zur Linken“, brummte Taren missmutig. „Die
Bewohner haben teilweise eine seltsame Einstellung zur
Zauberei.“
In gewisser Weise war auch Taren der Meinung, dass
willkürliches Zaubern schlecht war. Doch der Grund, aus
dem die Nachtelfen es nicht taten, war für sein Weltbild
eine haarsträubend falsche Geschichte. Dass Magie
lebendig oder sogar intelligent sein könnte, widersprach
allem, was er im Tempel darüber gelernt hatte. Für ihn
war die Magie ein göttliches Handwerk, zu dem nur
sehr wenige Menschen fähig waren, und von diesen
wenigen wiederum wendeten einige ihre Gabe ohne den
notwendigen, göttlichen Segen an – eine Sünde, die schon
einmal die Dämonen auf Hevas Leib gebracht hatte und
es der Prophezeiung von Theb Nor zufolge auch wieder
konnte. Von Mèras Bruch der Regeln wusste Taren noch
nichts.

„Verräterin!“, hörte Safáydra hinter sich. Um sie herum


war es völlig dunkel. Sie lag gefesselt am Boden. Auf den
abermaligen Vorwurf reagierte sie gar nicht mehr.
„Du hast Dein Volk verraten“, wiederholte die fremde
Stimme.
Safáydra seufzte. „Das habe ich nicht. Wir hatten einen
Rückzieher gemacht. Zur Strafe musste Sundári sterben.
Ich habe es Euch allen schon viel zu oft erzählt.“
„Mir noch nicht“, sagte die fremde Stimme. 417
„Wieso entzündest Du keine Fackel oder Lichtkugel,
damit ich sehen kann, wer gekommen ist, mich zu quälen?“,
seufzte die Elfin. Irgendwie fühlte sie sich unwohl, doch
anders, als wenn nur ein Nachtelf gekommen wäre, sie zu
piesacken. Es war ein ausgesprochen seltsames Gefühl im
ganzen Körper, das sie noch nie erlebt hatte.
Die Stimme tat freundlich, triefte jedoch vor Heuchelei:
„Gegenfrage: Wieso hast Du dem Rat nicht verraten, was
für ein Artefakt die Schlangenblüter hüten? Jetzt wirst
Du es auch nicht bekommen und Dein Gefährte starb
umsonst, weil der Rat soeben beschlossen hat, Dich
sicherheitshalber hinzurichten, spätestens morgen früh.
Sie glauben Dir nicht aufgrund Deiner Weigerung, ihnen
alles zu erzählen. Wirklich schade um Dich, Du warst
ein Vorzeige-Exemplar Deines Volkes. Wenigstens von
außen.“
Safáydra wandte den Kopf hin und her, in der Hoffnung,
irgendetwas vom Besitzer der fremden Stimme zu sehen
– vergebens. „Was willst Du von mir?“, fragte sie schroff.
„Ich lasse Dich frei, dafür tust Du mir einen Gefallen“,
säuselte die Stimme voll falscher Freundlichkeit.
„Und spielt sich dieser Gefallen oberhalb oder unterhalb
der Gürtellinie ab?“, spottete die Elfin.
„Weder noch.“ Die Stimme blieb gelassen. „Alles,
was ich von Dir will, ist der Mord an einer bestimmten
anderen Elfin, den mein Verbündeter bisher nicht zustande
gebracht hat. Dafür wirst Du leben. Ein fairer Tausch,
musst Du zugeben.“
Safáydra schwieg betroffen. „Wieso machst Du es nicht
418 selbst? Wieso ich? Und wer bist Du?“
„Wirst Du es tun oder nicht?“, versetzte die Stimme
scharf, auf einmal ungeduldig.
Safáydra verstand ganz langsam, woher ihr seltsames
Gefühl rührte. „Ich will nicht sterben“, hauchte sie,
wissend, dass sie nun wirklich zu einer Verräterin wurde
– zu einer Verräterin an allen Sterblichen.
Mit einem Ruck wachte sie auf. Die zwei Elfen, die vor
der winzigen Felsnische gestanden hatten, in der Safáydra
gefangen gehalten worden war, sanken stumm zu Boden.
Ein anderer Elf mit einem Tuch vor dem Mund hatte
ihnen die Kehlen durchgeschnitten und starrte Safáydra
nun mit kalten Augen auf den Körper. „Umdrehen!“,
befahl er leise.
Safáydra funkelte ihn voll hilfloser Wut an. „Du
Mensch!“, beschimpfte sie ihn giftig.
Der Elf knurrte: „Willst Du lieber gefesselt fliehen?
Dreh Dich um.“
Safáydra gehorchte zögernd, schluckte aber schwer, als
sie den Fremden in ihrem Rücken hörte und seinen Atem
in ihrem Nacken spürte.
Nachdem der Fremde ihre Fesseln durchschnitten
hatte, flüsterte er: „Die Elfin, die Du töten sollst, findest
Du in der Gästehöhle. Sie ist blond mit grauen Strähnen.
Sie selbst ist sehr schwach, aber ihre Gefährten sind
gefährlich. Du musst listenreich vorgehen. So, damit habe
ich meinen Teil abgearbeitet. Viel Erfolg. Oh, ich sollte
Dir sagen, wenn Du Deine Aufgabe nicht erfüllst, werden
sämtliche Elfen dieser Stadt erfahren, wo Du bist und dass
Du diese Wachen getötet hast.“
Bevor Safáydra etwas fragen konnte, verschwand der 419
Elf lautlos. Seine Stimme ist es nicht gewesen, die sie im
Traum gehört hatte. Safáydra ließ die Speere der Wachen
achtlos liegen, steckte sich aber einen ihrer Kupferdolche in
den Gürtel. Sie zerrte und stopfte die zwei Leichen so weit
in die Nische, wie sie hineinpassten. Doch wenn jemand
hier vorbeikam, würde er sie sofort bemerken.

Safáydra umwanderte die Mitte der Stadt mit den


Häusern der Ratsmitglieder, tat ansonsten aber völlig
sorglos und marschierte ganz natürlich, um den Bewohnern
nicht aufzufallen. Wenn sie Glück hatte, wussten die
meisten Elfen noch nichts von ihrem Verrat, und bis die
toten Wachen gefunden wurden, konnte durchaus noch
etwas Zeit vergehen.
Glücklicherweise hatte Velýthoel ihre Beinwunde mit
einem weiteren Zauber geheilt; der alte Elf war schon seit
langem in sie verliebt, aber sie konnte ihn nicht leiden und
ließ ihn im Ungewissen. „Dass er für die Heilung mein
Bein hatte berühren und mir dabei zwischen die Schenkel
hatte stieren dürfen, betrachtet der Narr als großen
Gefallen meinerseits“, lachte Safáydra in sich hinein.
Schweißperlen rannen ihre Stirn hinab. Ihre Hände
zitterten, wenn sie versuchte, sie still zu halten. Sie hatte
nicht den Mut aufgebracht, ihre Stadt zu verraten, und
dafür hätte sie keinen einzigen Elfen persönlich verletzen
müssen. Nun sollte sie eine Wehrlose ermorden und deren
Freunde täuschen, vielleicht sogar ebenfalls töten. Sie
konnte die Tränen der Verzweiflung kaum zurückhalten
und musste sich immer wieder mit dem Ärmel über das
420 Gesicht wischen. Ihre Füße stießen aus Unachtsamkeit an
Steine und Kanten.

Eine von Taffis Lichtkugeln schwebte in der Mitte der


Gästehöhle und spendete mildes, rauchloses Licht.
Laura saß allein in einer dunkleren Ecke. Melek hatte
sich um sie kümmern wollen, doch sie hatte ihn kalt
abgewiesen; er war ihr von vornherein unsympathisch
gewesen.
Auch Melek saß deshalb allein in einer Ecke der
Gästehöhle, doch anders als bei Laura lag es bei ihm daran,
dass niemand ihn mochte – scheinbar grundlos.
Paaldrag und Brommil erzählten sich mit gedämpften
Stimmen von Kämpfen, die sie schon überlebt und
gewonnen hatten.
Srrig saß bei Mèra, die inzwischen schon eine Weile
wach blieb. Die beiden unterhielten sich in einer fremden
Sprache, die keiner der Anwesenden sonst verstand. Die
Mienen der beiden wechselten mal zu großer Sorge, mal
zu einem dezenten Lächeln. Doch auch ohne ihre uralte
Sprache zu kennen, sah man ihnen an, dass sie große
Vertrautheit füreinander empfanden, wenn Srrig ihr
beiläufig durchs Haar strich und sie ihrerseits das Fell
seiner Hand streichelte.
Taren und Athónon standen am Eingang der Gästehöhle
und ließen den Blick über die Stadt schweifen. Auch Taffi
war bei ihnen, auf Athónons Schultern, und schnupperte
mit hoch gerecktem Kopf.
Taren wandte sich an Athónon: „Ich erinnere mich 421
dunkel daran, dass vor über zwanzig Jahren in meiner
Heimat Silberberg mal ein großer Tempelkrieger namens
Cesius mit einem Gnom reiste; das wart aber nicht Ihr,
oder?“
„Doch“, nickte Athónon.
„Was wurde aus Cesius? Ich hörte Gerüchte, sein selbst
aufgezogenes Schlachtross soll als Fohlen schon äußerst
lange Schenkel und einen stolzen, geraden Hals gehabt
haben, aber dennoch sei es als erwachsenes Pferd nicht
schnell genug galoppiert: Beide seien vor langer Zeit schon
in der Fremde gefallen, heißt es. Wenn Ihr jetzt allein hier
seid ...“
„Ich musste Cesius begraben“, raunte Athónon mit
seiner steinernen Miene. „Sein Schlachtross verließ ihn
sogar schon früher.“
„Das tut mir leid“, brummte Taren. Beide schwiegen
eine Weile. Athónon sah dem Menschen sofort an, dass
er gern diese Geschichte gehört hätte, doch Taren fragte
nicht. Er respektierte Athónons Schweigen darüber.
„Ist Euch aufgefallen, dass die Elfen hier alle
schwarzhaarig sind?“, fragte Taren zögerlich und
beobachtete Athónons Reaktion.
„Es sind alles Nachtelfen. Sie machen ein Geheimnis
daraus, aber ich nehme an, Ihr könnt damit umgehen. Die
Nachtelfen ...“, schilderte Athónon, wurde von Taren aber
unterbrochen.
„Sie sind ein verfluchtes Volk, das die Sonne nicht
verträgt, ich weiß“, presste der Mensch hervor.
Athónon zog eine Augenbraue hoch. „Nein, sie sind ein
422 gesegnetes Volk, welches dämonische Kreaturen mit bloßen
Händen töten kann. Ihre Empfindlichkeit gegenüber der
Sonne ist der Preis für diese Gabe.“
Taren starrte den Gnom mit offenem Mund an. „Woher
wisst Ihr das denn?“, fragte er überrumpelt.
„Ich hatte schon öfter mit ihnen zu tun. Eine von ihnen
kannte ich zwanzig Jahre.“ Athónons Gesicht bewegte sich
kaum, nach nur einer minimalen Pause redete er weiter.
„Viele Nachtelfen wissen selbst nicht, was sie können, aber
manche schon. Sie sind lebende Waffen im großen Plan
der Götter.“
„Ihr scheint wirklich ein weitgereister Mann zu sein“,
raunte Taren anerkennend. „Wart Ihr oft in Silberberg?“
„Ich lebte eine Weile dort. Ist schon lange her“,
antwortete Athónon, kurz angebunden wie immer.
„Ihr solltet es bald noch mal besuchen, bevor die
Chimärier es in Schutt und Asche legen“, knurrte Taren
verbittert. Seine Augen glommen kalt vor Wut.
Athónon blickte zu dem Krieger empor. „Glaubt Ihr
nicht, dass die Mauern und die Bastionen im Umland
halten werden?“
Taren erwiderte den Blick nicht und brummte nur
resigniert: „Mit jedem Mal, das die Stadt wieder angegriffen
wird, steht die gleiche, aufgestockte Zahl Chimärier
immer weniger Menschen gegenüber. Und die Menschen,
die da sind, haben jedes Mal etwas leisere Stimmen und
etwas traurigere Augen. Silberberg wird zermürbt. Ich
weiß nicht, warum das Imperium keinen einzelnen,
entschiedenen Schlag führt; auf irgendetwas warten
sie ... Viele Narren suchen ihr Heil im Osten, anstatt die
Grenze zu verteidigen, weil sie glauben, die Chimärier 423
werden irgendwann nicht mehr nachkommen. Doch
wenn Silberberg fällt, gibt es für viele Tagesreisen keine
größere Stadt mehr. Sie werden sich wie eine Sintflut ins
Land ergießen, und ihr Eroberungsdrang wird die letzten
Ecken der freien Menschenlande auch noch überfluten.
Die nördlich von Silberberg gelegene, einst reiche Stadt
Ammegorn besteht zum großen Teil nur noch aus Bettlern,
Armen und Soldaten, während die Reichen fliehen.
Ihre Geschäfte basieren auf dem Handel mit Silberberg,
doch dieser Handel kommt inzwischen mehr und mehr
zum Erliegen. Ganz Silberberg ist wie ein schweigendes,
kaltes Grab. Viele Häuser stehen leer. Die Barden spielen
Trauerlieder, selten etwas Fröhliches. Die Stimmung der
Stadtsoldaten ist überaus feindselig gegenüber allen, die
nicht kämpfen können. Es ist schon beinahe kein Ort
mehr, der seine Verteidigung wert ist, wäre er nicht von
strategischer Bedeutung. Wenn Silberberg fällt, gibt es
für Dutzende von Tagesmärschen keine vergleichbare
Bastion mehr; das Land ist zu flach, dort baut niemand
Dörfer oder gar Städte. Das Imperium könnte sich nach
Silberberg so tief ins Land fressen, dass wir es niemals
wieder loswerden könnten. Außerdem wären dann die
Elfen im Norden und die Tigermenschen im Süden
jeweils isoliert, das Imperium könnte sie nacheinander
vernichten; selbst angreifen bräuchten diese Völker die
Chimärier dann auch nicht mehr, das wäre sinnlos. Dafür
wäre jetzt der letzte Zeitpunkt, doch diese Narren lassen
ihn verstreichen. Sie verleugnen die Gefahr, weil es ihnen
viel zu weit weg erscheint.“
424 Athónon schwieg. Er verschwieg, dass nun zusätzlich
zu den Chimäriern möglicherweise noch eine handfeste
Bedrohung durch die Dämonen hinzukam, die bisher
keinen direkten Einfluss hatten. Hevas Leib stand zum
zweiten Mal in Athónons Lebensspanne am Abgrund.
Einmal hatten Athónon und seine Gefährten bereits ihren
Teil dazu beigetragen, die Dämonen zurückzuschlagen.
Doch der Preis dafür war die Ausbreitung der Chimärier
gewesen. Was wäre diesmal der Preis, sollten die Diener
der Götter überhaupt Erfolg haben? Es musste einen Preis
für den Erfolg geben. Denn wenn Athónon eins über die
Welt der Götter gelernt hatte, dann, dass alles Gute immer
eine Kehrseite hatte, ob man sie nun freiwillig sehen wollte
oder nicht.

Srrig trat an Taren und Athónon heran. „Ich werde


versuchen, Waffen, Rüstungen oder wenigstens Kleidung
aufzutreiben.“ Srrig trug nach wie vor nichts als einen
Lendenschurz. „Mèra schläft. Ich werde mich beeilen,
zurückzukommen, aber ich habe keine Ahnung, wie lange
ich brauche.“
Taren nickte und brummte: „Viel Glück.“
Taffi sprang von Athónons auf Srrigs Schulter und
quietschte: „Au ja, sehen wir uns die Stadt an!“

Mèra war wieder in ihrem Traumland am Meer, allein


mit Cerýllion. Hier vergaß sie Srrig und alles war anders:
Alles war wie früher, wie vor dem Krieg, vor dem Ende des
Glorreichen Zeitalters. Es war so, wie sie es sich gewünscht
hätte.
Doch plötzlich wollte Cerýllion sie nicht mehr umarmen, 425
er ging fort – zu einer anderen Elfin. Die beiden küssten sich
gierig und rissen sich vor Mèras Nase die Kleider vom Leib.
Eifersüchtig starrte Mèra die schwarzhaarige Feindin an, die
besser gebaut und jünger war als sie.
Mit brennenden Tränen rief Mèra: „Du hast gesagt, wir
zwei allein würden hier glücklich werden! Du hast gesagt,
nur jemand meines Alters könnte mich verstehen – gilt das
nicht auch umgekehrt? Was willst Du mit diesem Kind, noch
nicht mal ein einziges Jahrhundert alt? Wie kannst Du mir
das antun? Du gemeiner Lügner!“
Cerýllion reagierte gar nicht auf ihre Worte, sondern glitt
mit der Zunge an ihrer Konkurrentin hinab. Diese starrte
Mèra wissend an, mit dem sicheren, bösartigen Triumph in
den Augen.
„Nein! Das ist mein Traumland! Ich gebe nicht einfach
auf!“, schrie Mèra verzweifelt.
Sie lief auf Cerýllion zu und packte ihn mit beiden Händen
am Arm. „Komm zurück zu mir!“, flehte sie.
Während Cerýllion sie angewidert anstarrte und sich
losriss, zog Mèras Feindin einen Dolch.
„Er gehört mir!“, zischte die Feindin und stach zu.
Mèra schreckte mit einem kläglichen Schrei auf.
Athónon und Taren wirbelten gleichzeitig herum, auch
die anderen Anwesenden blickten zu der Elfin.
„Bleib am Eingang“, rief Athónon über die Schulter zu
Taren und eilte an Mèras Seite. Fragend musterte er sie.
Mèra hatte Mühe, ihren Atem zu beruhigen. Zu
Athónon raunte sie: „Ich träumte von einer Nachtelfin,
die ... Es war nur ein Albtraum, es ist nichts. Nur mein
426 schlechtes Gewissen in Bezug auf dieses Volk, bei dem wir
jetzt zu Gast sind. Oder war es doch eine kurze Vision der
Zukunft?“
Athónon erwiderte mit beruhigender und sanfter
Stimme: „Euer gutes Herz spricht für Euch. Aber es kann
Euch hier nichts passieren, mit so vielen Wachen.“ Ein
Mundwinkel zuckte fast nach oben.
Mèra lächelte dankbar und legte den Kopf wieder auf
ihren Rucksack, den sie als Kissen verwendete. Sie schloss
die Augen, um weiterzuschlafen.
Dann riss sie die Augen schlagartig wieder auf. „Das ist
sie!“, keuchte sie und richtete sich mühsam auf.
Am Eingang bei Taren stand Safáydra und redete mit
dem Menschen, den sie schon kannte.

Sie hat Dich erkannt, Du Närrin! Versagerin! Aber gut, ich


werde Dich noch einmal da herausholen, vorausgesetzt, Du
tötest sie auch! Los, renn auf sie zu und stich sie ab, solange
alle anderen noch herumsitzen!
Safáydra hörte mitten im Satz zu reden auf und starrte
Taren nur mit offenem Mund an.
„Was ist? Sprich weiter, was wolltest Du uns fragen?“,
redete Taren auf sie ein.
Sie sprengte in die Höhle und zog im Rennen den
Dolch.
Mèra zerrte sich am Fels hoch, während Athónon
grimmig vor sie trat und das magische Kurzschwert zog.
Safáydra spürte, dass etwas aus der Gnomenwaffe ihren
Geist umnebelte, doch sie wischte es fort wie Spinnweben
aus dem Gesicht. Sie stach mit dem Dolch nach Athónons
Augen, so plötzlich, dass der Gnom gerade noch die 427
Klinge hochreißen und den Kopf zur Seite ziehen konnte.
Sein Arm befand sich nun fast ausgestreckt vor Safáydra –
exakt so, wie sie drauf gewartet hatte. Nur mit der Linken
agierend, packte die Nachtelfin Athónons Handgelenk
und rammte den Gnom Ellbogen an Ellbogen, was seinen
Arm knackend überstreckte. Athónon schrie unterdrückt
und verlor die Waffe. Safáydra stellte ihr langes Bein hinter
den Gnom und zog ihn rückwärts. Während er über ihr
Bein fortstolperte, stach Safáydra nach Mèra, die mit dem
Rücken an der Wand lehnte.
Mèra hielt kraftlos ihren Arm von innen an Safáydras
Handgelenk und lenkte den Stich an sich vorbei. Die
Nachtelfin wollte verärgert nachsetzen und zu Mèras
Kehle stechen, doch beider Handgelenke schienen
förmlich aneinanderzukleben. Wohin Safáydra den Dolch
auch bewegte, Mèras Handgelenk war im Weg. Es gelang
Safáydra auch nicht, durch Zurückziehen der Hand die
Waffe zu befreien, denn auch diese Bewegung machte
Mèra ohne Verzögerung mit.
Dann war Paaldrag bei ihr, der Mèra am nächsten
gesessen hatte – ein riesiger, schneller Schatten in Safáydras
Augenwinkel. Ihr Kopf ruckte entsetzt zur Seite. Paaldrag
trat ihr mit solcher Wucht vor die Brust, dass sie ohne
Schrei an die gegenüberliegende Felswand knallte, wo sie
mit dem Hinterkopf einen Blutfleck verspritzte. Leblos
rutschte sie zu Boden. Ein Blutschwall floss aus ihrem
Mund, als sie zum Liegen kam und ein letztes Mal im
ganzen Körper zuckte. An Paaldrags Bein hatte ihr Dolch
kaum mehr als einen Kratzer hinterlassen.
428 „Danke“, hauchte Mèra, starrte dabei jedoch die Tote
mit undeutbarer Miene an.
Athónon setzte sich neben Mèra an die Wand und
keuchte: „Mein Arm ist gebrochen. Ich denke, ich kann
ihn heilen, aber es wird etwas dauern.“
Taren ging zum Eingang zurück. Von dort sagte er:
„Sie war sowieso eine Verräterin an ihrem Volk. Angeblich
war sie freigesprochen worden, aber ich hatte ihr das nicht
geglaubt. Sicher ist sie geflohen. Ich frage mich nur, warum
sie Mèra angreifen wollte.“
„Es sind schon zuvor zwei Gruppen von Kopfgeldjägern
auf mich losgegangen, seit wir unsere Reise antraten“,
schilderte Mèra knapp. Ihren Verdacht – Cerýllion –
verschwieg sie.
Laura und Melek setzten sich wieder in ihre Ecken,
aus denen sie zuvor aufgesprungen waren. Meleks
Aufmerksamkeit lag bereits wieder bei Laura.
Paaldrag brummte in Tarens Richtung: „Ich nehme an,
es wird seltsam aussehen, wenn ich mit einer toten Elfin
durch die Stadt ziehe, ob Verräterin oder nicht. Ich schlage
vor, ich löse Dich beim Eingang ab und Du bringst die
Leiche weg, wohin auch immer die Bewohner es für
angebracht halten.“
Taren blickte die anderen an. „Sind alle damit
einverstanden?“, fragte er.
Laura starrte furchtsam auf den Chimärier, aber
Brommil rief: „Na klar, wieso denn nicht?“
Melek schwieg demonstrativ und Athónon war bereits
in seinen Zauber versunken.
Taren blickte Mèra fragend an. Als sie vorsichtig nickte, 429
sagte Taren: „Also gut. Ich bringe die Leiche weg.“
Paaldrag neigte den Kopf mit gepresster Miene. Kaum
ein Niederer verstand die feinen Bewegungen im Gesicht
eines Chimäriers zu deuten; beinahe, aber nur beinahe,
hätte er seinen Dank für das Vertrauen ausgesprochen. Er
wusste, wie tief Furcht und Hass gegenüber Chimäriern
bei den anderen Völkern saßen.

Mèra bettete sich abermals zur Ruhe und schlief rasch


ein, trotz des Mordversuches an ihr.
„Ich bin so stolz auf Dich, meine Liebe! Diese Hexe und
Volksverräterin hatte mich tatsächlich mit einem Zauber
belegt, aber Du hast sie besiegt. Jetzt kann uns nichts mehr
trennen, meine Geliebte!“
Cerýllion wollte Mèra umarmen und küssen, doch sie wich
von ihm zurück. „Was hast Du vor?“, flüsterte Mèra, „Du
kannst nicht ernsthaft glauben, ich falle auf eine so plumpe
Lüge herein. Du hast die Nachtelfin auf mich gehetzt, nicht
wahr? Wolltest Du, dass ich sterbe, oder dass sie stirbt? Ich
kenne Dich, vergiss das nicht. Vermutlich wäre Dir beides
recht gewesen, Du konntest nur gewinnen, nehme ich an. Wie
viel Einfluss hattest Du auf meine Vision von ihr?“
Cerýllion starrte Mèra wütend an. „Ich war das nicht!“,
rief er wahrheitsgemäß, auch wenn er den Rest der Geschichte
wohlweislich verschwieg.
Siegessicher lächelte die Elfin und schüttelte den Kopf.
„Beinahe hätte Dein Zauber funktioniert und Du hättest
mich wieder um den Finger gewickelt. Beinahe wäre ich
bereit gewesen, mich allein fortzustehlen, um Dich zu suchen
430 – und in den Tod oder in die Gefangenschaft zu tappen,
nehme ich an. Doch diesmal hast Du zu hoch gepokert.
Kriech zurück zu Deinem Freund Schattenwacht! Und was
es mit dieser armen Nachtelfin auf sich hatte, werde ich auch
noch herausfinden.“

„Ich frage mich wirklich, was Du Dir dabei gedacht


hast“, murmelte Taren, während er im Gehen Safáydras
totes Gesicht betrachtete.
Einige Nachtelfen liefen schreiend davon, als sie den
breitschultrigen, „haarigen Barbaren“ mit der toten Elfin
sahen. Etliche Wachen kamen angerannt und spannten in
sicherer Entfernung ihre Bögen. Ein Nachtelf trat hervor,
der einen durch blaue Bändchen und gestickte Ornamente
verzierten Lederpanzer trug. Er legte seine Hand auf
seinen Schwertgriff am Gürtel und fragte laut in elfischer
Sprache: „Was ist geschehen?“
Taren antwortete ruhig: „Sie griff eine Gefährtin aus
dem Nichts an. Sie ist Safáydra, jene Verräterin an Euch,
die gemeinsame Sache mit den Schlangenblütern gemacht
hatte.“
Der Nachtelf kam näher, bis er Safáydras Gesicht
erkannte. „Sie ist ihrem Gefängnis entkommen und hat
zwei Wachen getötet. Außerdem wäre sie bald sowieso
hingerichtet worden. Aber könnt Ihr mir vielleicht noch
erklären, warum sie Euch hätte angreifen sollen?“
„Ich weiß es wirklich nicht“, erwiderte Taren und
schüttelte leicht den Kopf.
„Nun gut“, brummte der Nachtelf und winkte mit zwei 431
Fingern zwei andere Nachtelfen zu sich. Per Handzeichen
befahl er ihnen, Safáydras Leiche fortzubringen.
„Ich entschuldige mich für diese Unannehmlichkeit“,
sagte der Nachtelf hochnäsig und verneigte sich knapp.
„Können wir vielleicht etwas für Euch tun?“, fragte er mit
distanzierter Höflichkeit.
„Allerdings“, lächelte Taren. „Meine Gefährten und ich
sind so gut wie unbewaffnet, jedoch haben wir vor, einen
Gefährten aus Harkýior zu befreien ...“
Der Nachtelf musterte Taren, ohne eine Miene zu
verziehen. Geringschätzig erklärte er dann: „An Eurer
Lebensmüdigkeit kann ich auch nichts ändern, aber
meinetwegen lasse ich Euch einige Waffen, die wir
entbehren können, in die Gästehöhle bringen. Nun gehabt
Euch wohl.“
Achselzuckend kehrte Taren darauf zu den Gefährten
zurück.

„Ich kann nicht glauben, dass Du das tust!“, rief Taffi


und rannte auf Srrigs breiten Schultern hin und her.
„Wieso? Das ist eine Aufgabe, die ich schnell und leicht
bewältigen kann, und dafür komme ich an mein Ziel. Also
tue ich es. Stolz ist eine Ausrede der Schwachen.“
Gut gelaunt, mit einem Summen auf den Lippen, fuhr
Srrig fort – den Boden der kleinen Taverne zu fegen, die
momentan noch für Gäste geschlossen war.
„Du weißt nicht mal, ob Dir die Kutte des Elfen passen
432 wird. Sicher wird sie Dir zu eng um den Rücken und zu
kurz an den Beinen sein!“, zeterte Taffi.
„Dann mache ich sie nicht ganz zu“, meinte Srrig
beiläufig und fegte weiter.
„In derselben Zeit könntest Du Dich um eine Waffe
kümmern! Wer weiß, was in diesem Moment bei der
Gästehöhle passiert! Ich traue diesem Melek nicht“,
wetterte Taffi weiter.
„Ich traue ihm auch nicht“, bestätigte Srrig, für einen
kurzen Moment wurde seine Miene düster. „Und ich
traue auch sonst niemandem außer Mèra. Aber ich halte
zumindest Taren, Athónon und Laura für gute Wesen.
Nur bei Brommil und Paaldrag bin ich mir noch nicht
sicher.“
„Da haben wir es!“, fiepte Taffi, „stell Dir vor, Paaldrag,
Brommil und Melek stellen sich gegen die anderen,
während Du hier die Taverne fegst!“
„Dafür gibt es keinen sinnvollen Grund“, raunte Srrig
gepresst – und fegte schneller.
„Deine Erfahrung und Deine Kraft haben Dich sorglos
gemacht, aber jetzt musst Du auf eine schwache Mèra
achtgeben und auf Sterbliche Rücksicht nehmen, vergiss
das nicht!“, sagte Taffi leise.
Srrig grinste amüsiert. „Was würde ich nur ohne Dich
machen, Taffi?“, lachte er mit einem ganz leichten Spott in
der Stimme.
„Tavernen fegen, nehme ich an“, erwiderte Taffi etwas
gekränkt.
Srrig öffnete die Tavernentür und kehrte den
Staubhaufen nach draußen. „Ich weiß Deine Sorge zu
schätzen, mein Freund. Aber ich laufe auch nicht gern 433
halb nackt herum, und so lange hat es nun wirklich nicht
gedauert, diese Kutte zu bekommen.“
Der Tigermann schloss gerade die Tavernentür wieder,
als ein faltiger, gebeugter Nachtelf mit grau-schwarzem
Haar aus einem Nebenraum herbeihumpelte. „Hier ist die
Kutte“, krächzte er mit einer sehr alten Stimme.
Srrig bedankte sich höflich und streifte die blaue Kutte
über. Sie war in der Tat zu eng um die Brust und zu
kurz an den Beinen, doch Srrig ließ sein weißes Brustfell
herausgucken und fand es nicht schlimm, dass ihm der
Stoff nur bis zum Knie reichte. „Eine goldene Kordel zum
Zubinden, so ein Zufall“, raunte er mit einem dünnen
Lächeln.
„Mein König? Die Königin der Elfen und ihr Gemahl
sind eingetroffen. Sie erwarten Euch im Thronsaal, Herr“,
verkündete ein junger Tigermann und verneigte sich tief vor
Srrig.
„Fein. Gehen wir. Danke für das gedeihliche Üben!“, rief
Srrig einigen breitschultrigen Tigermännern in bunten Roben
zu, die schnaufend und keuchend um ihn herumstanden, auf
ihre Holzwaffen gestützt. Auch ihre Kordeln waren allesamt
golden, genau wie die von Srrig, der eine weiße Robe dazu
trug.
Srrig spazierte gut gelaunt aus dem Übungsraum und
schwang seinen beinlangen Eichenstock locker in der Hand, bis
ein Diener ihm die Waffe mit einer Verbeugung abnahm.
„Teuerste Mèra!“, rief Srrig schon von Weitem freudig. Die
Elfin war ihm entgegenspaziert, ihr buntes Kleid schillerte
magisch wie ein leuchtender Regenbogen. Sie trafen sich in
434 der Mitte des prunkvollen Saales, wo sie von Marmorsäulen
flankiert wurden. Dort standen sie auf einem türkisfarbenen
Mosaik und umarmten sich herzlich. Eine goldene,
majestätische Abendsonne durchflutete die Halle. Hinter
Mèra stolzierte ein weißhaariger Elf mit roten Augen und
umarmte Srrig ebenfalls, allerdings distanzierter, falscher.
„Cerýllion“, sagte Srrig höflich und lächelte professionell. Bei
offiziellen Treffen konnte er sich mit Mèra kaum unterhalten,
und bei inoffiziellen Treffen wie diesem kam sie nicht allein,
ärgerte er sich still.
„Nun, was macht die Politik?“, fragte Mèra mit einem
spöttischen Blitzen in den Augen. „Du weißt ja, wir Elfen
verstehen davon nichts.“
„Oh, ich habe die Nachrichten heute auch noch nicht
gehört. Meine Söhne erzählen mir sonst stets die Neuigkeiten,
aber die sind im Moment mit ihrer Schule unterwegs. Also
sehen wir zur Abwechslung mal selbst nach! Setzt Euch
doch, meine Freunde.“ Srrig lud sie ein, sich auf eine riesige
Marmorbank mit ebenso riesigen, purpurfarbenen Kissen zu
legen. Er nahm eine kleine Marmortafel zur Hand, auf der
verschiedene Edelsteine eingelassen waren. Srrig berührte den
obersten, und aus dem Nichts erschien vor der Marmorbank
ein silbrig schimmerndes, quadratisches Feld. In ihrer Kultur
war dies nichts Ungewöhnliches mehr, zumal große Ereignisse
sich anbahnten ...
„So viel Magie in einem Raum soll ja das Gedächtnis
beschädigen, hörte ich“, murmelte Srrig beiläufig.
„Dann wären wir Elfen alle schon geistlose Zombies
geworden“, lachte Mèra.
Auf der schimmernden Silberfläche erschien das Gesicht
eines Tigermannes, der eine Schriftrolle vor sich hielt und 435
daraus vorlas. „Der Kanzler des Äußeren Volkes hat erklären
lassen, er ließe sich nicht damit abspeisen, auf irgendeiner
Insel am Rande von Hevas Leib einquartiert zu werden. Er
beansprucht nach wie vor große Territorien an der Ostküste.
Er begründet seinen Anspruch mit der Verwandtschaft zur
Götterfamilie. Diese ist jedoch noch immer damit beschäftigt,
die Legitimität dieser Verbindung zu prüfen. Gerüchten
aus dem Zwergenreich zufolge, sollen jedoch entsprechende
Unterlagen längst von Spionen des Äußeren Volkes entwendet
worden sein. Der Kanzler des Äußeren Volkes hat die Zwerge
vorige Woche bereits als Kriegstreiber bezeichnet.“
Seufzend berührte Srrig denselben Edelstein noch einmal.
Während die Silberfläche wieder verschwand, legte er die
Marmorplatte weit weg. Gepresst blickte er Mèra und
Cerýllion an. „Was wollt Ihr essen?“, fragte er unvermittelt
und grinste schief.
Erst jetzt wurde Srrig bewusst, dass er schon auf halbem
Wege zurück zur Gästehöhle war. „Wollte ich nicht noch
eine Waffe auftreiben?“, murmelte er verärgert.
Taffi entgegnete: „Du kannst ruhig auf dem Weg mal
bei Deinen Reisegefährten vorbeischauen. Wenn alles
in Ordnung ist, kannst Du ja immer noch nach Waffen
suchen.“
Srrig blieb abrupt stehen und starrte mit offenem Mund
das Chamäleon auf seiner Schulter an. „Du hast nicht
irgendeinen Zaubertrick an mir ausprobiert, oder?“
Taffi legte unschuldig den Kopf schräg und säuselte:
„Ich bin doch nur ein einfaches Chamäleon, ich könnte
nie einen unsterblichen Halbgott manipulieren.“
436 Nach wie vor konnte Srrig sich nicht daran erinnern,
woher oder seit wann er Taffi kannte; doch das kleine
Wesen erschien ihm wie ein alter Vertrauter.
„Dies ist das Wesen
der dunklen Gegenspieler der Vier Könige:
Ohne Körper, ohne eigenen Willen,
Wie der Dämon des Blutdurstes in den Tigerseelen,
so kommen sie über uns.
Unsichtbar, ohne Grund oder Warnung
vergiften sie die Seelen derer, die sorglos sind.“
Dies soll der Hohepriester Theb Nor im Sterben gesagt haben,
nachdem angeblich einer seiner Schüler ihn vergiftet hatte
12 441

Aus den Augenwinkeln beobachtete Melek immer


wieder Laura. Er hatte einen Großteil seiner Kindheit und
seine gesamte Jugend an den bösen Geist Gozbad verloren.
Noch nie hatte er ohne Gewalt versucht, sich einer Frau
zu nähern. Sein erster Versuch, ein Mädchen seines Alters
anzusprechen, war nun kläglich gescheitert – und er hatte
nicht die leiseste Ahnung, wie er das einzuordnen hatte;
war es seine Schuld oder ihre?
Melek gefiel es, wie Lauras kühler, harter Schutzwall
doch immer wieder bröckelte. Es erregte ihn mehr, ihre
Furcht gelegentlich aufblitzen zu sehen, als die Rundungen
unter ihrer Kleidung zu betrachten, oder wie der Stoff ihrer
Beinlinge sich spannte, wenn sie die Knie anzog. Er stellte
sich vor, wie ihre schlanken Muskeln zitterten, wenn sie
sich vergeblich gegen ihn wehrte, und wie ihr Kopf in den
Nacken fiel und ihren Hals und ihre Kehle entblößte; er
stellte sich ihr helles Stöhnen vor, wenn –
Melek schüttelte sich unmerklich. Ressu hatte ihm mehr
angetan, als sie vermutlich geahnt hatte, doch er sträubte
sich gegen die Gedanken seines alten Lebens. Die Götter
hatten ihm eine zweite Chance auf ein friedlicheres Leben
angeboten, als sie ihn aus der Arena haben entkommen
lassen, und Melek wollte diese Chance unbedingt nutzen.
Abermals erhob er sich und setzte sich ungefragt neben
Laura. Ihre Augen blitzten böse, doch ansonsten reagierte
sie nicht. „Erzähl mir von Deiner Heimat“, bat Melek und
hielt das für einen gelungenen Anfang.
442 Laura funkelte den Menschen nur verärgert von der Seite
an, schüttelte unmerklich den Kopf und sah wieder weg.
Sie hatte seine Sprache zwar ungefähr verstanden, doch
ihre Gedanken waren bei ihrer Mutter und bei Wenndur.
„Wieso willst Du nicht mal mit mir reden?“, fragte Melek
aufgebracht, „was mache ich, dass Dich so abstößt?“
Laura schnaufte durch die Nase und legte ihr Gesicht
in eine Hand. „Geh doch einfach weg, verdammt“, zischte
sie resigniert in elfischer Sprache, wohlwissend, dass Melek
sie dann nicht verstand.
„Wir sind jetzt Reisegefährten, schon vergessen? Du
wirst mich noch länger ertragen müssen, wieso also willst
Du mein Feind sein?“, machte Melek einen weiteren
Versuch, freundlich zu sein, seiner Meinung nach.
„Lass sie, Junge. Sie will allein sein“, brummte Brommil
in Meleks Richtung.
Melek blickte den Zwerg an, als hätte der ihm einen
Dolch in den Rücken rammen wollen. Wutschnaubend
zog Melek sich in seine Ecke zurück und starrte finster vor
sich hin.

„He, Melek! Das war ganz schön gemein von diesen


arroganten Gestalten, was?“, raunte ihm eine Stimme zu.
Melek nickte, schielte aber gleichzeitig furchtsam zu
den Seiten; niemand saß neben ihm, der ihm hätte ins
Ohr flüstern können.
„Gozbad?“, dachte Melek.
Nein. Ich bin Du, ich denke, was Du wirklich denken
solltest. Gib Dich nicht der Schwäche hin; Du willst doch gar
nicht wirklich mit ihr reden. Sieh, wie sie Dich erniedrigt
und blamiert hat vor allen! Glaub nicht, dass das ein Versehen 443
war, oh nein! Frauen machen das absichtlich, und dann tun
sie unschuldig, damit Du nicht wütend auf sie sein darfst. Es
sind perfide Biester! Die Schwächeren sind immer gemein,
das müssen sie, um sich durchzubeißen. Doch Du bist der
Mann, Du hast es nicht nötig, darauf zu reagieren. Zeig ihr,
was ihr wahrer Platz in der Natur ist, sobald keine Zeugen
da sind! Und wehe, Du redest noch mal so von unten herauf
mit ihr und gestattest ihr, sich über Dich zu erheben!
Melek grinste teuflisch in sich hinein. Wieder schielte
er zu Laura hinüber, aber diesmal hätte sein Blick ihr gar
nicht gefallen.

„Hallo, Laura“, raunte Wenndur in ihr Ohr und legte


einen Arm um ihre Schulter. Wie selbstverständlich, küsste er
sie auf die Stirn und schaute ihr liebevoll in die Augen.
„Du bist tot! Das ist ein Traum“, dachte Laura verwirrt
und bekämpfte mit aller Kraft den Impuls, dem Barden in
die Arme zu stürzen.
„Ja, ich bin tot, aber Du träumst nicht, ich bin es wirklich.
Meine Seele kann keine Ruhe finden, bis ich Dir erzählt habe,
was wirklich in der Höhle mit Deiner Mutter geschehen ist.
Hast Du das Blut auf Athónons Gesicht gesehen, als Du
nach dem Kampf wieder erwacht bist? Es war das Blut
Deiner Mutter! Athónon hat sie erschlagen. Er dachte, sie
sei dämonisch besessen gewesen, als sie plötzlich zu sich kam,
doch er hat sich geirrt. Laura, Athónon hat Deine Mutter
ermordet! Er würde das freilich nie zugeben, so wenig wie
Mèra, aber glaube mir, so war es. Ich liebe Dich, Laura,
wieso sollte ich Dich anlügen?“
444 Mit diesen Worten verblasste Wenndurs Vision. Laura
hatte das Gesicht in den Händen vergraben und die Knie
angezogen. Plötzlich sprang sie auf und rannte schluchzend
aus der Höhle. Ihren Gürtel mit dem Kurzschwert, den sie
zuvor abgeschnallt hatte, ließ sie zurück.
„He, wo willst Du hin?“, rief Taren ihr stutzig nach.
Melek sprang auf, klopfte Taren auf die Schulter
und meinte: „Ich hole sie schon zurück, halte Du weiter
Wache.“
Während Melek der Halbelfin nachrannte, tastete er
nach dem Bronzedolch auf seinem Rücken, den er aus
Paaldrags Rucksack gestohlen hatte.
Athónon und Mèra hatten von all dem nichts
mitbekommen; Athónon war noch immer in die Heilung
seines Armes versunken, während Mèra tief und ruhig
schlief.

Laura lief nach knapp dreißig Metern in den nächsten


Seitengang hinein und sank nach wenigen Schritten
schluchzend an der Wand herab. „Das darf nicht sein!“,
flehte sie, „das ist ein Irrtum!“ Sie raufte sich wütend und
verzweifelt die kurzen Locken.
Dann hörte sie Schritte auf sich zurennen und blickte
hoch. Der Gang war dunkel. Von der Haupthöhle drang
Licht hinein; Laura erkannte Meleks schlanke Umrisse
sofort.
„Du schon wieder“, zischte sie kalt auf Elfisch und
wollte Melek anschreien. Da sah sie den Dolch in seiner
Faust und erstarrte. Ihre Wut erlosch wie Feuer unter 445
einem plötzlichen, eisigen Wasserschwall.
Melek kam ohne Umschweife zur Sache und knurrte:
„Du bist eine Frau und halbe Elfin, ich war Gladiator
in der Arena; welche Chance glaubst Du zu haben?
Zieh Dich aus. Und wehe, Du schreist.“ Er grinste böse,
wohlwissend, dass sie sich nie kampflos ergeben würde; er
wollte sie nicht einfach niederschlagen. Er wollte, dass sie
wimmerte und bettelte.
Bebend vor Hass und Angst richtete Laura sich auf.
Das Wichtigste der Menschensprache hatte sie verstanden.
Seinen Ton hatte sie verstanden. „Niemals!“, zischte sie mit
brechender Stimme. Wut und Stolz kochten so wild in ihr,
dass sie glaubte, zu verbrennen.
„Das wird Dir leidtun“, behauptete Melek überzeugt
und ließ den Dolch so schnell und so weit vorzucken, dass
er Laura den Bauch aufgeschlitzt hätte – wäre dort nicht
das Kettenhemd unter ihrer Tunika gewesen. So schnitt
Melek nur den Leinenstoff entzwei und kratzte über das
Eisen.
„Der nächste Schnitt trifft auch, aber aber ins Gesicht.
Also, wenn Du Deine Schönheit behalten willst ...“, drohte
Melek ihr mit einem bösen Lächeln. Ließ seine Dolchspitze
vor ihrem Kopf kleine, bedrohliche Kreise ziehen.
Laura starrte Melek für einen Moment fassungslos an.
Inzwischen registrierte sie kaum noch bewusst, wie ihr
Körper auf die Gefahr reagierte. Sie trat mit dem Fuß
ansatzlos gegen Meleks Waffenarm und grinste, weil
sie traf – doch Melek grinste ebenfalls, weil der Treffer
keinerlei Wirkung zeigte.
446 „Du musst schon genau treffen, wenn Du willst, dass
die Finger sich öffnen“, belehrte er sie höhnisch. Er brachte
den Dolch wieder drohend in Position, direkt vor Lauras
Gesicht. Melek machte sich sprungbereit. Lauernd funkelte
er sie an, während sie nur etwas eingeschüchtert auf die
Klinge starren konnte. Unbewusst hob sie die Arme, als
wollte sie sich ergeben. Innerlich war sie keineswegs zur
Aufgabe bereit. Sie wartete auf eine Möglichkeit, Melek
zu entwaffnen und furchtbar zu verprügeln. Schließlich
war dies nur ein einzelner Junge ihres Alters, kein
breitschultriger Räuber mit Bogen oder Speer, und sie,
Laura, war immerhin in der Dorfwache die Beste ihres
Jahrgangs gewesen.
„Ich biete Dir noch eine letzte Chance!“, knurrte Melek
siegessicher. Er wusste, dass Laura seine Sprache vielleicht
gar nicht richtig verstand; andererseits waren die Worte
nicht wichtig: Es war der Ton, der Laura treffen sollte.
„Ergib Dich lieber freiwillig. Ich habe über zehn Jahre
lang alle Mädchen bekommen, die ich wollte! Ich kenne
alle Tricks.“
Laura blickte nervös über Melek hinweg zum Eingang
und sofort zurück zu ihm. Als hätte sie dort jemanden
gesehen, den sie nicht verraten wollte.

Melek schielte kurz über die Schulter, um sicherzugehen,


dass er unbeobachtet war. Lauras Arme schossen wie
Schlangen vor und griffen nach dem Dolch. Er hatte damit
gerechnet, und als Melek die Klinge ruckartig wegzog,
drehte er sie mit den Schneiden zur Seite. Laura zuckte,
fluchte gequält und zog blitzschnell die Hände zurück.
Ihre zerschnittenen Finger bluteten stark; rote Tropfen, 447
dick wie Kirschen fielen zu Boden.
„Schluss jetzt damit!“, grollte Melek und packte Laura
unvermittelt am Arm. Den Dolch hielt er ihr vors Gesicht.
Laura ließ sich davon allerdings nicht einschüchtern
und packte ihrerseits Meleks Dolchhand. Beide rangen
miteinander, drückten und schoben sich und knurrten
sich giftig an. Lauras Blut lief aus ihren Fingern Meleks
Arme entlang.
Melek hatte gedacht, er müsste nur fest zudrücken und
sie würde aufgeben. Er hatte ihre Kraft unterschätzt. Laura
umgekehrt erkannte schnell, dass selbst ein dünnerer
Menschenmann schon viel mehr Kraft besaß als sie.
Er drückte sie schließlich mit einem Ruck an die Wand
und kam mit seinem triumphierenden Gesicht nah an
ihres. Sie spuckte ihn an und riss das Knie hoch – Melek
sprang gerade noch rechtzeitig vor ihrem Angriff zurück.
Doch sofort stieß er pfeilschnell wieder vor und wirbelte
scheinbar unkontrolliert mit dem Dolch herum, er trieb
Laura vor sich her. Sie erhielt mehrere tiefe Schnitte an den
Unterarmen, die sie schützend vor sich hielt. Hilflos hob
sie die zerschnittenen Hände immer näher vor ihr Gesicht
und fühlte dumpfe Schmerzen in den Armen. Genau diese
Reaktion wollte Melek. Plötzlich war er so nah bei ihr,
dass er ihr in den Magen trat, während sein Dolch noch
immer vor ihrem Gesicht herumwirbelte.
Laura stöhnte laut und krümmte sich. Die Hände
streckte sie schützend vor sich. Sie konnte sich nicht
aufrichten. Schrammte und stolperte rückwärts an der
kantigen Höhlenwand entlang.
448 Melek wartete keinen Lidschlag ab, wirbelte seitlich an
Lauras ausgestreckten Armen vorbei und schlang seinen
freien Arm um ihren Hals. In diesem Schwitzkasten hätte
er sie einfach abstechen können. Aber er wollte sie lebend.
„Bist ganz schön mutig für’n Beutetier, Dich mit mir
anzulegen!“, grunzte Melek. „Ich werde Dir Deinen wahren
Platz in der Natur schon zeigen!“, zitierte er Gedankengut
aus seinen Jahren unter Gozbads Kontrolle.

Lauras Arme ruderten für einen Augenblick nutzlos vor


Melek. Er drückte fest zu und zerrte brutal an ihrem Hals.
Sie konnte kaum noch röcheln, geschweige denn atmen.
Ihre Augen traten hervor und sie verkrallte sich verzweifelt
in Meleks Arm. Doch sein Griff war eisern, zumal ihre
eigenen Finger und Unterarme so verletzt waren, dass sie
kaum noch Kraft darin hatte.
Aber um keinen Preis würde sie aufgeben. Sie sah sich
zudem nicht mehr nur als Einzelschicksal; sie hatte Meleks
Sprache ungefähr verstanden und konnte unmöglich
zulassen, dass er mit seiner Philosophie Erfolg hatte, dass
seine Vorstellung vom Leben über die ihre obsiegte. Sie
musste einfach beweisen, dass sie kein Beutetier war. Allein
der Begriff machte sie so rasend vor Wut und Stolz, dass sie
daraus neue Kraft schöpfte. Sie sah bereits Schlieren und
Sterne. Ihre Knie – sie spürte sie nicht mehr – drohten
einzuknicken. Doch sie war noch lange nicht am Ende
ihrer Reserven.
Sie versuchte, Melek den Ellbogen in die Rippen zu
rammen, doch er schmiegte sich so eng an sie, dass sie
nicht genug ausholen konnte. Sie wollte ihm mit dem
Stiefel auf den Fußansatz treten, aber er wich ihren Tritten 449
geschickt aus. Dann wollte sie ihm zwischen die Beine
schlagen, doch auch das verhinderte er durch geschicktes
Umsetzen der Beine.
Laura gestand sich nicht ein, dass sie einen mindestens
ebenbürtigen Gegner vor sich hatte, der ihre Tricks selbst
kannte und vereiteln konnte. Sie konnte es sich nicht
eingestehen. Unmöglich.
Mit jeder ihrer Bewegungen wurde sie schwächer, weil
sie keine Luft bekam und Melek langsam ihre Kehle
zerdrückte. Ihr Genick knirschte.

Melek hielt sich bereits für den Sieger und stellte sich
vor, wie es wäre, ihren Kopf zu verdrehen, um ihr das
dünne Elfengenick zu brechen, nachdem sie ihren Zweck
erfüllt hatte. Er starrte auf ihr ängstliches und verzerrtes
Gesicht, das doch so zart und schön sein würde, sobald sie
bewusstlos wurde. Er starrte auf ihre Locken und ihren
Rücken hinab.
Der Junge drückte nicht so fest zu, wie er gekonnt hätte.
Er genoss es, wie Laura litt und verzweifelt gegen ihn
ankämpfte. Auch den Dolch setzte er nicht ein, obwohl es
jetzt sehr leicht gewesen wäre, sie damit zu verletzen oder
gar zu töten. Ihr qualvolles Röcheln und ihre kraftlosen,
blutigen Finger, die sich in seinen Arm gruben, erregten
ihn viel mehr.
„Gib endlich auf“, raunte er belustigt, während sie immer
schwächer gegen seinen Griff ankämpfte. Er spottete mit
betont deutlicher Aussprache, um sicherzugehen, dass
Laura seine Worte verstand: „Die anderen Kriegerinnen
450 konnten auch nie akzeptieren, dass die Natur Euch dem
Mann untergeordnet hat. Ihr erfindet Fehler, die Männer
angeblich haben, und Fähigkeiten, in denen ihr angeblich
besser seid, nur um Euren Neid zu beruhigen, aber der
Natur sind Eure vielen Gedanken völlig egal.“
„Nein!“, keuchte Laura und bäumte sich auf. Der
Würgegriff ließ sie fast bis auf die Knie sacken, doch sie
kämpfte und kämpfte. „Was weißt Du schon von der
Natur?“, dachte sie und hielt ihn seines Wahnsinns für
entlarvt: „Ohne Familien gäbe es längst keine Zweibeiner
mehr!“
Mit schneidender, bösartiger Stimme spottete Melek
weiter: „Dein Körper ist dafür gebaut, Beute und Mutter zu
sein, nicht Jäger. Beute! Meine schwache Beute!“ Lüstern
grunzte er: „Du wirst mich wohl die nächsten Stunden
beschäftigen. Oh ja, ich denke, ich werde Dir meinen
Dolch tief in den Leib rammen.“
„Du Monster!“, kreischte Laura heiser und strampelte
kraftlos gegen Meleks Griff und gegen seinen zutiefst
schmerzenden Spott an. So verrückt sein Weltbild war,
so wenig half Laura in diesem Kampf die Erkenntnis
darüber.

Schließlich wurde Melek zu ungeduldig und wollte ihr


das Knie ins Gesicht rammen, wollte nicht so lange auf die
Ohnmacht der zähen Kämpferin warten.
Endlich konnte Laura etwas von ihrem Kampftraining
nutzen, etwas, das auch halb bewusstlos noch in Frage
kam: Sie verschränkte beide Arme vor dem Gesicht, um
Meleks Bein zu blocken und ließ sich nun selbst auf die
Knie fallen – obwohl das beängstigend an ihrem Kopf riss; 451
Melek hielt sie schließlich noch immer im Würgegriff fest,
und ihr ganzes Gewicht hing für einen Moment an ihrem
Hals.
Sie ließ sich jetzt allerdings nicht mehr aufhalten und
packte Meleks Ferse mit beiden Händen. Den quälenden
Schmerz in den zerschnittenen Armen, im Genick und an
der Kehle konnte sie durch ihre pure Wut und Todesangst
ignorieren. Sie sprang hoch und zog Meleks Bein mit sich.
Ein Halswirbel verrenkte sich, aber sie hatte Meleks Bein.
Ihr Hass, den er selbst geschürt hatte, gab nun ihr und
nicht ihm ungeahnte Kraft.
Melek hielt sich mit seinem würgenden Arm noch
immer an Lauras Hals fest, musste jedoch hüpfen, um das
Gleichgewicht zu behalten. Sein Dolch schwebte drohend
vor ihrem Gesicht, doch hätte er sie wirklich töten wollen,
hätte er das längst im Schwitzkasten getan – auch Laura
wusste das und ignorierte die Klinge.
Sie war jedoch nicht schnell genug; allmählich wurden
ihre Knie wieder weich und ihre Sicht trüb. Sie hatte keine
Zeit mehr. Sie umklammerte Meleks Fuß nur noch mit
einem Arm. Schlug ihm mit der anderen Faust ins Knie,
bevor er sich befreien konnte.
Melek lachte dreckig und blieb stehen, sein Bein war
zu stark für ihren schwachen Schlag mit dem verletzten
Arm.
Dann nutzte sie seine unvorsichtige Überheblichkeit des
Augenblickes – und trat ihm mit aller Gewalt zwischen
die Beine. Und traf.
Der einfachste und effektivste aller Angriffe hatte
452 wieder einmal funktioniert. Melek brüllte und würgte vor
Schmerz, während Laura ihm schreiend einen Stoß mit
beiden Fäusten gegen die Brust versetzte und den Kopf
einzog. Melek verlor den Würgegriff und Laura war frei.
Melek stach im Stürzen vor Wut zu und hatte Laura
diesmal wirklich töten wollen, doch durch seinen Sturz an
die Gangwand streifte er wieder nur ihr Kettenhemd und
schnitt ihre Tunika weiter in Streifen.
Die Halbelfin sog gierig die Luft ein, gleichzeitig sah sie
sich schon gehetzt nach einer Waffe um. Binnen weniger
Lidschläge erholte sie sich, keineswegs verwundert über
ihre unnatürliche Zähigkeit.
Sie wollte nicht fliehen oder um Hilfe schreien. Sie war zu
wütend und zu stolz. Laura würde Melek besiegen und sich
für jeden Kratzer doppelt rächen; sie war schließlich eine
Kriegerin und kein feiges Beutetier, wie er sie beschimpft
hatte. Sie hatte schon zwei Räuber mit größeren Muskeln
und besseren Waffen besiegt, sie würde auch jetzt allein
für ihr Überleben sorgen können. Sie fühlte sich immer
noch wie in sengenden Flammen stehend.
„Du bist nicht mal ein Mann! Du bist nur ein
verzogenes, widerliches, irres Kind!“, schrie sie ihn an;
es musste einfach raus, auch wenn sie wusste, dass ein
unkontrollierter Kämpfer im Ernstfall ein toter Kämpfer
war – so wie Melek, der sich mit dem Monolog über seinen
Wahn hatte gehen lassen.
Lauras Blick fiel auf einen faustgroßen Stein, den sie
sofort aufheben wollte. Entsetzt stellte sie jedoch fest, dass
sie ihn kaum festhalten konnte, so sehr waren ihre Arme
verletzt. Noch spürte sie die Schmerzen bloß nicht, da die
blanke Angst sie immun machte. „Angst? Von wegen!“, 453
zischte sie zu sich selbst, kaum dass sie den ersten Schreck
über ihre Arme verwunden hatte.

Mit einem unartikulierten Wutschrei sprang sie Melek


in den Rücken, als der sich gerade vom Boden hochrappeln
wollte. Sie trat ihm gegen den Hinterkopf, sprang auf seine
knackende Waffenhand und trat ihm noch einmal von der
Seite ins Gesicht. Erst dann trat sie den Dolch fort, weit
in die Dunkelheit des Ganges hinein; sie wollte Melek
plötzlich nicht mehr bewaffnet besiegen oder gar töten,
sonst hätte sie den Dolch selbst aufgehoben. Sie wollte
Melek in einem fairen Kampf besiegen und demütigen.
Und danach erst töten. Etwas Unelfisches erwachte in
ihr.
Als halbelfische Jugendliche mit zerschnittenen Armen
würde sie Melek grün und blau schlagen und ihm noch
viel mehr Schmerzen zuzufügen, als er es mit ihr vorgehabt
hatte. Außerdem wollte sie sich selbst etwas beweisen; ihr
Stolz beherrschte sie vollkommen, aber das war ihr nicht
bewusst. So wenig, wie ihr das tödliche, völlig unnötige
Risiko bewusst war.
Sie wiederholte den groben Fehler, durch den schon
die zwei Räuber sie beinahe überwältigt hätten: Sie
vernachlässigte ihre Umgebung und schweifte ab.

Melek sprang sie überraschend vom Boden an und


rammte ihr die Schulter vor die Brust, überrumpelte sie.
Noch bevor sie etwas von ihm zu packen bekam, donnerte
seine Faust durch das Kettenhemd in ihren Magen und
454 seine andere Faust an ihren Kopf. Betäubt wankte Laura
zurück. Der Tritt auf Meleks Hand zuvor hatte ihn
scheinbar nicht richtig verletzt.
Als Melek sie ansprang und weiter auf sie einschlagen
wollte, reagierte sie endlich, duckte sich unter seinen
Armen weg und hämmerte ihm ihrerseits im Ausweichen
die Faust in den Solarplexus. Während Melek sich
krümmte und fluchte, schlug Laura ihm die andere Faust
aus der Drehung heraus in den Nacken. Melek taumelte
stumm vorwärts und wäre fast gestürzt. Laura setzte nun
ihrerseits triumphierend nach und holte mit der rechten
Faust weit aus. Melek war jedoch zu zäh, zu wenig
überrascht, und sprang ihr entgegen. Er traf ihr Kinn mit
einem Aufwärtshaken. Nach aller Rauferei war dies der
erste punktgenaue Angriff, dessen Wirkung eines Kriegers
würdig gewesen wäre.
Laura wollte sich abfangen, fiel aber mit dem Rücken
genau auf einen Stein, der ihr alle Luft aus den Lungen trieb
und ihren Körper lähmte. Mit aufgerissenen Augen, Blut
spuckend von ihrer geplatzten Lippe, rang sie vergebens
nach Luft. Der Kampf schien vorbei.

Melek packte sie an den Haaren und am Hals, zerrte


sie auf die Füße und schleuderte sie wutschnaubend gegen
die Wand. Sie konnte nicht schreien. Nur ihre verzerrte
Miene verriet ihren Schmerz. Ein weiterer Faustschlag ins
Gesicht schleuderte sie herum und betäubte sie endgültig.
Leise stöhnend hielt sie sich noch am Fels fest.
Melek war rasend vor Wut. Er schlug Lauras Gesicht
mit der flachen Hand brutal gegen den Fels. Ein blutiger
Streifen blieb darauf zurück. Das Kettenhemd und seine 455
schmerzende Faust ignorierend, schlug er ihr immer
wieder in die knirschenden Rippen. Laura krümmte sich
und öffnete hilflos den Mund, ohne atmen oder schreien
zu können. Melek seinerseits kam mit seinem Gesicht
ganz nah an ihres. Roch ihre Angst und ihren Schweiß,
während er weiter zuschlug.
Seine freie Hand strich durch ihre verschwitzten
Locken, so als sei Laura bereits besiegt und wehrlos. Die
Halbelfin hielt sich nur noch verzweifelt mit beiden Armen
an der Felswand fest, um nicht zu stürzen, doch ihre Beine
knickten langsam ein und Melek lachte.
Immer mehr Blut lief über Lauras Lippen, sie war wie
körperlos, unfähig zu handeln. Melek drückte sich eng an
sie, während sie Fingerbreit für Fingerbreit zu Boden sank
und die Augen verdrehte. Er grub seine Hand zwischen
ihre Schenkel. Leckte mit der Zunge Blut und Tränen aus
ihrem Gesicht. Nach ein paar Lidschlägen ließ er ihren
Kopf in den Nacken fallen und schmiegte seine andere
Hand um die Brustwölbungen im Kettenhemd. Seine
wachsende Gier ließ ihn immer schwerer atmen, als er
seine Hand unter das Kettenhemd auf Lauras Bauch schob
und in ihre Haut griff, als wollte er eine Waffe packen.
Laura wollte wenigstens nicht stöhnen, doch auch dabei
gehorchte ihr Körper nicht mehr; unfreiwillig vergrößerte
sie Meleks Genuss noch.
Als sie auf die Knie gesunken war und kläglich nach
Luft rang, riss Melek sie auf den Rücken und kniete sich
zwischen ihre Schenkel, packte unsanft ihr Gesicht und
biss spielerisch in ihren schweißnassen Hals. Mit der
456 anderen Hand griff er fest in ihre Taille und rieb seine
Hüfte gegen ihre.

Meleks hektischer Griff zu ihrem Hosenbund weckte


Laura wie kaltes Wasser aus dem Schlaf, weckte etwas bis
dahin Verschüttetes. Ihr menschliches Erbe allein hätte sie
nicht mehr gerettet. „Gibt es etwas Böses, Dämonisches
in Dir?“, hörte sie Athónons völlig verdrehte Stimme.
Erinnerungsfetzen an jenes Gespräch. Meleks Hand an
ihrem Bauch. Eine Mauer vor einem Teil ihrer Seele bekam
durch Melek ein Loch, eine Mauer, die Laura bisher nicht
bewusst gewesen war.
Sie schrie plötzlich wild, donnerte die Fäuste in Meleks
zurückzuckendes Gesicht und trat ihm vor den Kopf. Fast
wäre sie nicht auf die Füße gekommen vor Schwäche.
Taumelnd hob sie die blutigen Fäuste vor das Gesicht und
grunzte in Menschensprache: „Komm ruhig näher, Du
Schwein!“
Melek wankte ebenfalls und fluchte obszön. Er hielt
sich die blutende Stirn und starrte Laura hasserfüllt an.
Blind vor dämonischer Wut stürzte Laura sich mit
einem Hechtsprung auf Melek. Der duckte sich unter ihren
zugreifenden Armen jedoch mühelos weg und boxte ihr im
Flug so hart in den Magen, dass sie sich in der Luft über
ihm zusammenkrümmte. Noch bevor sie auf ihn stürzte,
packte Melek ihre Kniekehlen. Er hob sie hoch und rannte
brüllend vorwärts, bis er Laura mit dem Rücken gegen die
Felswand schlug.
Sie stieß einen kläglichen Schrei aus, wie ein verwundetes
Tier. Melek warf sich mit Laura zu Boden. Die Halbelfin
knallte abermals auf den Rücken und schlug diesmal auch 457
mit dem Hinterkopf auf.
Melek kniete über ihr. Griff einen Stein mit der Linken
und schlug blind zu, traf Lauras Schlüsselbein. Sie schlug
ihm ihrerseits mit dem Faustrücken ans Kinn – ohne ihn
wirklich gesehen zu haben; in ihrem Kopf explodierte
gerade ein Gewitter und sie war kurz davor zu ersticken.
Melek stutzte aufgrund des Treffers an seinem Kinn
kaum, er war schon weitaus härter geschlagen worden. Er
schlug wieder mit dem Stein zu, diesmal jedoch gezielter:
Direkt auf Lauras Nase.
„Nicht schon wieder die Nase ...“, stöhnte sie und ließ
die Arme betäubt niedersinken. „Ich muss ... gewinnen ...“,
seufzte sie noch – und erschlaffte. Melek hielt sein Ohr an
ihren Mund und hörte sie ganz leise atmen. Siegesgewiss
und stolz auf sich flüsterte er: „Meins!“

Melek blickte in den Eingang. Niemand schien den


Kampf mitbekommen zu haben. Er strich mit den
Fingerspitzen über das Blut in Lauras Gesicht. Leckte es
lustvoll von seinen Fingern. Seine Hände glitten um ihren
Hals, seine Daumen strichen andächtig über ihre Kehle. Er
kostete den Moment des Triumphes aus. Melek bebte und
schauderte vor Begierde, wollte seine Beute verschlingen.
Doch er fühlte sich noch zu nah am Eingang, zu sehr
gefährdet, gestört zu werden. Er sprang auf und schleifte
Laura an den Armen hinter sich her.

In der Schwärze von Lauras Bewusstlosigkeit bröckelte


die verbotene, verborgene Mauer weiter. Etwas von der
458 anderen Seite der Mauer packte sie. Zerrte mit unsäglicher
Gewalt an ihr. Quälte sie zu Tränen – und sie genoss es. Für
einen Moment. Sie träumte von ihrem panischen Schrei,
als sie sich vorstellte, sich wollüstig mit Melek am Boden
zu wälzen und sich wie ein Tier mit ihm zu paaren.
Mitten in Meleks Flucht rollte Laura sich plötzlich
über den Rücken und stieß dabei ihre Beine Meleks Kopf
entgegen. Sie traf ihn nicht richtig, immerhin war dies ein
sehr schwieriges Manöver. Zumindest aber musste Melek
sie loslassen, um auszuweichen. Er packte jedoch seinerseits
ihr Bein, während sie nach ihrer Rückwärtsrolle auf den
Bauch klatschte. Ruckartig verdrehte er ihren Fuß.
Laura schrie und krampfte sich zusammen. Melek
ließ ihren verrenkten Fuß los und sprang über sie hinweg
– direkt auf ihren Hinterkopf. Da ihr Gesicht bereits am
Boden gelegen hatte, schlug ihr Kopf nicht zusätzlich auf
den Grund. Sie blieb gerade noch bei Bewusstsein. Sie tat
allerdings so, als würde sie wieder ohnmächtig werden und
lag reglos da. Ihr Schädel schien bersten zu wollen. Für
einen Bruchteil eines Lidschlages stellte sie sich vor, wie
sich die Kopfschmerzen erst anfühlen mussten, wenn die
Gefahr vorüber war und sie ruhiger wurde. Wie konnte sie
jetzt nur an so etwas denken? Wie konnte sie überhaupt
noch denken ...?
Sie hörte Meleks leisem, anhaltenden Lachen
angewidert zu. Vermochte sich nur mit Mühe noch länger
zur Regungslosigkeit zu zwingen, als er seine Finger in
ihren Hintern grub und ihre Beine entlangstrich. Da sie
die Augen geschlossen hatte, sah sie nicht sofort, was er
vorhatte, als er aufstand. Er packte die Ärmel ihrer Tunika
und ihres Kettenhemdes und riss ihr beides mit einem 459
Ruck vom Körper. Auch der Leinen-Unterstoff war fort,
denn der war am Kettenhemd befestigt. Sie trug nun
nichts weiter am Oberkörper als ein festes Tuch.
Jetzt immer noch vollkommen reglos zu bleiben,
nicht mal Lippen und Augen vor berstender Spannung
zusammenzukneifen, kostete sie unsäglich viel
Selbstbeherrschung. Zumal ein Teil ihres zerschundenen
Körpers nur noch aufgeben und schlafen wollte.
Melek strich wie ehrfürchtig über ihren Rücken. „Ein
zarter Hals, enge Lippen und feste, junge Haut ... Wie
ich das vermisst habe! Ich hätte Gozbad nie verleugnen
dürfen!“, hörte sie Melek flüstern. Dass sie ausgerechnet
von ihm die Menschensprache lernte ...
„Noch nicht! Ich muss mich zusammenreißen!“, befahl
Laura sich und konnte nur mit größter Konzentration
immer wieder den Reflex unterdrücken, die Fäuste zu
ballen.

Melek rollte Laura unsanft auf den Rücken und ließ


seine Hände durch das Tuch in ihre Brüste sinken. Da
stach sie ihm die schmutzigen Finger in die Augen.
Auch wenn sein Kopf reflexmäßig zurückzuckte, um die
Augen zu schützen, fiel Melek doch fluchend rückwärts.
Er streckte die Arme vor sich; er konnte für einen Moment
nichts sehen außer bunten Blitzen.
Laura packte ihn am Schopf und schlug ihm die Faust
des anderen Armes auf die krachende Nase. Was immer
ihr die Kraft dazu gab, war weder menschlich noch elfisch.
Den Schwung des Armes ausnutzend, drehte sie die Hüfte
460 mit voller Kraft und donnerte ihm den Ellbogen gleich
hinterher an den Kiefer. Es war, als wäre sie nie verprügelt
worden. Ein neues, dunkles Feuer loderte in ihren eiskalten
Augen.
Melek war jedoch sehr abgehärtet. Er schrie bloß
wütend und trat Laura von innen ins Knie; ihr Bein glitt
nach hinten weg, sodass sie nun unfreiwillig breitbeinig
über ihm stand. Ihre Miene blieb versteinert und kalt. Sie
spürte den verletzten Fuß nicht und kämpfte trotzdem um
ihr Gleichgewicht.
Melek trat ihr im Liegen zwischen die Beine. Keuchend
blieb sie stehen, ließ aber sein Haarbüschel los. So
vorgebeugt wie sie dastand und die Augen zukniff,
musste Melek grinsen. Er holte mit dem Fuß weit aus und
trat ihr dann so hart ins Gesicht, dass ihr Kopf in den
Nacken ruckte und sie wie vom Blitz getroffen über ihm
zusammenbrach.
„Ja, komm zu mir!“, flüsterte Melek mit einem bösen
Lachen und rieb seine Finger ihren Rücken empor. Er
zog ihren reglosen Körper an sich, sodass ihr glühendes,
blutiges Gesicht an seinem lag und er mit der Zunge
über ihre Wange fahren konnte. Melek fühlte ihr Blut in
Strömen aus ihrer Nase in sein Wams laufen und schloss
genussvoll die Augen. Auf seine abstoßende Weise sinnlich,
küsste er ihre blutige Oberlippe und schmiegte die Hände
an ihre Hüfte, um sie auf seine zu drücken. „Na endlich!“,
raunte er lüstern.

Plötzlich öffnete Laura die Augen mit einem Ruck.


Ihr Blick war so abgrundtief böse, dass Melek zu atmen
462 vergaß. Sie biss seine Unterlippe durch, spuckte ihm sein
Blut ins Gesicht und schlug ihm die gewölbten Hände auf
die Ohren. Schwerfällig sprang sie rückwärts, rutschte aus
und stürzte.
Melek schrie vor Schmerzen und hielt sich den Kopf.
„Das wirst Du büßen!“, schrie er – und starrte im nächsten
Moment verschreckt zum Eingang der Höhle. Niemand
war dort, niemand schien seinen Schrei gehört zu haben.
Die Halbelfin versuchte unbeholfen, auf die Füße zu
kommen, doch sie zitterte am ganzen Körper vor Schwäche.
Das Gefühl, entflammt zu sein, ließ sie nun frösteln. Als
sie gerade auf allen vieren kniete und versuchte, sich auf
die Beine zu stemmen, sprang Melek pfeilschnell auf die
Füße, hob ein Bein weit über Lauras Kopf und donnerte
ihr dann die Ferse in den Nacken.
Laura brach zuckend zusammen. Bevor sie sich von
dem Tritt erholen und sich abermals aufrappeln konnte,
riss Melek sie herum. Er sprang mit den Knien auf sie und
schlug ihr die Faust so hart er nur konnte ins Gesicht. Sie
ruderte bloß hilflos mit den Armen und scharrte mit den
Füßen über den Fels. Doch ihre Augen loderten noch
immer infernalisch dabei.
Melek legte beide Hände um ihren Hals und drückte
langsam zu. Immer fester. Ihr schwaches Aufbäumen
unter ihm war ihm ein Hochgenuss.
Er ließ erst los, als Lauras Hände mit einem leisen
Platschen auf den Fels fielen, als sie die Augen verdrehte
und die Lider schloss, ausgestreckt und schlaff unter ihm
liegen blieb.
„Wirklich, ich kann mich nur wiederholen: Nett, wie 463
Du mit Frauen umgehen kannst“, hörte Melek plötzlich
Brommil in ein paar Schritten Entfernung. Der Zwerg
stand im Halbdunkel des Ganges, sein Umriss zeichnete
sich unscharf vor dem Licht des zurückliegenden Einganges
ab.
„Sie hat mich –“, begann Melek, aber Brommil
unterbrach ihn mit einem leisen Lachen.
„Ich weiß genau, was passiert ist, mein Junge“, knurrte
der Zwerg, „und ich finde es gut!“
Melek klappte überrascht der Kiefer nach unten.
„Taren hat mich Dir hinterhergeschickt, weil er Dir
nicht traut. Komisch, was?“, berichtete Brommil und
lachte wieder kurz.
Bevor Melek irgendetwas erwidern konnte, raunte
Brommil verschwörerisch: „Pass auf! Wir teilen sie uns
und geben uns dann gegenseitig ein Alibi. Wenn wir
jetzt nämlich sofort verschwinden, ist das zu auffällig.
Dann verfolgen sie uns. Wir können uns später von
denen trennen, ich will sowieso nicht in den Tod laufen
wie diese Verrückten. Doch zunächst müssen wir so tun,
als hätten wir die Kleine hier so gefunden, von wem
auch immer zusammengeschlagen. Die werden ihr keine
andere Geschichte glauben, wenn wir zusammenhalten,
sondern das ihren Schlägen auf den Kopf zuschreiben.
Meine eigenen Schrammen könnten von einem Sturz im
Dunkeln herrühren, oder von Schlangenblütern.“
„Und wenn sie uns trotzdem nicht glauben?“, fragte
Melek ernst. „Du hast selbst gesagt, Taren traut mir
nicht.“
464 Brommil seufzte und dachte nach. „Du hast recht, wir
sollten nicht zurückkehren“, antwortete er. „Also los, Du
darfst natürlich anfangen“, fügte er hinzu und trat ein
paar Schritte zurück.
„Und wenn ich sie nicht teilen will?“, knurrte Melek.
Brommil legte verärgert den Kopf schief. „Du hast
keine Wahl, Kleiner“, erwiderte der Zwerg gelassen und
tätschelte Lauras Kurzschwert, das er sich umgeschnallt
hatte, bevor er Melek gefolgt war.
Der Junge nickte gepresst und wandte sich Laura zu
– sie trat ihm die Stiefel ins Gesicht.
Ihr ganzer Körper bebte und zuckte. Ihre Augen waren
blutunterlaufen und ruckten unstet. Ein dünner Faden
schaumiger, rötlicher Speichel lief ihren Mundwinkel
hinab. Lauras innere Mauer, um ihr dunkles Erbe herum,
bröckelte und bröckelte.
Melek und Laura sprangen halb bewusstlos auseinander.
Melek taumelte neben Brommil, Laura stolperte und
hinkte noch tiefer in den dunklen Gang hinein. Keuchend
brach sie dort zusammen und stieß tierhafte Wimmerlaute
aus. Melek und Brommil sahen sich unschlüssig und
verunsichert an.
Langsam veränderte sich Lauras Atmung wieder hin zu
ihrer halbelfischen Seite.

„Wieso tut Ihr das?“, weinte Laura schließlich in der


Menschensprache, gebrochen von Schmerz und Niederlage,
am Boden liegend. Sie war es offenkundig nicht gewohnt,
unter Tränen zu reden, staunte über ihren eigenen Klang.
Tränen schienen auf unterschwellige Weise generell nicht
zu ihr und ihrer sonst festen Stimme zu passen. 465
„Ihr könntet Freunde haben, stattdessen macht ihr alles
kaputt!“, versuchte sie sich weiter in der Menschensprache.
Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um das Blut
abzuwischen. Doch ihr ganzer Arm war genauso blutig.
„Freunde und Vertrauen, ja klar“, spottete Brommil.
„Das ist was für Weichlinge. Für freie Seelen gibt es nur
ein Gesetz: das Recht des Stärkeren. Man darf alles – außer
sich erwischen lassen. Und allein ist man sowieso immer,
das weiß nur nicht jeder, bis es mal darauf ankommt. Die
Gemeinschaft dient nur den Wölfen, um ihre Schafherde
zu hüten. Doch Leute wie Melek und ich sind zu stark,
um sich zu fügen und auch nur blökend auf der Weide zu
stehen. Von den Schafen gemocht zu werden, ist weitaus
weniger erstrebenswert als das Leben jenseits der Weide.“
Laura hatte viele der Worte verstanden und schwieg
zunächst. „Hohle, wiedergekäute Floskeln“, dachte sie
– entgegnete aber so sanft, wie es ihr Zustand und ihre
Sprachkenntnis erlaubten: „Du tust mir leid, Brommil.
Dich hat nie jemand geliebt, daher weißt Du gar nicht,
wovon Du redest. Du weißt nicht, was das Leben bedeutet.
Du lebst gar nicht, Du funktionierst bloß, wie ein ...
Sattel am Pferd. Wenn der Sattel alt ist, wird ein neuer
genommen. Niemand wird den alten Sattel vermissen.
Niemand kennt Deinen Namen.“
„Halt’s Maul, Du Hexe!“, schrie Brommil und rannte
auf sie zu, Lauras eigenes Kurzschwert in der Faust. Er
hielt ihr die Klingenspitze an die Kehle und starrte
wütend auf die Wehrlose herab. Ihre Nasenflügel bebten
und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie zitterte am
466 ganzen Körper vor Schwäche. Ihr Magen drohte, sich über
Brommils Stiefel zu entleeren, doch sie war andererseits
zu betäubt, um noch Angst zu spüren; über diesen Punkt
war sie hinaus. Als sie ihre Hand zu Brommil ausstreckte,
über seinen Bauch strich und ihn voller gespieltem Mitleid
ansah, fröstelte er beinahe. Für einen Moment lenkte ihn
die unerwartete Reaktion ab. Laura presste derweil die
Lippen fest zusammen und kämpfte innerlich gegen den
Würgereflex in ihrem Hals an, der zum Teil von Melek
und Brommil und zum Teil von ihrem zerschmetterten
Zustand herrührte.
Dann trat Laura dem Zwerg zwischen die Beine,
schnellte mit dem Oberkörper hoch und packte seinen
Waffenarm, so fest sie noch konnte. Ein Schauer lief ihr
über den Nacken, schüttelte sie förmlich, als ihr Körper
allerletzte Reserven aktivierte, um sie irgendwie noch
weiter ums Überleben kämpfen zu lassen. Die Übelkeit
kroch bis in ihren Mund, sie schluckte bittere Galle
zurück. Ein weiterer Stein brach aus der inneren Mauer
in ihrer Seele.
Der Zwerg krümmte sich kaum in Anbetracht von
Lauras schwachem Tritt, außerdem war Brommil furchtbar
stark für seine Größe. Er riss seinen Arm mühelos frei und
schlug Laura dann mit der Breitseite der Waffe ins Knie,
so fest, dass sie schreiend auf den Rücken zurückfiel, als
der Schmerz im nächsten Augenblick schon in ihrem
ganzen Bein explodierte. Sie rollte sich schluchzend
zusammen und gab auf. Im nächsten Moment übergab sie
sich zudem. Sie wollte nicht, dass die rätselhafte Mauer in
ihr ganz einstürzte, was immer dort Böses lauerte.
Inzwischen war auch Melek wieder klar im Kopf und 467
stellte sich triumphierend neben Brommil. „Zähes, kleines
Ding“, spottete er hochmütig. Brommil und Melek spähten
in beide Richtungen des Ganges.

Laura regte sich nicht mehr. Nur ihr Herz jagte, ihr
Atem war äußerst flach. Sie fühlte bloß noch Schmerzen
und Panik. Ihre innere Mauer war nicht so weit
zerbrochen, dass ihr dunkles Erbe sich vollständig befreien
konnte. Eigentlich fand sie das auch besser so, sie hatte
Angst vor dem, was mit ihr im Kampf geschehen war.
Obgleich ihr dieses dunkle Erbe gegen die zwei Räuber
das Leben gerettet hatte, wollte sie insgeheim doch nie
wieder etwas damit zu tun haben. Schon verdrängte sie
jegliche Erinnerung daran. Zumal eine andere, etwas
hellere Regung in ihr wieder an Kraft gewann: So wie ihr
Stolz sie in diese ausweglose Lage gebracht hatte, so half er
ihr jetzt auch. Ihr Stolz wollte einfach nicht zulassen, dass
Melek als Sieger über sie den Kampfschauplatz verließ,
als Sieger über alle vermeintlichen Beutetiere. Ihr Stolz
brachte sie sogar noch weiter als sonst – auf eine neue Stufe
der Einsicht.
Laura sprang tatsächlich noch einmal auf alle viere und
von dort sogar auf die Füße. Sie rannte am verdutzten
Melek vorbei, streifte mit Gesicht und Brust die raue
Wand, wich seinem zugreifenden Arm aus und hüpfte mit
ihrem kaputten Fuß und ihrem geschwollenen Knie auf
den Eingang zu.
„Hilfe! Helft mir!“, schrie sie verzweifelt nach draußen.
Plötzlich wusste sie, wie tödlich ihr falscher Stolz an der
468 falschen Stelle beinahe geworden wäre und dass sie keinen
Platz mehr in ihren Gedanken dafür haben durfte. So
wenig wie für ihr dunkles Erbe.

Zwei Nachtelfen, die in der Nähe gewacht hatten,


schauten alarmiert in den Höhlengang. Einer ließ über
seiner ausgestreckten Handfläche eine schimmernde
Lichtkugel schweben, während der andere einen Bogen
bereithielt und einen Pfeil auf die lockere Sehne legte.
Laura schrie nochmals jämmerlich um Hilfe, dann brach
sie besinnungslos zusammen.
Die Nachtelfen rannten eilig in den Gang. Brommil
und Melek standen noch zu weit im Dunkeln, um schon
erkannt zu werden, selbst für exzellente Elfenaugen und
magische Lichtkugeln.

Melek, der Laura zunächst verärgert ein paar Schritte


nachgehastet war, hielt abrupt inne und starrte wütend auf
die Nachtelfen. „Wir sehen uns wieder!“, knurrte er kalt in
Lauras Richtung. Dann rannte er davon und verschwand
in der Dunkelheit.
Die Nachtelfen spähten vergebens in die Schwärze des
Tunnels, doch sie konnten den Besitzer der Stimme, die da
gesprochen hatte, nicht mehr sehen.

Brommil blickte Melek unschlüssig nach, dann starrte


er wieder auf Laura und die Nachtelfen, die sich zu dem
Mädchen knieten und sie besorgt ansahen. Der Zwerg
trottete langsam in Lauras Richtung. Er traute sich zu, die
beiden dürren Gestalten im Handumdrehen zu erschlagen,
und Laura war ohnehin wehrlos. Eine fremde Stimme 469
in seinem Kopf hatte seine Gedanken in ungeahnte
Abgründe gestürzt – doch jetzt, da Melek gescheitert war,
war die Stimme verstummt. Brommil sah die Halbelfin
plötzlich wieder, wie sie wirklich war: ein freundliches
Geschöpf, das ihm gar nichts getan hatte und das nun
fast tot an einer Höhlenwand lag. Statt hasserfüllter Gier
und Verachtung spürte Brommil auf einmal unsägliches
Mitleid für Laura. Er erschrak über sich selbst, dass er so
leicht zu beeinflussen gewesen war.
Als er in Lauras Nähe kam, schlug sie gerade mühselig
die Augen halb auf. Sofort fuhr sie zusammen und zischte
einem der Elfen furchtsam etwas ins Ohr, als sie Brommils
unscharfe Umrisse erahnte. Ihre Hand schmierte ihr Blut
in das Gesicht des Elfen, panisch verkrallte sie die Finger in
seinem langen Haar. Doch Brommil achtete nicht darauf,
sondern warf Lauras Kurzschwert scheppernd über den
Boden vor ihre Füße. „Es tut mir leid“, sagte Brommil in
grauenhaftem Elfisch. „Ich bin wieder klar im Kopf.“
Irritiert und ängstlich blickte ihm Laura in die Augen.
„Ich glaube Dir nicht!“, flüsterte sie und schüttelte schwach
den Kopf.
Brommils Elfisch war mehr als unvollständig, doch
nach einigem Überlegen sprach er folgende Sätze: „Deine
Worte vorhin waren erstaunlich weise für jemanden
Deines Alters. Beinahe hätte ich mich auf den falschen
Pfad begeben. Eine Stimme, die nun verstummt ist, hat
mich beeinflusst. Vergib mir.“
Laura wollte loslachen vor Spott, wollte fragen, für
wie dumm er sie eigentlich hielt, doch sie hatte zu große
470 Schmerzen. Plötzlich stutzte sie jedoch und fragte leise:
„Eine Stimme? Meinst Du, eine fremde Stimme, die
wirklich mit Dir geredet hat?“
Brommil seufzte: „Ich kann verstehen, dass Du mich
für verrückt hältst. Schon gut, ich verschwinde.“
„Ich habe auch eine fremde Stimme gehört, die mich
dazu brachte, fortzurennen“, keuchte Laura eilig. „Ob
Melek auch bloß eine Stimme gehört hat?“, wisperte sie.
„Das werden wir wohl nie erfahren“, raunte Brommil
mit seinem kantigen Akzent. Er hob Lauras Kleidung
mit dem Kettenhemd und auch ihre Klinge auf, die er
ihr zuvor entgegengeworfen hatte. Die Nachtelfen halfen
Laura derweil auf die Füße und stützten sie auf beiden
Seiten. Als Brommil näher kam, wich Laura unwillkürlich
von ihm fort und musterte ihn misstrauisch. „Ich kann
laufen“, log sie, ohne selbst zu wissen, wieso sie sich immer
weiter quälen wollte. Sie schob die verdutzten Nachtelfen
etwas von sich und hinkte zwei Schritte weit; nachdem
der Kampf zu Ende war, wurden ihre Schmerzen jedoch
mit jedem Lidschlag unerträglicher. Nach einem weiteren
Schritt stöhnte sie unterdrückt und wäre abermals
zusammengebrochen, hätten die beiden Nachtelfen sie
nicht aufgefangen.
Verwundert sah Brommil zu Laura auf, als sie plötzlich
leise in sich hinein lachte: „Meine Mutter hat gegen
Tiefenweltler, dämonische Kreaturen und sogar gegen
Chimärier gekämpft, und mich hätte fast ein Junge meines
Alters zu Tode geprügelt! Wie konnte ich nur so naiv
sein und glauben, ich wäre diesem Abenteuer gewachsen
gewesen?“
„Na, solange Du noch lachen kannst ...“, meinte 471
Brommil darauf bloß etwas unbeholfen, zumal er auch
nur die Hälfte des Elfischen verstanden hatte.
Laura war längst klar, dass sie mehr eingesteckt hatte,
als ein normaler Mensch oder Elf überlebt hätte. Doch
sie fürchtete sich davor, den Grund herauszufinden. Lieber
wollte sie an die Stelle der bröckelnden inneren Mauer die
elfische Fähigkeit des Verdrängens schieben.

Melek befand sich inzwischen in völliger Dunkelheit.


Blind tastete er sich vorwärts. „Ich werde Dich zähmen,
Halbelfin! Ich hatte Dich schon so weit!“, zischte er leise.
„Ich werde auch ohne Gozbad wieder ein richtiger Mann.
Ich war lange genug ein verqueres Schaf in der Herde. Jetzt
kehre ich zurück zur wahren Lebensweise des Jägers. Ihr
werdet mich noch kennenlernen!“ So redete er mit sich
selbst und steigerte sich mehr und mehr in seinen Wahn.

Als Taren sah, wie Laura aus dem Seitengang stolperte,


gestützt werden musste und in welch grauenhaftem
Zustand sie sich befand, rannte er zu ihr. Er fragte sich, ob
Bruder Mond noch einmal Heilung gewähren würde.
Athónons Zauber hatte seinen Arm inzwischen
einigermaßen verheilen lassen; solange er ihn nur langsam
bewegen wollte, gehorchten Gelenk und Muskeln,
aber schnellere Bewegungen verweigerte der Arm. Der
nassgeschwitzte Gnom übernahm den Posten am Eingang
der Gästehöhle und behielt die restliche Umgebung im
472 Auge. Er schauderte. Wie oft hatte er Situationen wie diese
erlebt ... und als Einziger überlebt.
„Was ist denn passiert?“, staunte Taren besorgt und
musterte die übelst zugerichtete Laura von oben bis unten.
Sie war kaum noch bei Bewusstsein und wurde von den
Nachtelfen mehr geschleift als gestützt.
Brommil antwortete eilig auf Tarens Frage: „Ein böser
Geist sucht uns heim! Ich musste Melek verjagen, er wollte
sich an Laura vergehen. Er hat sie auch so zugerichtet.“
Laura nickte und verschwieg, dass Brommil ihm
fast dabei geholfen hätte. Doch andererseits hätte er ihr
Schwert nicht wieder hergeben müssen, sondern hätte
auch kämpfen oder Melek folgen können. Sie verriet ihn
nicht, aber sie traute ihm auch keineswegs.
„Ich habe ebenfalls eine böse Stimme in meinem Kopf
gehört“, hauchte Laura schleppend und pflichtete dem
Zwerg bei. Ihre Lider flatterten und sie schwankte so sehr
hin und her, dass die beiden Nachtelfen sich nicht recht
trauten, sie loszulassen.
Taren überlegte nicht länger und hob Laura auf seine
Arme, um sie in die Gästehöhle zu tragen. Brommil
bedankte sich bei den zwei Nachtelfen für die Unterstützung
und folgte Taren dann mit gesenktem Blick.

„Insbesondere das Bein und der Nacken sehen nicht


gut aus“, murmelte Taren, während er Laura behutsam auf
ihre eigene Decke legte. „Du musst ja wie ein Chimärier
im Blutrausch gekämpft haben, so viel, wie Du eingesteckt
hast!“, brummte er mit einer gewissen Bewunderung.
Laura schluckte nur und wusste nicht, wie sie antworten
sollte; überhaupt war sie inzwischen so schwach, dass sie 473
Taren kaum noch hören konnte, geschweige denn selbst
etwas hätte erwidern können.
Mèra saß mit dem Rücken an der Höhlenwand, als
die drei eintrafen. Ihr fragender Blick blieb an Brommil
hängen und wurde finster. Sein schlechtes Gewissen war
das Mindeste, was ihm anzusehen war; ohne Kommentar
verzog er sich in eine dunkle Nische und brütete dort vor
sich hin.
Mèra erhob sich mühsam und kniete sich neben Laura,
die inzwischen eingeschlafen war. Mitfühlend legte Mèra
ihr die magische Elfendecke um die Schultern, während
Taren auf Lauras anderer Seite kniete, ihre Arme verband
und ein Gebet an Bruder Mond murmelte. Mèra nahm
derweil einen Wasserschlauch zur Hand, tupfte Laura
das Blut aus dem geschwollenen Gesicht und wickelte aus
Verbandszeug einen kühlenden Lappen für die Stirn.

„Beide, Laura und Brommil, haben berichtet, ein böser


Geist habe in ihrem Kopf gesprochen“, brummte Taren
sorgenvoll und sah Mèra an.
Die Halbgöttin war nicht überrascht und nickte bloß.
„Ich weiß. Ich hörte ihn auch, aber es gelang ihm nicht,
mich zu beeinflussen.“ Ihre Stimme wurde fester. „Ich kenne
einen magischen Weg, uns gegen solche Einflüsterungen
und heimliche Beobachter zu schützen, aber ich bin sehr
schwach. Wärest Du bereit, mich zu unterstützen, Taren?
Ein Zauber, um unsere Kräfte zu vereinen, würde auch
474 Dich sehr schwächen, aber gemeinsam können wir es
immerhin schaffen, dass der Schutz eine Weile hält; er
wäre dann wie eine Aura um mich herum, einige Schritt
weit reichend.“
„Ich bin aber gar kein Zauberer“, wandte Taren zögerlich
ein.
Mèra lächelte und legte den Kopf schräg. „Das macht
nichts“, sagte sie nur, ohne sich auf eine Glaubensdiskussion
mit dem Tempelkrieger darüber einzulassen, dass er im
Endeffekt auch nichts anderes tat als alle anderen Zauberer.
„Vertrau mir“, lächelte Mèra, „Du musst nur bereit sein, mir
vorübergehend einen Teil Deiner Lebenskraft anzubieten,
ich kann den Rest allein bewirken.“
„Nun gut, wenn es allen dienlich ist“, antwortete Taren
ohne weiteres Zögern. Die Legitimation für seine „Magie“
erhielt er sonst von seinem Gott; vermutlich reichte aber
auch die Erlaubnis einer Halbgöttin.
Tief in seinem Inneren vermutete er schon lange, dass
der Unterschied zwischen Priestern und Zauberern nur in
der Legitimation bestand, nicht in den Wundern, die sie
bewirkten; doch er war in dem Glauben erzogen worden,
dass solche Gedanken böse und lästerlich waren und
den Dämonen in die Hände spielten, und Taren hing an
seinem Glauben. Warum sonst sollte er immer weiter für
seinen Tempel kämpfen, wenn Hevas Leib an Dämonen
und Chimärier fiel und sogar seine Gefährtin Nenúriel
sinnlos, zum monströsen Spaß der Chimärier getötet
worden war?
„Dann setzen wir uns. Gib mir Deine Hände“,
unterbrach Mèra seine dunklen Gedanken. Sie setzte sich
kerzengerade hin, neben der schlafenden Laura, und ließ 475
Taren seine Hände in ihre legen. Sie schloss die Augen,
hob das Kinn und wiegte sich sachte hin und her. Taren
erschauerte vor Ehrfurcht, als die Seele der Halbgöttin die
seine flüchtig striff.
Athónon hatte mit einem Ohr zugehört; seine Miene
verfinsterte sich unmerklich. „Sie zaubert zu viel in zu
kurzer Zeit. So wird sie sich nicht erholen, im Gegenteil“,
dachte er grimmig. Auch dachte er an sein Auge und fragte
sich, ob Laura die Decke wirklich zwingend brauchte oder
ob er damit sein Auge retten sollte. Doch auch in dieser
Situation, wie schon oft zuvor, opferte er sich für andere auf
und nahm nur an, was ihm bereitwillig gegeben wurde.

„Imperator Schattenwacht hat mir versichert, dass Du


mit uns kooperieren wirst, Erzmagus.“ Die Stimme auf
der anderen Seite des Verständigungsspiegels hatte das
letzte Wort sehr gekonnt vieldeutig betont; Cerýllion
wusste wirklich nicht, ob die Wahl jenes uralten Titels,
Erzmagus, geschmeichelt oder höhnisch gemeint war.
„Ich sagte es Dir schon einmal, Rogáril: Meine
Maßnahmen sind den Deinen durchaus nicht im Wege.
Vielmehr stifte ich zusätzliche Verwirrung in der Gruppe
von Mèra und Srrig, sodass sie keinesfalls etwas von
Deinem Vorstoß bemerken werden“, erklärte Cerýllion,
bemüht, so neutral wie möglich zu klingen. Diplomatie
war ein archaisches Spiel des Glorreichen Zeitalters, das er
gern und meisterlich beherrschte.
476 „Willst Du damit sagen, dass Du Dein eigenes Spiel
spielen willst und mich nicht aktiv zu untertützen
gedenkst. Ist es nicht so?“, fragte Rogáril diplomatisch,
doch mit einem lauernden Unterton.
„Na und? Mein Verhalten bleibt trotzdem eine Form
der Kooperation“, versetzte Cerýllion lakonisch. „Mehr
kannst Du nicht von mir erwarten, Kanzler, und mehr
erwartet auch der Imperator nicht von mir.“
„Wie Du meinst! Ich sehe mal davon ab, das als
undankbar zu bezeichnen, wegen der alten Zeiten. Doch
bedenke, dass auch Du den guten Willen meines Volkes
brauchst, wenn die Umwandlung von Hevas Leib erst
einmal begonnen hat! Ohne Schutzstein wirst Du in
unseren Lebensbedingungen binnen weniger Stunden
sterben! Weder Deine Magie noch die Gunst des Imperators
könnten daran etwas ändern!“
„Drohst Du mir, Rogáril?“, säuselte Cerýllion eisig.
„Du willst doch sicher nicht die Unterstützung meines
Mentors, des Imperators und letzten Inferiors verlieren!
Das dürfte die Pläne des Äußeren Volkes mit Hevas Leib
nämlich gänzlich unmöglich machen.“
„Sei Dir Deiner Position lieber nicht zu sicher! Wenn
Schattenwacht allein mächtig genug wäre, um die Götter
herauszufordern, hätte er meinem Volk nie angeboten, die
Macht zu teilen“, grollte der Kanzler. „Außerdem liegen
die Dinge inzwischen sowieso anders, da Deine einstige
Gemahlin uns freundlicherweise ein Tor geöffnet hat.“
Damit unterbrach der Kanzler die Verbindung.
Cerýllion blieb im Dunkeln vor dem Verbindungsspiegel
stehen und rührte sich nicht. Deine einstige Gemahlin ...
Cerýllion hatte mit Rogáril schon im Glorreichen Zeitalter, 477
viele Jahrhunderte zuvor, fragwürdige Verträge von größter
Tragweite geschlossen. Damals hatte der Elf gelernt, persönliche
Gefühle nach Bedarf ein- und auszuschalten, je nachdem, was
die „Karriere“ erforderte. Cerýllion hatte seine Persönlichkeit,
seine Gefühle und seine Beziehungen zu anderen Elfen ganz
seinem Ehrgeiz untergeordnet und war innerlich biegsam wie
Schilf und ungreifbar geworden. Sein Charakter hatte mit
den Erfordernissen der Situation gewechselt.
Eines Tages, als er mit etwas Hilfe von Rogáril am
Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses angelangt war
– als größter Zauberer aller Elfen und als ihr König – hatte
er für einen Moment seine eigene Kälte fühlen können, und
die Sinnlosigkeit und Leere seiner Existenz. Doch zu jenem
Zeitpunkt war es schon zu spät für eine Umkehr gewesen.
Ebenso war es zu spät gewesen, um Rogáril und sein Volk so
einfach wieder loszuwerden, die Verträge waren besiegelt.
Cerýllion wusste, er hätte Mèra dafür bewundern müssen,
wie sie und die drei anderen Könige das Äußere Volk schließlich
besiegten – wovon heute noch die Prophezeiung von Theb Nor
berichtet. Doch Mèra hatte Cerýllion den Thron gekostet,
seine Macht war gebrochen worden und er hatte fliehen
müssen. Diese Wunde war nur schlecht verheilt.
Dennoch hatte Cerýllion Mèra nicht damit belogen, dass
er sich wirklich nach ihr sehnte – doch nicht um ihretwillen,
sondern lediglich als Instrument, um Herr seiner eigenen
Einsamkeit zu werden.
478 Als Srrig und Taffi in die Gästehöhle zurückkehrten,
lehnte Mèra mit einem Tuch unter der Nase an der Wand,
den Kopf im Nacken. Sie war bleich und durchgeschwitzt.
Auch Taren sah bleich aus und hatte sich hingelegt. Von
Melek fehlte jede Spur. Dafür lag ein kleines Arsenal
Waffen in einer Ecke. Laura hatte sich ebenfalls schlafen
gelegt; sie sah von allen am schlimmsten aus, ein nasses
Tuch lag auf ihrer Stirn.
Taffi blickte Srrig vielsagend an, schwieg jedoch. Srrig
marschierte schnurstracks zu Mèra und setzte sich neben
sie. „Erzähl!“, bat er nur leise.
„Cerýllion“, erwiderte sie unter dem Tuch an ihrer Nase
hervor, ohne den Kopf zu heben oder die Augen zu öffnen.
„Bleib in meiner Nähe. Ich werde in den nächsten Tagen
von einem Zauber umgeben sein, der Gedankenmagie
aller Art zerstreut“, erklärte sie.
Taffi sprang von Srrigs Schulter und zwischen die
beiden. „Ihr wisst, dass es mit der Befreiung Randolphs
nicht getan ist, wenn wir uns wirklich mit Cerýllion und
Schattenwacht anlegen wollen“, sagte das Chamäleon mit
fester, wenn auch hoher Stimme. „Der vierte König fehlt
auch noch.“
„Ich will davon nichts hören!“, sagte Mèra entschieden
und machte eine schneidende Handbewegung.
Srrig ließ resigniert den Kopf hängen. „Aber er hat
recht“, raunte der Tigermann. „Cerýllion allein ist schon
ein gefährlicher Zauberer, und Schattenwacht ist das
vielleicht mächtigste Wesen überhaupt in dieser Welt.
Wir brauchen T’ral, auch wenn wir ihn nicht mögen, und
auch wenn es mir schwerfällt, unsere unterlegene Position
einzuräumen. Und wir spüren beide, in welcher Richtung 479
wir T’ral finden werden.“
„Nach unten“, hauchte Mèra eisig.
„Wer ist T’ral?“, fragte Laura neugierig dazwischen. Sie
sah noch immer halb tot aus und rieb sich die riesige Beule
an ihrem Hinterkopf, auf der sie gelegen hatte; aber sie war
inzwischen offensichtlich hellwach.
„Ein Zauberer“, antwortete Srrig ihr nur.
Athónon fügte von seinem Posten am Eingang aus zu:
„Ein Dämonid, eine besondere Form einer dämonischen
Kreatur. Die Dämoniden waren in einem früheren Zeitalter
die Schöpfungen der Dämonen, doch sie befreiten sich von
ihrem Sklavendasein, als ihr eigener Willen erwachte.“
„T’ral ist ein sadistisches Monster“, steuerte Mèra
abfällig bei.
„Er war Cerýllions Meisterschüler, der den Meister
zeitweilig sogar zu übertreffen verstand“, schloss Taffi die
Aufzählungen.
„Also noch jemand, dem man nie begegnen wollte“,
seufzte Laura.
Athónon murmelte frostig: „Der Einzige, dem man
neben echten Dämonen wirklich nie begegnen wollte.“
Taffi blickte zwischen Srrig und Mèra hin und her.
„Also, was tun wir?“, fragte er schließlich ungeduldig,
„erst Randolph oder erst T’ral?“
„Erst Randolph!“, sagten Srrig und Mèra gleichzeitig.
Srrig fuhr fort: „Danach holen wir T’ral. Wenn wir
tiefer nach unten wollen, sollten wir noch einen Kämpfer
dabeihaben. T’ral soll uns dann alle vier direkt weiter
teleportieren. Wie in alten Zeiten.“
480 „Und die Sterblichen, die uns begleiten, lassen wir
mitten im Feindesgebiet zurück?“, fragte Mèra unwillig.
Nach einer langen Pause flüsterte sie bitter: „Es ist gar
nichts wie in alten Zeiten. Außerdem ... gibt es da noch
ein weiteres Problem.“
Srrigs Augen wurden schmal. „Ja?“, fragte er
ahnungsvoll.
Sie schluckte und blickte kurz zu Athónon. „Ich habe
einen Fehler gemacht“, hauchte sie ganz leise. Srrig legte
den Kopf schräg und schwieg, er wartete auf Mèras weiteren
Bericht. Plötzlich war es totenstill in der Gästehöhle.
Bevor Mèra weiterreden konnte, tönten von draußen
Alarmrufe.

„Du hattest recht mit dem Angriff, Seher!“, staunte ein


junger Nachtelf. Eilig folgte er einem ergrauten Nachtelfen
in einen finsteren Gang. Über der offenen Handfläche des
Sehers schwebte eine winzige, weiße Lichtkugel. Herrisch
fauchte der Seher hinter sich: „Natürlich. Aber jetzt sei still
und verrate uns nicht durch Dein Geschrei!“
„Zu spät!“, knurrte eine tiefe Stimme, eine halbe
Elfenlänge über ihnen.
Die Nachtelfen erstarrten vor Schreck in der Bewegung.
Der Seher ließ sein Licht von seiner Hand fort ein wenig
vorwärts schweben. In eine grüne Robe gehüllt, stark
gebeugt vom Alter, stand eine Chimärierin vor ihnen im
Gang. Ihre Schuppen besaßen kaum noch Farbe, und auch
ihre Schlangenaugen waren nahezu bleich. Doch auch
ohne Chimärier zu kennen, konnten die Nachtelfen im 481
amüsierten Mienenspiel der Riesin sehen, dass ihr Geist
noch hellwach und keineswegs alt war.
„Die Schlangenblüter warten auf Dich, Seher, wusstest
Du das nicht?“, spöttelte sie und legte angriffslustig den
Kopf schräg.
Zerknirscht senkte der graue Nachtelf das Haupt.
„Gib mir Dein Geheimnis, dann zeige ich Dir im
Tausch einen sicheren Weg!“, bot die Chimärierin an.
„Welches Geheimnis meinst Du?“, fragte der Seher
verwundert.
„Siehst Du denn gar nichts? Ts, ts“, spottete die
Chimärierin. „Vermutlich weißt Du dann auch nicht, wer
ich bin?“
Der Seher knirschte wütend mit den Zähnen.
„Tebaarsha?“
„Ist das eine Frage, Seher? Ich bin enttäuscht. Nein, ich
bin nicht Tebaarsha. Ich bin ihre ältere Schwester Zaideena.
Du siehst seit Tagen dasselbe in Deinen Träumen. Und
obwohl meine eigenen Kräfte reichen, dies zu wissen,
kann ich nicht sehen, was Du siehst.“
Der Seher ballte die Fäuste, reckte das Kinn empor
und knurrte: „Dieses Wissen wirst Du auch niemals
bekommen!“
Hinter ihm räusperte sich der junge Nachtelf.
„Herr ... ist das klug, einer mindestens vierhundert Pfund
schweren ...“
Zaideena hob die langen Krallen und fletschte grinsend
ihre beängstigend spitzen Zähne. Aus der Nase stieß sie
eine dichte Rußwolke. „Sag mir, was Du siehst!“, verlangte
482 sie mit lauernder Stimme. „Oder ich reiße Dir persönlich
den Kopf ab, noch bevor die Schlangenblüter es tun!“
Der Seher wich bleich zurück. „Ich sehe ... Musik. Eine
graue Elfin. Blut. Die Welt in den Klauen Deines Volkes.
Ein seltsames Wesen wird sie Euch wieder entreißen.
Ein düsteres, ernstes Wesen, vom Leben enttäuscht und
aus vielen Völkern gemischt. Es wird den Teufelskreis
durchbrechen, den Theb Nor beschrieb.“

„Hatte der Seher damals wirklich Dich gesehen? Woher


weißt Du überhaupt, was in diesem Gang passiert ist? Du
warst doch gar nicht dabei, Laura!“
„Ach, hör auf, das ist meine Geschichte!“, grinste die alte
Kriegerin ihrem Gefährten frech ins Gesicht, während sie
ihre Hände am nächtlichen Feuer wärmte.
„Na gut!“, lachte der breitschultrige, zernarbte Elf an
ihrer Seite. „Erzähl weiter!“, bat er und strich sich seine
graublonden Strähnen hinter die Ohren.
„Nein, heute nicht mehr, ich bin müde“, winkte Laura ab
und erhob sich ächzend vom Feuer.
„Ausgerechnet jetzt hörst Du auf?“, protestierte der Elf.
„Oja. Ich werde meine alten, kaputten Knochen jetzt auf
mein Lager hieven und schlafen.“
„Aber morgen erzählst Du den Rest! Sonst gehe ich nicht
jagen!“, lachte ihr Gefährte.
Laura schmunzelte. „Mir doch egal! Ich hab Vorräte für
schlechte Zeiten angelegt!“, stimmte sie ins Lachen ein und
rieb sich ihren gewissen Bauchansatz.
Arm in Arm schlurfte das alte Paar in die kleine Hütte
und schlief den Schlaf verdienter Helden.
Danksagung

Mein besonderer Dank gilt


Georg Braun, Simon Czaplok und Elke Wendt
für ihre umfassende Unterstützung!

Weiterhin danke ich Karoline Flume, Kai Klisch,


Paul Kraft, Florian Maier, Markus „Imiri“ Raab,
Sebastian Schmack und Laura Schröder, die mich
zu diesem Zyklus inspirierten, sowie allen weiteren
Personen, die an der Entstehung mitgewirkt haben.

Einen ganz speziellen Dank schulde ich


André Dawson Sensei (Budo-Dojo Paderborn) für
seine Zeit. Er hat mir vorgelebt, wie man selbst die
unwahrscheinlichsten Ziele erreichen und seinen ganz
eigenen Weg gehen kann, wenn man nur nie aufgibt
– egal was der Rest der Welt meint.
486 Ausklang

Aufgrund meines Interesses an verschiedensten


Kampfkünsten und meines Kreativtriebs entstand ein
kampflastiger Roman. Meine Freunde nahmen mir
viele weitere Einzelheiten des Inhaltes durch tausende
von Spiel- und Erzählstunden ab: Wir erzählten und
erlebten in unserer selbst erdachten Welt Hevanor zahllose
Abenteuer. „Schreibst Du das irgendwann alles auf?“, war
die entscheidende Frage, die eines Tages gestellt wurde.
Mehrere Charaktere des Romanes entstanden in ihren
Grundzügen im Kopf anderer Personen (Athónon: Paul
Kraft, Xelos: Georg Braun, Cesius: Kai Klisch, Zeeris:
Sebastian Schmack). Jedes Wochenende aufs Neue war
das Überleben dieser Figuren ungewiss. Jene Zeit ist leider
vorbei, aber ich denke, ich habe den Figuren und ihren
Erlebnissen, wie wir sie gemeinsam erzählten, ein würdiges
Denkmal setzen können.

Der erste Roman setzt fast nahtlos dort ein, wo unser


Erzählspiel aufhörte. Dies hat den Vorteil, dass eine
große, epische Handlung mitten im Gange ist und dass
eine schillernde, lebendige Welt voller Ereignisse sich den
Lesenden entfaltet, ohne dass ich mich zum Zeitpunkt
des Aufschreibens noch allzu sehr dafür hätte anstrengen
müssen. Ein gewisser Nachteil entstand nun dadurch, dass
der Alltag auf Hevas Leib, der jene Welt nachvollziehbarer
gemacht hätte, fast völlig aus meinem Blickwinkel
verschwand.
Ich war der Auffassung, dass man Bücher nicht eines 487
Alltages wegen liest, sondern wegen der Besonderheiten.
„Drum lasset uns niedersitzen zu Trauermären von der
Könige Tod“, oder so. Meine Testleser und mein Verlag
wiesen mich jedoch zurecht: „So kann man eine fremde
Welt nicht kennenlernen. Deine Freunde wussten Bescheid,
aber sonst niemand.“ Stimmt. Der große Komplex der
Priesterlehre Theb Nors, „Wissen ist böse!“, wird kaum
im Roman thematisiert, ebenso wenig wie der antike
Alltag. Wegen der Abgeschiedenheit der Protagonisten
im Schattenwacht-Zyklus wird sich daran im Verlauf der
nächsten fünf Bände auch nichts ändern. Wem jedoch ein
bisschen Bodenständigkeit bei den Erben von Theb Nor
fehlt, wer die alltäglicheren Seiten Hevanors vermisst, für
den wird jeder Band eine kleine Zusatzgeschichte enthalten.
Diese Texte werden nichts mit der Romanhandlung zu tun
haben, sondern in Silberberg spielen. Es wird darin auch
ein paar „gewöhnliche“ Tigermenschen und Dämoniden
geben, da diese besonders viel Potenzial für kurzweilige
Geschichten bieten.
488 Kulturtrümmer

Die Chimärier standen seit einer endlosen Zahl von


Tagen vor dem Westtor Silberbergs. Gelegentlich griffen
sie die Stadt halbherzig an. Sie hätten sie überrennen
können, aber sie taten es nicht. Beinahe gehörte die Präsenz
der Bestien schon zum Alltag der Stadt, und niemand
wusste, was sie vom entscheidenden Schlag abhielt. Ihre
Bataillonsmagier heilten die Verwundeten und ließen sie
zwei- oder dreimal in einem Sturm gegen die Mauern
rennen; die Übermacht war erdrückend, doch sie toste nur
vor den Mauern und schlug nicht darüber zusammen.
Tausende von Menschen hatten Silberberg bereits
gen Osten verlassen. Die Metropole der Menschen, für
viele Tagesreisen die letzte Bastion wider die Schuppen,
stand zur Hälfte leer. Keine fünftausend Personen waren
zurückgeblieben. Binnen kürzester Zeit war der Westen
der Stadt zu einem riesigen Geisterviertel geworden; die
Menschen zogen innerhalb der Mauern ostwärts, wann
immer jemand floh und sein Haus verwaist zurückließ. Die
Ärmsten und die Nichtmenschen – zumeist Tigermenschen
– wurden zum Wachdienst auf den Wehrgängen und
Türmen verpflichtet.
Ruth gehörte zu den sechs Priestern, die gemeinsam
mit den sechs Reichsten Silberbergs die Geschicke der
Stadt lenkten. Noch. Der Tempel des Kriegsgottes Zorm
hatte sämtliche Soldaten unter seinem Banner vereint.
Tempelfehden gehörten zum Alltag großer Städte, aber
die Zormisten gingen zu weit. Sie planten, den Rat zu
entmachten und die Kontrolle zu übernehmen, die bizarre 489
Situation der Stadt als Vorwand nutzend.
„Sie haben den aberwitzigen Plan, einen Ausfall im
Namen ihres Gottes zu unternehmen!“, zischte Ruth.
Ihr weißes Haar wehte um ihr marmorgleiches Gesicht,
während sie agil wie ein Jüngling im Kreis rannte und die
knorrigen Fäuste ballte. Zwei Kohlenbecken wärmten den
großen, halbdunklen Bruchsteinraum.
„Die Schuppen sind schwach, sonst hätten sie uns längst
überrannt“, wiegelte Kalimennos ab, ein fettleibiger Mann
mit grauem Vollbart. Er atmete laut schnaufend durch die
Nase. „Ihre Schwäche wird sicher nicht bestehen bleiben
– es ist schon peinlich lange so, wie es jetzt ist. Sonst ist
der Feind viel effizienter.“ Kalimennos stand hinter einem
wuchtigen Tisch, stützte die haarigen Fäuste auf das
Holz und beobachtete Ruths Auf und Ab. Am Rande des
Tisches stand eine goldene Statue des Großen Flussvaters,
dessen Hohepriester er war. Auch Kalimennos gehörte zum
Stadtrat, und seine türkisblaue Robe mit den goldenen
Bordüren zeigte seinen Reichtum. Er wollte den Zormisten
Spielraum für ihren Plan lassen, ein Zugeständnis, für das
sie im Gegenzug den Rat in Frieden lassen sollten.
„Sie sind nicht schwach!“, keifte Ruth und durchbohrte
den Hohepriester mit einem Blick ihrer kleinen, runden
Augen. Ihre weiße Robe kennzeichnete sie als Priesterin
des Windes, einer unpersönlichen Gottheit, die für Ruhe,
Weisheit und Besonnenheit stand. Normalerweise war
Ruth so still, dass man sie kaum wahrnahm und leicht
übersah. Doch so viele Leben standen auf dem Spiel, wenn
die Kriegstreiber des Zorm ihren Plan in die Tat umsetzten!
490 „Nach solch einem Ausfall müssen die Chimärier nicht
mehr kämpfen, um die Stadt einzunehmen – es wird
niemand mehr am Leben sein, sie aufzuhalten!“
Der Hohepriester des Großen Flussvaters zuckte mit
den Achseln. „Es gibt aber keine andere Erklärung für das
Verhalten des Feindes als Schwäche.“
„Doch! Die gibt es sicher! Wir kennen sie bloß nicht“,
zischte Ruth verärgert und blieb stehen. Kalimennos
schwieg sie mit finsterer Miene an. Ruth winkte resigniert
ab und huschte hinaus.
„Gib Dich nicht der Neugier hin!“, rief Kalimennos
ihr mahnend nach. „Vielleicht ist dies eine Prüfung der
Götter, ob wir der Lehre Theb Nors noch treu sind!“
Wissen jeglicher Art galt nach jener Lehre unter Menschen
als verwerflich, und Neugier gehörte daher zu ihren
schlimmsten und niedersten Regungen.
Kalimennos wollte nicht noch angestrengter darüber
nachdenken, warum die Schuppen sich so seltsam
verhielten; das schien ihm eine Sünde zu sein. Die
Prophezeiung von Theb Nor erklärte ihm schließlich klar,
dass zu viel Denken und Wissen den Dämonen ein Tor
in die Welt öffnete, und solch ein noch größeres Problem
konnten die Menschen nun wirklich nicht gebrauchen ...
„Wieso sind alle Priester dieser neuen, menschenähnlichen
Götter so dumm?“, fluchte Ruth leise. „Sie lassen sich wohl
von den goldenen Bildnissen ihrer Götzen ablenken!“
Die Windpriesterin stürmte durch einen Gang in die
Haupthalle von Kalimennos’ großem Tempel und weiter
zum Tor hinaus.
Auf der obersten Stufe warteten bereits Skishri und
Zenda. Das Tigermenschenpaar mit dem ergrauten Fell 491
lebte seit drei Monden in Silberberg. Weder Anfeindungen
der menschlichen Bewohner noch die Schuppen hatten
sie vertrieben. Ruth kannte beide nicht gut und erschrak
jedes Mal, wenn sie Skishri sah, den Riesen, dessen
Muskeln sich unter grauem Fall spannten. Er trug nur
einen Lendenschurz. Seine Gefährtin hingegen stammte
weit aus dem Osten und war zierlich. Zenda trug
Menschenkleidung, einen blauen Rock und eine braune
Tunika mit Kapuze. Ein Reißzahn war ihr ausgefallen,
sie rieb sich die Lefzen; augenscheinlich hatte sich das
Zahnfleisch entzündet.
Die Tigermenschen begrüßten die Windpriesterin
mit einer leichten Verbeugung, die Ruth erwiderte. „Du
bist weise ...“, sprach Skishri mit seiner tiefen, langsamen
Stimme und einem fauchenden, rauen Akzent. „Wir
suchen erneut Deinen Rat. Wir sahen Dich hierher gehen
und warteten.“
Das Paar hatte vor Kurzem Zuflucht bei Ruth gesucht,
als einige Soldaten in ihrem Fremdenhass beinahe zu weit
gegangen wären. „Ich helfe Euch gern“, erwiderte Ruth
und musterte das Paar ernst – ohne ihnen jedoch direkt
in die Augen zu blicken. Dies galt unter Tigermenschen
als Provokation, wusste sie, und auch Skishri und Zenda
blickten niemals einem Menschen ins Gesicht, den sie
nicht sehr gut kannten. Auch verbargen sie ihre Krallen,
schoben sie in die Kleidung wie Zenda oder legten die
Arme auf den Rücken wie Skishri.
„Ich habe Schmerzen“, maunzte Zenda und öffnete den
Mund. Ihr Zahnfleisch war gerötet und angeschwollen,
492 wo einst ihr Zahn gewesen war. Die Reißzähne zu zeigen
war für Tigermenschen eine noch größere Provokation als
ein Blick in die Augen des Gegenübers. Doch das Paar
lebte lange genug unter Menschen, dass es einen Teil
seiner Instinkte und Ängste abgelegt hatte und überdies
die Menschen gut genug kannte, um zu wissen, dass Ruth
sie nicht missverstehen würde. Die Krallen behielt Zenda
allerdings in ihren Taschen. Es fiel ihr sichtlich schwer,
den Kopf zu heben, um ihre Entzündung zu zeigen und
gleichzeitig nicht mit den Augen Ruths Gesicht zu streifen.
Sie schloss die Lider beinahe und schielte an Ruth vorbei
auf die Straße.
Die Windpriesterin betrachtete das entzündete
Zahnfleisch und hob langsam eine Hand. „Ich muss
Dein Gesicht berühren“, erklärte sie und versuchte, ihre
gewisse Furcht nicht zu zeigen. Sie kannte nicht viele
Tigermenschen, und von den wenigen, die sie kannte,
hätte sie einigen zugetraut, ihre ganze Hand abzubeißen,
sollte Ruth versuchen, sie im Gesicht zu berühren.
Zenda nickte und schloss die Augen. „Wird das weh
tun?“, maunzte sie mit starkem Akzent, ganz und gar
nicht bedrohlich.
„Nein“, beruhigte Ruth sie und legte ihre Hand auf
das Kinnfell. Sie sang eine Ahnenmelodie mit ihrer vom
Alter brüchigen Stimme. Skishri sah erstaunt zu, wie die
Entzündung sich mit jedem Atemzug verkleinerte.
Ruth wischte einen Schweißtropfen von ihrer Stirn,
als sie die Hand wieder fortnahm. „Besorge Dir einen
Malachit-Stein und lutsche ihn jeden Abend vor dem
Schlafengehen, bis Dein Zahnfleisch wieder ganz heil
und ohne Schmerzen ist“, erklärte die Priesterin, langsam, 493
damit die Fremden ihre Worte verstanden.
Das Paar verneigte sich dankbar. Skishri hielt ihr eine
große Silbermünze der Stadt hin, aber Ruth schüttelte
lächelnd den Kopf. „Die werdet ihr für Euer Kind
brauchen.“
Überrascht musterten die Tigermenschen sich.
„Woher ...?“, fragte Zenda und sah auf ihren noch
flachen Bauch.
„Ich war eins mit Deinem Körper, um Dich zu heilen,
darum weiß ich, dass Du ein Mädchen bekommen wirst.“
Ruth wollte Zenda herzlich beglückwünschen, aber
plötzlich hielt sie inne; sie war nicht sicher, ob die Kultur
der Tigermenschen so etwas vielleicht verbot. Vielleicht
brachte es ihnen Unglück, das Geschlecht eines Kindes
vor der Geburt zu wissen. Vielleicht würde Skishri sie jetzt
zerreißen und ihr Blut trinken, wer wusste so etwas bei so
fremden Wesen schon. Manche Tigermenschen tranken
Blut, das wusste sie.
„Du musst uns nicht fürchten, weise Frau“, erklärte
Skishri langsam, als habe er Ruths Gedanken gelesen.
Er verneigte sich noch einmal und trat mit Zenda einen
Schritt zurück.
In dem Moment tönten die Alarmposaunen überall auf
den Zinnen. Eine Steinigung in der Nähe des Tempels
wurde unterbrochen; das Opfer, ein Jugendlicher, hatte
ohnehin nicht zu Tode kommen, sondern bloß erzogen
werden sollen.
Zenda fauchte etwas in Skishris Ohr und zerrte an
seinem Arm. Der Tigermann musterte Ruth aus den
494 Augenwinkeln und rührte sich nicht. „Willst Du wissen,
wieso die Schuppen nicht in die Stadt einfallen?“, fragte er
die Windpriesterin unvermittelt.
Ruths Mund klappte auf. Sie starrte Skishri verblüfft an
und vergaß, dass dies bei seinem Volk als sehr unhöflich
galt.
„Komm“, sagte der Tigermann bloß zu ihr, wandte
sich um und lief voraus. Über die Schulter erklärte er mit
überraschender Offenheit: „Ich gehöre zu einem Kult, der
die wahre Lehre Theb Nors bewahrt.“ Mancher Priester
hätte solch eine Behauptung als blasphemische Beleidigung
empfunden, doch Ruth war eine weltoffene, neugierige
Frau, die beim Anklagen keine Eile hatte.
„Der Königskult!“, rief sie ehrfürchtig, während sie
tapfer versuchte, mit Skishri Schritt zu halten. Obgleich
die Tigermenschen ähnlich alt wie Ruth sein mussten,
waren sie weitaus kräftiger und schneller als sie. Zenda lief
neben ihrem Gefährten und blickte undeutbar zu ihm auf.
Die Mimik und Gestik der Tigermenschen war anderen
Völkern kaum verständlich; dadurch konnten Zenda und
Skishri in Silberberg praktisch ungestört kommunizieren,
solange sie es wortlos taten.
„Stimmt es, dass Ihr die verschollenen Vier Könige sucht?
Leben sie wirklich noch irgendwo?“, japste Ruth im Laufen.
„Wir wollen Dich einweihen, weil Du weise und begabt
bist“, antwortete Skishri äußerst ausweichend.
Auf den Zinnen begann der Kampf. Zahllose
Silberberger Bogenschützen schossen ihre Pfeile ab. Einige
fest montierte Riesenarmbrüste – nach Vorbildern der
Chimärier – wurden in Gang gesetzt. Die imperialen
Bataillonsmagier wehrten viele Geschosse durch mächtige 495
Zauber ab. Sie hätten die Silberberger Schützen auch
in Flammen setzen können, doch aus unerfindlichen
Gründen taten sie es nicht.
Die meisten Stadtbewohner hatten sich zwar in ihre
Hütten und Häuser verkrochen, waren aber nicht mehr
besonders furchtsam. Bei einigen jedoch griff die bizarre
Situation dennoch den Geist an, auf andere Weise als durch
Furcht. „Zauberer!“, schrien einige Bauern, die schon
lange nicht mehr ihre Felder bewirtschaften konnten. Sie
schlugen auf einen hageren Mann mit langen schwarzen
Haaren ein. Der Mann ging gekrümmt zu Boden, die
Bauern traten wild auf ihn ein. Zenda und Skishri liefen
in einigem Abstand an der Szene vorbei, Ruth folgte ihnen
widerwillig. Die Stadtsoldaten waren alle auf den Zinnen,
außerdem dem radikalen Tempel des Zorm verfallen, der
nicht eben für Mitleid und Güte bekannt war. Zorm lobte
Blutvergießen jeglicher Art als selbstverständlichen Teil
des Menschseins, als eine angeborene Regung, mit der die
Schwachen von den Starken getrennt wurden. Niemand
konnte dem Opfer am Boden jetzt helfen, ob er wirklich
ein Verräter der Menschheit im Sinne Theb Nors war – ein
Zauberer – oder nicht. Er würde zu Ehren Zorms sterben.
Ruth lief keuchend weiter den Tigermenschen nach.
Manchmal nahm sie sogenannte Zauberer unter
ihre Fittiche, indem sie deren Gabe als spät entdecktes
Geschenk der Götter ausgab. Doch dies war nur unter
ruhigen Umständen möglich, nicht gegen die verblendete
Blutgier eines hysterischen Mobs, der fanatisch glaubte,
im Namen des größten und wichtigsten Gottes Silberbergs
496 zu handeln. Zorms Tempel hatte rasanten Zulauf erhalten,
seit die Schuppen die Stadt belauerten.
„Maßlosigkeit ... Wehe den Sorglosen!“, hauchte Ruth
und hielt an, als sie aus den Augenwinkeln sah, wie der
Mob den toten Zauberer hinter sich ließ und auf das
Tigerpaar losstürmte.
„Tut das nicht“, bat Skishri traurig und entblößte
kampfbereit die Krallen. Sein Blick funkelte dem Mob
entgegen. Zenda stand furchtlos hinter ihm und zeigte
ebenfalls die Krallen.
Der kochende Mob reagierte überhaupt nicht. „Tod
allen Nichtmenschen! Im Namen Zorms!“, brüllten die
Bauern. Völlig von Raserei beherrscht, nicht mehr fähig zu
denken, stürzte die vielfache Übermacht sich auf Skishri
und Zenda.
Ruth wich entsetzt zurück und murmelte: „Das kommt,
wenn man das Denken verbietet und brandmarkt! Die
Dummen töten ihre Retter, töten sich somit selbst, und
merken es nicht einmal! Wie konnte es dazu kommen,
dass Theb Nors Worte so verdreht werden? Lag es wirklich
nur an der Machtgier einiger Priester der Vergangenheit,
an der verzerrten Auslegung der Prophezeiung?“
Der blindwütige Mob trampelte über die Tigerleichen
hinweg. Ruth hätte am liebsten die Augen geschlossen.
Worte der Prophezeiung Theb Nors schossen ihr durch den
Kopf: „Doch der Feind ist nicht vernichtet! Er lauert auf
eine neue Chance, auf eine neue Schwäche in den Seelen,
auf dass die Sterblichen selbst ihn befreien. Denn da die
Gefahr vergessen ward und die Bücher geleert, konnten sie
neu gefüllt werden.“
498 Offizielle imperiale Chronologie

Dies Wissen wurde den Weisen Kýnworoks von


Schattenwacht persönlich preisgegeben. Es wurde von
den wenigen Schriftkundigen des Imperiums nieder-
geschrieben, die gemahnt wurden, zu berücksichtigen,
dass Wissen Macht sei und nicht jeder einfache Soldat
jener Macht gewachsen sei. Die Schriften seien daher an
einem geheimen Ort zu verwahren.

v.S. = vor Schattenwachts Thronbesteigung,


n.S. = nach Schattenwachts Thronbesteigung
Géorr = Hevanor; Blutsturm = Magie

Zeit der Mythen und Ahnen (10.000 – 300 v.S.)


um 8.000 v.S. Unsere Vorfahren, die Inferior, bekämpfen das
andere Urvolk Géorrs, die Dahnrud, und deren
Verbündete, die Götter. Auslöser dieses tausend
Jahre dauernden Ersten Krieges ist der Blutsturm,
unsere Lebensgrundlage. Schattenwacht überlebt als
einziger Inferior im Exil.
um 6.000 v.S. Entstehung der Völker, wie sie heute existieren.
Auch wir werden nach dem Vorbild der Inferior von
den Göttern geschaffen.
um 4.000 v.S. Beginn des Glorreichen Zeitalters; Technologie
und Zauberei harmonieren und die Sterblichen
respektieren den lebenden Blutsturm.
um 2.000 v.S. Das Äußere Volk fällt auf Géorr ein, wie die Götter 499
zuvor vom Blutsturm angelockt. Die Sterblichen
müssen allein kämpfen.
um 1.500 v.S. Die Götter erklären den Untergang der Sterblichen
zu einer gerechten Strafe, angesichts des massiven
Missbrauchs des Blutsturms. Die Vier Könige
vereinen alle sterblichen Völker, rebellieren gegen
die Götter und schlagen das Äußere Volk in einer
epischen Schlacht zurück.
um 1.000 v.S. Unsere Ahnen, größer und stärker als wir, zudem
flugfähig, werden von den Vier Königen gejagt,
obwohl sie einen erheblichen Anteil am Sieg über
das Äußere Volk hatten. Der heutige Rachekrieg
gegen die Niederen ist daher legitim.
um 500 v.S. Unsere Ahnen sind beinahe ausgelöscht und
vollbringen einen mächtigen Zauber, um ihr Volk
für immer zu verwandeln.

Die Frühzeit unseres heutigen Volkes (300 – 156 v.S.)


um 280 v.S. Der Großmagier und Hohepriester Zhaikr, ein
Nachfahr Schattenwachts, kommt an die Macht
und wird erster Imperator.
um 200 v.S. Ausgeprägte religiöse Infrastruktur; wir dienen
Schattenwachts gottgleichen Kindern und Jüngern,
Feinden der anderen Götter.

Zeit der Glaubenskämpfe (155 – 100 v.S.)


155 v.S. Abschaffung der letzten religiösen Riten. Religion
steht fortan unter Strafe. Schattenwachts Nachfahren
und Jünger werden getötet.
500 112 v.S. Kreuzzug einiger Kulte gegen die inzwischen
herrschende Generalität.
Der Dunkle Rückfall (98 – 1 v.S.)
98 v.S. Ein gigantisches Erdbeben verwüstet das Imperium.
Ein Jahr später bricht zusätzlich der Vulkan Pirthei
aus. Beides gemeinsam lässt zahlreiche religiöse
Kulte entstehen.
3 v.S. Höhlenfund, der 1 v.S. durch das Versehen einiger
Niederer den göttlichen Imperator Schattenwacht
wieder freilässt.

Die ersten Jahre des Schattenwacht (0 – 23 n.S.)


0 Thronbesteigung des Imperators.
21 n.S. Die Vier Könige verschwinden. Ihre Aufgabe,
die Welt neu zu errichten, ist erfüllt. Als Wächter
gegen das Äußere Volk werden sie auch nicht länger
benötigt, da die Götter sich mit ihrem Verwandten
Schattenwacht versöhnen und ihm fortan jene
Aufgabe übertragen.
22 n.S. Dämonensichtungen. Das Äußere Volk schickt
Späher nach Géorr. Zum ersten Mal verwandelt sich
ein Elf in einen Nachtelfen.

Jahrhundert der Sklavenaufstände und quälender Stillstand


(24 – 374 n.S.)
261 n.S. Der Vorläufer der Prophezeiung von Theb Nor
entsteht durch Weise und Priester des Königskultes;
dieser Kult sieht sich als Nachfolgemacht der seit
über 200 Jahren verschollenen Vier Könige.
Aufkeimen des Zivilistentums und das II. Glorreiche Zeitalter 501
(376 – 433 n.S. (heute))
412 n.S. Eine angebliche Zeitreise unbekannter Niederer des
Königskultes, darunter mutmaßlich der Avatar der
Elfenkönigin Mèra, sowie einer der mächtigsten
Krieger Silberbergs und ein großer Zauberer, bringt
Gerüchten zufolge die Vier Könige in die Welt
zurück.
433 n.S. Heute. Verbotene religiöse Kulte, z.B. auf dem
ehemaligen Gebiet der Dämoniden, sprechen auch
vom Jahr 713 nach dem Heiligen Zhaikr.

Auf der Autorenhomepage www.michaelthiel-autor.de


und unter www.thebnor.de finden Sie weitere Informationen
und noch mehr rund um die Welt der Erben von Theb Nor.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch!
Schattenwacht-Zyklus
- Aus der Welt der Erben von Theb Nor -

Böses Erwachen
Preis der Unsterblichkeit
Spiel mit dem Feuer
Sühne der Könige
Sturz eines Gottes
Ende der Nacht
Schattenwacht-Zyklus

Michael Thiel

Schattenwacht-Zyklus Böses Erwachen


DEM ABGRUND ENTRINNEN
Eine brisant gemischte Gruppe von Abenteurern
macht sich auf, den stets mächtiger werdenden

Böses Erwachen
Michael Thiel
Chimäriern zu widerstehen. Die Mischwesen
aus Drachen- und Menschenblut scheinen
unausweichlich die gesamte bekannte Welt zu
unterjochen. Unterstützt von kampferprobten
Gefährten und hadernden Halbgöttern, nimmt
die junge und unerfahrene Halbelfin Laura die
Herausforderung der dunklen Übermächte an.

„Böses Erwachen“ bildet den fesselnden Auftakt


im sechsbändigen Kampf gegen das Imperium des
Chimärierfürsten Schattenwacht. Insbesondere
die realitätsnahe Darstellung der Kampfszenen
versetzt die Leserschaft mitten ins Geschehen,
saugt förmlich in den Strudel der Geschichte
– und lässt Sie so fast am eigenen Leib erfahren.

ISBN 978-3-940-92800-9
9.95 € [D]
10.95 € [A]
18.90 SFr (UVP) 9 783940 928009

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