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UMWELTHINWEIS

Gedruckt auf holz-, säure- und chlorfreiem Papier

Deutsche Erstausgabe
1. Auflage

Copyright © 2008 SCRATCH Verlag Simon Czaplok, Hamburg


Printed in Germany 2009
Umschlagsillustration: Klaus Scherwinski, Bielefeld
Innenillustration: Flavio Bolla, Wil SG (Schweiz)
Karte und Symbole: Lydia Schuchmann, Weiterstadt
Layout und Satz: Thorsten Göde, Hamburg
Lektorat: André Krieg, Hamburg
Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN 978-3-940928-01-6

http://www.scratch-verlag.de

Das vorliegende Werk einschließlich aller seiner Bestandteile ist urheberrechtlich geschützt. Jede urheberrechtsrelevante
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der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Textteile.
Michael Thiel

Preis der Unsterblichkeit

Phantastischer Roman

- Aus der Welt der Erben von Theb Nor -


Band 2 des Schattenwacht-Zyklus

Bereits erschienen
Böses Erwachen

In Vorbereitung
Spiel mit dem Feuer
Sühne der Könige
Sturz eines Gottes
Ende der Nacht
Hiermit wird der Schattenwacht-Zyklus enden

SCRATCH Verlag Simon Czaplok


Jedem gewidmet, der den Mut und die Kraft aufbringt,
gegen den Strom toter Fische zu schwimmen.
„Be your own disciple, fan the sparks of will“
MANOWAR
Was bisher geschah 7

Laura lag in der Gästehöhle der unterirdischen Stadt


Quirmó. Die junge Halbelfin war von ihrem Erzfeind
Melek gedemütigt und fast zu Tode geprügelt worden.
Jetzt war sie so schwach, dass sie wie ein Stein schlief und
von den Alarmrufen in der Ferne nicht aufwachte.
Ihr blonder Lockenkopf ruhte auf ihrem Rucksack.
Bienenwachs schützte die Nähte vor Regen, duftete nach
Heimat und tröstete sie. Laura drehte sich im Halbschlaf,
um die Druckstellen gleichmäßig zu verteilen. Nur in
eine Wolldecke gerollt auf Felsen zu schlafen, war sie
nicht gewöhnt. Sie sog den Wachsduft ein. Alle schönen
Erinnerungen schienen jedoch vor ihrer gegenwärtigen
Lage zu fliehen. War sie wirklich im Begriff, in der
Begleitung von Helden und Halbgöttern den Imperator
der feindlichen Chimärier zu stürzen?
Ein Traum hatte sich erfüllt: Sie hatte ihr behütetes
Dorf verlassen und Geschehnisse überlebt, die sie vorher
als große Abenteuer bezeichnet hätte. Laura hatte
diesen Traum lange gehegt und schließlich gegen alle
Widerstände wahr werden lassen. Immerhin war sie
die beste Kämpferin ihres Elfendorfs. Doch naiv und
von falschem Stolz geblendet, hatte sie nicht erkannt,
dass sie einem Albtraum verfallen war. Ihr Wunsch
nach Anerkennung als Halbelfin unter Elfen, ihr
Streben nach Bedeutung, um ihre Gleichwertigkeit zu
beweisen, hatten sie jede Vernunft verdrängen lassen.
Die Wirklichkeit indes hatte keine Rücksicht auf ihre
8 Illusionen genommen, hatte ihr Lachen erstickt und war
mit tödlichem Ernst über sie hereingebrochen.
Was sie für Stärke und Willenskraft gehalten hatte,
war als jugendliche Torheit entlarvt worden. Ihre
Menschenhälfte ließ sie mit den zaghaften Elfenmännern
eines friedlichen Dorfes mithalten. Aber dass ihre
Körperkraft gegen echte Kämpfer lächerlich gering war,
hatte sie erst in der Niederlage erkannt.
Obwohl sie verstanden hatte, dass ihre Muskeln
nicht ihr Überleben sichern würden, wollte sie sich
nach wie vor um keinen Preis den Normen ihres Dorfes
unterwerfen und ein stilles, graziles Mädchen werden,
das als Lebensinhalt musizierte und mit Tieren sprach.
Eine kriegerischere Natur tobte in ihr. Wenn es der
Elfenkultur ernst damit war, unverbogene Wesen
hervorzubringen, so durfte sie Laura nicht dazu zwingen,
gegen ihr Inneres zu leben, ihr Verhalten einer Schablone
anzupassen, die sie nie richtig füllen konnte. Entweder
war die Freiheitskultur der Elfen eine verlogene Fassade
oder sie musste Laura erlauben, so zu wachsen, wie die
Natur es vorgesehen hatte.
Ihre Mutter Jade, die Laura für die größte Kriegerin
aller Elfen gehalten und die in einem Krieg gegen viel
stärkere Männer gekämpft hatte, schien ein perfektes
Vorbild zu sein, so vehement sie selbst dies auch
bestritten hatte.
Mit ihrer Mutter war eine weitere Illusion Lauras
gestorben: Jade war vom Schergen eines unbekannten
Feindes getötet worden – bei der Verteidigung einer
falschen Göttin, wie Laura gedacht hatte.
Das verklärte Wunschdenken über ihre Stärke und 9
ihre kommenden Heldentaten war ins Lächerliche
verkehrt worden. Laura lebte nur noch, weil jemand dem
Menschenjäger Melek gefolgt war und ihn dabei gestört
hatte, seine Finger in ihre Haut zu graben und ihr die
Kehle durchzuschneiden. Ohne fremde Hilfe hätte sie
keinen Tag jenseits ihres Dorfes überlebt. Dumm und
nichtig fühlte sie sich jetzt, nicht als Heldin.

Melek, ein Mensch in Lauras Alter, war bei seinem Volk


als vagabundierender Mörder und Schänder berüchtigt.
Woher die Kraft kam, mit der sie sich im Kampf gegen ihn
immer wieder auf die Füße zurückgequält hatte, erkannte
sie noch nicht. Doch unmöglich hatte sie dem Gegner
erlauben können, mit seinem Wahnsinn zu triumphieren:
Er verstand die Menschenjagd als naturgemäßen Sport, der
große Zufriedenheit verhieß und nicht über Sesshaftigkeit
und Kulturtrieb vergessen werden durfte. Obwohl Melek
seine Ansichten mit niemandem teilte, redete er sich die
stillschweigende Zustimmung vieler Gleichgesinnter ein
und hielt sich für ruhmreich. Noch immer lauerte er in
der Dunkelheit der Gänge und Höhlen, in die es Laura
verschlagen hatte.
Als sie besiegt in Meleks Arm gesackt war, hatte sie sich
nur noch zurück in ihr Dorf gewünscht, um wie zuvor
von Ruhmestaten ohne Blut und Schmerzen zu träumen.
Sehnsucht wäre dann ihre einzige Qual gewesen, neben
der Rolle als Außenseiterin, die nie ganz dazugehören
konnte. Aber nicht einmal dieses unerfüllte Leben konnte
sie zurückbekommen. Ihre Mutter war tot. Nichts würde
10 so sein wie früher, selbst wenn sie zu ihrem elfischen
Ziehvater Endáruel und ihrer kleinen Schwester Lishárial
zurückkehren würde.
Sie führte nun ein neues Leben, ohne Heimat und
Familie, ohne dass das Schicksal Lauras Zustimmung
abgewartet hätte. Ihr Traum von Selbstbestimmung
hatte sich erfüllt und jede weitere Selbstbestimmung
fortgenommen. Es warteten Aufgaben auf sie, vor denen
sie nicht fliehen konnte, ob ihr die Voraussetzungen fehlten
oder nicht. Egal wie sehr sie Melek verabscheute – davon
verschwand er nicht aus der Welt. Egal wie sehr sie sich
heitere Tage und einen anderen Körper wünschte, eine
andere Rolle im Kreislauf der Natur, sie musste sich ihrer
Zukunft stellen. Zudem spürte Laura, dass sie auch beim
Kampf gegen den feindlichen Imperator der Chimärier
eine Funktion erfüllen musste, gegen Schattenwacht,
den letzten Drachen. An der Seite zweier Halbgötter und
des alten Kriegshelden Athónon zog sie diesem Feind
entgegen. Ihre Mutter Jade war für dieses höhere Ziel
bereits gestorben.

Laura stöhnte im Halbschlaf. Zuerst würde sie Melek


finden und töten. Am liebsten würde sie ihn genussvoll zu
Tode foltern, doch würde sie sich auch mit jeder anderen
Form seines Ablebens begnügen. Danach würde sie den
Verantwortlichen am Tod ihrer Mutter aufspüren und ihn
ebenfalls töten, den, der das Kopfgeld auf die ganze Gruppe
ausgesetzt hatte. Die Alten sagten, Rache mache nichts
besser. All die altklugen, unbequemen Phrasen drohten
zu stimmen, erkannte Laura, so wie die Warnungen vor
ihrer Torheit, die sie bestritten hatte und wegen der sie 11
beinahe getötet wurde. Doch der Hass brannte so wild
in ihr, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihn auf ihre
Gegner loszulassen, wollte sie nicht Gedanke für Gedanke
verbrennen.
Ihr Hass loderte nicht allein wegen ihrer Niederlage
so übermächtig, oder weil sie ihr altes, kleines Leben
verloren hatte. Auch ihre angeborenen Nachteile und
Meleks Lebensweise waren nicht der einzige Grund. Laura
verdrängte die Wahrheit ihrer Herkunft. Ein Teil ihrer
unbändigen Kraft, ihres Willens und Stolzes stammte
von ihrem menschlichen Vater. Der Gnom Athónon
hatte ihn während eines zurückliegenden Krieges getötet.
Vermutlich war er ein ähnlicher Kerl wie Melek gewesen,
der sein Sohn sein könnte ... ihr Bruder. Auf eine perfide
Weise wären er und Laura dann seelenverwandt, und das
machte die Halbelfin rasend: Ihre Stärken gingen auf
jemanden zurück, den sie verteufelte und töten wollte.
Wenn sie sich einredete, wegen ihrer Unbeugsamkeit
und Stärke für das neue Leben gewappnet zu sein, roch
sie Meleks stinkenden Atem und spürte seine Tritte. Sie
wurde den Beigeschmack des Bösen nicht los, wenn sie an
ihre Vorzüge als Kämpferin dachte. Doch fand sie in sich
auch keine anderen nützlichen Fähigkeiten.
Der weißhaarige Gnom Athónon, Henker ihres
leiblichen Vaters, war ebenfalls ein Teil von Lauras
neuem Leben und wachte an ihrer Seite. Er reichte ihr
gerade bis zum Gürtel, bewies aber mit seiner subtilen
Kampfkunst, dass Körperkraft allein nicht den Wert
eines Kriegers ausmachte. Laura war fest entschlossen, das
12 Herz des Griesgrams für sich einzunehmen, um ihm seine
Kriegsgeheimnisse zu entlocken und nicht länger auf das
tückische Erbe ihrer Menschenhälfte angewiesen zu sein.

Athónon sah die Abgründe der Götter. Wie die letzte


Glut eines sterbenden Feuers spiegelten Mèras Augen den
Fackelschein wider, glommen durch Rauchfetzen und
muffigen Steinstaub. Verirrten Sternen am Nachthimmel
gleich, hatte der alte Gnom doch darin zu lesen gelernt.
Er spürte jene Wahrheiten, die er nicht gesucht und
zeitlebens verdammt hatte, wann immer die gebrochene
Elfin ihn anblickte.
Mit dem Rücken an der Felswand dämmerte sie vor
sich hin. Knöchrige Finger zogen eine Decke über spitze
Knie, einen grünen Fetzen, auf dem goldene Ornamente
verblassten. Zweifellos wog Mèra fünfundzwanzig Pfund
weniger als Laura, dabei war sie noch eine Stirn größer. Die
Alarmrufe aus der Ferne schienen sie nicht zu erreichen.
Stille umgab sie. Nur wenige verstanden ihre Blicke zu
deuten. Wie gern hätte Athónon diese verfluchte Gabe
jemand anderem geschenkt und auf Mèras Vertrauen
verzichtet. Wie leichtfertig mancher Tor danach verlangt
hatte! So gesegnet ein Götterdiener dem Volk erschien,
seine Seele ging verloren im Mahlstrom höherer Kräfte.
Grau und zerfurcht wie Athónon von der Bürde des
Götterdieners, war Mèras Seele doch in nichts mit der
einer Sterblichen zu vergleichen. Vor zwei Jahrtausenden
– die Welt war eine andere – hatte sie als Königin gegen
verblendete Götter rebelliert und so die Sterblichen vor
der Versklavung durch die Amdovenn, dem Äußeren
Volk, gerettet. Ihr Lohn war die Befreiung vom Alter, eine 13
zeitlose Existenz als Wächterin über alle Völker. Doch die
Jahrhunderte hinterließen Spuren an ihrer Seele, die kein
Sterblicher begreifen konnte.

Die Bewohner der Stadt Quirmó hielten sich für die


unheilbaren Opfer einer Seuche: Sie waren Nachtelfen,
Sonnenlicht verbrannte ihr Fleisch bis auf die Knochen.
Jahrhunderte waren ohne einen einzigen Fall dieser
Krankheit vergangen, doch nun war sie wieder da.
Über die besondere Gabe, die jener Fluch mit sich
brachte, waren die Nachtelfen sich nicht bewusst.
Mèra hatte sie einst als Waffen gegen die Feinde der
Götter erschaffen. Doch die Kräfte der Halbgöttin
hatten nicht gereicht, um ihre auserwählten Elfen ohne
jeden Makel zu verwandeln. Nun, da die Amdovenn
erneut den Kontinent Hevanor bedrohten, war auch die
schlafende Waffe in den Seelen des Elfenvolks erwacht
und verwandelte einige von ihnen in Nachtelfen.
Athónon sah zu Srrig hinüber, der am Eingang der
Gästehöhle von Quirmó Wache hielt. Der Tigermann
in der blauen Robe hatte bei der Rebellion gegen die
Götter vor zwei Jahrtausenden eine nicht minder
bedeutende Rolle wie Mèra gespielt. Ebenfalls vier
Jahrhunderte lang verbannt, waren beide nun unter
mysteriösen Umständen in die Welt zurückgekehrt.
Sie überlegten ihr Vorgehen, um die anderen beiden
der legendären Vier Könige zu finden, die Hevanor am
Ende des Glorreichen Zeitalters durch ihre ketzerische
Rebellion vor den Amdovenn retteten.
14 Zu viert sollten sie dann den Imperator der Chimärier
stürzen: Schattenwacht, den letzten der Inferior, der die
Gestalt eines Drachen gewählt hatte. Schattenwachts
Soldatenvolk, von ihm halb als Mensch, halb als
Drache erschaffen, unterjochte mehr und mehr der
anderen Völker. Jemand musste dem Ungleichgewicht
ein Ende machen. Die Generäle der Chimärier waren
brutale und gierige Eroberer, während ihre Zauberer
rücksichtslos forschten und widernatürliche Monster in
ihren Laboren verbargen.
Dahnrud und Inferior, die Ureinwohner von Hevanor,
standen den Göttern in Macht nicht nach, hatten ihnen
und ihren jungen Geschöpfen aber das Feld überlassen.
Nur wenige kannten den Grund dafür, der den Sinn des
hevanorischen Lebens in Frage stellen konnte.
„Athónon?“ Mèra zog sich an der Felswand hoch, als
trüge sie einen zentnerschweren Rucksack.
Der Gnom nickte. Er strich sich durch den weißen
Bart und wandte sich ab. Die Alarmrufe gellten lauter
und drängender an seine Ohren. Die Gruppe wusste
bisher nicht, wieso Quirmó angegriffen wurde. Aus der
Gästehöhle gab es keinen Fluchtweg. Athónon tastete nach
dem Verband um sein verwundetes Auge. Er hätte Mèra
um Heilung bitten können, doch die Halbgöttin war nach
ihrer Wiedererweckung noch weit jenseits ihrer einstigen
Macht und hatte bereits zu viel Magie gewirkt. Athónons
Mundwinkel gruben sich nach unten. Es lag in seiner
schwermütigen Natur, als einfacher Diener der Götter
jedes Leid zu erdulden und nie um einen eigenen Vorteil
zu bitten. Das Schicksal hatte tiefe Wunden in seine Seele
geschlagen, zahlreiche Freunde hatte er begraben. Zu lange 15
war er ohne Heimat über Hevanor getrieben worden.
„Schluss“, ermahnte er sich stumm, verharrte neben
Srrig und spähte auf die Fackeln und Feuer, auf die
Rauchschwaden der unterirdischen Stadt. Anders als das
Sonnenlicht verbrannten magisches und Fackellicht nicht
die nachtelfische Haut.
Die Ausstrahlung des Tigermannes glich einem Schwert
an der Kehle; die Mischung aus Gefahr und Anmut
schüchterte jeden Sterblichen ein. Athónon war sie zwar
nach vielen Begegnungen in der Vergangenheit vertraut,
dennoch wurde er von ihr in Kampfbereitschaft versetzt.
Srrig beobachtete die aufgescheuchten Bewohner
Quirmós wie eine Katze die Maus in der Sackgasse. Die
ruhige Art, wie er seine Tigeraugen bewegte und die
Mundwinkel gerade so weit verzog, dass seine Reißzähne
verborgen blieben, täuschte den Gnom nicht darüber
hinweg, an der Seite einer Kriegsbestie zu stehen. Der
Widerspruch von Srrigs Ruhe und der Panik der Quirmóer
wirkte auf Athónon symbolisch für die Kluft, die zwischen
dem Halbgott und den Sterblichen lag. Srrigs Fußkrallen
kratzten über den Fels, als er sich Athónon zuwandte.
Seine Worte erklangen mit der ihm eigenen Mischung aus
Lauern und Weisheit, die das Fehlen jeglichen Gefühls
meisterhaft verbarg.
„Die Nachtelfen Quirmós werden unterliegen.
Zweifellos hat unser Widersacher Cerýllion die Angreifer
nicht nur gegen die Stadt aufgewiegelt, um uns zu treffen,
sondern sie auch mit einem magischen Trumpf oder
anderen Verstärkungen ausgestattet. Immerhin ist er
16 Schattenwachts Meisterschüler und hat, wie Mèra und ich,
sein zweitausendstes Lebensjahr schon hinter sich gelassen.
Nichts sonst würde einen Sinn ergeben. Verschwinden wir,
bevor die Quirmóer uns mit in den Untergang reißen.“
Mèra wankte vor ihn. „Vergiss die Bedeutung der
Nachtelfen im Kampf gegen die Amdovenn nicht. Unsere
Gruppe ist schwach und muss fliehen, ja. Aber rette Du
die Nachtelfen! Sie sind sich ihrer Gabe, die Amdovenn
aufspüren und verletzen zu können, noch nicht bewusst.
Trotzdem werden wir darauf bald zurückgreifen müssen.
Ist der Imperator erst gestürzt, ist der Weg frei für
den zweiten großen Feind Hevanors. Schattenwacht
vernachlässigt seine Aufgabe als Sphärenwächter und die
ersten Äußeren sind bereits unter uns, wir wissen das.“
Srrig sprach nicht aus, dass Mèras Fehler, als sie die
göttlichen Regeln verletzte, indem sie versucht hatte,
Jade wiederzubeleben, zum Eindringen der Amdovenn
beigetragen hatte. „Was hilft es, dass sie die Äußeren mit
bloßen Händen verletzen könnten?“, knurrte er. „Die
Amdovenn halten nicht still, nachdem sie einen Körper
gestohlen haben, sondern bewaffnen sich. Es wird lange
dauern, die Nachtelfen zu lehren, ihre Gabe auf Waffen
auszuweiten. Wir hätten das viel früher tun müssen. Aber
die Götter rechneten nicht mehr mit einer Bedrohung
durch die Amdovenn, nachdem sie Schattenwacht als
Sphärenwächter eingesetzt hatten, und nahmen uns von
Hevanor fort, um uns Frieden zu gönnen. Schattenwacht
geriet außer Kontrolle, nahm viel zu viel Einfluss auf
seine Chimärier, verletzte die Regeln ... und wir wurden
zurückgeholt, wenn auch nicht so, wie wir hätten sein
sollen. Nun, da wir endlich wieder wissen, wer wir sind, 17
haben wir keine Zeit mehr für lang angelegte Pläne.
Vergiss die Nachtelfen.“
Mèra blickte traurig zu Srrigs hartem Tigergesicht auf.
Plötzlich schauderte sie und trat einen Schritt zurück. „Du
bist kalt geworden“, raunte sie.
Athónon setzte ein ums andere Mal jene Steinmiene
auf, mit der er sein inneres Leiden vor der Welt verbarg.
Vermutlich sah Srrig es dennoch, aber ihm bedeuteten
die Regungen der Sterblichen schon lang nichts mehr.
Alles, was ihn bewegte, war das Überleben der Völker als
Ganzes, kaum das Schicksal Einzelner. Anders als Mèra,
vermisste er seine Gefühle nicht einmal.
Etwas in Athónon schien leise zu bersten, die Schatten
seiner Falten vertieften sich. Der Götterdiener schnallte
sein Kurzschwert ab und hielt es Srrig hin. „Nehmt es. Es
kann Dämonen und Geister verletzen und willensschwache
Gegner beim ersten Anblick betäuben. Ihr könntet
damit viel mehr anfangen als ich. Aber kämpft für die
Nachtelfen. Ich weiß, dass Euch das keine große Mühe
bereitet.“ Sein faltiger Augenschlitz ruhte voll Bitterkeit
auf Srrigs Tigergesicht.
Srrig schaute ernst zurück, auf das bandagierte Auge
und das von Gram und bedingungsloser Aufopferung
gezeichnete Gnomengesicht. „Nein, behalte diese Waffe.
Wenn sie eine magische Klinge ist, besitzt sie eine Seele,
und dann will sie nicht herumgereicht werden. Sie gehört
Dir, sie wird nur Dir Glück bringen, mein Freund.
Magische Waffen fallen niemals jemandem ohne Grund
zu.“ Er blickte Mèra an, die kaum die Kraft zum Stehen
18 hatte. „Also gut. Zieh Dich zurück, ich schütze die
Nachtelfen“, seufzte er.

Athónons Stimme knirschte vor Anspannung und


Alter wie die Kiesel unter seinen Stiefeln. Er bat den
wortkargen Tempelkrieger Taren, das Gepäck des
Gnoms und der Halbelfin zu übernehmen, während
Athónon Laura stützen wollte. Gegen Tarens Bärengestalt
wirkten die Rucksäcke klein, außerdem trug er seit seiner
Gefangenschaft bei den Chimäriern keine Rüstung
mehr. Selbst seine schwere Armbrust am rechten und ein
Streitkolben samt Rundschild am linken Arm schienen
ihn kaum zu behindern.
Athónon kniete sich zu Laura und ignorierte die restliche
Gruppe nun. Obgleich er seine Gefühle stets hinter seiner
Steinmiene zu verbergen suchte, sahen die anderen seiner
Haltung und seinen vorsichtigen Handbewegungen doch
an, dass er sich väterlich um Laura sorgte. Immerhin war
sie die Tochter einer seiner ältesten Freundinnen, der
getöteten Nachtelfin Jade. Loyalität und Zusammenhalt
hatten für den heimatlosen Götterdiener, der sich in der
Welt verloren fühlte, seit jeher eine große Rolle gespielt.
Zuerst hatte er Jades Tochter nicht kennenlernen wollen,
hatte sich ganz in sein Bergexil zurückgezogen. Aber nun
fühlte er sich verantwortlich für das junge Mädchen, das
in seiner jetzigen Lage kaum allein überleben würde. Der
Gnom weckte Laura mit sanftem Druck auf die Schulter.
Müde hob sie die Lider.
Hass loderte in Lauras Augen auf, ihre Pupillen blieben
an Mèra haften. Die Halbgöttin spürte den Blick zwar
von der Seite, mühte sich jedoch mit ihrem Lederrucksack 19
ab und reagierte nicht. Sie war die vermeintlich falsche
Göttin, für die Jade gestorben war.
Während Laura die Müdigkeit verdrängte, erinnerte sie
sich daran, dass sie der grauen Elfin bereits vergeben hatte.
Auch wenn Mèra nicht die Alte war, stellte sie immer noch
einen Machtfaktor dar; Jade hatte sich für ein höheres
Wohl geopfert. Lauras hilflose Wut verrauchte wie die
Schwaden in der Gästehöhle. Sie konzentrierte sich auf die
Vorstellung von Meleks Ende.
Laura stützte sich auf Athónons breite Schulter. Taren
schwieg und eilte voll bepackt voraus. Hinter Mèra bildeten
der schwer gepanzerte chimärische Deserteur Paaldrag
und der Zwerg Brommil, Lauras Retter, die Nachhut.
Ängstliche Rufe aus der Stadt schrillten der Gruppe
entgegen, als sie die Gästehöhle verließ und den
Nachtelfen den Rücken kehrte, deren Kämpfer sich zu
einer Schlachtreihe aus Leder und Eisen formierten. Wo
auch immer die beste Position für einen Hinterhalt auf die
Gegner lag, vermutete die Gruppe Srrig, der längst fort war.
Taren lief dem nächsten Tunnel entgegen, der vom sich
anbahnenden Kampfgeschehen wegführte. Ohne Fackel
und ohne freie Hand stürzte er sich in die Dunkelheit. Sein
Vertrauen wurde belohnt: Aus Athónons Rucksack schoss
eine Lichtkugel und eilte dem Tempelkrieger voraus. Der
rätselhafte und zaubermächtige Taffi, ein Chamäleon mit
untypisch schwarzen Knopfaugen, erwies sich abermals
als verlässlicher, wenn auch scheuer Gefährte.
20 Das Teufelchen Zeeris saß in einem Gang voller
Schatten und Geröll. Die Höhlendecke war hier so hoch,
dass Zeeris über sich nur Schwärze sah, die manchmal
auf ihn zuzukriechen schien. Seine Füße ruhten in einem
prasselnden Lagerfeuer. Seiner feuermagischen Herkunft
gemäß, war Feuer für Zeeris wie Wasser für Menschen.
Die Flammen reichten ihm nicht mal bis zum Knie,
aber ein warmer Aschering zeugte davon, dass das Feuer
vor kurzer Zeit viel größer gewesen war. „Wieso wächst
hier unten eigentlich kein Holz?“, beschwerte sich das
Teufelchen. In der Nähe lagen fünf riesige Rucksäcke,
die weiteres Feuerholz enthielten mochten. Aber die
Besitzer konnten jeden Augenblick zurückkehren und
Zeeris wagte nicht, sich an dem Gepäck zu schaffen
zu machen. Die Besitzer sollten nicht wissen, dass sie
verfolgt wurden.
Die grauen Maserungen auf Zeeris’ roten Schuppen
zeugten von lang vergangener Jugend. Er hatte bei der
Wiedererweckung der Vier Könige vor zwanzig Jahren
ebenso viel Lebenskraft eingebüßt wie Athónon und die
anderen Begleiter von damals. „Kalt hier“, seufzte er. „Kalt
und leblos. Kein Käferkrabbeln weit und breit.“
Auf einem blutigen Lendenschurz neben ihm lag ein
Dutzend Augäpfel. Das Teufelchen stopfte sich einen
nach dem anderen in den Mund, solange sie noch warm
waren; Spritzflecken trockneten auf seinem hellen Panzer.
Manchmal seufzte Zeeris und hielt inne. „Wie finde
ich bloß zurück zu Athónon, Taffi und den anderen?“,
murmelte er und unterdrückte ein Schluchzen. „Wieso
muss ich immer neugierig sein und kann nicht auf die
anderen warten?“, scholt er sich und stampfte mit einem 21
Fuß ins Feuer, sodass Funken stoben.
Bevor seine breiten Spitzohren sie hörten, spürte
Zeeris die feinen Vibrationen schwerer Schritte in
seinem Teufelchenschwanz. Augenblicklich wurde
er unsichtbar. Schwefeldunst stieg zwischen seinen
Schuppen auf, ein ähnlicher Vorgang wie das Schwitzen
bei Menschen. Zaubern strengte an, besonders wenn es
schnell gehen musste.
Er hatte rechtzeitig reagiert. Als die fünf Chimärier in
Sichtweite stampften, kauerte Zeeris hinter einem rauen
Felsbrocken abseits des Feuers. „Da seid Ihr ja wieder!“,
flüsterte er aufgeregt. Den Lendenschurz voller Augen
hatte er selbstverständlich mitgenommen.
Seit Stunden verfolgte er die Riesen, Abtrünnige von
Schattenwachts Imperium, über deren ockerfarbenen
Schuppen eiserne Rüstungsteile prangten. Zeeris hatte
mitgehört, wie sie von einer chimärischen Hohepriesterin
ihren Auftrag erhalten hatten: Sie sollten einen Zauberer
töten, der ihnen das hiesige Gebiet streitig machte.
„Bestimmt ist das Cerýllion, von dem sie reden!“, wisperte
Zeeris. „Dann werden sie auch auf Athónon stoßen, weil
der und Cerýllion Feinde sind. Das ist immer so! Die
Götter führen Athónon stets zielsicher zum nächsten
Feind. Cerýllion hat Mèra verraten und ist ein treuer
Diener des Drachen. Darum also hat es Athónon hierher
verschlagen, Cerýllion ist endlich fällig!“
Zeeris grinste wissend und spießte einen Augapfel
mit seinen messerscharfen Zähnen auf. Er beobachtete
die Drachenmenschen, wie sie das Feuer mit Holzresten
22 aus ihrem Gepäck vergrößerten. Trotz ihrer Masse
bewegten sie sich behände. „Ihr seid sicher Offiziere!“,
stellte Zeeris fest, denn das Grollen und Knurren
einfacher Soldaten blieb aus.
Ihnen verdankte er auch all die Augen: Abseits im Dunkel
des Gangs lagen mehr Leichen von Schlangenblütern, als
Zeeris Finger hatte. Sie sind so töricht gewesen, aufgrund
ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit in den Nahkampf
zu gehen. „Ihr hättet die Schuppen wenigstens in einen
niedrigeren Gang locken können“, wisperte Zeeris den
Toten zu und schüttelte tadelnd den Kopf.
Er richtete seinen Blick wieder auf die Chimärier. „Sicher
seid Ihr Desert... Desa... Desatiere“, grübelte er. „Ihr lebt
außerhalb des Imperiums in Tebaarshas Reich, nicht oben
bei Schattenwacht. Macht wieder Religion und habt eine
Hohepriesterin, die Euch herschickte. Bei Schattenwacht
ist Religion verboten, das weiß ich! Aber ihr kämpft wie
echte imperiale Truppen, ihr habt das da gelernt. Das seh’
ich sofort! Nur Athónon kann einen imperialen Chimärier
im Nahkampf besiegen. Oh, und Cesius hatte das auch
gekonnt, aber der ist ja schon lange tot. Schade, seitdem
zeigt mir keiner mehr was über Heilzauber. Dabei hat
Cesius gesagt, ich hätte ganz viel Talent! Aber ich bin ja
nur Zeeris.“ Das Teufelchen schnaubte verächtlich. Schon
im nächsten Moment aber vermisste es seine Gefährten
wieder und ließ sich wehmütigen Blickes vom Feuerschein
hypnotisieren.
„Quirmó hat uns viel über die elfische Kultur gelehrt:
Sie schützt uns nicht, vereint uns nicht und ernährt uns
nicht. Sie ist bloß ein Relikt des Überflusses aus bunten
Träumereien einer zweifelhaften Vergangenheit.“
Sophéion der Barde
über die Geschichte der Nachtelfen
1 27

Die Dunkelheit der Höhlengänge abseits von Quirmó


umhüllte Melek und flutete seinen Geist. Als Symbol
für die Abkehr vom Leben bei Tageslicht, ließ ihn die
Schwärze grinsen. Seine Füße tasteten sich geschmeidig
den Weg. Nur selten klickerte ein Stein oder scharrte
eine Sohle. Sein Magenknurren indes konnte er nicht
unterdrücken. Bevor er wieder jemanden beschleichen
konnte, musste er essen.
Melek ballte die Fäuste und klammerte sich immer fester
an seine Überzeugung: Er glaubte, ein natürlicheres Leben
zu führen als die sesshaften Bauern und Handwerker, die
er für ausgebrannt und leblos hielt, die sich seiner Meinung
nach zu sehr in ihre Kultur verliebt und sich dabei von
der Natur entzweit hatten. Doch ohne Einklang mit jener
Urkraft, von der alles Leben stammte, konnte es für Melek
keine Zufriedenheit geben.
„Ich hatte Dich schon besiegt!“, knurrte er und sah
Laura vor sich zusammenbrechen, roch noch einmal ihren
Angstschweiß und schmeckte ihr Blut wie warmes Eisen
auf der Zunge. In seinen Bartstoppeln trockneten Spritzer
davon; er zupfte sie ab und kaute darauf. Seine andere Hand
hielt den Bronzedolch mit dem Horngriff. Melek konnte
das Vorzucken seiner Faust kaum bändigen, wenn er sich
vorstellte, wie er die Feinde tötete, die zwischen ihm und
seinem Ziel standen. Dem Geruch von Stein und Nässe
ging er nach, fort von den Gerüchen der Zweibeiner, denn
noch war ihm kein Plan zur Eroberung Lauras eingefallen.
28 Zwölf Jahre lang wurde Melek nicht aufgehalten,
nachdem er im Alter von nur sechs Jahren einem Fluch
zum Opfer gefallen war. Begonnen hatte er seine Karriere
damit, seine Eltern zu töten. Alle Ziegelhütten und Zelte
in der milden Wüste südlich der Silberberger Lande hatte
er danach heimgesucht. Seine Opfer hatten zu ihren
Göttern gefleht, aber nie war ihm etwas geschehen. Im
Gegenteil: Dem Tempelkrieger, der ihm jahrelang auf den
Fersen gewesen war, begegnete Melek als Mitgefangener
der Chimärier. Taren hatte geahnt, dass Melek niemand
anderes als der Mörder war, dem er im Namen des
Silberberger Tempels von Bruder Mond von Dorf zu Dorf
nachgejagt war. Aber selbst im Angesicht eines Dieners
der Götter war keine höhere Gerechtigkeit über Melek
hereingebrochen. Seine Taten blieben ungesühnt, und
darum würde er auch Laura bekommen.
Er hatte schon stärkeren Kriegerinnen als ihr das
Messer an die Kehle gehalten, doch in Laura erkannte
Melek eine unbeugsame Seele, die mehr als jede andere in
seiner Sammlung unter ihrer Niederlage leiden und sich
winden würde. Sie versprach Melek ein nie dagewesenes
Machtgefühl, und Machtgefühl war die Nahrung seines
Geistes.
Wogen von Vorfreude ließen ihn schaudern. Bisher
hatte er keiner einzelnen Beute so entschieden nachgestellt,
wenn sie entkommen war. Er hatte einfach die nächste
gejagt. Aber Laura hatte einen wilden, so besonderen
Glanz in den Augen, dass Melek ihn um jeden Preis
zerbrechen musste. Jede Sekunde seiner Existenz schien
für diese Beute geschaffen zu sein.
Melek erstarrte. Sein Blut rauschte in den Ohren und 29
pulste stärker, versetzte ihn in Kampfbereitschaft. Schritte
schlichen näher. Melek hörte zwei Personen auf weichen
Sohlen heraus. Das Scharren und Knirschen begleitete ein
Lichtschein, der ebenso vorsichtig wie die Geräusche war.
„Sucht mich jemand hier?“, schoss Melek durch den Kopf.
Das schwache Zauberlicht kroch über den Pfad, auf
dem Melek stand. Im selben Rhythmus wie die nahenden
Schritte schlich er in eine Nische neben dem Weg. Melek
hielt sich tief, um in Balance zu bleiben, und rollte die
Außenkanten seiner Füße über den Fels, setzte die Sohlen
erst am Ende eines Schritts ganz auf und spürte so jeden
Kiesel rechtzeitig. Lautlos verschwand er in der flachen
Nische und nahm eine ungleichmäßige Körperhaltung ein.
Gleichförmige Umrisse, wie Menschen und Tiere sie besaßen,
fielen dem geübten Jäger sofort ins Auge, wusste er.
Zwei Nachtelfen schlichen den Pfad entlang. Ihre
Felle und Leinen verliehen den Spähern das Äußere
wandelnder Felsen. Ihre Köcher und ausgehängten
Bögen trugen sie auf den Rücken. In der Rechten hielten
beide ein kurzes Bronzeschwert, in der Linken einen kalt
leuchtenden Stein.
Melek wusste nichts über Elfen oder ihre Nachtkrankheit,
obgleich er durch Laura auch der Nachtelfin Jade und
der geheimnisvollen Alten, Mèra, begegnet war. Die
Lichtsteine verrieten ihm nun, dass gewöhnliche Elfen
ebenso wie Menschen Hilfsmittel brauchten, um im
Dunkeln zu sehen, und keine überlegenen Wunderwesen
waren. Seine Furcht vor dem fremden Volk verschwand
schon wieder, kaum dass sie aufgewallt war.
30 Der vordere strahlte Gefahr aus durch Brandrunen
auf seinem Kahlschädel, wachsame Augen und breite
Schultern. Der hintere schien kein Geschlecht zu haben,
doch sprühten Kraft und Kampferfahrung aus jeder
Bewegung der birkenschlanken Gestalt.
Meleks Beine begannen zu brennen, aber er hielt
seine Tarnhaltung eisern bei. Um sich nicht mit
Einzelheiten abzulenken, sondern die Situation als Ganzes
wahrzunehmen, stellte er den Blick unscharf. Er entschied
sich, ungesehen zu bleiben und keine Ablenkung, zum
Beispiel als Verwundeter, zu inszenieren. Sollte sein
Magen losknurren, konnte er das immer noch tun. Lieber
aber wollte er die Späher vorbeiziehen lassen, egal wen sie
suchten. Jeder Kampf konnte sein letzter sein, insbesondere
gegen eine besser bewaffnete Übermacht. Darum vermied
er jede Auseinandersetzung, solange er die Wahl hatte.
Meleks Magen knurrte tatsächlich. Die Nachtelfen
hielten alarmiert inne und lauschten. In dem Moment traf
ein Pfeil den breiten Späher in die Seite. Er heulte auf, warf
seinen Leuchtstein weg und floh in die Dunkelheit. Sein
Begleiter folgte seinem Beispiel – genau in Meleks Nische.
Die drei Körper reagierten ohne bewussten Gedanken.
Melek wusste, dass die Nachtelfen als Angegriffene
bloß noch kämpfen und nicht erst fragen würden und
die Nachtelfen glaubten, in einer Zange ihrer Feinde zu
stecken. Ihre Sprache beherrschte er ohnehin nicht.
Der Unverletzte stach vor sich, die Bronze klirrte auf
Felsen. Melek hechtete flach über den Boden und landete
wie eine Feder auf Fingern und Zehenspitzen. Nah am
Boden bleibend, wirbelte er herum und hörte gleichzeitig
das Schwert des Verwundeten über sich vorbeirasen. Jetzt 31
sprang Melek auf, Dolch voran. Er wusste durch den Schlag
in die Luft und seine Kampferfahrung, wo die Schulter des
Gegners war. Seine freie Hand fand sie sofort und strich
den Waffenarm bis zum Ellbogen hinab, um den Arm
zu behindern und die Waffe harmlos zu machen: Eine
hektische Berührung allein, ohne Kraft, würde ihn nicht
ernstlich verletzen. Seinen Dolch hämmerte er unterhalb
des Brustbeins hoch ins Herz des Verwundeten. Melek
spürte die große Kraft des Getroffenen, dessen linke Faust
ihn wie ein Kriegshammer traf und zurückschleuderte.
Dadurch verlor er auch die Kontrolle über das gegnerische
Schwert. Doch das panische Stöhnen verriet ihm, dass
er einen Volltreffer gelandet hatte. Melek rührte sich
nicht. Er blieb liegen und zwang seinen Atem zur Ruhe;
je weniger Geräusche er machte, desto mehr nahm er
in der Dunkelheit von seinen Gegnern wahr – und von
demjenigen, der den Pfeil verschossen hatte.
Der Verwundete stürzte zu Boden und röchelte.
Darunter hörte Melek jedoch leise Schritte in seine
Richtung tappen. Der zweite Nachtelf konnte sich gemerkt
haben, woher Meleks Aufprall und scharfes Ausatmen
erklungen waren. Stand Melek jetzt auf um anzugreifen,
verrieten seine Geräusche seine exakte Lage und der
Gegner würde sofort zuschlagen.
Aus der anderen Richtung hörte Melek ein Knirschen.
Der Unverletzte musste es auch vernommen haben, denn
er hielt an. Der letzte Atemhauch des Sterbenden erklang.
Melek hörte sein Herz donnern und sein Blut rasen. Sein
Körper schrie nach Luft, und ganz langsam, um leise zu
32 bleiben, sog Melek sich voll. Ein schneller Schritt verriet
ihm, dass er nicht leise genug gewesen war. Er rollte sich
über den Rücken auf die Füße, blieb aber hocken. Wieder
belauerten die beiden sich in der Schwärze, der Nachtelf
ging kein Risiko ein. Die Lichtsteine lagen zu weit weg und
waren zu schwach, um Melek oder den Gegner zu verraten.
Auch der Bogenschütze blieb unsichtbar. Plötzlich jedoch
zischte ein Pfeil im Gang und Melek drückte sich so flach
er konnte auf den kalten Stein.
Auch der Nachtelf warf sich nieder – seine linke Hand
berührte Meleks Waffenhand. Mit der eigenen Linken griff
Melek sofort drei Finger des Gegners. Der Pfeil zerbarst am
Fels, gleichzeitig sprangen Melek und der Festgehaltene
auf. Melek besaß durch seine zahllosen Opfer ein
exzellentes Gefühl für Körperbewegungen. So spürte er
auch die Drehung des Gegners, bei der ihm dessen Finger
jedoch entglitten. Melek ließ sich in die Hocke fallen und
riss die Linke als Schutz vor den Kopf. Das Schwert strich
nur harmlos darüber. Melek packte nun zielsicher den
gegnerischen Waffenarm und warf sich ins Hohlkreuz,
um den leichten Nachtelfen aus dem Gleichgewicht zu
reißen. Doch der ließ sich nicht so einfach überrumpeln.
Er stemmte sich mit einem Ausfallschritt gegen Meleks
Gewicht und wirbelte seinen Waffenarm in hohem Bogen
zurück, sodass Melek derjenige war, der das Gleichgewicht
nach hinten verlor, rücklings über das Bein des Gegners
stolperte und auf den Hintern fiel, anstatt wie geplant einen
tödlichen Herzstich zu führen. Siegessicheres Zischen auf
den Lippen, stach der Nachtelf die Klinge zu Boden. Aber
Melek rollte sich weg, näher an den Gegner heran und
sprang auf. Im Vorbeirennen schlug er den Dolch durch 33
Hals und Kehle.
Er hörte den Toten hinter sich niedersinken. Melek
lief um eine Biegung und drückte sich mit dem Rücken
an den kühlen Fels, kontrollierte mühsam seinen Atem.
Wieder knurrte sein Magen. Er presste die warmen Arme
auf Bauch und Unterleib, wohl wissend, dass nichts außer
Essen und Trinken wirklich helfen würde.

Der Nachtelfenstadt stand ein Kampf bevor, wusste


Melek. Lauras Gruppe hatte sich darüber unterhalten,
bevor er Laura zu überwältigen versucht und noch
dazugehört hatte. Es würden noch mehr Späher beider
Parteien herumschleichen. Außerdem würde er auf
Fliehende und Deserteure stoßen, die nach dem Kampf
wiederum gesucht würden von den Soldaten der Sieger.
Ohne Nahrung würde Melek bald selbst zum Fliehen zu
schwach sein. Sein Atem beruhigte sich, Entschlossenheit
kehrte nach dem Sieg zurück. Er würde weiterkämpfen,
wenn er irgendeine Chance sah, den Bogenschützen und
dessen eventuelle Begleiter zu besiegen.
Der Bogenschütze trat in das Glimmen der auf dem
Pfad liegenden Leuchtsteine und stutzte. Die fahle
Haut des Tiefenweltlers zeigte, wie lang seinesgleichen
schon von der Sonne abgekehrt lebten. Ein Pfeil ruhte
schussbereit auf der Sehne, dennoch blieben die Augen des
Mannes geschlossen; Melek vermutete, dass er zu jenen
Tiefenweltlern der ersten Generation gehörte, die nach
Jahrhunderten des Lebens im Untergrund blind geboren
wurden. Ein Messingreif umfasste den haarlosen Schädel
34 des Schützen. Fetzen aus Leder und Fell sowie altes Metall
bedeckten seine Muskeln zum Schutz. Melek kannte
eine Geschichte über diese Wesen: Angeblich trieben
Dämonen manche Nomadenstämme in die Tiefe von
Hevanor, wo sie geheime Kultstätten errichten und böse
Rituale abhalten mussten.
Dem Tiefenweltler folgte eine ähnliche, doch kleinere
Gestalt mit schussbereitem Bogen. Meleks Körper schwor
sich schlagartig auf die Jagd ein. Seit zwölf Jahren steigerte
er sich in diesen wahnhaften Teufelskreis: Weil der Anblick
seiner Beute immer stärker wirkte, fühlte er sich auf seinem
Weg bestärkt. Gier und Vorsicht rangen miteinander, die
treibende Urkraft und die Gabe des Geistes.
Sein Bewusstsein, jeder Kontrolle verwiesen,
schwelgte in voreiliger Freude, zumal er bisher bloß
Menschen erjagt hatte. Meleks hochentwickelter Geist
machte ihn nicht nur gefährlich, sondern vertrieb sich
im Drang nach Beschäftigung auch manch langes
Lauern mit verklärter Poesie.
Das Mädchen glühte vor Jugend und Schönheit. Auch
sie wandelte mit geschlossenen Augen. Wo ihre weiße Haut
unbeschützt hervorschien, schrie sie nach Meleks Händen
und Zähnen. Ihre schlanken Glieder forderten ihn auf,
sie zu besiegen, obgleich ihr morgenschönes Antlitz ihn
feurig von sich gewiesen oder seinen Sieg mit Furcht und
Tränen vergolten hätte. Bei aller Sanftheit ihres Körpers
und dem Gesicht einer friedlich Schlafenden duldete der
Befehl ihres Fleisches keinen Widerspruch.
Der Anblick ihrer Heiligtümer, gestohlen aus den
Schatten von Fell und Fleisch, schnitt wie ein Messer in
Meleks Geist. Wenn der Atem ihre Brüste hob, Felle ihren 35
Schoß umspielten, Melek zu sich riefen, auf dass er ihre
zuckenden Schenkel teilte, das scheue Lendentuch aus
dunklem Schutze riss, warmen Salzdunst von der Haut
probierte und die Beute zur Bestimmung führte – ob ihr
Geist sich seines Weges beugte oder nicht.
Für einen Moment vergaß Melek über die oberflächliche
Schönheit der Tiefenweltlerin sogar Laura. Er spannte
sich. Doch Feind und Beute kamen nicht näher, sondern
schnupperten misstrauisch.
Melek hatte nie verstanden, weshalb er den Befehlen
seiner Gier nicht folgen sollte. Beim zaghaften Werben
um Laura war er daran gescheitert, den längeren und
friedlicheren Weg der Natur zu gehen. Umso treuer
hatte er sich danach dem Jagen verschrieben. Nie wieder
wollte er seiner Beute den unverdienten Respekt einer
Gleichwertigen vorspielen, um sich dann abweisen zu
lassen. Solch eine Erniedrigung, bei der die Beute sich
im Recht und dem Jäger gar überlegen fühlte, nahm er
nicht hin.
Der Tiefenweltler trat die Leuchtsteine vorwärts, sie
klickerten laut. Der kalte Schein erreichte beinahe Melek.
Beute und Feind verschwanden im Finstern. Blitzschnell
schätzte Melek die Gefahr ein. Sie konnten nach Gehör
schießen, besaßen noch Pfeile und waren absolute
Dunkelheit im Gegensatz zu ihm gewohnt.
Er brachte seine Gier wieder unter seine
Geistesherrschaft. Diese Beute würde er jetzt nicht
bekommen. Er hatte verinnerlicht, dass Überleben
vor allem anderen kam. Entweder ergab sich später
36 eine bessere Gelegenheit, oder er musste Wut und
Enttäuschung an einem anderen Opfer auslassen.
Melek schlich weiter und dachte zornig an seinen leeren
Magen. Vielleicht musste er leichtere Beute finden, um zu
essen, auch wenn er dann umsonst Kraftreserven an den
zwei Nachtelfen verbraucht hatte.
Die beiden Tiefenwelter flüsterten, Melek verstand ihre
Sprache nicht. Die Leichen wurden durchsucht, so klang
es. Dann wurden die Leuchtsteine weiter den Pfad entlang
getreten, die Gegner schlichen mit erhobenen Bögen auf
Melek zu. Zähneknirschend ließ er sich weiter forttreiben,
um nicht entdeckt zu werden.

Melek hatte die Verfolger abgeschüttelt und


war im Kreis geschlichen. Er hoffte die zwei Toten
wiederzufinden, um notfalls deren rohes Fleisch zu
essen. Das machte stark, wusste er, doch lag es schwer im
Magen und erzeugte laute Geräusche.
Aus einem Rinnsal am Boden trank er kristallklares
Wasser, um seinen Durst zu stillen und das Magenknurren
zu vertreiben. Nach jedem Schluck horchte er auf die
Umgebung, wachsam wie ein Vogel am Boden.Schon oft
hatte er eine Jagd abbrechen müssen, weil der Widerstand
zu gefährlich gewesen wäre. Melek tröstete sich mit dem
Gedanken an Laura. Er wusste nicht, ob der beseelte
Wurfdolch, der ihn einst zum Jäger gemacht und wenige
Jahre darauf verlassen hatte, diesen Tag und diese
Beute vorausgesehen hatte. Er glaubte jedoch an nichts
Höheres, denn gäbe es so etwas wie die Götter, von denen
seine Opfer und die Sesshaften plapperten, sie hätten
unmöglich Meleks Existenz zugelassen. Als Monster und 37
Dämon hatten sie ihn verflucht, so wie sie Tiefenweltler,
Elfen und Chimärier verfluchten. Mit Spott hatten sie
ihre Gemüter beschützt, wenn sie dachten, er höre sie
nicht. Aber er hatte seine Klinge in ihrem Fleisch versenkt
und ihnen bewiesen, dass Flehen und Spotten sinnlose
Atemverschwendung waren – dass ihre Lebensweise der
seinen unterlegen blieb.
Meleks Finger und seine Dolchspitze befanden sich auf
Kopf- und Brusthöhe vor ihm. So spürte er auch Stalaktiten
rechtzeitig. Allerdings brannten seine Schultern nach
einer Weile vom Hochhalten der Hände. Ein plötzlicher
Gedanke ließ ihn innehalten und die Arme senken:
Vielleicht war Laura sein taghelles Spiegelbild und darum
musste er sie so dringend zerstören. Genauso wie er strebte
sie nach Freiheit und Bedeutung in einer fehlervollen,
götterverlassenen Welt, nach der Rechtfertigung ihres
Wesens, so wie es eben war – ohnmächtig hoffend, dass
es sich auf Dauer als erfolgreich herausstellte. Doch
während Laura an der Seite von Halbgöttern einer großen
Geschichte entgegenging und bewies, dass es sehr wohl
eine höhere Macht gab, fühlte Melek sich in der Meinung
von Sterblichen und Göttern zum banalen Mörder
verblassend. Zweifellos war er nach seinen Maßstäben
erfolgreich und mit sich zufrieden, doch wurde sein Genie
nicht anerkannt und kein Ruhm wurde ihm zuteil, nur
Hass. Der Sieg über Laura sollte ihm den Glanz verleihen,
der ihm für seine Brillanz als Jäger, für sein erfolgreiches
Machtstreben jenseits der Vorstellungen einfacher Bauern
verwehrt blieb. Denn er zweifelte keinen Augenblick
38 daran, dass ihm dies zustand und die dummen Schafe ihn
bloß nicht verstanden.
Mit seinen einsamen Regeln zur Erlangung von
Macht und Freiheit verkörperte Melek ein Ideal des
Bösen. Der Glaube der Menschen erklärte seine Taten
mit dem zerstörerischen Einfluss der Amdovenn oder der
Chimärier. Doch die Wahrheit war noch viel kälter, denn
Melek wurde von niemandem außer sich selbst gelenkt,
und nur durch Entscheidungen, die in seinem chaotischen
Krieg, jeder gegen jeden, tatsächlich funktionierten, ihn
überleben und siegen ließen.
„Man kann keine Traube vom Dornbusch pflücken,
egal wie lange man sucht“, hatte sein Vater einmal über
Melek gesagt. Schwermütig grübelte er: „Vielleicht war es
eine elterliche Schwäche, mich nicht rechtzeitig zu töten
und auf die Welt loszulassen. Aber da ich nun hier bin,
gehe ich so weit, wie ich kommen kann! Die Zeit wird die
Wahrheit über meinen Weg des Krieges offenbaren.“
Sein scharfer Verstand war seine wichtigste Waffe und
manchmal sein ärgster Feind. Ob die Prophezeiung von
Theb Nor jemanden wie ihn meinte? Er hatte Bruchstücke
gehört. Jedwedes Wissen solle böse sein und Verderben in
die Welt bringen.
Kopfschüttelnd verdrängte er alle Zweifel, sie bedeuteten
Schwäche. Lieber wollte er jetzt überlegen, ob er Laura
nach ihrer Niederlage am Leben lassen sollte, damit sie
ihm vielleicht einen Erben gebar. Einige besaß er bereits,
da war er sich sicher, auch wenn er dem Großziehen keine
Bedeutung beimaß. „Ein Dornbusch bringt Dornbüsche
hervor, egal wie sehr man sich Trauben wünscht“, dachte
er in Anlehnung an die Worte seines Vaters, die sich ihm 39
eingebrannt hatten.

Plötzlich redete eine fremde Stimme in Meleks Kopf,


klanglos wie Pergamentrascheln.
„Grüße, Mensch! Wundere Dich nicht, ich bin weit
entfernt und spreche durch einen Geisteszauber zu Dir. Wir
haben bei allen Unterschieden doch vieles gemeinsam, darf
ich feststellen. Wir beide ziehen die persönliche Macht und
Freiheit vor. Wir lassen uns nicht zu den Schwächlingen
einer armseligen Dorfgemeinschaft sperren, die sich ihr
Leben lang für ein bisschen Brot quälen. Und beide wollen
wir eine bestimmte Frau.“
„Laura gehört mir!“, zischte Melek und bebte vor
Hass gegen den vermeintlichen Konkurrenten. Sofort
beruhigte er sich wieder und lauschte seiner feindlichen
Umgebung. Mit der Stimme im Kopf fiel es ihm schwer,
auf Geräusche zu achten.
Die Stimme lachte nachsichtig. „Laura meine ich auch
nicht. Ich helfe Dir sogar, sie zu bekommen. Lass uns
zusammenarbeiten. Ich statte Dich mit einem Zauber aus,
der Dich für Sterbliche unsichtbar macht. Dafür tötest Du
Mèra, solange sie noch so schwach ist. In ihrem Zustand
kann sie die Unsichtbarkeit ebenfalls nicht durchdringen.
Sie hält mit letzter Kraft einen Zauber aufrecht, der sie
und ihre Gruppe vor meiner Geistesmagie schützt ... nicht
aber vor Dir. In diesem Moment wird die Stadt von einer
meiner anderen Verbündeten angegriffen, sodass Du
vollkommen ungehindert durch die feindlichen Linien
schlüpfen kannst.“
40 Melek war ein meisterhafter Schleicher und konnte
jeden Strauch als Tarnung verwenden, aber Unsichtbarkeit!
Diesen Wunschtraum hatte er lange verdrängt. Damit
hätte er die junge Tiefenweltlerin leicht bekommen. Nun
kehrte der Traum zurück und sollte wahr werden.
Er fürchtete die graue Elfin Mèra nicht. Sie hatte für
ihn ausgesehen, als könnte er sie mit bloßen Händen
durchbrechen. Doch Vorsicht war eine seiner wichtigsten
Gaben, sie hatte ihn all die Jahre überleben lassen. In
seinen Gedanken knurrte er darum: „Ich bin doch nicht
verrückt und vertraue Dir! Wer bist Du und was hat diese
Mèra Dir getan?“
„Mein Name ist Cerýllion. Mèra und ich regierten einst
Seite an Seite das Reich der Elfen, weit im Norden, im
Ewigen Wald Âilon-Sàdil. Aber sie hinterging mich und
meine Verbündeten von den Amdovenn, und seitdem
sinne ich auf Rache.“
Weder wusste Melek, dass die Amdovenn Piraten und
Eroberer von jenseits Hevanors und Feinde der Götter
waren, noch dass es seit zweitausend Jahren kein geeintes
Elfenreich mehr gab. Cerýllions Stimme klang für ihn nach
einem offen sprechenden Gleichgesinnten, zaubermächtig
zwar, kein Mensch und einst ein Herrscher über ein fremdes
Volk, aber nicht mehr. Überdies ließ ihn die brennende
Gier nach Laura, die seinen Geist benebelte, allzu leicht
Vertrauen fassen. Er zog darum auch nicht in Erwägung,
dass jemand, der irgendwann an der Seite der Halbgöttin
Mèra geherrscht hatte, auch ein ähnlich altes Wesen sein
konnte. Cerýllion hatte seine neue Marionette in jedem
Punkt richtig eingeschätzt und meisterlich getäuscht.
„Was ist mit Srrig?“, flüsterte Melek. „Der ist 41
angeblich kein Sterblicher. Er würde mich also sehen,
und er ist gefährlich.“
„Du musst Dich nur beeilen. Er ist im Moment nicht
bei der Gruppe, sondern kämpft mit den Nachtelfen gegen
meine Schlangenblüter.“
„Dann los!“, knurrte Melek.
„Gut. Meine Magie erreicht Dich gleich.“
42 2

Schweiß rann über die Stirn einer Schlangenblüterin. Ihre


Schuppenhaut glitzerte weiß im Fackelschein. Das linke
Auge war verwachsen und hing schief im verformten
Schädel, Tränen quollen heraus. Auf ihrer zerplatzten
Lippe, einem hellbraunen Strich, mischten sich Schweiß
und Tränen mit Blut. Eine Schlangenzunge fuhr darüber.
Immer wieder stockte ihr Atem. Ihr starrer Blick hielt
sich am Türvorhang der Steinhütte fest, hinter dem die
Alarmrufe der Quirmóer gellten.
Sie lag auf dem Rücken. Hanfseile an Fußgelenken,
Knien, Händen und um den Oberkörper schnürten ihre
Lumpenrobe an dürre Glieder. Seit Srrig und Taren sie
überwältigt und hergebracht hatten, waren erst wenige
Stunden vergangen.
Vor ihrem Kopf stand ein Greis, dessen elfische
Ohrspitzen schlaff herabhingen. „Es widerstrebt mir,
Dich zu quälen“, redete der Älteste der Nachtelfen von
Quirmó auf sie herab. Weiße Haarsträhnen umfassten
seinen Schädel wie abgenagte Knochen. „Ich höre sofort
auf damit, wenn Du mir sagst, was euer Volk zu verbergen
hat und warum es uns angreift. Früher waren wir gute
Nachbarn! Was hat sich geändert?“ Die Falten in seinem
Gesicht bewegten sich wie Wellen im Wasser. Er beugte
sich über die Gefangene und legte seine knochigen
Hände zusammen.
Ihre Schlangenzunge fuhr immerfort über ihre
geschwollene Lippe. Sie zitterte, doch sie schwieg. Was
immer sie verheimlichte, machte ihr mehr Angst als 43
die Folter.
Der Greis trat zurück und seufzte. Ein anderer Nachtelf
kam an seiner Stelle vor und schlug der Gefangenen mit
der Spitze einer Bronzestange in die Rippen. Sie stöhnte
und krümmte sich so sehr, wie die Fesseln es zuließen.
Einer ihrer Giftzähne war zuvor schon abgebrochen.
„Da ist noch etwas“, begann der Greis und rieb sich
das weiche Kinn. „Du hast eine seltsame Aura, wie ich sie
noch nie spürte.“
Die Schlangenblüterin beruhigte sich überrascht. „Du
kannst ihn fühlen?“, wisperte sie. Nervös zischelte ihre
Zunge hervor. „Nicht mal meine eigenen Leute ...“, begann
sie, verstummte dann aber.
„Wen? Was kann ich fühlen? Rede endlich!“, bellte
der Greis. Die Gefangene stierte panisch auf etwas vor
ihrem geistigen Auge. „Er hatte mir versprochen, dass er
mich zur nächsten Anführerin ... wenn ich ...“, stammelte
sie. Doch dann schüttelte sie sich und verweigerte jedes
weitere Wort.
Der Greis schnaubte durch die Nase. „Wovor hast
Du mehr Angst als vor dem Tod? Hoffst Du etwa auf
Rettung?“ Von draußen drängten die Alarmrufe. Der
Älteste stürmte mit ungelenker Eile auf den Türvorhang
zu. Im Gehen fauchte er: „Töte sie und komm rasch nach.
Wir dürfen kein Risiko mit ihr eingehen.“
Der jüngere Nachtelf sah zu, wie der Älteste verärgert
den Vorhang zur Seite fegte und verschwand. Das Wallen
des Vorhangs ließ wieder nach. Der Henker schmiegte die
Finger fester um die Bronzestange, seine Miene blieb leer.
44 Als die Blicke von Henker und Opfer sich trafen, fing die
Schlangenblüterin an zu kreischen und wandte sich hin und
her. Doch die Fesseln hinderten sie sogar am Kriechen. Der
Nachtelf holte mit der Stange über ihrem Kopf aus.
Als kröchen Schlangen auseinander, lösten sich die
Knoten an den Fesseln der Gefangenen. Die Seile gaben dem
Strampeln nach, gerade bevor die Stange niederraste. Die
Gefangene war ebenso überrascht wie der Nachtelf, dass sie
zur Seite rollte. Beide starrten sich mit offenen Mündern an.
Der Henker fing sich zuerst und setzte nach. Die Gegnerin
streckte ihm verzweifelt die Füße entgegen, an denen
noch die losen Fesseln hingen. Ihr Knie knallte dumpf,
als die Bronzestange es zurück zum Boden schlug. Die
Schlangenblüterin wurde vom Schmerz geschüttelt und
sah dem erneuten Ausholen hilflos zu. Der Nachtelf zielte
auf ihr Genick. Wild kreischend, ohne jedes Schmerzgefühl
und bar jeden Gedankens sprang sie der Waffe entgegen.
Der Nachtelf ließ sich jedoch nicht verwirren. Er drehte seine
Hüfte zurück, um die Reichweite der Stange anzugleichen.
Die Kante der Stange schlug durch die losen Fesseln, die noch
um die Arme der Gefangenen hingen, und zerschmetterte
ihre Nase. Ohne die Wirkung abzuwarten, zog er die Waffe
zurück, ließ seine Hüfte wieder vorschnappen und streckte
den Arm aus, katapultierte die Stange in den Oberkiefer
der Gegnerin. Sie stürzte auf den Rücken und zuckte
stumm. Der offenkundig erfahrene Soldat ging kein
Risiko ein. Er sprang vor und donnerte seine Waffe so fest
gegen den Kopf der Gefangenen, dass ihr Schädel barst
und Blut auf den Steinboden schoss.
Weder Mitleid noch Triumph durchdrangen ihn, als er
in die toten Augen sah. In seiner Wirklichkeit war ein Leben 45
nicht viel wert, auch seins nicht. Feinde zu töten war ihm
eine Selbstverständlichkeit, um sein Volk zu schützen. Die
hohe Kultur seiner Vorfahren war im Kampf gegen harte
Winter und fremde Stämme vergessen worden. Selbst dass
seine Vorfahren keineswegs am Sonnenlicht starben und
dass die meisten Elfen im Norden noch immer gesund
waren, wusste er nicht. Kein Quirmóer kannte die wahren
Zusammenhänge oder ahnte, dass ihr kleines Volk und
andere verstreute Nachtelfen die Amdovenn aufspüren
und verletzen konnten, wo viele Waffen nutzlos blieben.
Darum verstand der Henker die seltsame Empfindung
auch nicht, die in seiner Brust wie Übelkeit aufstieg und
ihn hätte warnen sollen. Seine Kehle wurde plötzlich
zugedrückt, doch er sah und fühlte keine Hand und kein
Seil. Nackenwirbel knirschten. Seine Füße zuckten in der
Luft, als hinge er an einem Galgen. Er schlug panisch
in die Luft, aber der unsichtbare Griff drückte ihn wie
die Klaue eines Chimäriers gegen die Felswand. Einen
grotesken Augenblick lang hing sein Körper in der Luft,
bis die Seele den Körper verließ. Sein Gesicht blieb im
Irrsinn erstarrt. Leise sank er weg.
Die Haut der toten Schlangenblüterin verfärbte sich
fahlblau. Sie schlug die Lider auf. Durch ihre Augen zogen
sich ölige Schlieren, die Pupillen verdrehten sich immerzu.
Die Amdovenn konnten keine Seelen aus lebenden
Körpern reißen, ohne ihre Anwesenheit zu verraten und
göttliche Wachen auf den Plan zu rufen. Doch frisch
verstorbene Körper konnten sie ohne Folgen besetzen.
46 Vier Nachtelfen standen im Halbkreis um einen
wuchtigen Holztisch – etwas sehr Wertvollem in
einem unterirdischen Reich. Hinter ihnen prasselte
ein Kaminfeuer und warf unheimliche Schatten zu
ihren Gesichtern herauf. Mit erwartungsvollen Blicken
begrüßten sie den greisen Nachtelfen, der das Verhör
geführt hatte. Zwei Männer waren ähnlich alt wie er. Alle
fünf trugen schwarze Tuniken mit blauen Rändern.
„Da bist Du ja endlich!“, rief der Muskulöseste der
Gruppe. Tiefe Furchen im Gesicht verrieten ein hohes
Alter, dabei strotzte er vor Energie und besaß einen starken
Kiefer. „Die Schlangenblüter haben ein Heer mobilisiert,
das neben ihren eigenen Kriegerinnen auch Tiefenweltler
und Schlangenmenschen umfasst. Ihre Anführerin trägt
das Schwert von Theb Nor, mit dem einst jener berühmte
Prophet der Menschen beschützt worden sein soll. Wir
müssen also befürchten, dass der Geschlechterkrieg
zwischen den Schlangenmenschen entschieden ist und die
Frauen die Männer unterworfen haben. Bephaal, der das
Schwert früher trug und uns wohlgesinnt war, wird tot
sein. Die Gefangene hatte ja Andeutungen gemacht, dass
nur noch einige ausgesuchte Männer für die Eiablage am
Leben wären. Aber wieso greifen sie uns an?“
Das Gesicht des Jüngsten glich einer Marmorsäule:
bleich und hoch, schwarze Haarsträhnen hingen herab
und seine verkniffenen Augen und blutleeren Lippen zogen
dunkle Striche. Er wiegelte ab: „Sie können unsere engen
Gänge unmöglich erobern, Kanmárael. Unsere Stadt lässt
sich durch ihre Lage perfekt verteidigen, und an unsere
Brunnen kommen sie auch nicht heran. Was immer die
neue Anführerin im Schilde führt, ihr Größenwahn wird 47
ihr Untergang sein. Doch nun, Pêraphèniel, berichte uns
zunächst, was die Gefangene gesagt hat.“
„Sie hat ihr Geheimnis verbissen gehütet und mit in
den Tod genommen“, seufzte der Greis. Er legte die Hände
hinter dem Rücken zusammen und trat an den Tisch.
Eine Pergamentkarte der Stadt Quirmó lag darauf. Mit
weißen und dunkelgrauen Steinchen waren die Kämpfer
der Nachtelfen und der Schlangenblüter postiert worden.
Draußen spurteten Soldaten vorbei.
Pêraphèniel studierte die Karte. „Sie sind uns ja drei
zu eins überlegen!“, rief er. Das Kaminfeuer warf seine
gespenstischen Schatten auf ernste Gesichter, auf das
Pergament und auf die Steinchen. Das Prasseln erinnerte
den Greis plötzlich an brechende Knochen.
Kanmárael, der muskulöse Elf, zwang sich zur Ruhe.
„Aber sie müssen durch die Nadelöhre unserer Gänge
und gegen unsere Schilde und Bogenschützen anrennen“,
erwiderte er. „Sie haben keine Chance. Sophéion hat recht,
sie sind wahnsinnig geworden.“
„Oder haben eine unfassbare Überraschung für uns,
zum Beispiel die, welche sie seit einiger Zeit vor uns
verbergen!“, wetterte Pêraphèniel. „Außerdem ... fühlt Ihr
nicht auch diese beklemmende Aura, seit die Fremden
unsere Gäste sind? Am stärksten war die Aura allerdings
in der Nähe unserer Gefangenen. Auch darüber konnte
ich ihr leider nichts entlocken.“
Ein anderer alter Elf begann ruhig zu sprechen. Unter
hohen weißen Brauen stachen dabei seine Augen wie Feuer
hervor. „Ich fühle es ebenfalls. Das scheint eine Warnung
48 vor etwas zu sein, mit dem wir zuvor nie konfrontiert
worden sind. Meine magischen Sichtmittel haben nichts
ergeben, daher werde ich die Tunnel abschreiten und nah
an der Front nach feindlichen Zaubern Ausschau halten.
Es ist durchaus möglich, magische Muster zu tarnen, doch
nur solange ein Zauber nicht zur Wirkung kommt. Sollten
unsere Feinde – oder unsere Gäste – einen Zauber oder
ein Artefakt gegen uns verwenden wollen, werde ich sie
aufhalten.“ Damit schritt er davon, aufrecht und von einer
inneren Stärke sprühend, die nichts mit der körperlichen
Welt zu tun hatte.
„Velýthoels Macht dürfte für diese Barbaren völlig
ausreichen“, sagte Kanmárael. „Aber könnte es noch
eine andere Möglichkeit geben, an die wir bloß nicht
gedacht haben?“
Der dritte Grauhaarige des Rates, dessen Gesicht rund
und weich lächelte, sagte mit heller Stimme: „Nun, ich
sehe, Ihr werdet Euren Aufgaben bestens gerecht. Für
mich ist es jetzt Zeit, den meinen gerecht zu werden. Ich
werde um mein Haus herum Decken für die Verwundeten
auslegen. Viel Erfolg!“
Er zog den Türvorhang auf – und wich zurück.
„Velýthoel!“, schrie er. „Was ...? Wie ist das möglich? Wer
bist Du?“
Die anderen Nachtelfen stürmten von Tisch und Kamin
fort zum Ausgang. Kanmárael zog sein Eisenschwert aus
der Holzscheide und drängte nach vorn.
Vor dem Haus lag Velýthoel in seinem Blut. Die untote
Gefangene stand neben ihm und hielt seinen Dolch in
der Faust, den er stets im Gürtel getragen hatte. Sie lachte
verzerrt und starrte den Nachtelfen grimmig entgegen. 49
Noch immer verdrehten ihre Pupillen sich. „Nennt mich
Kanzler“, knurrte sie.

Cerýllions Geist war in einem Telepathiezauber


gefangen. Sein Bewusstsein würde erst wieder in seinen
Körper zurückfinden, wenn Schattenwacht es ihm
gestattete. Die Drachenstimme fauchte: „Was tust Du,
Schüler? Wieso arbeitest Du nicht wie früher mit dem
Kanzler zusammen? Du weißt, was für ein Risiko ich
eingegangen bin, als ich einen so bedeutenden Amdovenn
ins Diesseits gelassen habe. Offiziell ist meine Aufgabe,
genau so etwas zu verhindern! Seine Aura ist wie ein
Leuchtfeuer in der Nacht! Wenn die Götter zu früh von
meinen Plänen erfahren, wird die Invasion beendet,
bevor sie beginnen konnte. Dass der Kanzler persönlich
kam, ist eine große Ehre und ein großer Vorteil für uns,
aber er ist auch so hochrangig, dass die Bedeutung seines
Hierseins selbst für den lethargischsten und dümmsten
Gott offenkundig würde, sollte Rogáril auffliegen.“
„Meister ... Ihr habt mir zu spät von Kanzler
Rogáril berichtet, die Dinge waren bereits zu sehr in
Bewegung geraten.“
„Du meinst, Du hast die Kontrolle verloren?“
Schattenwacht lachte trocken. „Gewinne sie zurück und
arbeite mit dem Kanzler zusammen. Mir ist egal, wie es
geschieht, aber die Vier Könige und insbesondere T’ral
dürfen nicht bis zu mir vordringen. Das ist noch wichtiger
50 als die Vernichtung der Nachtelfen. Wenn mein Verrat
auffliegt, wenn meine Verhandlungen mit den Amdovenn
und meine Versuche, die Inferior zu reinkarnieren, den
Göttern gewahr werden, ob durch ihre Diener oder
persönlich, ist alles verloren.“
„Ich gehorche. Inferior und Amdovenn werden die Welt
unter sich aufteilen und die schwachen Götter werden
verjagt, so sei es.“ Schattenwacht ignorierte Cerýllions
zynischen Unterton.
„Wenn aber die Inferior im Moment ihrer Befreiung
erfahren, dass ich nicht von Geburt an einer der ihren war,
sondern ein Spion der Ersten Götter ...“
„... ist alles verloren, ich weiß“, seufzte Cerýllion.
„Und die Vier Könige kennen dieses alte Geheimnis. Die
Inferior sind ausgesprochen nachtragend und würden
Euch töten, Meister.“
Schattenwacht schwor seinen Diener abermals auf das
große Ziel ein: „Die Götter haben versagt und erfüllen
ihre Aufgaben schon lange nicht mehr. Wir müssen uns
diese Hochstapler vom Hals schaffen! Unter all ihren
Geschöpfen sind nur meine Pýucaani das Überleben wert,
in denen ein Hauch der Inferior lebt. Wie jämmerlich,
wie widersprüchlich und klein doch Menschen, Elfen und
all die anderen dagegen geworden sind, seit die Ersten
Götter verschwanden und die jetzigen sich aus ihrer Nähe
zurückgezogen haben!“ Schattenwachts Stimme zischte wie
eine Schlangengrube. „Diese Missgeburten sind unfähig,
auf eigenen Füßen zu stehen! Jede Generation ist schwächer
als die davor, nicht stärker. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist
dahin.“ Dann fand der Drache seinen ruhigen Ton wieder.
„Schau Dir diesen Melek an. Er ist stark, doch wildert er 51
bloß ziellos vor sich hin. Die Sterblichen sind nur noch
ein Schatten ihrer Vorfahren und all der Helden, die nach
dem Glorreichen Zeitalter die Amdovenn unter Führung
der Vier Könige zurückschlugen. Sie sollen den Würdigen
den Lebensraum nicht länger streitig machen!“
Cerýllion hätte gern geschwiegen. Doch gefangen
in der Telepathie mit dem Drachen, wurde jeder seiner
Gedanken hörbar. „Ich fühle mich unsagbar müde und
zermürbt, ohne jede Lebenskraft, so als gehörte ich längst
in ein Grab. Wer die Welt regiert und wer sie bevölkert, ist
mir inzwischen egal.“Gleichzeitig erklang der Beginn der
Prophezeiung von Theb Nor aus Cerýllions Gedächtnis:

Wehe den Sorglosen!


Geschichte wiederholt sich unaufhörlich.
Vor Jahrtausenden war es so,
Wie es sich heute wiederholen kann:
Überheblichkeit und maßlose Habgier
Schmiedeten einen Pakt
Mit dem Fürsten der Dämonen.
Er war und ist ein Feind der Götter,
Den Errichtern und Beschützern unserer Welt.

Schattenwacht knurrte ungeduldig. „Ich kenne die


Prophezeiung, aber ich bin kein sterblicher Herrscher
52 und fürchte mich nicht davor, die Amdovenn erneut
in die Welt zu holen, im Gegenteil! Denk an Deinen
Lohn, Schüler, und erspar uns Deinen Zynismus. Deine
Macht soll Deine Vorstellung übersteigen, wenn wir die
Herrscher vom Thron gestürzt haben. Dies war doch stets
Dein Wunsch, von Kindesbeinen an. Fokussiere Dich auf
das Wesentliche und erlaube Deinem Geist nicht länger,
sich in sinnlosen Strudeln zu ermüden. Der Geist ist nur
Dein Werkzeug, mehr nicht. Beherrsche das Werkzeug.“
„Ja“, hauchte Cerýllion eisig. „Macht war mein
größter Wunsch – vor langer Zeit. Ehrgeiz war mein
einziger Antrieb. So wurde ich T’rals Meisterschüler und
schließlich Eurer. Heute aber erkenne ich das Kämpfen
und Siegen nicht mehr als Sinn des Lebens an, so wie es
dieser Melek tut.“
„Unsinn!“ Das Wort peitschte Cerýllions Geist und
ließ ihn aufschreien. Der Imperator fauchte ungehalten:
„Nur das Siegen in jedweder Disziplin macht den Wert
des Lebens aus. Melek ist bloß deshalb kein Sieger, weil
er allein bleibt. Weil kein Volk auf seiner Seite steht und
er nicht einen einzigen Anhänger hat. Du aber müsstest
es besser wissen! Doch wenn Du kein Sieger mehr bist,
erwähle ich einen anderen Meisterschüler, einen von
einem stärkeren Volk als ausgerechnet den dekadenten und
willensschwachen Elfen. Vielleicht Melek? Er hat Potenzial
... Ich bin sicher, ich könnte ihn zu wahrer Größe führen.“
Cerýllion zögerte. Widersprüchliche Gedanken
plapperten in der Telepathie durcheinander. Schließlich
ging ein Ruck durch ihn und er sprach wieder mit einer
einzigen, leblosen Stimme. „Nein, Meister. Ich bin stark
genug. Ich will so viel Macht, wie Ihr mir nach Eurem 53
Sieg über die Götter erübrigen könnt. Ich könnte meiner
Knechtschaft nicht einmal durch den Tod entkommen.
Ihr würdet meine Seele vor dem Totenreich abfangen und
zurückschleudern. Ich weiß, dass Ihr mich nach all der
Zeit nicht so leichtfertig ersetzen würdet. Also mache ich
das Beste aus meiner Lage.“
Schattenwacht ließ Cerýllions Geist frei. Der Elf kam zu
sich und wirkte sofort einen Spähzauber, jagte seine Sinne
erneut aus dem Körper, um die Situation zu überblicken. Er
sah zu, wie sowohl seine als auch des Kanzlers Marionette
auf Schattenwachts Ziel hinarbeiteten, als handelte es sich
um einen Wettlauf, dessen Sieger die Gunst des Imperators
gewann. „Mèras Tod wird allein mein Verdienst. Die alte
Rechnung wird beglichen. Danach kann ich immer noch
mit Rogáril kooperieren.“
54 3

Mèra hielt in einem gähnenden Tunnel, der abwärts führte.


Bei der Kälte aus der Tiefe und dem Geruch nassen Steins
dachte Laura an ein Grab und schauderte. Ferne Echos
aus Quirmó eilten vorbei. Stalagmiten und Stalaktiten
formten Steinkegel in der Farbe von Knochen.
Laura war noch so geschwächt, dass sie sich apathisch
neben Mèra in eine Ecke setzen ließ. Sie nahm kaum wahr,
wie Athónon, Taren, Paaldrag und Brommil sich in den
abzweigenden Gängen verteilten, um Wache zu halten, bis
der Kampf um Quirmó entschieden und die Umgebung
wieder sicher war.
Zuerst verstand Laura die heraufziehende Gefahr
nicht. Ihr Blick folgte Mèra, die sich geräuschlos erhob
und in die Dunkelheit wankte. Noch immer hatte die
Halbgöttin sich von den zurückliegenden Strapazen
nicht erholt. Laura fragte sich, ob der Gang, in den Mèra
verschwand, von einem Gefährten bewacht wurde oder
ob er vergessen oder bewusst vernachlässigt worden
war. Ihre Benommenheit ließ erst einen alarmierenden
Gedanken zu, als das Chamäleon Taffi aus Athónons
Rucksack herausschlüpfte, die Farbe der Felsen annahm
und Mèra nachlief. Taffis Lichtkugel blieb über dem
Rucksack zurück, so gedämpft, dass der Schein bloß
wenige Schritte weit reichte. Mèra und Taffi waren
fort. Nur die fernen Rufe aus Quirmó drangen noch an
Lauras Ohren. Obgleich sie wusste, dass Athónon und
die anderen Gefährten sich höchstens dreißig Schritte
tief in den Tunneln verteilt hatten, schien sie gänzlich 55
allein zu sein.
Plötzlich war sie hellwach. „Was geht hier vor?“,
flüsterte sie. Lauter wagte sie nicht zu fragen. Niemand
antwortete. Sie wusste, dass Athónon ein exzellentes
Gehör besaß, aber womöglich lag er einfach zu weit
weg. Ihr wurde klar, dass sie längere Zeit nur halb bei
Bewusstsein gewesen war und darum vielleicht noch
mehr Geschehnisse nicht registriert hatte als bloß die
Aufteilung der Wachen auf die Gänge.
„Mèra?“, zischte sie in die Richtung, in der die graue
Elfin verschwunden war. Mèra, für die ihre Mutter
Jade gestorben war. Abermals wallten widersprüchliche
Gefühle auf. Laura starrte finster an der Lichtkugel
vorbei. Sie hatte Mèra vergeben und akzeptiert, dass Jade
sich für ein höheres Ziel geopfert hatte. Doch davon war
Lauras Seelenwunde lange nicht verheilt. Mèra durfte im
göttlichen Plan gegen den Drachen Schattenwacht nicht
fehlen, egal wie geschwächt sie war. Jade hingegen ...
Laura erlaubte sich keine Tränen, schluckte schwer
und schob sich an der Felswand hoch. Der Schmerz, als
der Stein über ihren Rücken kratzte, verjagte die letzte
Benommenheit. Sie streckte sich mit neuer Energie.
Entschlossenes Leuchten kehrte in ihre Augen zurück.
Laura spürte die Gefahr für Mèra so deutlich, als zeige eine
Klinge auf ihre eigene Kehle. Athónon und Srrig waren
sich einig, dass Mèra zu viel Magie gewirkt und sich sehr
geschwächt hatte. Taffi war für Laura bloß ein kleines Tier.
Auch wenn es sehr klug war und ein paar Zaubertricks
beherrschte, sie traute ihm keine echte Leistung zu.
56 Niemand sonst schien die Gefahr zu spüren. „Nur
ich kann etwas tun!“, drängte und schmeichelte Laura
sich gleichermaßen und lächelte grimmig. „Ohne Mèra
wärst Du umsonst gestorben, Mutter“, flüsterte sie der
Lichtkugel zu. „Außerdem müssen wir den Imperator
stürzen, um unsere Heimat zu retten! Srrig und Mèra
sehen keinen anderen Weg.“
Als sie erste steife Schritte machte, verkrampfte Laura
sich vom Kiefer bis zu den Zehen. Bei jedem Schritt
schmerzte ein anderer Muskel oder eine andere Wunde.
Doch die Entschlossenheit loderte stärker als jeder Schmerz
in ihren Augen. Sie stöhnte durch geschlossene Lippen,
verwandelte das Geräusch in ein Knurren und ergriff ihr
eisernes Kettenhemd. Sie hatte es bei der Abreise ihrem
Ziehvater gestohlen. Vielleicht würde sie nie erfahren,
warum er solch einen Kriegsgegenstand der Menschen
besaß. Auch das Kurzschwert stammte von ihm. Ob er
damit Blut vergossen hatte? Laura schüttelte sich und
verdrängte die Frage. Sie würde ihre Heimat und jeden,
der dazugehörte, in makelloser Erinnerung behalten. Nur
ein idyllisches Bild würde ihr die Kraft zum Durchhalten
geben, egal was geschah.
Als das Kettenhemd über ihre Arme und Schultern fiel,
zuckten ihre Muskeln so sehr, dass Laura sich in einem
Rückenkrampf verbog. Sie stieß einen dünnen Schrei
aus und sackte auf ein Knie. Der Krampf ließ nicht
nach, bis sie sich auf den Bauch fallen ließ. Hüfte und
Schulter stachen, als seien die Verletzungen von ihrer
Begegnung mit den Räubern nie von Mèra behandelt
worden. Für einen Moment glaubte sie, jeden Hieb und
Tritt von Melek noch einmal einzustecken und musste 57
würgen. Der alte saure Angstschweiß in ihrer Kleidung
wurde von den Hitzewogen ihres Körpers in ihre Nase
getrieben. Er brachte verdrängte Erinnerungen an Blut
zurück, an aufsteigende Übelkeit und den nahen Tod.
Nur ein Gedanke war geblieben: „Bitte nie wieder!“ Laura
unterdrückte ein Schluchzen. Schnell jedoch verblasste
die Furcht wieder und wich noch stärkeren Gefühlen.
Nach wie vor war keiner ihrer Gefährten aufgetaucht,
um an Lauras Stelle nach Mèra zu sehen. Sie hatte also
keine Wahl, belog sie sich selbst. Jemand anderen zu
holen, würde zu lange dauern, redete sie sich ein. Jade
durfte nicht umsonst gestorben sein, aber wichtiger noch:
Laura wollte unbedingt eine „Heldin“ sein. Nur für diesen
naiven Wunsch hatte sie ihr Dorf verlassen. Und entgegen
allen Einsichten konnte sie diesen Wunsch, in den sie sich
so lange hineingesteigert hatte, nicht abrupt aufgeben.
Sie biss die Zähne zusammen und presste die Stirn auf
den Felsboden, ignorierte die Mahnungen ihres Körpers
und stellte die Hände neben dem Gesicht auf. Ihre Arme
zitterten für einen Augenblick wie Äste im Sturm. Aber
dann drückte sie sich hoch und saß aufrecht.
Das Kettenhemd schien sein Gewicht verdoppelt zu
haben und ließ ihren Oberkörper wanken, so bleiern lag die
Erschöpfung auf ihren Gliedern. Das stolze Lodern in Lauras
Augen trübte sich schon wieder. Feine Schweißtröpfchen
benetzten ihre Stirn. Sie stöhnte laut, doch ihre Beine
stemmten sie hoch. Laura folgte Mèra in die Dunkelheit.
Das Kurzschwert hing schwer an ihren feuchten Fingern
und ihre Schritte blieben unsicher und steif.
58 Angezogen von so leisen Geräuschen, dass keines
Sterblichen Gehör sie wahrgenommen hätte, war Mèra in
die Dunkelheit geschlichen. Kroch jemand in ihrem Rücken
herum? Auch Mèras Augen waren denen jedes anderen
Elfen überlegen und machten in der Ferne Fackelschein aus.
Nach wenigen Schritten hörte sie Taffi, der an ihrem Bein
emporlief und sich auf ihrer Schulter festkrallte.
„Hier stimmt was nicht!“, flüsterte das Chamäleon
in Mèras Gedanken. Die Halbgöttin nickte im Gehen.
„Bedenke, dass Du seit Deiner Wiedererweckung noch
nicht Deine volle Macht zurückerlangt hast“, fügte
Taffi vorsichtig hinzu. „Und Du hast Dich schon zur
Genüge verausgabt.“
Mèra ignorierte das Chamäleon, hielt aber an. „Du
hast recht“, dachte sie, wohl wissend, dass Taffi sie hören
konnte. Der Fackelschein war weit weg – aber die leisen
Geräusche nicht, die Mèra hergelockt hatten.
„Soll ich Licht machen?“, dachte Taffi, aber Mèra
verneinte. Sie wären zur Zielscheibe für Bogenschützen
geworden. Mèra machte einen Schritt zurück, dann noch
einen. „Lauf und hol Hilfe!“, dachte sie entschieden. Doch
Taffi weigerte sich, von ihrer Schulter zu weichen. „Meine
Telepathie reicht weit, wenn es sein muss, das dauert nur
einen Moment“, erklärte das Chamäleon und schloss die
schwarzen Augen.
Das Gefahrengespür der Halbgöttin, die zwei
Jahrtausende in Kriegen und Kämpfen verbracht hatte,
brüllte förmlich auf. Sie sah den Dolch nicht, so wenig
wie die Faust, die ihn führte, aber sie spürte den Tod.
Blitzschnell fuhr sie herum, Taffi wäre ohne seine Krallen
von ihrer Schulter geschleudert worden. Der Dolch raste 59
nah vor ihr durch die Luft, schnitt ihre Tunika bis zum
Gürtel auf und einen blutigen Kratzer in ihren Bauch.
Ansatzlos schlug sie in die Schwärze und traf etwas Hartes.
Melek taumelte zurück und hätte fast den Dolch fallen
gelassen. Er knallte mit dem Hinterkopf gegen die Felswand
und sah Sterne. Als er noch reglos dagestanden hatte,
konnte er nach Mèras Kleiderrascheln und ihrem Atem
zielen. Doch im Zurücktaumeln wurde er lauter als Mèra
und fühlte sich völlig blind. „Wie hat sie mir ausweichen
und mich gleichzeitig treffen können? Und auch noch so
hart!“, fluchte er stumm. „Ich bin unsichtbar!“
Taffi warnte Mèra: „Dein plötzliches Herumfahren
hat meinen Rufzauber unterbrochen, ich muss von
vorn beginnen!“
Mèra rührte sich nicht. „Mach erst Licht!“, antwortete
sie dieses Mal. Ihre ganze Konzentration bündelte sich im
Horchen auf den Feind in der Schwärze. Sie hatte Melek
am Geruch erkannt, wunderte sich aber nicht. Er war
nicht Cerýllions erste Marionette. Nur einen Lidschlag
später schoss eine Lichtkugel in den Gang und schwebte
unter der Decke – doch niemand war zu sehen. Taffi und
Mèra stutzten.
Melek grinste triumphierend. Er sah sich selbst, aber
niemand sonst konnte ihn sehen. Der Zauber wirkte. Er
sprang vor und rammte den Dolch durch Mèras Bauch
aufwärts zum Herzen, streifte dabei jedoch die schützenden
Rippen. Die Klinge wurde gestoppt, aber sofort riss Melek
sie frei. Er schlang den freien Arm um Mèras Hals, der
kaum dicker als sein Unterarm war, packte ihr Elfenohr
60 und zog ihr Gesicht auf seine Schulter. Bevor sie reagieren
konnte, stieß er abermals zu. Er genoss die Erschütterung
ihres Körpers und das warme Blut auf seiner Hand, die
Macht, als seine Kraft ihr Aufbäumen verhinderte.
„Wie leicht Du bist, nur ein Spielzeug!“, geiferte Melek
und wirbelte mit Mèra um die eigene Achse, um seine
Überlegenheit zu zeigen. Diesmal versank die Klinge bis
zum Griff hinter Mèras Rippen. Die Spannung in ihrem
Körper ließ rasch nach. Ihre Finger berührten Meleks
unsichtbare Waffenhand. Ihr zitternder Atem an seiner
Schulter weckte für einen Augenblick Lust in ihm. Sie
sank jedoch nicht in seine Arme, wie er gedacht hatte.
Gelenkt von Sinnen, die nur wenige kannten, hämmerte
Mèra mit der Faust gegen Meleks Schläfe, als sei sie nie
getroffen worden. Er spürte nicht, wie er auf den Boden
schlug und kam erst dort wieder zu sich.
Von seinem Dolch in ihrer Brust troff das Blut zu
Boden. Ausdruckslos blickte sie an sich herab, blickte auf
ihre rot überströmten Handflächen, als betrachte sie etwas
Langweiliges. Melek starrte sie ungläubig an. Auf einmal
hörten sie ein lautes Scharren weiter hinten im Gang. Späher
der Schlangenblüter verbargen sich leidlich hinter einer
Kurve. Mèra reagierte nicht. Melek jedoch grinste gehässig.
Taffi löschte augenblicklich die Lichtkugel, gleichzeitig
zischte etwas durch den Gang. Mèra stöhnte ganz leise.
Taffi konnte mit dem Schwanz den Pfeil ertasten, der in
ihrem Rücken steckte. Sie schwankte und musste einen
Schritt nach vorn machen, um nicht zu stürzen.
Auch Melek ahnte, was geschehen war, wiederholte
seinen Fehler aber nicht, die Halbgöttin ungestüm
62 anzugreifen. So leise er konnte, erhob er sich. Erst als er
Mèras zitternden Atem hörte und genau wusste, wo sie
stand, sprang er sie an. Dank ihrer Reflexe steckte er einen
Kinnhaken ein, der die menschliche Schlagkraft weit
übertraf. Meleks Knie knickten ein, doch im Taumeln riss
er auch den Dolch aus der Wunde.
Den Waffenarm wie einen Speer ausgestreckt, dabei
tief gebeugt, rannte er in Mèra hinein, stemmte sich
mit aller Kraft von unten gegen sie und stieß sie gegen
die Felswand. Ihr ref lexmäßiger Schlag schoss über
seinen Kopf hinweg. Der Dolch sprengte den spitzen
Dorn ihres Brustbeins mit einem Knacksen ab. Sie
hob ein Bein zum Tritt, erschlaffte dann aber und
sank stöhnend am Fels herunter. Der Pfeil in ihrem
Rücken brach ab.
„Stirb endlich!“, zischte Melek, riss die Waffe frei
und holte abermals aus. Ihre Hand kam ihm zuvor. Sie
berührte flüchtig sein Gesicht, als könne sie ihn sehen.
Wie vom Blitz gefällt, brach Melek zusammen, kreischte
und wälzte sich am Boden.
„Stirb doch selbst“, flüsterte sie abwesend.
Ihr Zauber war zu schwach, um Melek zu töten.
Wimmernd sprengte er davon und verfluchte Cerýllion.
Mèra presste die Hände auf die Wunden. Ihr Blick in
der Dunkelheit wurde starr.
„Gib nicht auf, ich heile Dich!“, flehte Taffi in ihren
schwindenden Gedanken.
„Du hattest recht, ich bin nicht mehr dieselbe“, dachte
Mèra. „Ich könnte tatsächlich sterben, auch gegen den
Willen der Götter.“
Taffi kletterte von ihrer Schulter auf ihren Schoß und 63
stellte sich auf die Hinterbeine, um ihre Wunden zu
berühren. „Keine Sorge, das lasse ich nicht zu!“
Mèra lachte leise und weinte zugleich. „Doch, tust Du.“
Überrascht klappte Taffi den Kiefer herab.
„Das ist endlich meine Erlösung vom ewigen Dienst!“
„Aber was ist mit den anderen?“, rief Taffi verzweifelt in
ihrem Kopf. „Du kannst sie, insbesondere Athónon nicht
im Stich lassen. Er ist ein Freund! Ein Freund der Elfen
und der Klugen Tiere und ein Diener der Götter!“
„Doch, das kann ich“, hauchte Mèra kalt. Sie
schleuderte Taffi von sich, bevor er sie gegen ihren Willen
heilen konnte.

Laura presste sich an die Felswand. In dem Augenblick,


als der Gang erhellt gewesen war, hatte sie Mèras Blut
gesehen. Sie hatte Meleks Stimme wiedererkannt, auch
wenn sie sich seine Unsichtbarkeit nicht erklären konnte.
Laura ahnte, dass Mèra so geschwächt war, dass die
Dolchwunden sie töten würden. Aber sie wusste auch, dass
Bogenschützen in der Dunkelheit lauerten und Melek sehr
schnell wiederkommen könnte.
„Taffi?“, zischte die Halbelfin.
Das Chamäleon kam nah genug herbeigerannt,
um in Lauras Kopf zu sprechen. „Du musst Mèra
hier wegbringen! Ich verzaubere Deine Augen, sodass
Du in der Dunkelheit sehen kannst. Das dauert aber
einen Moment, und dann musst Du mich tragen.
Dieser Zauber ist schwer für mich und wird mir das
Bewusstsein rauben, zumal ich mich mit Menschen
64 und Halbelfen wenig auskenne und Augen etwas sehr
Kompliziertes sind.“
Laura war nicht sicher, ob Taffi ihre Gedanken hören
konnte. Aber kaum hatte sie beschlossen zuzustimmen,
spürte sie Taffis Kopf an ihrem Stiefel. „Eventuell wirst Du
sogar Melek als undeutlichen Schemen sehen“, murmelte
er. „Aber wer immer ihn verzaubert hat, war äußerst
stark. Vielleicht hat Melek weitere Überraschungen für
uns. Außerdem kann ich nicht garantieren, dass mein
Zauber gut genug wird, diese Unsichtbarkeit wenigstens
anzukratzen. Verlass Dich also nicht darauf.“
„Fang an“, drängte Laura und Taffi verstummte. Ihre
Augen schienen anzuschwellen und aus den Höhlen zu
quillen. Der Schmerz nahm mit jedem Lidschlag zu.
Sie versteifte sich und biss die Zähne zusammen, aber
sie vertraute Taffi und unterbrach den Zauber nicht
durch Gegenwehr. Als sie die Augen vor Schmerzen
nicht mehr schließen oder bewegen konnte und einen
Schrei unterdrücken musste, ging ein seltsamer Ruck
durch ihr Gesicht und sie erahnte Umrisse. Schlieren
durchzogen ihr Blickfeld und veränderten die Farben
der Umgebung. Unnatürliche Schatten huschten vorbei.
Sie erkannte den Höhlengang wieder. Laura nahm das
bewusstlose Chamäleon in die freie Hand und hob
kampfbereit das Kurzschwert.
Ihr Herz raste und schien ihren Hals von unten
zuzudrücken. Von den Schmerzen der vergangenen
Kämpfe jedoch spürte sie nichts mehr. Ihr Körper bereitete
sie von ganz allein auf neue Gefahren vor. Sie schlich zu
Mèra und hockte sich neben sie.
Nichts Majestätisches war der Halbgöttin und einstigen 65
Königin geblieben. Ein Tropfen Blut war über ihre Lippe
gelaufen und hing an ihrem Kinn. Gleich würde er fallen.
Ihre Augen leuchteten in einer bizarren Vorfreude an
Laura vorbei. Blut durchtränkte ihre Tunika und bildete
einen See über ihrem Schoß. Mèras Hände lagen geöffnet
neben ihr, als bitte sie um etwas.
Die Schlieren und Schatten blieben in Lauras Sicht.
Doch in einem Seitengang wucherte ein Schemen stärker
als die anderen. Als Laura sich darauf konzentrierte,
glaubte sie Gliedmaßen und einen Dolch zu erkennen.
Melek. Im Hauptgang schlichen der Bogenschütze und
eine weitere Person näher.
Laura flüsterte Mèra ins Ohr: „Ich stütze Dich. Wir
müssen weg!“
Mèras Gesicht verfinsterte sich. „Verschwinde!“, zischte
sie. „Ich gehe nirgends mehr hin.“
Laura fühlte sich wie geohrfeigt und starrte Mèra an,
die wieder dem nahen Totenreich entgegenstrahlte. „Wir
brauchen Dich! Meine Mutter ist für Dich gestorben!“,
fauchte die Halbelfin. Mèra reagierte diesmal nicht. Taffi
war nach wie vor bewusstlos. Kein anderer Freund war
hier und die Feinde kamen näher.
Laura wollte sich mit dem Schwert auf Melek stürzen.
Vielleicht war er von Mèras Zauber noch geschwächt. Ließ
sie zu, dass er sich erholte, gewährte sie ihm eine unnötige
Chance, später zu siegen. Die Halbelfin schnaubte durch
die Nase und musterte den Schemen des Unsichtbaren.
Doch sie hatte den Bogenschützen nicht vergessen, der
näher kroch. Sie musste schnell entscheiden. Der Druck
66 drohte sie zu zerreißen. Würde sie das höhere Ziel aus den
Augen verlieren – für das Mèra überleben musste – käme
das einem Verrat an ihrer Mutter gleich.
Sie legte Taffi und ihr Kurzschwert quer über Mèras
Bauch und besudelte beide so mit Blut. Dann packte Laura
die alte Elfin am Kragen und holte Luft. Ihr Blut rauschte
so wild in ihren Ohren, dass Melek es eigentlich wie eine
Kriegstrommel hören musste. Laura selbst glaubte, darüber
keine leisen Geräusche mehr wahrnehmen zu können.
Sie war unter Elfen aufgewachsen. Elfen verehrten
keine Götter. Elfen waren mit den anderen Sterblichen
allein. Aber wenn Laura jetzt allein war, wäre sie tot.
Sie kniff die Augen zu und zischte nur ein Wort für die
fremden Götter: „Bitte!“Dann rannte sie rückwärts und
schleifte Mèra mit sich. Das Geräusch schien so laut wie
Schlachtenlärm zu sein, schien zu brüllen: Hier bin ich,
schieß doch! Komm Melek, ich habe keine Hand frei und
höre und sehe Dich nicht!
Wie eine Peitsche trieb die Panik Lauras Beine
zur Kreuzung, wo sie auf ihre Gefährten hoffte. Die
Schleifgeräusche hatten sie längst verraten, daher schrie sie
nach Athónon. Ihre Stimme versagte jedoch, sie brachte
seinen Namen erst beim zweiten Versuch heraus. Bei
jedem Schritt schlugen Bilderblitze durch ihre Gedanken,
Bilder von Meleks Dolch in ihrem Bauch, von seinem
Fuß im Gesicht oder einem Pfeil in der Brust. Sie glaubte,
jeden Augenblick getroffen zu werden und die Schmerzen
jetzt schon zu spüren.
Aber nichts geschah. Als sie den Lichtschein des
Lagerplatzes erreichte, passierten Athónon und Taren sie
und spähten kampfbereit in den Gang. Athónons Hand 67
ruhte am Griff seines magischen Schwerts und Taren hielt
die große Armbrust schussbereit. Laura fiel über einen
Rucksack und blieb mit Mèra auf den Schenkeln liegen.
Bin ich jetzt eine selbstlose Heldin? Oder bloß ein
Mädchen, das viel Glück hatte? Die Bogenschützen hätten
mich vielleicht beschossen, wenn ich länger gewartet oder mit
Melek gekämpft hätte. Aber nun erholt er sich und bekommt
eine neue Chance, sowohl gegen Mèra als auch gegen mich.
68 4

Um Srrig herum drängten sich Nachtelfen hinter große


Schilde aus Holz und Eisen. Pfeile donnerten hinein oder
die Nachtelfen schossen zurück. Der Tigermann roch
die Furcht und den Schweiß seiner Schutzbefohlenen.
Niemand im ganzen Schildwall, der nicht vor Angst den
Kopf einzog und sich verkrampfte. Sie mochten Waffen
tragen, aber sie waren keine Kämpfer.
Dennoch sollten sie überleben, denn in ihren Körpern
verborgen lag die Gabe, die Amdovenn zu verletzen. Das
Äußere Volk war mit den Göttern verwandt und daher
von gewöhnlichen Waffen nicht zu treffen.
Mèra hatte diese Gabe ihrem Volk vor fast zweitausend
Jahren schenken wollen, nach der umfassenden
Niederlage der Amdovenn und dem Ende des Glorreichen
Zeitalters. Doch sie hatte den Preis nicht vorausgesehen.
Elfen, bei denen die Gabe wirksam wurde, mussten
sich unter der Erde verkriechen, da das Sonnenlicht
sich mit der Gabe zu verbinden suchte und sich durch
die Haut fraß. Mèra hatte die Verwandlung daraufhin
außer Kraft gesetzt, bis zu jenem Tag, da abermals ein
Amdovenn seinen Fuß auf Hevanor zu setzen drohte.
Nun war es also soweit, die sogenannte Krankheit der
Nachtelfen trat wieder auf und auch die Vier Könige
waren von Dienern der Götter, darunter Athónon, in
die Welt zurückgerufen worden. Wie der Prophet Theb
Nor es vor über hundert Jahren ausgedrückt hatte:
Geschichte wiederholt sich unaufhörlich.
Aber Srrig wollte keine Wiederholung. Zwar konnte er 69
kaum noch etwas fühlen, doch wo früher zweifellos Wut
aufgebrandet wäre, verworren sich seine Gedanken jetzt zu
einem Knoten, den er nicht zu fassen bekam und der bald
nicht mehr in seinen Kopf passen würde.

Der Knoten zog sich um einen lange verdrängten


Gedanken fest. Im Glorreichen Zeitalter waren die
Sterblichen ein Zusammenschluss kultivierter Völker
gewesen. Größtenteils. Srrig stammte aus einem
abtrünnigen Wüstenreich, das mit den restlichen Zearrai,
den West- und Osttigern, nichts gemein hatte. Alles
Glorreiche jener Vergangenheit war an den Nomaden von
Srrigs Heimat, den Shazarir, spurlos vorbeigegangen. Die
stärkste Familie stellte den König, politischen Gegnern
wurde das Herz herausgerissen. Frauen waren Besitz und
Kinder wurden durch Schmerz und Strafe zu immer
bösartigeren Erwachsenen herangezogen. Ein Krieg gegen
die viel fortschrittlicheren Völker war aussichtslos ohne
mächtige Verbündete, doch war Krieg unvermeidlich
durch die zahllosen Beleidigungen der sogenannten
Zivilisation gegen die Shazarir. Der rechte Zeitpunkt
schien gekommen, als die Amdovenn über Hevanor
herfielen und selbst die Götter sich von der dekadenten,
selbstgefälligen Zivilisation abwandten. N’rracorr, einer
der Amdovenn, ging einen Pakt mit den Shazarir ein.
Am Ende des Glorreichen Zeitalters, als die Amdovenn
besiegt wurden, hatte Srrig die Seiten gewechselt und
sich gegen seine barbarische Heimat gestellt. Doch der
Pakt mit N’rracorr war nicht so einfach zu lösen. Der
70 Amdovenn verschanzte sich in den Seelen aller Zearrai,
aller Tigermenschen, nicht nur der Shazarir. Denn auch
die Szannra, Osttiger, und die Niarar, Westtiger, waren
durch den Krieg blutrünstig und gewissenlos geworden.
In einem Moment der Schwäche ließen alle Volksgruppen
der Zearrai den Dämon des Blutdurstes in ihr Innerstes
eindringen, und zwar auf eine Weise, die selbst die Götter
nicht rückgängig machen konnten: freiwillig.
Mit folgenden Zeilen endet die Prophezeiung von
Theb Nor:

Doch eins ist sicher,


Eins spüre ich so deutlich,
Wie die Pflanzen das Licht spüren:
Die letzte Entscheidung
Treffen die Sterblichen allein.
Schon sind die ersten Schergen befreit,
Dunkle Gegenspieler der Vier Könige,
Auf der Suche nach unserem freien Willen.
Die Zearrai sahen ihren Fehler ein und lernten, N’rracorr
in ihren Seelen gefangen zu halten. Doch wann immer ein
Tigermensch heute Blut roch oder gar schmeckte, rüttelte
der Dämon an den Gittern seines Seelenkerkers und
wollte mehr. Jede Qual, die ein Tigermensch einem Opfer
zufügte, stärkte N’rracorr, ebenso wie jedes Nachgeben
gegenüber dem Blutdurst. N’rracorr war der geheime
Grund, weshalb die meisten Tigermenschen sich anderen 71
Völkern gegenüber so schüchtern gaben und ihre Krallen
und Zähne nicht zeigten. Sie schämten sich für ihr Erbe,
für die Wahrheit.
Eines Tages würde N’rracorr seinen Kerker sprengen
und die Seelen aller Zearrai vollends korrumpieren. Dann
würde er schlagartig eine Armee von neuen Amdovenn
erhalten und mit seinen äußeren Verbündeten Hevanor in
die Zange nehmen.

Als Blutkinder verfluchten die Zearrai heute jene, die


N’rracorr begrüßten und sich seinen Neigungen willig
hingaben. Srrig war in jungen Jahren der Erste, der
diesen Namen hatte tragen müssen. Sein Heimatvolk,
die Shazarir, hatte ihn während des Krieges verstoßen,
lange vor dem Pakt mit N’rracorr, weil er sogar für sie zu
grausam geworden war. Er hatte Jahre wie ein tollwütiges
Tier in der Wildnis gelebt.
Die Expedition eines Ordens der Westtiger nahm
ihn gefangen und fand Zugang zu den Resten seiner
Seele. Srrig fiel von einem Extrem ins andere: Er wurde
der disziplinierteste und gebildetste Mönch des Klosters
und schließlich sein Vorsteher. Nach einem ruhmreichen
Leben voller Heldentaten wurde er zum König der Niarar
und Szannra, der West- und Osttiger, und rottete die
bösartigen Shazarir aus.
Auf dem Höhepunkt der hevanorischen Geschichte, am
Ende des Glorreichen Zeitalters vor zwei Jahrtausenden,
stand er Seite an Seite mit Mèra, Randolph und T’ral vor
dem wichtigsten Tempel der Welt. Die Vier Könige baten
72 die Götter nicht länger um Hilfe, sondern verfluchten sie
für jene Sünde, die sie den Sterblichen selbst vorwarfen:
Hochmut. In der Stunde größter Not wollten die Götter
ihren gescheiterten Geschöpfen jede Hilfe versagen und
zusehen, wie die Amdovenn über Hevanor herfielen.
Zu viert stellten die Könige sich darauf der Armee der
Amdovenn – und siegten, weil die Götter ihren Kleinmut
einsahen und den Vier Königen zu Hilfe kamen, den
vielleicht einzigen vier Sterblichen des damaligen
Zeitalters, die trotz aller Zweifel den Glauben nicht
aufgegeben hatten.
Die Götter hatten den Sterblichen damit bewiesen, dass
selbst die Höchsten Fehler machten, und wie wichtig es
war, der eigenen Seele gegenüber stets wachsam zu sein,
sich nie am Ziel zu wähnen. Als Diener der Götter sollten
die Vier Könige die Welt nach neuen, maßvolleren Regeln
und Werten ordnen. N’rracorr war der erste Meilenstein
ihres Versagens darin.
Mit dem Verschwinden der Vier Könige vor vierhundert
Jahren war das Gleichgewicht endgültig außer Kontrolle
geraten. Die Götter hatten Schattenwacht als Wächter
wider die Amdovenn und andere äußere Wesen
eingesetzt und wollten nun sehen, ob die Sterblichen
etwas über sich gelernt hatten, oder die gleichen Fehler
ohne Führung immer noch begingen. Und sofort war
Chaos ausgebrochen. Menschen verteufelten jetzt
jegliches Wissen. Elfen dachten überhaupt nicht mehr.
Tigermenschen fürchteten sich ausschließlich vor
N’rracorr, und die Chimärier – obgleich gelenkt von
Schattenwacht – stellten die Stärke eines Volkes als
einzige Überlebensberechtigung dar, wollten jeden von 73
Hevanor tilgen, der schwächer als sie war.
Srrig wusste nicht, ob die Götter mit Schattenwachts
Einfluss innerhalb der hevanorischen Angelegenheiten
einverstanden waren. Hätte der letzte Inferior nichts
weiter getan, als sich zum Imperator aufzuspielen und
die Chimärier zu einem Krieg gegen die anderen Völker
anzustacheln, wären Srrig und Mèra vielleicht nicht
hier. Sie waren zurückgekehrt, weil Schattenwacht seine
Position als Sphärenwächter missbrauchte und mit den
Amdovenn kollaborierte. Eine Bedrohung von außerhalb
Hevanors tolerierten die Götter nicht.

Als ein Nachtelf den Spalt zwischen zwei Turmschilden


passierte, wurde er von einem Pfeil getroffen und vor
Srrigs Füße geschleudert. Der Blutgeruch und das
Stöhnen des Sterbenden weckte mehr und mehr jene alten
Erinnerungen, bis Srrig kein weiteres Grübeln zuließ.
Schlagartig entwichen alle Gedanken aus seinem Kopf.
Er war bloß noch eine wachsame Kampfmaschine, die
keinen Hauch Energie verschwendete, während sie auf
ihren Einsatz wartete.
Auf die Angreifer ging ein Pfeilregen nieder, Schreie
getroffener Schlangenblüter gellten durch den Gang. In
den Augen seiner Verbündeten erkannte Srrig voreiligen
Triumph. Dann sah er einen kleinen Gegenstand aus
dem Tunnel fliegen. Obgleich er zweitausend Jahre lang
keine mehr gesehen hatte, erkannte er jene perfiden
74 Wunderwaffen des Glorreichen Zeitalters sofort. Er
wirbelte herum und sprengte davon.
Der Boden bebte. Ein Donnerschlag betäubte die
Ohren und fegte Bogenschützen und Schildträger
meterweit durch die Luft. Sofort stank das Schlachtfeld
nach Öl und Feuer. Abgerissene Arme und Köpfe wurden
wie Herbstblätter im Sturm durch die brennende Luft
gewirbelt und zogen Asche und Flammen hinter sich her.
Ein zweiter Donnerhall verriet, dass an einem anderen
Tunnel das Gleiche geschah.
Aus der Luft fiel ein glühendes Netz und legte sich
über die Eingänge der Tunnel. Leichen und noch
lebende Nachtelfen brannten lichterloh. Hunderte
Stimmen kreischten. Nachtelfen traten auf züngelnde
Flammen oder warfen Umhänge und Tuniken darüber.
Sie richteten nicht das Geringste aus, im Gegenteil.
Das Feuernetz sprang an ihren Beinen hoch wie eine
Meute Kriegshunde und verwandelte sie binnen eines
Herzschlags in wirbelnde Fackeln.
Am Rand des Infernos kniete sich ein Nachtelf hin
und murmelte. Doch während er mit einem Zauber
die Flammen löschen wollte, fing seine Hose Feuer. Im
Aufspringen wurde er von einem verirrten Pfeil der eigenen
Kämpfer getroffen und ins Flammennetz geschleudert.
Auch Srrig war von der Wunderwaffe zu Boden geworfen
worden und wischte sich herangewehte Nachtelfenasche
von der Nase. An zwei Tunneln der Stadt gab es keine
Gegenwehr mehr und Schlangenblüter stürmten herein.
Den aufgescheuchten Nachtelfen gelang es nicht, ihre
Truppen schnell genug zusammenzuziehen. Einzelne
mutige Quirmóer, die sich dem Ansturm stellten, wurden 75
niedergemetzelt. Die öligen Spinnennetze, die aus der
explodierten Luft gefallen waren, versengten immer noch
Fleisch und verbreiteten stechenden Gestank.
Am Grunde seiner Seele war Srrig nach wie vor ein
Mann der Extreme. N’rracorr schlich in sein Bewusstsein.
Auf einem Schlachtfeld, im Moment der Wut gegen den
ewigen Dienst für schweigende Götter, verlockte N’rracorr
ihn, den viel zu lang unterdrückten Shazarir-Instinkten
nachzugeben. „Töte!“, reizte ihn der Dämon. „Töte und
trinke das Blut Deiner Feinde!“

Im Körper der toten Schlangenblüterin schlurfte der


Kanzler der Amdovenn auf Kanmárael zu. Noch immer
verdrehten sich die Augen des Zombies.
Kanmárael starrte betroffen den toten Zauberer an. Mit
einem Wutschrei stürmte er dann auf den Kanzler los und
hackte ihm das Schwert in den Kopf. Doch der lachte bloß.
„Die Schlangenblüter gehören jetzt uns! Wir zeigten
ihnen den Fund eines vergessenen Zeitalters, dafür
wurden sie unsere Diener. Und Ihr werdet deren Sklaven!
Nach so vielen Jahrhunderten wird meinem Volk endlich
Gerechtigkeit geschehen!“
Der Nachtelf riss sein Schwert frei. Das Entsetzen
über seine nutzlose Waffe grub sich in seine Züge.
Er konnte seinen ungläubigen Blick nicht von der
Kopfwunde des Gegners nehmen, die vom Ohr bis
zur Nase klaffte. Die Gabe seines Volkes, Amdovenn
76 verletzen zu können, war ihm weder bewusst, noch
hätte er sie ad hoc einsetzen können.
„Jetzt hättest Du gern einen Zauberer an Deiner
Seite, was?“, spottete der Kanzler. Im Stillen höhnte er:
„Du weißt gar nicht, dass die Körper von Nachtelfen
meinesgleichen verletzen können, wo gewöhnliche Waffen
nur die gestohlenen Körper treffen.“
Der Nachtelf wich einen Schritt zurück, spürte seine
Glieder dabei kaum. Angst glomm in seinen Augen. Seine
Waffe schien kein Gewicht zu haben, aber seine Knie
drohten nachzugeben.
„Du musst ihn köpfen, Kanmárael! Zombies sterben,
wenn man sie köpft!“, rief Sophéion aus dem Haus, der
Barde mit dem Marmorgesicht.
Der Kanzler hörte schlagartig auf zu grinsen. Kanmárael
schrie siegessicher. Ein mächtiger Hieb schlug dem Zombie
den Kopf von den Schultern. Der Kopf rollte davon, aber
der Rumpf stand immer noch, als das Haupt auf dem Hals
zum Liegen kam.
Dann spottete der Kopf böse: „Ihr seid putzige kleine
Wesen. Aber ich bin keine Märchenfigur!“
Alle Farbe wich aus den Gesichtern der Nachtelfen.
Kanmáraels Augen weiteten sich noch mehr, als der
Kopflose den Dolch hob und auf ihn zusprang.
Zudem hörten die Nachtelfen die Explosionen an
den Tunneln und die Todesschreie ihrer Kämpfer. Der
gespaltene Zombiekopf lachte so sehr, dass er auf die Seite
kippte, doch er lachte immer weiter.
Kanmárael warf das Schwert weg und hob die
Fäuste. Hinter ihm schrien die Ratsmitglieder: „Bist
Du verrückt? Diese Lagerfeuergeschichten, wir könnten 77
Dämonen mit bloßen Händen verletzen, kannst Du
nicht ernsthaft glauben!“
„Lagerfeuergeschichten waren Dämonen bis eben auch,
aber dies hier muss einer sein“, zischte Kanmárael und
funkelte seinen Gegner an. Panik gestattete er sich nicht.
Seine Disziplin war stärker. So albtraumhaft dieser Kampf
auch zu werden drohte: Lieber flüchtete er nach vorn und
wandelte seine Furcht in Kraft und Entschlossenheit um,
als einem wichtigen Kampf aus dem Weg zu gehen. „Wer
sonst, wenn nicht ich, der größte Kämpfer Quirmós?“,
schoss ihm durch den Kopf. „Ich töte das Ding oder wir
sterben alle. Hoffentlich stimmen die alten Geschichten
über unsere Gabe. Denn dies muss ein Dämon sein.“
Der Kopflose stach mit dem Dolch nach Kanmárael.
Leicht wie ein Windhauch wich der Nachtelf jedoch nach
außen aus und griff auf das Gelenk der Waffenhand. Als
der Zombie den Arm zurückzog, folgte Kanmárael der
Bewegung, knickte die Hand des Gegners nach unten und
schob gleichzeitig den Arm nach oben. Zwar spürte der
Zombie keinen Schmerz, doch wurde sein Handgelenk
so stark überdehnt, dass die Finger sich öffneten und
der Dolch zu Boden fiel. Kanmárael ergriff mit der
anderen Hand den gegnerischen Ellbogen und quetschte
Arm und Hand wie eine knirschende Ziehharmonika
zusammen. Der Kopf hinter ihm knurrte. Mit der freien
Hand versuchte der Zombie nach Kanmárael zu schlagen,
konnte sich ihm jedoch nicht zuwenden: Der Nachtelf
kontrollierte den ganzen Körper des Gegners durch den
Griff am Arm.
78 Mit einem brutalen Ruck verrenkte sich der Zombie die
Schulter, um Kanmáraels Kontrolle zu entkommen. Jetzt
konnte er zum Gesicht des Nachtelfen schlagen. Krallen
schossen aus seinen Fingern und zerrissen Kanmáraels
Gesicht. Der Nachtelf ließ den Arm los, sprang zurück
und brüllte. Blut lief ihm in die Augen – er sah nicht, wie
der Zombie nachsetzte.
Plötzlich fluchte eine Frauenstimme hinter dem Zombie.
Kanmárael erkannte sie und rief: „Safériel! Bleib zurück!“
Safériel nahm Kanmáraels schweres Schwert in beide
Fäuste und hackte dem Zombie einen Arm ab. Er fuhr
herum und gluckste verächtlich. Bevor er die Nachtelfin
mit den Krallen des anderen Arms erwischen konnte, riss
die Nachtelfin das Schwert abermals in die Höhe und
hackte dem Zombie auch diesen ab. Die große Schärfe
der Eisenwaffe glich ihre ungelenken und schwachen
Bewegungen aus.
Der Kopf des Zombies hinter Kanmárael brüllte
wütend, verstummte jedoch abrupt. Sein verstümmelter
Rumpf brach wie vom Blitz getroffen zusammen.
Safériel ließ das Schwert fallen, sprang Kanmárael in
die Arme und drückte sich an ihn.
Unbemerkt von den Ratsmitgliedern, die sich um
Safériel und Kanmárael sammelten, öffnete die Leiche des
Zauberers die zuckenden Augen.
Der Ratself mit der hellen Stimme legte Kanmárael
eine Hand auf das Gesicht. Er ignorierte das strömende
Blut auf seiner Haut und schloss die Augen. Zusehends
verheilte das zerrissene Gesicht, bis nur ein paar kleine
Narben geblieben waren.
„Danke Fêowyn, mein Freund“, rief Kanmárael, „und 79
danke, Safériel!“ Er hob sein Schwert auf. „Jetzt muss ich
wissen, wie es im Kampf um unsere Stadt steht!“
„Wir bereiten die Krankenlager vor!“ Safériel eilte
mit Fêowyn davon. Der greise Pêraphèniel blieb zurück.
Sophéion und Kanmárel liefen durch die Gassen an den
Rand der Stadt, wo die Schlacht tobte.
80 5

Kanmárael nahm den Holzschild eines Gefallenen in die


Linke und brüllte Befehle in verschiedene Richtungen.
Jedes Mal, wenn ein Pfeilhagel niederging, hockte er sich
zu Boden und verschwand unter dem Schild, in dem bereits
mehrere Pfeile steckten. Allmählich formierte sich eine
neue Schlachtreihe an den äußeren Mauern von Quirmó.
Die Bogenschützen schossen aus dem Schutz der Häuser
heraus und hatten den Ansturm der Schlangenblüter
gebremst. Die zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes
war trotz der Feuerball-Artefakte ausgeglichen worden.
Doch wenn der Feind auch nur noch ein einziges dieser
Artefakte besaß, würde er ein Loch in die Verteidigung
sprengen, das Kanmáraels Kämpfer nicht mehr schließen
konnten. Und ausgerechnet ihr größter Zauberer war
gefallen. Dass ein leibhaftiger Dämon über sie gekommen
war, hatte Kanmárael noch gar nicht recht verarbeitet.
Vermutlich hätte er sich sonst weitaus mehr Sorgen darum
gemacht, was in seinem Rücken vorging.
Hinter sich hörte Kanmárael ein elfisches Kampflied,
das ihnen auch in der Vergangenheit oft Mut gemacht
hatte; Sophéion war ihr größter Barde, daher hatte er
auch einen Platz im Rat. Musik war die einzige Kunst
der Quirmóer, aber elfischen Traditionen gemäß, war sie
hoch angesehen.
Ein neues Feuer loderte in Kanmáraels Kämpfern.
Es war jedoch noch klein und musste weiter geschürt
werden. Die Feinde prasselten auf den Schildwall der
Nachtelfen. Waffenklirren und Geschrei drückten und 81
dröhnten Kanmárael in den Ohren. Der Gesang des
Barden wurde übertönt.

Angstschreie gellten von der äußeren Flanke herüber.


Der Schildwall wich zurück, drohte, gesprengt zu
werden. Eine haarlose Chimäre aus Frau und Schlange
wand sich auf ihrem ockergrünen Schlangenrumpf
vorwärts. Ebenso wie ihr schneeweißer Torso, war der
Rumpf mit schweren Bronzeschuppen gepanzert, die sich
überlappten und metallisch scharrten. Dicke Dornen
ragten zu den Seiten und von ihren Schulterschutzen auf.
Unter ihrem Helm sah Kanmárael nur Giftzähne, eine
gespaltene Zunge und Schlangenaugen.
Wann immer ein Nachtelf seitlich an der eisernen
Lanzenspitze vorbeikam – was für sie sehr gefährlich
gewesen wäre, konnte sie doch dann die Waffe nicht mehr
richtig einsetzen – verschoss sie einen Blitz mit den Augen
und tötete den Angreifer. Schon klaffte eine Bresche in der
Verteidigung und die äußere Flanke des Schildwalls war
zwischen die ersten Häuser getrieben worden. Kämpfer
stürzten im Zurückweichen über Leichen oder prallten
mit den Rücken gegen Wände.
Die Schlangenfrau wurde von wilden Kämpferinnen mit
Äxten und Schwertern flankiert, deren irrsinnige Blicke
verrieten, dass sie starke Kampfdrogen genommen hatten.
Ein Nachtelf sprang lautlos von einem Haus und zielte
mit seinem Speer auf den Nacken der Schlangenfrau.
Doch die Gegnerin spürte die Gefahr, glitt pfeilschnell
zur Seite und schlug dem Nachtelfen den Stiel ihrer
82 Lanze ins Gesicht. Mit der gepanzerten Schwanzspitze
setzte sie nach, bevor der Kämpfer wieder etwas sah, und
rammte ihm den Bronzedorn auf der Panzerschuppe
durch die Brust. Eine Nachtelfin wollte den Augenblick
nutzen, da die Schlangenfrau mit der Leiche am Schwanz
nicht ausweichen konnte, doch die flankierenden
Kämpferinnen stürzten sich so rasch auf sie, dass sie
mit ihrem Speer nicht einmal zum Ausholen kam. Eine
andere Begleiterin der Schlangenfrau riss die Leiche vom
Dorn und schleuderte sie fortKanmárael gab seinen
zentrierten Posten als Befehlshaber auf und rannte zur
Bresche, um sich der Schlangenfrau zu stellen. Als er in
ihre Nähe kam, wichen die meisten Verteidiger furchtsam
vor ihrer Lanze zurück und gaben praktisch den Weg in
den Rücken des gesamten Schildwalls frei. Die äußerste
Flanke war abgesprengt worden, die Kämpfer darin
verschanzten sich verzweifelt zwischen zwei Häusern und
hofften auf ihre Bogenschützen.
Nur noch ein Nachtelf streckte der Schlangenfrau mutig
den Speer entgegen, um Kanmárael Zeit zu verschaffen. Er
wich der zustechenden Lanze elegant zur Seite aus. Die
lange Schneide der Waffe zuckte ihm jedoch hinterher und
schlitzte ihn quer auf, trotz der Lederrüstung. Hinterrücks
traf ihn zudem ein Kriegshammerschlag ins Genick. Der
letzte wache Blick des Nachtelfen lächelte Kanmárael
zu, der nichts tun konnte, außer weiterzurennen. Die
Schlangenfrau spießte den Sterbenden auf und schleuderte
ihn Kanmárael vor die Füße.
Amiátus ist sein Name gewesen, ein junger Kämpfer,
den Kanmárael vom ersten Tag bei der Wache an selbst
ausgebildet hatte. Amiátus hatte immer wehmütig erzählt, 83
wie beliebt sein blondes Haar bei den Frauen gewesen
war, wenn es in der Sonne geglitzert hatte – bevor es von
der Krankheit des Nachtelfentums befallen und schwarz
geworden war.
Angriffslustig senkte die Schlangenfrau den Kopf,
als Kanmárael in ihre Reichweite kam. Beinahe glaubte
er, trotz des Schlachtenlärms ein bedrohliches Zischeln
zu hören. Ihre Eskorte hatte eine breite Gasse in die
Schlachtreihe der verschüchterten Verteidiger geschlagen;
Kanmárael war somit der Letzte, der sie zusammenhalten
konnte. Würde er fallen, würden die Nachtelfen nicht nur
ihren Befehlshaber verlieren, sondern auch die äußerste
Flanke ihrer Schlachtreihe, die sehr schnell umzingelt
und abgeschlachtet würde. Und dann fiele auch die
gesamte restliche Schlachtreihe wegen der Übermacht.
Kanmárael musste diese Schlangenfrau töten oder die
Stadt war verloren. Er sah in ihren lidlosen Augen, dass
sie das auch wusste. Der Nachtelf rannte ihr grimmig
entgegen. Die Schlangenfrau schlängelte sich wie ein
Pfeil auf ihn zu und befahl ihrer Eskorte, die geschlagene
Bresche zu halten.
Sie trafen sich in der Mitte der Gasse aus Leichen.
Kanmárael wollte die zustechende Lanze mit dem Schild
zur Seite lenken, doch die Gegnerin war zu schnell. Sie
spießte Kanmáraels Schild auf, stach bis in seinen Arm und
zerrte den Schild nach unten. Kanmárael schrie vor Wut
und warf sein Schwert wie einen Speer. Bevor das Schwert
sich durch den Helm ins Gesicht der Schlangenfrau
bohrte, schoss sie einen Blitz aus den Augen in Kanmáraels
84 Brust. Der Nachtelf verkrümmte sich stumm am Boden
und starb mit einem Zucken. Seine Gegnerin stürzte auf
die Seite und schlug mit der Schwanzspitze in die Luft.
Ihr Schlangenleib wälzte sich noch scheppernd hin und
her und bäumte sich auf, während ihre Arme schon schlaff
neben ihr lagen. Nur widerwillig starb auch die untere
Hälfte der Chimäre.

„Die Priesterin ist gefallen!“, knurrte eine pechschwarze


Frau und fletschte spitze Zähne. „Verflucht seid Ihr, bei den
Dunklen Herren von Bedhârva!“ Unheimliche Schatten
huschten über ihre Eisenrüstung, deren Goldeinlagen und
Gravuren prunkvoll strahlten. Aus ihrem Hinterkopf und
ihren Handrücken wuchs scharfkantiges Vulkangestein
zum Schutz, ebenso schwarz wie ihre Haut. „Was für
Versager Ihr seid!“, fauchte sie nahe Schlangenblüter an.
Das Zweihandschwert in ihren Fäusten hüllte sich für
einen Augenblick in Flammen und schnaubte verächtlich.
Nachtelfen und Schlangenblüter gleichermaßen wichen
ihr aus, während sie mit zorniger Fratze über das
Schlachtfeld stampfte. „Wo ist Eure feige Anführerin? Ich
will ihr Schwert!“, brüllte sie eine Schlangenblüterin an,
die furchtsam zurückwich.
Die Schlangenblüter verstanden, dass eine falsche
Verbündete außer Kontrolle geriet. Fünf Bogenschützinnen
aus den hinteren Reihen bauten sich im Halbkreis vor ihr
auf, anstatt auf Nachtelfen zu schießen. „Verschwinde, wir
wollen Dich nicht mehr, Calvraka!“, knurrte die älteste.
„Verfluchte Dämonin!“, zischte eine andere und spuckte
Calvraka vor die Füße.
„Dämonidin!“, brüllte Calvraka. „Wir waren Diener 85
der Amdovenn! Sie schufen uns als Armee gegen
Euch sterbliches Pack, auch wenn sie uns zurücklassen
mussten, als sie den Krieg gegen Eure verdammten
schwachen Götter verloren hatten!“ Calvraka sprang
unvermittelt vor, durchschlug Bogen und Schädel der
Wortführerin und schnitt der Nebenstehenden noch
aus der Drehung die Kehle auf. Die drei verbliebenen
Schützinnen sprangen entsetzt zurück, um nicht
aufeinander zu schießen, doch Calvraka blieb förmlich
an der nächsten kleben, durchbohrte sie und schleuderte
sie der Nachbarin vor die Brust, die im nächsten
Augenblick geköpft wurde. Die letzte Schützin schoss
– und der Pfeil ging wirkungslos durch Calvraka
hindurch. Die Dämonidin lachte eisig und schritt
auf die Schlangenblüterin zu. „Wir haben etwas sehr
Wertvolles von unseren Schöpfern geerbt, und Deine
toten Freunde und Feinde liefern mir die Kraft, dieses
Erbe anzutreten!“
Dämoniden brauchten fremde Lebenskraft, um zu
existieren. Ohne regelmäßig zu töten, konnten sie nicht
mal atmen. Doch während einer Schlacht sammelten
sie so viel Kraft, dass sie entweder für Jahre ausgesorgt
hatten, oder besonders mächtige Zauber vollbringen
konnten. Ihre Körper von der stofflichen Welt zu
befreien, den Amdovenn gleich, war einer jener Zauber,
die Dämoniden unter friedlichen Bedingungen kaum
zustande brachten. Die Machtbewussten unter ihnen
schlossen sich daher leidenschaftlich gern jedweder
Schlacht an und verzichteten sogar auf weltlichen Sold.
86 Die Schützin wandte sich zur Flucht, doch Calvraka
sprang ihr nach, den Zweihänder hoch erhoben.
Die Klingenspitze durchschlug Schulterblätter und
Rückenwirbel und schmetterte die Fliehende zu Boden.
Srrig und Calvraka spürten einander, als der
Tigermensch sich der Dämonidin näherte. Ihre beiden
Auren waren so viel stärker als die gewöhnlicher
Sterblicher, dass sie voneinander wussten, bevor sie sich
sahen. Und Calvraka spürte N’rracorrs Nähe, einen der
Amdovenn, jener Götterfeinde, in dessen mitleidlosen,
doch starken Händen die Dunklen Herren von Bedhârva
die Welt viel lieber sähen.
„Dienst Du immer noch dem Bedhârva-Kult?“,
fragte Srrig lauernd und so leise, dass seine Stimme im
Schlachtenlärm nahezu unterging. Seine Bronzeschwerter
hielt er nah am Körper, die Spitzen nach unten. Für
ihn, der vier Jahrhunderte lang von der Welt verbannt
geschlafen hatte, war ihre letzte Begegnung noch nicht
lang her.
Calvraka fuhr herum und lächelte Srrig unsicher an.
„Ich werde in dieser ehrwürdigen Runde, die mein Volk
schon seit Jahrhunderten anführt, hoch geachtet. Und
niemand wirft mir ein paar Leichen mehr oder weniger
vor“, antwortete sie. Einen Augenblick lang hoffte sie,
in dem Tigermann, der von den nackten Zehen über die
Robe bis zum Gesichtsfell voller Blut war, einen neuen
Verbündeten zu erkennen. Die Männerfeindlichkeit
der Schlangenblüter scherte sie nicht. Reglos standen
beide voreinander, funkelten sich an. Calvrakas Augen
glommen nervös auf. Ihre Erinnerung an Srrig kam
allmählich zurück und mit jedem Puzzlestein wurde ihr 87
klarer, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Er konnte sie
zweifellos durch jeden Zauber hindurch verletzen, und er
diente anderen Herren und Zielen, auch wenn N’rracorr
ihn zu verleiten versuchte und an ihm zerrte.
Srrig blieb nicht gelassen und nobel, wie sie ihn aus
früheren Jahrhunderten kannte. In seiner Miene brodelte
etwas Animalisches. Er bleckte die Reißzähne und spannte
sich. Calvraka riss das Schwert hoch und wich erschrocken
zurück. Sie wusste jetzt genau, wen sie vor sich hatte. Und
dass er nicht so ruhig und überlegen wie gewöhnlich tat,
machte ihr noch mehr Angst. N’rracorr war ihm nicht
willkommen, wo sie sich geehrt gefühlt hätte; die Präsenz
des Amdovenn machte Srrig jedoch unberechenbar und
wild. „Was für eine Verschwendung!“, zischte sie zu sich.
„Wieso habt Ihr nicht uns besessen, N’rracorr? Nicht alle
Dämoniden haben gegen die Amdovenn rebelliert! Ich hätte
Euch begrüßt! Hättet Ihr doch nur nicht diese Fellknäuel
auserwählt, Hevanor wäre längst von den desinteressierten
Schwächlingen befreit, die sich Götter nennen!“
Dann rief sie Srrig zu: „Du hast Dich lange nicht mehr
bei mir blicken lassen!“ Ihre Stimme vibrierte vor Furcht.
Srrig antwortete, indem er angriffslustig den Kopf senkte,
knurrte und näher kam. Calvraka verstand, dass sie sich
nicht mit Worten aus ihrer Lage befreien konnte, darum
floh sie nach vorn und spottete: „Sollen wir nicht um
der guten alten Zeiten willen die Waffen senken? Komm
zurück in meine Arme!“
„Damals wusste ich nicht, auf welcher Seite Du stehst.
Jetzt hole ich Deine Hinrichtung nach!“, brüllte Srrig.
88 Auch wenn Calvraka einem brutalen und
götterfeindlichen Herrscherkult angehörte, war sie doch
eine Heldin vieler Schlachten und in zahlreichen Ländern
und Stadtstaaten für ihr kämpferisches Können bei Freund
und Feind bekannt. Aber nun, in einer ihrer Meinung
nach unbedeutenden Schlacht an einem nichtigen Ort, an
dem sie bloß ihre dämonische Zauberkraft hatte auffüllen
wollen, stand sie einem Halbgott gegenüber, der selbst
noch nicht richtig wusste, weshalb er hier war. Ob Götter
oder Amdovenn, beide sollten Ordnung ins Chaos der
Wirklichkeit bringen. Calvraka fühlte sich verraten, nun da
jemand wie sie dem Chaos zum Opfer fallen sollte.
„Das kann nicht sein!“, zischte sie und sprang Srrig
entgegen. Halbherzig stach sie mit dem Zweihänder nach
ihm, wohl wissend, dass er der langen Klinge ausweichen
würde, um sich Calvraka von der Seite zu nähern. In der
Tat glitt Srrig so geschmeidig daran vorbei, dass Calvraka
die Bewegung kaum als richtigen Schritt wahrnahm. Sie
hatte ihm ins Knie treten, schnell zurückspringen und
ihn dann außerhalb seiner Schwertreichweite aufspießen
wollen. Aber Srrig hatte sich trotz seines blutrünstigen
Zähnefletschens so sanft und absichtslos bewegt,
dass sie den Stich unter ihre Achsel überhaupt nicht
vorausgesehen hatte. Ihr Bein zuckte zwar noch kraftlos
nach vorn, verfehlte Srrigs Knie jedoch und rutschte über
den Boden. Während Calvraka stürzte, versenkte Srrig
das zweite Schwert in ihrem Hals. Ein Blutstrahl traf sein
Gesicht. Er genoss seine Macht und brüllte wie ein echter
Tiger. N’rracorr wurde stärker in ihm.
Fortan galt Calvraka, die berühmte Heldin der Dunklen
Herren von Bedhârva, als verschollen. Kein höheres 89
Schicksal, weder Götter noch Amdovenn nahmen
Rücksicht auf die Vorstellung, dass jemand wie sie nicht
unbemerkt aus der Welt verschwinden durfte, dass die
zweitausend Jahre lange Geschichte ihrer Existenz nicht
auf solch banale und zufällige Weise abreißen durfte.
Doch in der Wirklichkeit, Seele gegen Seele, blieb oft nur
Staub und keine eingängige Geschichte zurück.

Nichts half gegen den Halbgott Srrig. Seine wirbelnden


Klingen und Tritte machten auch die Eskorte der gefallenen
Priesterin schnell nieder. Für einen Moment hielt er inne,
als die Letzte mit Schaum am Mundwinkel und verwirrten,
nichtsdestotrotz blutgierigen Augen vor ihm stand. Sie
schrie unartikuliert, bereits heiser, und reckte Axt und
Dolch in die Luft, von denen Elfenblut bis über ihre
Finger rann. Im linken Schulterblatt steckte ein Messer, sie
schien es nicht zu merken. Aus ihrem offenen Bauch quoll
Gedärm, ihr Lendenschurz triefte vor Blut. Rüstung trug
sie keine; ihre gelbe Tunika hing in Fetzen und entblößte
zerfetzte Brüste. Ihr Schrei wurde immer heiserer, ihr Blick
immer gequälter, bis plötzlich ein einzelner Tropfen Blut
aus ihrer Nase lief und sie verstummte. Ihre Waffen fielen
zu Boden, zäh sank sie hinterher. Ohne Kampfdrogen wäre
diese Frau, die vermutlich nie eine Kriegerin war, schon viel
früher gefallen.
Ihr Anblick erinnerte Srrig daran, was Krieg
bedeutete: Unschuldige wurden hineingezwungen. Srrigs
Vorstellungen höherer Gerechtigkeit, so abstrakt und fern
diese Ideale auch sein mochten, hatten seinen Geist über
90 Jahrhunderte geprägt, beherrschten viele seiner Gedanken
und drängten N’rracorr für einen Moment zurück.
Zweitausend Jahre lang hatten die Götter genau
das getan: Unschuldige in ihren himmlischen Krieg
verwickelt. Und auch jetzt sahen sie bloß zu, wie
eine Handvoll Wahnsinniger ganze Völker für ihre
Ränkespiele vernichtete. „In Quirmó fängt es diesmal
also an“, murmelte Srrig. „Geschichte wiederholt sich
unaufhörlich ...“ Aber dieses Mal würden andere Diener
die Götter davon überzeugen müssen, dass die Sterblichen,
obwohl sie nichts dazulernten, noch eine Chance
verdienten. Fortschritt machte blind und schwach,
berichtete Theb Nor – denn er ließ die Sterblichen
glauben, sich weiterentwickelt zu haben. Dabei wurde
nur ein und derselbe primitive Geist mit immer neuen
Werkzeugen verwirrt. Vielleicht hatten die Götter schon
vor zweitausend Jahren zu Recht aufgegeben.
Warmer Blutduft, der Zwiespalt über den Wert der
Sterblichen und die Wut über sein eigenes Schicksal, die
er doch nicht fühlen konnte, ließen Srrigs Bewusstsein
mit einem leisen Knall zerplatzen. Nun war der Weg für
N’rracorr endgültig frei. Der Halbgott fiel in Raserei über
die Schlangenblüter her.

„Wo bist Du jetzt, göttliche Stimme?“, jammerte eine


silbrig geschuppte Halbelfin gen Himmel und hielt die
Leiche ihrer Freundin im Arm. Wut und Blut standen
den feinen, verträumten Gesichtszügen der beiden
Schlangenblüter nicht. „Du führtest uns her, wieso 91
schweigst Du jetzt?“
Benommen ließ sie die Leiche zu Boden gleiten und hob
ihren Bronzeschild auf. Blut lief ihr in die Augen, sie wischte
es mit dem Ärmel weg. Ein Pfeil hatte sie am Kopf gestreift.
Ihr Speer baumelte am Waffenarm. „Was haben wir
getan?“, wimmerte sie und taumelte absichtslos den Feinden
näher. „Blind sind wir der Stimme in den Wahn gefolgt!“
Unter den Nachtelfen erspähte sie einen hochgewachsenen
Kämpfer. Sie sah nicht, was er tat, bloß sein vom Töten
angewidertes Gesicht. „Mein Traum!“, stammelte sie,
lächelte und lief auf ihn zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte
sie eine andere Schlangenblüterin, die sich dem Feind
hinterrücks näherte und mit dem Streitkolben ausholte, um
seinen Schädel zu zertrümmern. Die Halbelfin schrie vor
Zorn, warf ihren Speer und traf genau.
Der Nachtelf wirbelte herum, als hinter ihm eine
Gegnerin mit erschrockenem Keuchen zu Boden sank
und den Speer in der Seite umklammerte. Strahlend lief
die nun unbewaffnete Halbelfin herbei, warf ihren Schild
weg und blieb eine Armlänge vor dem Nachtelfen stehen.
Erwartungsvoll lächelte sie ihn an und ignorierte das Blut,
das von ihrer Stirn in ihr Gesicht rann.
Der Nachtelf starrte verständnislos zurück auf die
Feindin, die ihm gerade das Leben gerettet hatte. Vorsichtig
erhob er seinen Speer gegen sie. Ihr Lächeln verblühte.
„Lass uns diesem Wahnsinn entfliehen!“, flehten ihre
Rehaugen, die nicht aufs Schlachtfeld passten.
Neben dem Nachtelfen sprang seine Gefährtin herbei.
„Was hast Du?“, schrie sie ebenso besorgt wie wütend.
92 Schritt für Schritt wich die Halbelfin zurück und blickte
sich nervös um. Ihr wurde schwindelig, sie tastete nach der
Kopfwunde. Die beiden Nachtelfen vor ihr mussten sich
anderen Gegnern stellen.
Ungläubig starrte sie ihre blutverschmierten Hände an,
wankte und flüsterte: „Werde ich jetzt wieder klar? Oder
war ich es eben noch viel mehr?“
Ein Wutschrei hinter ihr hätte sie alarmieren müssen:
„Stirb, Verräterin!“ Sie blieb jedoch stehen und schloss die
Augen, schüttelte den Kopf. „Gerade war alles so deutlich,
jetzt sind die Gedanken fort ...“
6 93

Schweiß perlte auf Athónons bleicher Stirn und lief aus


seinem Haar in den weißen Bart. „Ich sehe nichts“, raunte
er. Taren nickte finster. Der Tempelkrieger hielt die riesige
Armbrust hoch und wartete. Der Gang vor ihnen schwieg
und blieb dunkel. Athónons Finger schmiegten sich
fester um den Schwertgriff. Ohne Worte fühlten er und
Taren sich in der Gefahr verbunden, Schulter an Schulter
vertrauten sie einander, ihre Körpersprache verriet es. Beide
waren bedingungslose Diener der Götter, obgleich Taren
für den Tempel von Bruder Mond in Silberberg kämpfte
und Athónon dem geheimen Königskult angehörte, der
auf ganz Hevanor aktiv war.
„Lasst mich mal vorgehen“, grollte Paaldrags Stimme
über ihren Köpfen. „Jemand muss sich um Mèra kümmern.
Dafür braucht es keine dicke Eisenrüstung wie meine,
aber sehr viel feinere Finger. Brommil hält Ausschau, was
in Quirmó passiert.“
Der chimärische Deserteur musste den Kopf einziehen,
als er den Gang betrat. Seinen Zweihänder hielt er mit
einer Hand an der Breitseite. Athónon und Taren ließen
ihn ziehen. Seine Körperwärme war angestiegen; die
beiden spürten eine Hitzewoge, als Paaldrag sie passierte.
Aus seinen Nasenlöchern stiegen Rußwolken.
Paaldrag holte scharf Luft und stieß einen Feuerschwall
in den Gang, der seinen Weg meterweit erhellte. Er stürmte
unvermittelt los und stieß immer wieder Feuer in den
Tunnel. Sein Plan funktionierte: Die beiden lauernden
94 Späher sprangen auf. Der Bogenschütze schoss einen
Pfeil ab und traf Paaldrag zwar, doch das leichte Projektil
des Kurzbogens durchschlug den dicken Eisenpanzer
nicht. Der zweite Späher floh sofort. Paaldrag brüllte
und stieß einen größeren Feuerschwall aus. Er hechtete
mitten durchs Feuer, den Zweihänder wie einen Speer
voran. Der Bogenschütze riss die Arme hoch, um sich
vor den Flammen zu schützen, und floh in Panik seinem
Begleiter nach. Jedoch wurde er von Paaldrags Klinge
durchbohrt und dann unter dem immensen Gewicht des
Chimäriers zermalmt.
Paaldrag wuchtete sich gleich wieder auf die Füße.
Ein Flammenstoß verwandelte den Arm des anderen
Fliehenden in eine Fackel, deren Schein Paaldrag leicht
folgen konnte. Obwohl er sich geduckt halten musste,
konnte er den kreischenden Späher dank seiner langen und
starken Beine rasch einholen. Der Fliehende wurde vom
Zweihänder unterhalb des Halses durchstoßen und gegen
die Gangwand geschleudert. Ein zweiter waagerechter
Hieb ins Kreuz durchtrennte den Körper am Nabel, das
Eisen klirrte gegen den Fels. Der brennende Arm spendete
noch Licht, trotzdem spie Paaldrag erneut Feuer gegen die
Decke und erhellte den Gang. Rauchschwaden stiegen
aus Mund und Nase. Sein Drachenschwanz scharrte
angriffslustig über den Boden. Es gab einen dritten
Gegner, den der Fliehende zu erreichen versucht hatte.

Eine Tiefenweltlerin hob den Kriegshammer und


erwartete Paaldrag. Auf ihrem schartenreichen Bronze-
schild prangte ein fremdes Wappen. Ihre Haut war grau
wie Asche und Rauch, von Narben zerfurcht und von 95
Muskeln gespannt. Schwarze Haarborsten breiteten sich
über Rücken und Schultern aus und verschwanden unter
einem glanzlosen Bronzepanzer, der einst prunkvoll
gewesen sein mochte. Graue Strähnen und ihr ungerührter
Blick hinauf zu dem Chimärier verrieten große Erfahrung.
Paaldrag legte sein prahlerisches Verhalten ab und wurde
still. „Wieso greift Ihr die Stadt an?“, knurrte er. Die Frau
antwortete, indem sie wortlos näher kam und ihn mit dem
Hammer bedrohte. Der Chimärier legte den Kopf schräg,
lachte aber nicht über die Niedere. Niedere nannte sein Volk
alle anderen Wesen auf Hevanor, denen der Machtwille
und das drachische Erbe der Inferior fehlten. Paaldrag
wusste jedoch genau, dass manche Niedere, entgegen der
imperialen Propaganda, durchaus den Zweikampf mit
einem Chimärier aufnehmen konnten, selbst wenn sie in
Kraft und Reichweite deutlich unterlegen blieben. Und in
diesem engen Gang konnte er weder aufrecht stehen noch
seinen Zweihänder richtig einsetzen.
Ansatzlos hechtete er vorwärts und stach der Gegnerin
mit solcher Macht durch den Schild, dass sie rücklings
gegen die Felsen schlug. Ihren Schildarm verfehlte der
Stich, doch sie röchelte hilflos und konnte nicht einatmen.
Allerdings war ihr Hammer beim Zusammenprall
niedergerast und hatte Paaldrags Schienbein gestreift. Der
Chimärier konnte ihr beim Zurückweichen nicht sofort
nachsetzen. Als er sie erreichte, konnte sie wieder atmen
und grinste.
Jegliche Bewegung Paaldrags hörte auf. Einer Statue
gleich erwartete er sie. Sie wusste von seinem Stich, wie
96 überraschend er trotz seines Gewichtes angreifen konnte,
und sie wusste, dass ein erfahrener Kämpfer im Kontern
weitaus gefährlicher als im Angriff sein konnte. Aber sie
ließ sich von der Drohgebärde nicht einschüchtern. Schild
voran stürmte sie los und schlug einen Haken, als sie in
Stoßreichweite des Zweihänders war. Gleichzeitig schwang
sie den Hammer gegen Paaldrags Knie.
Das Bein des Chimäriers zuckte der Waffe jedoch
entgegen und traf den Stiel, bevor der Hammerkopf
ihn traf. Der Schlag erzielte kaum Wirkung und wurde
obendrein durch Paaldrags weit überlegene Kraft
zurückgeschleudert. Paaldrag riss den Schild herab und
lehnte sein Körpergewicht darauf, sodass die Gegnerin
keine Chance hatte, ihren Schutz wieder hochzureißen. Der
Chimärier legte die Zweihänderspitze auf die Oberkante
und zielte aufs Gesicht, während die Gegnerin ihre Waffe
zurückriss. Sie schlug den Stich gerade noch nach außen
neben ihr Ohr und kontrollierte die lange Klinge mit
dem Hammerstiel, auf dass die Schneide nicht zu ihrer
Kehle schnappte.Aber Paaldrag hatte nichts dergleichen
vor. Er glitt auf der anderen Seite am Schild vorbei und
trat der Gegnerin seitlich ins Knie, noch bevor er das Bein
wieder absetzte. Er ließ den Schild los, und reflexmäßig,
weil die Schmerzen sie ablenkten, riss die Gegnerin den
Schild hoch, anstatt zuzuschlagen. Auf diesen Fehler hatte
Paaldrag spekuliert. Er packte sie im Genick und stieß
den Zweihänder unterhalb des Schilds in ihr gesundes
Bein. Gleichzeitig stieß er einen Feuerschwall in ihr Haar,
der seiner Drachenhand nichts ausmachte. Sie kreischte
wild, stürzte auf die Knie und schlug mit der Schildspitze
verzweifelt gegen Paaldrags Panzer. Der Chimärier ließ 97
den Zweihänder einfach zu Boden scheppern, packte das
Kinn der Feindin und brach ihr Genick. Das brennende
Haar stank zwar, doch spendete es ihm kurzzeitig genug
Licht, um sicher zu sein, dass keine weiteren Gegner in
diesem Gang lauerten.

Athónon hatte Mèra die heilige Decke übergelegt,


jenen schmutzigen Wollfetzen mit den verblichenen
Goldrändern, der trotz seines äußeren Zustands über
große Heilkräfte verfügte. Mèra selbst hatte einige dieser
Artefakte nach dem Ende des Glorreichen Zeitalters
hergestellt, Insignien ihrer Herrschaft über ein vereintes
Elfenreich, das es nun schon lange nicht mehr gab. Eines
dieser Artefakte hatte sie dem Gnom in jungen Jahren
geschenkt, als sie sich das erste Mal am Rande einer
Schlacht getroffen hatten. Sie hatte noch vor ihm gewusst,
dass sein einziger echter Freund, mit dem er mancher
Gefahr entronnen, getötet worden war. Sie hatte ihm auch
angesehen, wie er darunter leiden und zerbrechen würde.
Damals hatte er zum ersten Mal Mèras wehmütigen Blick
voller Tiefe ertragen müssen, den er im Dienste der Götter
danach oft erwidert hatte.
Die magische Decke um Mèras Schultern schien ihre
letzte Farbe zu verlieren. Die Haut der Elfin glänzte weiß
und schweißnass. Athónon beschloss, Taren auch weiterhin
zu vertrauen und sich in einen Zauber zu versenken; nichts
von seiner Umgebung würde währenddessen in sein
98 Bewusstsein vordringen. Sollte etwas geschehen, würde
Taren ihn wachrütteln müssen.
Doch schien Mèra dem alten Gnom so schwer
verwundet, dass er unsicher war, ob die Macht der
magischen Decke allein ausreichen würde, sie zu retten.
Er kniete sich vor Mèra und legte ihren Kopf in seinen
Schoß. Seine dicken Finger strichen über ihre Schläfen. Er
schloss das gesunde Auge und begann einen Heilzauber.
Athónon erschrak, denn als er seine magischen Sinne nach
Mèra ausstreckte, fühlte er nichts mehr. Sie war jedoch
noch keine Leiche, sie atmete.
„Das verstehe ich nicht“, flüsterte Athónon und runzelte die
Stirn. Sein faltiger Augenschlitz verdunkelte sich sorgenvoll.
Taffi war bewusstlos und Tarens Heilkräfte waren trotz seines
Tempeldienstes geringer als die von Athónon.
Laura sah dem Gnom an, dass etwas nicht stimmte,
doch sie war so schwach, dass sie nicht fragen mochte.
Seufzend legte sie sich hin, streckte Arme und Beine von
sich und schlief ein.
„Was ist los, mein Freund?“, flüsterte Taren und
betrachtete Athónon alarmiert.
„Ich kann sie nicht fühlen, wenn ich sie heilen will.
Es ist, als sei sie tot, aber sie atmet.“ Die Gnomenstimme
knirschte zermürbt.
„Vielleicht liegt das an ihrem Alter“, überlegte Taren.
„Ja, vielleicht“, raunte Athónon, wenig überzeugt.
Sorgenvoll nahm er Mèras Hand in seine Hände, sein
gesunder Augenschlitz brannte.
Tarens Brauen zogen sich streng zusammen. „Ohne
eigenes Wissen streben wir zielsicher einer höheren
Aufgabe entgegen. Srrig und Mèra begannen diese Mission 99
gänzlich ohne Gedächtnis! Wenn dies kein göttliches
Zeichen im Sinne Theb Nors ist, was dann? Wir müssen
Vertrauen in die Götter haben“, belehrte Taren den Gnom
aus Gewohnheit und biss sich im nächsten Moment auf
die Lippe. Er ahnte, dass Athónon einer jener stillen und
unbekannten Helden des Königskults war, die viel mehr als
die meisten Priester von den verborgenen Wahrheiten der
Götter und der Prophezeiung von Theb Nor verstanden.
Athónon lächelte säuerlich. „Vertrauen, ja“, knurrte
er und dachte: „Hoffnung ist der Schafe Trost beim
Anblick des Wolfes.“
„Darf ich Dich etwas fragen?“, brummte Taren und
setzte sich neben ihn.
Athónon blickte den Tempelkrieger ausdruckslos an. Da
Taren nicht wissen konnte, dass dies der aufmunterndste
Ausdruck war, den Athónons Gesicht zustande brachte,
fügte der Gnom ein Nicken hinzu.
„Du gehörst zum Königskult, das stimmt doch? Weißt
Du, was in meiner Heimat Silberberg vorgeht, wieso
die Chimärier nicht entschiedener angreifen? Die Stadt
müsste längst verloren sein, aber etwas hält die Schuppen
zurück. Ich spüre, dass da etwas nicht stimmt.“
Athónon senkte den Kopf, müde und kraftlos wie nach
einer stundenlangen Schlacht. „Der Königskult erpresst
den Imperator mit einem göttlichen Artefakt, das die
Vier Könige auf den Plan rufen kann. Der Kult erfuhr
selbst gerade erst, dass die Könige längst wieder da sind
– hier. Aber Schattenwacht weiß das auch. Er weiß, dass
die Erpressung hinfällig ist. Ich vermute, Silberberg gibt
100 es jetzt nicht mehr.“ Nun blickte der Gnom Taren direkt
ins Gesicht, hart und kalt wie Stein. „Du wolltest die
Wahrheit, da hast Du sie“, murmelte er.
In der Miene des Tempelkriegers rangen Wut und
Trauer miteinander. „Ich will das nicht glauben, bis ich es
sehe!“, knurrte er.
Athónon zuckte bloß mit den Schultern und wandte
sich wieder Mèra zu. „So sind die Götter und so belohnen
sie Vertrauen“, murmelte er, wohl wissend, dass er solchen
Spott bei anderen auch nicht toleriert hätte.
Taren hatte in der Arena der Chimärier bereits seine
Gefährtin verloren, und nun sollte er auch noch seine
Heimat verloren haben. Ihm blieb gar keine andere
Wahl, wollte er nicht den Verstand verlieren, als sich
am Vertrauen zu seinem Gott festzuhalten. Unter den
irritierten Blicken des zurückgekehrten Paaldrag setzte
Taren sich in eine Ecke und betete stumm, aber inbrünstig.
Ohne Wissen einer heiligen Aufgabe entgegen! Wissen ist die
Waffe der Amdovenn, aber ich bin immun gegen sie. Nur
blindes Vertrauen ist wahre Hingabe an Dich, mein Bruder
Mond. Ich denke an nichts und niemanden, nicht an gestern
oder morgen. Ich bin Dein Werkzeug, schicke mich meiner
Aufgabe zu! Ich bereue meine Neugier und all meine Fragen.
Es war eine gerechte Strafe von Dir, mir die Nachtelfin
Nenúriel zu nehmen. Wir verzeihen einander und Du führst
mich in der großen Gesellschaft von Helden und Halbgöttern
auf den rechten Pfad zurück. Ich folge der Weisung. Und
führt sie auch direkt in Deines Bruders Totenreich, ich werde
nicht zögern!
101

Srrig hinterließ ein Leichenfeld. Der Halbgott leckte


das Blut von seinen Klingen und schritt auf die letzten
Gegnerinnen zu, die zitternd einen Schildwall vor ihm
bildeten. Sein Fell und seine Robe trieften vor Blut seiner
Gegner. Zwei Schritte vor dem Schildwall blieb er stehen,
die Schwerter kaum erhoben. Niemals ließ er einen Feind
fliehen oder sich von einem ängstlichen Gesicht täuschen.
Im nächsten Kampf, mit einer neuen Waffe in der Hand,
vor einem anderen Gegner, würde das Gesicht ganz anders
blicken, und keiner seiner Feinde bekam eine zweite
Chance, jemanden zu töten.
Er hatte N’rracorrs Blutgier gestillt, bevor Nachtelfen
seinen Hieben zum Opfer gefallen waren. Doch sollte
N’rracorr noch mehr Kontrolle über ihn erlangen, würde
er vielleicht auch Verbündete erschlagen. Am Geschmack
der Gegner hatte er sich berauscht, hatte in Arme und
Beine gebissen und sich schließlich wieder beruhigt.
N’rracorr hatte sich zurückgezogen. Aber die Kerkertür in
Srrigs Seele blieb aufgebrochen.
Srrig stand ohne überflüssige Bewegung und ohne
Gesichtsausdruck da. Er war so leer wie ein unbeschriebenes
Pergament, wie ein ruhiger, klarer Bergsee im Mondschein.
Weil ihn nichts von den Geschehnissen auf dem Schlachtfeld
ablenkte, machte er keine Fehler. Und wer keine Fehler
machte, lebte weiter. Dank dieser Erkenntnis war es ihm
gelungen, N’rracorr zurückzuzwingen; hätte Srrig sich noch
weiter gehen lassen, wäre er aus Unachtsamkeit vielleicht
verletzt worden. Zwar konnte eine einzelne Wunde den
102 Halbgott nicht töten, doch eine Vielzahl vermochte dies
sehr wohl, zumal er unter N’rracorrs Einfluss nicht den
vollen Schutz der Götter genoss.
Der Schildwall der letzten Feinde wich vor ihm zurück,
während Srrig näher kam. Dann hatten sie plötzlich
Nachtelfen im Rücken und der Schildwall platzte unter
wütenden Hieben auseinander. Die Schlangenblüter
ergriffen die Flucht, zu schwere Schilde ließen sie fallen.
Verhaltener Jubel der Überlebenden erhob sich zwischen
all den Leichen vor der Stadt.

Melek hatte den verbrannten Arm von Paaldrags


zweitem Opfer abgesägt. Nun kaute er auf dem Fleisch
des Spähers, das innen roh und außen verkohlt war. Die
Kleidung der drei Toten, soweit sie aus Leinen und Wolle
bestand, und die Pfeile samt Bogen hatte er auf einen
Haufen gelegt und mit den letzten Flammen des Arms
entzündet, um Licht und Wärme für die Rast zu haben. Er
saß auf dem Bronzepanzer der aschfahlen Tiefenweltlerin
und betrachtete die qualmenden Reste des Kopfes und
ihre muskulösen Beine. Da er sie nicht selbst erjagt hatte
und sie sich auch nicht mehr wehren konnte, fand er sie
vollkommen uninteressant. Zumal er seit seiner Flucht aus
der Gladiatorenarena nicht geschlafen hatte. Seine Lider
flatterten gegen seinen Willen und immer wieder sank der
Arm herab, der das Fleisch hielt.
Müdigkeit jagte Melek Angst ein. Auch wenn er jetzt
unsichtbar war: Wenn er schlief, wachte er vielleicht nicht
rechtzeitig auf, um Verfolgern zu entgehen. Kein Versteck 103
war völlig sicher.
Aber schlimmer noch war die Ungewissheit. Im Schlaf
war er sich seines dunklen Weges, fern aller höheren
Mächte nicht mehr gewiss. Rachsüchtige Seelen und
allsehende Götter fanden ihn und verhängten grausame
Strafen. Nun, da er von Laura und den Vier Königen
wusste und ihm die Existenz einer höheren Macht
bewiesen war, verfiel er in Panik beim ersten Anzeichen
von Schläfrigkeit. Ob Laura, sein gesegnetes Spiegelbild,
zu töten seine Albträume lindern würde?
Die Träume beruhten auf alten Mythen, die er als
Kleinkind am Lagerfeuer erzählt bekommen hatte,
Geschichten aus einem nordischen Land, in dem der
Regen weiß vom Himmel schwebte. Sie begannen stets
gleich: Schwarze Nacht legte sich als Leichentuch über
ein verlassenes Winterland. Aus wabernden Waldschatten
löste sich eine Wanderin. Ihre Konturen blieben unscharf,
ein dunkles Fließen zwischen Baumskeletten. Von der
eigenen Sippe ermordet und lieblos verscharrt, war ihre
Seele aus dem Totenreich geflohen, um Rache zu nehmen.
Bald riss sie ihrem Mörder die Seele aus dem Leib und
er folgte dem Ruf des Todesgottes Loguht ins Totenreich.
Die Wanderin aber wurde von den Göttern vergessen und
blieb auf Hevanor zurück. Jahre und Jahrzehnte vergingen,
in denen ihr Geist zerfiel. Als Albtraum verbarg sie sich
in jenen Schatten, die der Augenwinkel nicht preisgab.
Die Momente des Übergangs vom Wachen zum Schlafen
verliehen ihr die größte Macht. Sie trieb Sterbliche in
Wahn und Tod. Als Boten schickte sie jedes Opfer mit
104 der Bitte zu Loguht, er möge die vergessene Wanderin
endlich erlösen und zu sich rufen. Doch der Herrscher des
Totenreichs erhörte sie nicht.
Jahrhundert um Jahrhundert zog an ihr vorbei,
schlug seine bedeutungslosen Wellen und verblich. Aber
jedes Jahr blieb ein Körnchen Zeit an ihr haften. Neue
Gedanken formten sich in den Ruinen ihrer Seele, bis sie
aus der dunklen Macht des Untodes auferstand. Seitdem
strich sie über Hevanor und fraß Seele um Seele. Je heller
eines Sterblichen inneres Licht strahlte, desto größer
wurde der Hunger der Mythengestalt danach. Mit jeder
Stunde Schlaf näherte sich die Wanderin und gewann
mehr Macht über Melek.
Seit zwei Monden verfolgte sie ihn. Aber ihr Schrei
drang erst durch Meleks Kopf, seit er Laura kannte und
von der Existenz der Vier Könige wusste. Nun schien ihn
eine höhere Gerechtigkeit einzuholen. Seine heimliche
Furcht vervielfachte sich und wurde zu Panik.
Er sah das Winterland seines Albtraums vor sich. Der
dunkle Schrei der Wanderin durchzog die Nachtluft
mit Frost. Boden und Bäume knirschten und stöhnten.
Melek riss die Augen auf. Er lag verkrümmt neben der
toten Tiefenweltlerin und zitterte vor Kälte. Sein Feuer
war lang erloschen. „Nimm Laura!“, bettelte er wie
ein Sechsjähriger. „Sie ist doch eine genauso lohnende
Beute wie ich!“
Melek tastete in der Finsternis nach seinem Dolch, der
ihm im Schlaf entglitten war. Gleichzeitig lauschte er,
nahm aber kein Geräusch wahr. Er fand den Dolch und
rappelte sich auf. „Ich schlafe erst nach dem Sieg über Laura
wieder! Danach soll die Wanderin mich meinetwegen 105
haben.“ Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte
und ob er noch unsichtbar war. Cerýllion antwortete
seinen fragenden Gedanken nicht. Die Müdigkeit drohte
seine Schläfen zu sprengen. Er ließ die Lider geschlossen.
Halb schlafend schleppte er sich in die Nähe des letzten
Lagerplatzes von Lauras Gruppe.
„Viele bunte Gestalten tummeln sich in unserer Stadt und
rühmen sich mit ihren Taten, einer lauter als der andere.
Viel zu selten aber gedenken wir jener, die für ein höheres Wohl
wahrlich über sich hinausgewachsen sind
und dabei sogar ihre sterbliche Hülle hinter sich ließen.

Die Feststellung sei mir erlaubt, wahre Helden sind nicht laut.“
Theliophamos,
Vorsteher der Norhuser Gilde für Meeresmagie,
über den Begriff des Helden
7 109

Laura spürte durch die Augenlider, dass sie im Hellen


lag. Angenehme Wärme umfing sie. Blütenduft stieg ihr
wohlig in die Nase. Sie stellte sich strahlendes Sonnenlicht
vor, eine duftende Wiese und einen endlosen blauen
Himmel. Nur Vogelzwitschern vermisste sie, oder Wind
in den Gräsern und auf der Haut.
Als kleines Kind hatte sie von einem menschlichen
Reisenden die Geschichte über die „Liebreizende Göttin der
Natur“ gehört: Heva. Diese Göttin sei das Land selbst, die
Sterblichen lebten auf ihrem Leib und ihr Geist sei besonders
nah, wenn die Sonne auf- und unterging. Daher auch der
Vogelgesang zur Dämmerung – der Göttin zu Ehren. Laura
hatte darauf oft in ihrem Lieblingsbaum gesessen und Worte
an die Liebliche gesprochen, wie sie die Göttin für sich nannte.
Eigentlich jedoch kannte sie sich kaum mit Göttern aus,
denn Elfen hielten nichts von diesen sogenannten Märchen,
die bloß auf dem Wunschdenken der jüngeren Völker, wie
zum Beispiel der Menschen, fußen sollten.
Deshalb konnten Mèra und Srrig auch keine
Halbgötter sein. Aber waren sie es doch und gab es die
Götter, wie konnten sie all die schrecklichen Geschehen
zulassen? Waren sie blutrünstige Zuschauer in einem
Theaterstück, das sie den Sterblichen aufzwangen, oder
reichte ihre Macht bloß nicht so weit, jedes Einzelnen
Schicksal zu beeinflussen?
Mèra hatte Jades Tod vorausgesehen, ihn jedoch
kaltblütig eingeplant, anstatt die Nachtelfin zu retten.
110 Mèra hatte damit ein Stück aus Lauras Seele gerissen.
Zwar streng und kühl, hatte ihre Mutter aber auch Stolz
und Stärke vorgelebt und Laura vor der Ignoranz der Elfen
beschützt. Nie wieder würde die Tochter die langen Arme
um ihre Schultern und das Kinn auf ihrem Kopf fühlen,
wenn Jade ihre Beine beugte, sich zu ihr kniete und sie
tröstete, weil sie wieder einmal angefeindet, ausgelacht
oder nicht eingeladen worden war. Ihr Ziehvater hatte stets
loyal zu Laura gehalten, aber das Verhältnis der beiden war
oberflächlich geblieben. Zu der jüngeren Stiefschwester
bestand sogar Rivalität.
Die Erinnerung an Meleks Nähe drängte sich in
Lauras Bewusstsein und belebte die Vorstellung ihres
menschlichen Erbes. Sie ekelte sich plötzlich vor sich selbst
und begann ihre Stärke zu verabscheuen – von der sie doch
abhängig war, da nichts sonst sie ausmachte. Selbsthass
brach ein weiteres Stück aus ihrer Seele.
Vor zwei Tagen war sie bloß ein Mädchen gewesen,
das mit seiner brachialen Energie unter zaghaften Elfen
aneckte, das sich nur immer unbeliebter machte, je mehr
es abgelehnt wurde, aber im Grunde behütet aufwuchs.
Nun, da große Ereignisse mit ganzem Gewicht auf sie
drückten und ihre Mutter sie nicht länger beschützen
konnte, drohte ihre angeschlagene Seele dem Heldenweg
nicht standzuhalten. Egal wie bemüht sie nach außen
die Fassade einer makellosen und erfolgreichen Frau
präsentierte, innerlich litt sie an zahlreichen Wunden, die
schlecht verheilten.
Laura wünschte sich sehnlichst, dass es wirklich eine
Liebreizende Göttin der Natur gab und dass diese Göttin
Laura auf ihren Sonnenstrahlen mitnahm, fort von 111
der grausamen Welt. So hell und warm, wie es um sie
herum war, klopfte ihr Herz plötzlich schneller, denn der
Zeitpunkt schien gekommen.
Sie öffnete die Augen – und starrte enttäuscht auf
einen grellen Lichtzauber, der unter der Höhlendecke
schwebte. Raue Steinwände mit Fensterlöchern und einem
verhangenen Durchgang umgaben Laura wie in einer
Hütte, aber es gab kein Dach. Die Wärme strahlte von
dem kleinen Kamin neben ihrem Krankenlager her. Der
Blütenduft stieg aus einer Tonschale auf dem Kaminsims,
einem langen flachen Bruchstein. In der Schale trieben
Pflanzenöle von der Oberwelt in einer Wasserpfütze.
Laura schloss die Augen und fand sich damit ab, dass ihre
Qualen doch noch kein Ende haben würden.
„So darf ich nicht denken!“, ermahnte sie sich und
klammerte sich hilflos an kitschige Erinnerungen. „Das
Leben war vorher schön, es wird auch wieder so sein!“
Sie konzentrierte sich darauf, ihre Heimat als Idylle
im Gedächtnis zu behalten, für die es sich zu kämpfen
lohnte, „egal ob gegen Melek, Schattenwacht oder
sonstwen“, schwor sie sich ein. Genauso unbeugsam, wie
sie ihren eigenen Weg durchgesetzt hatte, wollte sie auch
der schleichenden Verbitterung widerstehen, die sie an
Athónon und Mèra zu verabscheuen begann.

Wie ging es Mèra überhaupt? Laura riss die Augen


auf. Ihr Mund schmeckte pelzig und sie konnte sich
kaum bewegen, krächzte aber: „Mèra? Hallo? Ist
jemand hier?“
112 Ein Elfenjunge kam ins Zimmer gelaufen, sein
schwarzes Haar wehte ihm wie ein hüftlanger Umhang
nach. Sein Gesicht nahm erste Züge eines Erwachsenen
an und seine Augen reichten bereits bis zur Brust. Er trug
ein Tablett mit einer irdenen Karaffe, einer dampfenden
Holzschale und einem kleinen Stück Fleisch. Als Laura die
Gerüche vom Tablett aufnahm, wurde ihr bewusst, wie
viel Hunger sie hatte.
„Hallo“, sagte der Junge schüchtern. „Ich bringe Dir
Essen. Der Älteste sagt, er hätte Dir gern mehr Fleisch
gegeben, aber wir haben hier unten nicht so viel. Wenn
Du sonst noch Wünsche hast, sollst Du sie mir auftragen.“
Laura lächelte dünn. Sie stemmte die Hände auf ihre
weichen Decken und versuchte sich hochzuschieben.
Der Junge, erst schüchtern, half ihr zögerlich, bis sie
in eine Position kam, in der sie etwas essen konnte.
Mühsam brachte sie heraus: „Danke. Ich bin Laura und
wie heißt Du?“
„Tanétiel“, antwortete er und legte Laura das
Essenstablett auf die Beine.
„Was ist mit der blonden Elfin, Mèra? Die mit den
grauen Strähnchen?“
„Sie lebt, genauso wie alle Deine Gefährten“,
berichtete Tanétiel.
Laura seufzte erleichtert. Sie hatte Athónons Worte
verstanden, wie viel Glück es bedeutete, wenn kein Freund
in einer Schlacht fiel.
Der Junge druckste herum. Laura fasste seinen Arm
und fragte: „Was ist? Verschweigst Du mir etwas?“
„Nein. Es ist nur so ...“, stammelte Tanétiel.
„Ja?“ Laura blickte den Jungen durchdringend an. 113
„Ich weiß, wer Du bist. Ich hörte, Du wärst eine Heldin
und dass Du die blonde Frau gerettet hättest“, schmeichelte
Tanétiel ihr mit einem großen Aber in der Stimme.
„Mèra.“ Laura errötete und lächelte, zwang ihr
Lächeln jedoch schnell wieder zurück und blickte
nachdenklich. „Das ist ziemlich übertrieben“, brummte sie.
Unbewusst strich sie ihre Locken zurecht, die schmierig
aneinanderklebten. „Wer sagt denn so was?“
„Die Wachen, die Deine Gruppe hereinließen. Einige
andere hörten, dass Du Mèra gerettet hast. Da setzt sich
dann ein Bild zusammen.“
„Der Gnom und der Mensch sind Helden, aber ich
nicht.“ Von Srrig und Mèra wollte sie nicht sprechen,
zumal die Halbgötter ihr verboten hatten, zu viel von
ihnen und ihrer Aufgabe preiszugeben.
„Ach so“, murmelte Tanétiel. „Aber Du bist doch die
mit dem Kettenhemd!“Lauras Blick fiel auf die Rüstung
neben ihren Decken. Ihr Schwert fehlte allerdings,
vielleicht hatte sie es verloren. „Man wird nicht zur Heldin,
bloß weil man solch ein Ding trägt“, wiegelte sie streng ab.
„Möglicherweise gehört es nicht mal mir?“, provozierte sie.
Tanétiels Augen wurden größer und größer vor Ent-
täuschung und ruhten auf den engen Eisenmaschen.
Was sollte sie ihrem Ziehvater sagen, wenn sie sein
wertvolles Schwert nicht zurückbrachte und sein
Kettenhemd in solch schlechtem Zustand? „Lass Dich
nicht vom äußeren Schein blenden“, brummte Laura an
dem Jungen vorbei. „Zu viele Gedanken sind nutzlos und
bringen Dich nur durcheinander.“ Bei sich dachte sie:
114 „Was für Sorgen mache ich mir um Vater. Ich kehre mit
einem Packpferd voller Waffen zurück oder gar nicht.“
„Du siehst auch gar nicht aus wie eine Heldin!“, platzte
es nun aus Tanétiel heraus. „Wie alt bist Du? Du bist doch
bestimmt noch nicht mal erwachsen!“
Laura lachte bitter. „Unter Elfen werde ich nie
erwachsen! Ich will kämpfen und meine Ohren sind nicht
lang genug.“ Erst wenn ein Elf wenigstens eine Kunst
gemeistert hatte, galt er als erwachsen. Und Kämpfen
wurde nicht als Kunst anerkannt.
Tanétiel stutzte mit offenem Mund. „Entschuldigung“,
murmelte er kaum hörbar. Plötzlich lächelte er dünn. „Sag
schon, wie alt bist Du?“, drängelte er.
„Achtzehn Sommer“, erwiderte Laura wahrheitsgemäß.
„Mein erstes Licht fiel aber schon im Herbst davor.“
„Dann bist Du ja gar nicht so viel älter als ich! Ich bin schon
fast vierzehn Sommer da! Und wir sind beide noch Kinder.“
Laura lächelte nachsichtig. Bevor sie etwas sagen konnte,
rief Tanétiel: „Ich will auch kämpfen und Abenteuer
erleben, genau wie Du! Dann werden wir gemeinsam jeden
einzelnen dieser verdammten Schlangenblüter vernichten!
Die machen nichts als Ärger und haben keine Kultur!“ In
Lauras Gesicht zog tiefste Nacht herauf.
Tanétiel stutzte wieder und fragte: „Was ist?“
Laura knurrte ihn an: „Und die Kultur der Elfen ist
besser? Du klingst wie ein Chimärier, Kleiner.“
„Ach, ist auch egal, wie unser Barde es später nennt. Auf
jeden Fall werden die Schlangenblüter uns nie besiegen!“
„Ihr hattet Glück, dass Srrig für Euch gekämpft hat.
Nächstes Mal ist er vielleicht nicht da.“
„Dann müssen Du und ich schnell Helden werden!“, 115
grinste Tanétiel verschmitzt.
„Vergiss diesen Heldenquatsch“, seufzte Laura genervt.
„Mit etwas zu kokettieren und davon zu träumen, sich
gar darauf in heimischer Sicherheit vorzubereiten, ist
etwas ganz anderes, als es wirklich zu tun. Wenn man
zu verbohrt gegen den Strom schwimmt, zerbricht man
vielleicht darin, bist Du bereit dazu? Vielleicht ist man so
lange kein Held, wie man diesen Begriff benutzt ...“
Tanétiel sah verlegen weg und schwieg. Laura setzte
nach. „Ich habe mal genauso geklungen wie Du. Obwohl
es mir eine Ewigkeit her zu sein scheint, sind kaum zwei
Tage verstrichen, seit ich mein Dorf verließ.“ Sie wischte
sich über die Augen und riss sich mühsam zusammen.
„Jetzt klinge ich auf einmal wie meine Mutter“, murmelte
sie bitter. „Pass lieber mit Deinen Wünschen auf, bevor sie
in Erfüllung gehen.“
„Mein Vater hat immer gesagt, man darf keine Zweifel
haben, wenn man ein großer Krieger werden will!“, rief
Tanétiel überzeugt.
„Und, ist Dein Vater ein großer Krieger?“, fragte Laura
gepresst und starrte an dem Jungen vorbei.
Tanétiel schluckte und sah zu Boden. Schließlich konnte
er die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Du gehörst nicht
zu der beliebten Sorte, oder?“, schluchzte er.
Laura blickte den Jungen verdutzt an und wunderte
sich, wie er sie in seinem Alter schon so gut einschätzen
konnte. Welche kindlichen Gewissheiten hatte sie bereits
vergessen, die sie einmal besessen hatte?
Plötzlich wurde ihr heiß. Sie errötete und sah beschämt
116 weg. „Niemand muss mich mögen“, knurrte sie und
verdrängte die schmerzenden Erinnerungen an den toten
Halbelfen Wenndur, der sie auf der Reise umschwärmt
hatte, und an all jene Szenen im Dorf, in denen sie als
Außenseiterin und Barbarin tiefer verletzt worden war, als
sie zugab. Sie stopfte sich gierig Fleisch in den Mund, wie
es sich für eine Barbarin gehörte.
Der Junge wischte sich die Tränen von den Wangen
und verarbeitete still, was er gehört hatte. Laura spülte
mit Wasser nach und wiederholte: „Niemand muss
mich mögen. Am Ende zählt nur eins: Ich habe Mèra
gerettet. Und das gelang mir sicher nicht, weil ich so
ein schmeichelndes, sanftes Wesen bin. Im Moment des
Triumphes kann ich es leicht aushalten, nicht von jeder
flüchtigen Bekanntschaft gemocht zu werden.“ So allein
wie jetzt hatte sie sich aber noch nie gefühlt.
Tanétiel, der um seinen Vater wie sie um ihre Mutter
trauerte, musste sich ähnlich fühlen. Sie lehnte sich vor,
um den weinenden Jungen in den Arm zu nehmen, da
lief er weg. Beinahe rannte er Athónon um, der soeben
ins Zimmer trat. In dessen Gesicht erkannte Laura jene
Bitterkeit, die auch sie gerade heimgesucht hatte und der
sie nicht hatte anheimfallen wollen. Hilflos nach einer
Gegenwehr suchend, zwang sie sich ein Lächeln auf.

Aus der Ferne hörte Mèra Fêowyns helle Männerstimme:


„Du bist in Sicherheit. Jetzt halte durch, Deine Wunden
werden heilen.“
Fêowyn kniete neben Mèra. Eine Hand legte er auf die 117
frischen Verbände und die andere auf ihre nasse Stirn. Sein
graues Haar fiel ihm ins Gesicht, als er den Kopf senkte. Mit
geschlossenen Augen wiegte er sich unmerklich vor und
zurück. Neben Fêowyn lagen blutgetränkte, alte Verbände
am Boden, Tontiegel mit duftenden Kräutersalben und
ein leeres Bronzefläschchen.
Srrig hatte eine saubere blaue Robe bekommen. Er
kniete auf Mèras anderer Seite und blickte finster. „Wie eine
Sterbliche“, dachte er und zupfte Athónons zerschlissene
Zauberdecke so weit über ihre Hüfte, wie Fêowyns Hand
es zuließ.
Mèra wandte sich schwach im Fieberschlaf. Ihre Augen
ruckten unter den Lidern hin und her. „Mir ist kalt!“,
wollte sie rufen. Doch sie verlor den Kontakt zu ihrem
Körper und zur Außenwelt.

Das Fieber ließ Mèra glauben, in endloser Leere zu


trudeln. „Was machst Du noch hier?“, schnauzte sie jemand
plötzlich an. „Bist genauso eine Klette wie diese Nachtelfin,
was? Die wollte ihren Körper auch nicht verlassen, hat
mir etwas von ihrer Tochter und ihrer Familie vorgeheult.
Und dann dieser vergammelte Elfenzauberer, in den ich
danach gefahren bin, als sie den ersten Zombie zerstückelt
hatten! Völlig kaputte Knie! Nun, sie haben ihn sowieso
verbrannt, als sie merkten, dass ich ihn okkupiert hatte.
Zum Glück habe ich gespürt, dass es Dich erwischt hat
und ich bin sofort weitergesprungen. Na ja, war nett,
Dich mal wiederzusehen nach all der Zeit, schönen Tag
noch, lebe wohl!“
118 Mèra drehte sich im Kreis, sah jedoch niemanden.
Stattdessen sah sie ihre Wunden, aber vom dunklen
Inneren ihres Körpers her. Sie begann zu fallen und fiel
immer tiefer. Der Abgrund glich einem dunklen Brunnen,
an dessen Grund sie ertrinken würde. Plötzlich verstand
sie das Bild. Durch die äußere Wunde war jemand in ihre
Seele eingedrungen, jemand, der sie zu kennen vorgab.
Er hatte sie hinabgestürzt, um sie endgültig zu töten, sie
loszuwerden und selbst ihren Leib zu besitzen.
Für einen Moment musste sie tot gewesen sein, sonst
hätte sie den Eindringling bemerkt. Ein kurzer Lichtblitz,
das Fragment einer Erinnerung traf sie wie ein weiterer
Dolchhieb: Sie war erstochen worden, sie war wirklich
nicht die alte Mèra. Der Eindringling hatte ihren Körper
am Leben gehalten und ihre schwindende Seele in die
Tiefe gestürzt.
Noch hatte sie den Brunnengrund nicht erreicht. Unter
ihr raste ein Eisengriff näher, der nicht dorthin gehörte.
Mèra überlegte, einfach die Augen zu schließen und die
Hände nicht nach dem Symbol der Rettung auszustrecken.
„Ich habe die Ruhe verdient“, dachte sie bitter. Doch dann
würde eine fremde Macht in ihrem Körper herumlaufen
und viel Schaden anrichten.
Srrig konnte auf sich aufpassen, aber Mèra sah Bilder
von Athónon, der schon so viel für sie geopfert hatte. Und
von Laura, die sogar ihre Mutter verloren hatte und zu
naiv und unerfahren war, als dass ein Geist oder Dämon
in Mèras Körper sie nicht überlisten konnte.
Im allerletzten Moment streckte Mèra die Hände nach
dem Griff aus und hing nun über dem Abgrund. Anders
als ihr Körper, war ihre Seele nicht so schwer verwundet. 119
Flink zog Mèra sich empor, stellte einen Fuß darauf und
fasste in die weichen Wände, um sich ganz auf die Füße
zu ziehen. Nun stand sie auf dem Griff und blickte nach
oben. Irgendwo dort, fern über ihr hielt eine feindliche
Seele ihren Körper besetzt.
Fêowyn war nassgeschwitzt und zitterte. „Merkwürdig“,
flüsterte er während seines weggetretenen Zustands.

„Nun, wie schmeckt das Essen der Nachtelfen?“, fragte


Athónon. Bei den Kämpfen in der Taverne, in der auch
Jade starb, war sein Auge verletzt worden. Nun trug er eine
lederne Augenklappe. Sie war verstörend und schmerzvoll
anzusehen für alle, die ihn kannten, obgleich er selbst sich
nichts anmerken ließ.
Athónon kreuzte die Beine und setzte sich an Lauras
Krankenlager. Er drückte ihre Hand und ließ sogar einen
Mundwinkel nach oben zucken.
„Ich bin noch kaum zum Probieren gekommen“,
entgegnete sie, lächelte dünn und musterte traurig die
Augenklappe. „Ich bin überrascht, noch hier zu sein“,
sagte sie leise.
„Du wirst noch viele Sommer sehen“, erwiderte
Athónon streng.
„Aber nicht, wenn ich so weitermache!“, widersprach sie
und lachte freudlos. „Ich bin halb tot in eine Gruppe von
Spähern gelaufen. Wieso haben die mich verschont? Und
wieso geht es mir jetzt schon wieder so gut? Nach dem
120 Kampf mit Melek war ich so zerschlagen, dass ich dachte,
ich würde Wochen brauchen, um mich zu erholen. Hat
Mèra etwa schon wieder einen Heilzauber gewirkt? Sie
sollte sich doch schonen! Wie geht es ihr?“
Athónon unterbrach Lauras Redeschwall, indem er
wortlos ein Bronzefläschchen hochhielt. Ein kompliziertes
Zeichen war mit Säure eingraviert. Er legte das Fläschchen
in Lauras Hand. Während sie es neugierig betrachtete,
erzählte Athónon: „Du musst voll einsatzfähig sein oder Du
würdest in einem unachtsamen Moment den Tod finden.
Vor zwanzig Jahren gab mir der Älteste Deines Dorfes drei
von diesen Fläschchen. Eins rettete damals Deiner Mutter
das Leben und eins hat nun Dein Überleben gesichert.
Das letzte hat Mèra gerettet.“
„Heiltränke!“, flüsterte Laura ehrfürchtig. „Es waren
Deine! Du hast sie für uns geopfert? Und Dein Auge? Du
hättest sie für Dein Auge nehmen sollen, Athónon!“
„Ich habe doch noch eins“, erwiderte der Gnom und
verzog keine Miene. Doch seine Stimme klang brüchig
und alt. „Ich wusste, wir würden die Tränke brauchen. Ich
sah es in meinen Träumen.“
Laura starrte ihn wie ins Gesicht geschlagen an. „Wie ...
soll ich damit leben?“, flüsterte sie und bebte.
„Rede nicht so einen Unsinn!“, unterbrach Athónon sie
harsch. „Ein Auge für ein Leben, das ist ein guter Tausch.
Zumal Du jung bist und ich alt. Außerdem war es meine
Entscheidung. Ich tat es gern. Vergiss das nicht.“
„Danke“, brachte Laura nur hervor. Gedankenverloren
drehte sie das Fläschchen zwischen den Fingern.
Sanfter fuhr Athónon fort: „Jetzt iss, damit Du weiter
zu Kräften kommst. Es wird nicht lange dauern, bis die 121
Stadt wieder angegriffen wird. Die Bewohner bereiten sich
schon darauf vor, den Ort aufzugeben. Und wer weiß, wer
uns noch in den Rücken fällt.“
Laura kniff die Augen zusammen. „Die Stadt aufgeben?
Wenn die Schlangenblüter die Nachtelfen töten wollen,
werden sie das doch auch woanders tun, oder nicht?“
„Erkläre Du es ihnen, wenn Du magst. Mir und Srrig
glauben sie das jedenfalls nicht“, brummte Athónon.
„Außerdem haben sie viele Krieger verloren. Sie könnten
wohl tatsächlich keinen zweiten Kampf gewinnen, selbst
falls es kein zweites Mal solch tödliche Feuer-Artefakte gibt.
Der Älteste Pêraphèniel klammert sich an die verzweifelte
Hoffnung, die Schlangenblüter wollten nur ihr Territorium
ausdehnen, um ein eigenes, gemeinsames Reich mit ihren
neuen Verbündeten zu gründen. Pêraphèniel sagt, dieses
neue Reich wird sich mit dem Reich der chimärischen
Priesterin Tebaarsha bekriegen und die Nachtelfen nicht
länger beachten. Pêraphèniel will weiter nach unten – in
unerforschte Tiefen, der Narr! Srrig überlegt, ob wir die
Nachtelfen begleiten sollen und doch erst den Dämoniden
namens T’ral befreien sollen. Der ist ein sehr machtvoller
Zauberer und könnte unsere ganze Gruppe zum letzten der
Vier Könige, Randolph, teleportieren und dann weiter in
Schattenwachts Hauptstadt Pýur. Srrig und Mèra spüren
beide, dass T’ral sich irgendwo in den tieferen Gängen
befindet. Leider leben dort wahrscheinlich auch die
Schlangenmenschen und andere feindselige Tiefenweltler.“
„Wissen die Nachtelfen eigentlich, dass sie Dämonen
verletzen können?“
122 „Srrig hat es ihnen gesagt, und sie schienen es ihm auch zu
glauben. Allerdings wollen sie nichts von einem Krieg gegen
die Amdovenn wissen oder davon, dass sie vermutlich gerade
aufgrund dieser Gabe vernichtet werden sollen. Irgendein
Dämon oder Dämonenjünger könnte die Schlangenblüter
aufgewiegelt haben, um die Nachtelfen zu vernichten. Das ist
auch der nächste Grund, warum Srrig sie begleiten will – er
will sie nun doch bereitwillig schützen. Er sagt, er hätte einen
dunklen, symbolischen Traum gehabt, und ich glaube, ich
hatte denselben. Ich hatte ihn nur erst nicht deuten können.“
„Erzählst Du ihn mir?“, bat Laura.
„Ich sah Mèra, wie sie sich gegen uns wandte, von einem
Dämon besessen. Wir mussten sie töten. Das ist natürlich
unmöglich, Halbgötter können nicht besessen werden,
sie stehen unter zu großem Schutz und ihre Seelen sind
zu stark. Die Bedeutung des Traums ist darin zu sehen,
dass Mèra die Nachtelfen erschaffen hat und dass diese
Schöpfung sich gegen uns wenden wird. Oder dass wir
diese wichtige Gabe und damit den Sieg verspielen werden,
wenn wir nicht darauf aufpassen.“
Laura nickte furchtsam. „Klar. Dass eine Halbgöttin
Opfer einer Besessenheit wird, ist unmöglich ...“, wisperte sie.
Plötzlich fragte sie mit fester Stimme: „Was geschah
mit meiner Mutter in der Höhle nach dem Versuch, sie
wiederzubeleben? Wurdest Du besessen, Athónon, oder
sie? Wie kam sie das zweite Mal zu Tode?“ Tränen liefen
über Lauras zitterndes Gesicht.
Die Steinmiene des Gnoms rührte sich nicht. „Wieso
fragst Du noch einmal?“, begann er. „Die Wiederbelebung
hat nicht ...“
Laura unterbrach ihn: „Hast Du meine Mutter getötet? 123
Wessen Blut klebte in Deinem Gesicht, nachdem wir von
dort geflohen waren?“
Athónons Kiefer klappte herunter. „Woher ...?“, flüsterte
er nur.
Laura schluchzte bitter und vergrub das Gesicht in den
Händen. „Lass mich allein!“, schrie sie und stieß mit dem
Ellbogen die Wasserkaraffe auf ihrer Decke um.
Athónon stellte wortlos die Karaffe neben das
Krankenlager, stützte einen Arm auf den Felsboden und
erhob sich. Seine Knie stachen, aber er unterdrückte ein
Ächzen. Hinter seiner Stirn überschlugen sich zahllose
Gedanken. Seine Lippen blieben jedoch geschlossen.
Leise schlich er davon. Als er den Türvorhang zur Seite
schob, mahnte er über die Schulter: „Hat Cerýllions
Stimme Dir diesen fauligen Gedanken zugeflüstert, bevor
Mèras Schutzzauber ihn am Säen von Zwietracht hindern
konnte? War er es, der Dich vor der Schlacht aus der
Gästehöhle getrieben hatte, als leichte Beute für Melek?
Vertraue niemals den Worten des Feindes. Niemals!“

Der Gnom hatte in seinem Leben als Götterdiener


wahrlich genug Intrigen erlebt, die von Anhängern der
Amdovenn ersonnen worden waren. Bauern wie Könige
waren darin verstrickt worden und hatten komplizierte
Irrlehren, Aufhetzungen, Verblendungen und falsche
Tugenden für ihre eigenen, rechtschaffenen Gedanken
gehalten. Die Lehre Theb Nors war stets als Erstes ins Feld
geführt und gleichermaßen als Erstes verdreht worden. Nie
aber war sie verdrängt oder heruntergespielt worden, das
124 wäre verdächtig gewesen. Die Amdovenn waren Meister
der Manipulation.
Die schlimmsten Intrigen waren jene, welche an den
urtümlichsten Gefühlen der Sterblichen ansetzten, guten
wie schlechten. Liebe und Rache zum Beispiel. Athónon
seufzte. Wie aber sollte er seine Erfahrung nun Laura auf
die Schnelle begreiflich machen? Lieber schwieg er. Bevor
der Intrige ein unbedachtes Wort noch mehr Lebenskraft
verlieh – denn genau nach solchen Fehlern hungerte sie.
Aber war es nicht seine Pflicht, seine Erfahrung
weiterzugeben? Wie sonst sollte die nächste Generation
stärker als die vorige werden? Wenn die Vorfahren dieser
Auseinandersetzung mit den Nachfahren genauso aus
dem Weg gegangen waren wie Athónon jetzt, musste
sich niemand wundern, dass die Lebenden so schwach
und hilflos den alterslosen Amdovenn gegenüberstanden.
Nachsicht und Geduld waren zwiespältige Tugenden, mit
größter Vorsicht zu dosieren. Beinahe konnte man meinen,
auch in ihnen steckte ein Hauch des Feindes. Sollte er
strenger mit Laura umgehen? Ratlos versank der Gnom
in schwermütiger Grübelei. Nur eines bezweifelte er nicht:
Seit Jades Tod trug er Verantwortung für Laura, ganz
ohne mit ihr verwandt zu sein.
8 125

Paaldrag und Brommil durften sich das Haus eines


Gefallenen teilen, um zu lagern. Auf Decken und Fellen
saßen sie beieinander, den Vorrat an Trüffelschnaps
zwischen sich, den sie in wachsversiegelten Steinkrügen
gefunden hatten. „Dass diese Elfen nichts Richtiges zu
saufen haben!“, grollte Paaldrag und kratzte sich mit dem
Finger Ruß aus der Nase.
„Banause!“, lachte Brommil, während er mit gemäch-
lichen Bewegungen seine Axt schliff. „Weißt wohl nicht,
wie viele Trüffel man für eine Pulle Schnaps braucht.“
„Pilze sind nicht zum Saufen da, basta!“, beschwerte
der Riese sich weiter und kratzte den nächsten Steinkrug
auf. „Würden sie ihre Pilze rauchen, könnten sie auch ihre
miefige Stadt viel leichter vergessen.“
„Kein Wunder, dass denen die Evakuierung nicht
schwerfällt“, stimmte Brommil zu und rieb sich die Augen.
„Verdammter Rauch. Da können sie schon zaubern, aber
streiten sich darüber, ob sie ihre Magie einfach so einsetzen
dürfen und begnügen sich mit Fackeln und Kohlebecken
– in einer Höhle!“
Paaldrag hielt sich ein Nasenloch zu und blies das andere
kräftig frei, was eine Rußwolke erzeugte. Dann setzte er
den Steinkrug an den Mund und leerte ihn in einem Zug.
Beide schwiegen. Nur die Schleifgeräusche von
Brommils Schärfen waren zu hören. Schließlich fragte
der Zwerg: „Und, wirst Du den Verrückten auf ihrem
Kreuzzug folgen?“
126 Paaldrag stieß weitere Rauchwolken durch die Nase
und musterte den Zwerg. Kopfschüttelnd hievte der
Chimärier sich dann auf die Füße. Das Fenster befand
sich auf seiner Brusthöhe. Aber da dieses Haus wie viele in
Quirmó kein Dach besaß – gab es doch die Höhlendecke,
konnte er einfach über die Mauern hinwegblicken. Seine
Stummelflügel rieben sich aneinander, seine Hände
stemmte er in die Hüfte. Ungewohnt leise knurrte er: „Ich
glaube nicht an deren Götter und Dämonen. Ich glaube
auch nicht, dass der Imperator ein Gott ist, obwohl er
sehr mächtig ist und sich verehren lässt. Ich glaube, wir
sind von unseren Schöpfern alleingelassen worden, und
jetzt läuft alles aus dem Ruder, wie bei Kindern, die nicht
erzogen werden.“
„Ein Grund mehr, die Sache selbst in die Hand zu
nehmen!“, rief Brommil. Schon im nächsten Augenblick
wunderte er sich über sich selbst, denn wäre er gefragt
worden, ob er auf solch ein selbstmörderisches Unterfangen
mitkommen wolle, hätte er dies vehement verneint.
Paaldrag drehte sich halb zu Brommil um und grollte:
„Was in die Hand nehmen? Den Imperator bekämpfen?“
Er machte eine schneidende Handbewegung und schaute
wieder in die Stadt hinaus. „Lächerlich. Niemand
kann das“, brummte er verbittert. „Außerdem ist dieses
Gequatsche über die Amdovenn blanker Irrsinn. Dämonen
sind nur eine Ausrede von uns, wenn etwas nicht nach
unserem Willen läuft und wir den Grund dafür nicht
durchschauen. Ich verstehe bloß nicht, wieso Srrig glaubt,
einen solchen Vorwand zu brauchen, um den Imperator zu
bekämpfen. Die Chimärier werden ihm so oder so nicht
folgen und die anderen Völker hätten auch ohne Dämonen 127
mehr als genug Gründe.“
Brommil seufzte leise und murmelte: „Ich weiß nicht ...
Ich glaube Srrig.“
„Er glaubt sich selbst auch!“, lachte Paaldrag. „Er hat
Ausstrahlung und Macht und ist völlig von sich überzeugt.
Natürlich laufen ihm dann sofort alle hinterher, die keinen
starken Willen haben. Jeder, der ihm folgt, wird den Tod
finden. So wie es beinahe diese Mèra erwischt hätte. Und?
War sie eine Halbgöttin? Nein! Ein paar Dolchstiche hätten
sie beinahe ins Jenseits befördert, und vorher gespürt oder
so etwas hat sie den Feind auch nicht. Ihr überzogener
Glaube an sich selbst hätte sie fast umgebracht.“
„Ich glaube nicht, dass das alles nur Gespinste sind“,
beharrte Brommil. „Melek und ich wurden beide von
einer Geisterstimme beeinflusst, ebenso Laura. Erinnerst
Du Dich, wie sie plötzlich aus der Gästehöhle gerannt
war? Das war die Geisterstimme. Melek hat die Stimme
dazu gebracht, auf Laura loszugehen, und fast hätte ich
ihm dabei noch geholfen.“„So so, Du hörst also auch schon
Stimmen!“, winkte Paaldrag ab und lachte dabei so laut,
dass es vermutlich in halb Quirmó zu hören war.
„Es gibt da draußen einen realen Feind“, beharrte
Brommil verärgert und stieß den Stiel seiner Axt auf den
Boden. „Jemand muss ihn bekämpfen.“ Spitz fügte er
hinzu: „Bevor unsere Erziehung, wie Du es genannt hast,
noch mehr aus dem Ruder läuft.“
Paaldrag grunzte laut und schüttelte den Kopf.
Brommil ließ sich nicht beirren. „Außerdem bin ich
froh, dass ich mit meinem Leben endlich etwas Richtiges
128 anfangen kann, außer von morgens bis abends irgendeinen
Mist für andere zu arbeiten und mich damit abzufinden,
dass ich bloß eine weitere Fliege auf dem Kuhfladen bin“,
erklärte der Zwerg stolz. Leise und zögerlich ergänzte er:
„Bisher bin ich immer nur darauf bedacht gewesen, am
Leben zu bleiben und mich nicht um andere zu kümmern.
Aber diese Gelegenheit, etwas Bedeutendes zu vollbringen,
lasse ich mir nicht entgehen!“
Paaldrag schwieg.
„Was ist nun mit Dir?“, drängte Brommil euphorisch.
„Du bist niemals ein einfacher Soldat gewesen, dafür bist
Du nicht blöd genug! Du könntest uns sicher helfen!“
Paaldrag knurrte: „Das versuche ich ja die ganze
Zeit! Aber ihr hört nicht auf mich! Schon lächerlich,
dass ihr alle dieser Halbelfin vorwerft, sie wäre noch ein
Kind und dass sie unvernünftig sei. Ihr seid selbst viel
schlimmer. Laura ist außerdem weitaus älter, als viele
Tiere je werden könnten.“
„Gut, dass Du sie ins Spiel bringst“, grinste Brommil.
„Sie ist ein Paradebeispiel dafür, wie viel Kraft und
Freiheit die Jugendlichen noch – naturgemäß – in ihrem
Geist haben, bevor die Leiden des Alltags sesshafter
Gemeinschaften sie abstumpfen und verbrauchen. Laura
kennt die armselige Mühe zu ihrem Glück noch nicht,
die es macht, am Ende eines langen Bauernjahres einen
läppischen Laib Brot in den Händen zu halten. Ich wollte
Dir auch schon vorschlagen, Dir mal ein Beispiel an ihrer
Energie zu nehmen und an ihrem ... Mut.“
Paaldrags Lächeln wich einer wütenden Fratze. Er
spannte die Muskeln an. Seine Stummelflügel spreizten
sich drohend. „Hast Du mich damit gerade einen Feigling 129
genannt?“, brüllte der Chimärier erschreckend laut.
Brommil sah mit einem gequälten Lächeln zu ihm auf
und schluckte. Er verneinte mit belegter Stimme.
„Gut! Sonst wärst Du in die Suppe gekommen!“,
grollte Paaldrag und stampfte aus dem Haus. Sein Kopf
und seine Schultern streiften den Durchgang so fest, dass
Steinchen abgesprengt wurden und er eine dünne Wolke
aus Steinstaub hinterließ.
Brommil sah ihm wütend nach, doch seine Miene
verwandelte sich schnell zu einem wissenden Grinsen.
„Erwischt“, murmelte er. Brommil deutete die Über-
reaktion des Chimäriers als Flucht nach vorn: Der riesige
Schuppenbrocken hatte ganz profane Angst. Einer der
wenigen Sätze, den Brommil von seinem Vater gelernt
hatte: „Wer laut auftritt, will bloß Unsicherheit verbergen
und ist sich seines Selbst nicht sicher.“

Mèras Hände zitterten. In ihrem dunklen Gefängnis


griff sie immer wieder in die dunklen Wände, stemmte
die Füße hinein und zog sich höher und höher. Der Weg
schien endlos, als wüchse er geradewegs zu unsichtbaren
Sternen hinauf. Zudem waren die Wände weich und
rutschig. Mèra musste jedes Mal mit voller Kraft zufassen,
um nicht abzurutschen. Allmählich wurden ihre Finger
müde und schwach.
„Du bist wirklich ein mutiges Täubchen“, sprach
eine verzerrte Stimme neben ihrem Ohr. Über rissige
Lippen strömte fauliger Atem. „Aber der Falke hat
Dich gefunden.“
130 Ein grauer Kopf schwebte neben ihr, gerahmt von einem
weißen Haarkranz und einem dünnen weißen Bart. Blaue
Adern traten an den Schläfen hervor und dunkle Falten
zogen sich zu einem bösartigen Starren zusammen.
„So sieht man sich wieder, Kanzler Rogáril“, murmelte
Mèra und riss die Augen furchtsam auf. Instinktiv
klammerte sie sich näher an die Wand.
„Ja, ich bin zurück, meine Taube!“, höhnte Rogáril.
„Und Dir werde ich als Erste die Flügel brechen!“
Durch Mèras Rücken schoss Eiseskälte in alle Glieder.
Die Elfin bäumte sich auf und verlor den Halt an der
rutschigen Wand. Rogárils Lachen hallte durch die
Schwärze und übertönte ihren Angstschrei, während sie fiel.
Der eiserne Griff war nicht mehr da. Mèra schlug
auf den Grund. Doch ihre Knochen wurden nicht
zerschmettert. Sie sank tief in den weichen Boden; nur
ihr Kopf und eine Schulter lugten noch heraus. Sie blickte
hoch. Ihr Ziel war zu weit entfernt, um es noch zu sehen.
Entmutigt ließ sie den Kopf auf den Boden sinken. Erst
jetzt spürte sie, dass er angenehm warm war und sich leicht
bewegte, so als atmete er. „Natürlich, das ist es!“, lächelte
sie. Sie wühlte sich vollends in den weichen Boden. Ihr
Körper – das warme, schwarze Etwas – atmete weiter, und
ihre Seele brauchte keine Luft; ohnehin war dies alles nur
ein Bildnis ihres Unterbewusstseins. Auch die Schwärze
der Umgebung verblich, die für ihr Unwissen darüber
gestanden hatte, wo sie war.

Mèra saß an einer rosenfarbenen Kommode vor einem


Spiegel. Ihr Kamm strich durch die goldenen Wellen
ihres Haars. Vom Marmorboden bis zu den Deckenbögen 131
flutete Sonnenlicht das königliche Schlafgemach. Sie war
wieder jung und schön, hatte nicht mal all die Narben,
die zweitausend Jahre Krieg ihr beigebracht hatten. Keine
Spur von Falten und grauen Strähnen.
Die Altersspuren hatte sie während der Wiedererweckung
erlitten, als tölpelhafte Sterbliche – darunter Athónon –
ihr Seelengefäß zerbrochen hatten. Wenn sie wenigstens
gestorben wäre. Aber sie musste nun auf diese Weise
weitermachen im Endlosen Krieg.
Sie schüttelte die dunklen Gedanken ab. Es war ein
Missgeschick gewesen, mehr nicht. Gerade mit einer
ähnlich gequälten Seele wie Athónon sollte sie Mitleid üben.
In ihrem Traum wandelte Mèra durch die warme
Lichtflut ans Fenster. Sie blinzelte in die Sonnenstrahlen
und schaute auf das Waldreich der Elfen hinab, Âilon-
Sàdil. Eine gigantische Eiche trug den Palast; die größten
Zauberer des Reiches hatten das Naturwunder in einem
einzigen Monat aus einer Eichel wachsen lassen. Vögel
schossen durch die eigens für sie vorgesehenen Öffnungen
in das Gemach und sangen für Mèra, Königin der Elfen
und der Wälder.
Cerýllion trat hinter sie, griff um ihre Taille und küsste
ihren Hals. Sie legte genussvoll den Kopf in den Nacken, auf
seine Schulter, und strich mit einer Hand durch sein weißes
Haar, während die Finger ihrer anderen Hand die seinen
suchten. Cerýllion berührte die Rinde des Fensterrahmens
und duftende, bunte Phantasieblüten wuchsen Mèra
entgegen. „Für Dich“, flüsterte Cerýllion in ihr schlankes
Ohr. Mit demselben Atemzug fügte er hinzu: „Ich möchte
132 Dir einen neuen Verbündeten vorstellen. Die Zeit, in der
wir Elfen uns aus der Weltpolitik herausgehalten haben,
ist vorbei.“
Mèra erstarrte, als sie Kanzler Rogáril hereinkommen
sah. „Du hast den Feind in unser Schlafgemach
eingeladen?“, wisperte sie ungläubig, ihre Knie sackten ein.
„Aber meine Liebe! Das ist doch alles nur Propaganda!“,
hörte Mèra Cerýllion heute noch rufen.

Kanzler Rogáril, Anführer der Amdovenn, hatte


einen Krieg angezettelt, der Hevanor in die Steinzeit
zurückgeworfen hatte. Im Laufe der Jahrhunderte
nach Kriegsende sprossen zahllose religiöse Kulte aus
dem Boden. Geschichtliche Überlieferungen über die
Amdovenn und den Krieg gingen immer wieder verloren
oder wurden gefälscht, bis Wissen jeglicher Art schließlich
als etwas Böses galt. Die nebulösen Wurzeln dieses
Glaubens rührten daher, dass das Wissen um die Magie
im Glorreichen Zeitalter so weit fortgeschritten war, dass
die Amdovenn darauf aufmerksam geworden waren –
aufmerksam und neidisch. Nirgends sonst war die Magie
so stark wie in dieser Welt, geschaffen von den Ersten
Göttern nach Überlieferungen der Dahnrud und Inferior.
Hinzu kam, dass die Amdovenn heimatlos waren, ihr
Nomadendasein jedoch beenden wollten ... auf einem Teil
der Welt, den sie als angemessen bezeichneten, der jedoch
unerhört groß war. Sie waren bereit, ihn sich mit Gewalt
zu nehmen.
Die legendären Vier Könige des Glorreichen Zeitalters
– Mèra, Srrig, Randolph und T’ral – hatten alle Regeln
gebrochen und die Götter vor den Sterblichen bloßgestellt. Die 133
Schöpfer der Sterblichen waren neugierige Erforscher gewesen,
weit überlegen zwar, aber keine allmächtigen Wesenheiten.
Nach dem Ende des Glorreichen Zeitalters verloren sie den
Mut und das Interesse an ihrer Schöpfung und ließen die
Dahnrud als ihre Stellvertreter zurück, die transzendierten
Ureinwohner der Welt, die sogar noch älter als die Götter
waren. Einige Götter kehrten nie wieder, andere jedoch
entwickelten neues Interesse an ihrer Schöpfung.
Die Vier Könige, von den Göttern zu unsterblichen
Dienern gemacht, blieben zunächst auf einem leeren,
zerstörten Hevanor zurück, um es neu aufzubauen und zu
verteidigen. Doch es kam anders: Sie fielen einer perfiden
Intrige des machtgierigen Drachen Schattenwacht zum
Opfer und verschwanden für Jahrhunderte aus der Welt. In
dieser Zeit konnte Schattenwacht sein Imperium aufbauen
– bis Athónon und seinen Gefährten die Wiedererweckung
der Vier Könige gelang. Doch die Halbgötter waren ihrer
Gedächtnisse beraubt und über ganz Hevanor verstreut
worden; es wäre den Göttern vorbehalten gewesen, ihre
Diener zurückzuholen.
Der Prophet Theb Nor, einer der größten Seher
hevanorischer Geschichte, hatte all dies vor gut hundert
Jahren gewusst. Als nach fast zweitausend Jahren zum
ersten Mal wieder ein Späher der Amdovenn den Kontinent
betreten hatte, versuchte Theb Nor seine gesamte Weisheit
in seine berühmte Prophezeiung zu legen, um seine Heimat
zu beschützen. Rasch galten er, seine Kinder und all seine
Schüler als tot oder verschollen, Opfer der Verbündeten der
Amdovenn, und die Verfälschung seiner Worte begann.
134 Einer Legende zufolge kannte auch das Schwert von
Theb Nor die genaue Bedeutung, jene heilige Waffe, die
den Seher gegen Dutzende von Gegnern verteidigt hatte.
Doch ging auch die Klinge wenige Jahre nach Theb Nors
Verschwinden verloren.
Wussten die Götter nicht, was geschehen war, oder waren
sie immer noch von Schattenwachts Intrige befangen? Oder
waren sie gar nicht mehr da? Schon lange hatte Mèra keine
klare Botschaft mehr empfangen.

Nachdem Athónon Srrig von der Wache an Mèras


Lager abgelöst hatte, traten zwei Nachtelfen in Srrigs
Quartier ein: Pêraphèniel, der Älteste der Nachtelfen, und
Sophéion, ihr bester Barde.
„Nun, fehlt es Euch auch an nichts, seid Ihr gut
untergebracht?“, fragte der greise Pêraphèniel und legte die
Hände auf dem Rücken zusammen.
„Danke, Ihr seid sehr großzügige Gastgeber“, antwortete
Srrig und verneigte sich mit einer Hand auf der Brust.
„Ihr habt uns gerettet! Wir stehen unendlich tief in
Eurer Schuld. Wonach es Euch auch verlangt, Ihr müsst es
nur sagen, mein Junge“, beharrte Pêraphèniel.
„Im Moment bin ich wunschlos glücklich!“, lachte Srrig
herzlich. „Mein Junge“ war er schon ziemlich lange nicht
mehr genannt worden. Weder mit Haltung noch Miene
verriet er sein Inneres.
„Ich hörte, Ihr wollt uns sogar auf unserer Flucht in die
Tiefe begleiten?“, fragte der Älteste.
„Ja, allerdings. Wir haben denselben Weg, also können 135
wir zusammen reisen. Das ist vor allem für eine kleine
Gruppe wie meine viel sicherer. Aber Ihr habt auch
etwas davon, nämlich unsere Hilfe, falls es zu Überfällen
kommt“, bestätigte Srrig.
„Es ist sehr beruhigend, eine Truppe von so großartigen
Kämpfern auf der eigenen Seite zu wissen – was auch
immer Ihr in der Tiefenwelt sucht“, antwortete Sophéion
an Pêraphèniels Stelle. Der Älteste nickte dazu.
„Da ist allerdings noch ein Rätsel, das ich gern
lösen würde“, begann Pêraphèniel langsam und legte
nachdenklich einen Finger auf die Lippen. Er wanderte
einige Schritte im Kreis.
Srrig schwieg und wartete darauf, dass der Älteste
weiterredete. Plötzlich trat Sophéion vor, zeigte mit dem
Finger auf Srrig und rief: „Ein Dämon hat unseren besten
Zauberer getötet und seinen Leichnam nach der Schlacht
zu kontrollieren versucht! Wir konnten ihn gerade noch
verbrennen. Dieser Dämon behauptete aus den Flammen
heraus, dass Ihr an seiner Präsenz mitgewirkt hättet! Und
das seltsame Gefühl in unser aller Köpfe, das wir in der
Gegenwart des Dämons hatten, spüren wir nun in diesem
Haus, in dem Ihr und Eure Kameraden untergebracht
seid! Was sagt Ihr dazu, Tigermann?“
Der Barde trat an Srrig heran und reckte das Kinn. Der
Halbgott reagierte darauf nicht. Seine Miene blieb leer.
Er schob die Hände in die Ärmel und stand einfach da.
Langsam bildete sich auf seiner Stirn eine Sorgenfalte. Im
harmlosesten Fall sind sie einer Intrige zum Opfer gefallen
und wurden gegen uns ausgespielt. Vielleicht ist es aber genau
136 so, wie sie sagen. Mèra hat mir bisher nicht berichtet, was bei
der Wiederbelebung der Nachtelfin misslungen ist. Den Tod
zu betrügen ist ein Bruch göttlicher Regeln, und das ist ein
Schlupfloch für die Amdovenn ...
Pêraphèniel baute sich nun ebenfalls vor Srrig auf und
fragte: „Habt Ihr gar nichts dazu zu sagen? Was wisst Ihr
von einem Dämon, der sich selbst ,Kanzler‘ nennt? Er
schien Euch jedenfalls zu kennen!“
Srrigs Kiefer knirschten, seine Miene wurde immer
bekümmerter. Als die Nachtelfen sich ungeduldige Blicke
zuwarfen, flüsterte Srrig: „Das ist unmöglich. Er kann
Hevanor nicht betreten! Irgendein kleiner Späher der
Amdovenn vielleicht, aber nicht er!“
Schattenwachts Intrige gegen uns beruhte darauf, den
Göttern zu schwören, niemanden des Äußeren Volkes nach
Hevanor gelangen zu lassen. Weil der Drache die Macht
nicht teilen wollte ... Falls er seinen Schwur gebrochen oder
bei seiner Aufgabe versagt hätte, wären die Götter auf den
Plan getreten. Also, was ist hier los?
Sophéion streckte den Zeigefinger in die Luft und rief
wütend: „Offensichtlich konnte er es doch! Oder wie erklärt
Ihr, dass ein geköpfter Zombie einfach weiterkämpft und
sein abgeschlagener Kopf uns auslacht?“
„Gehen wir zu Mèra“, rief Srrig plötzlich. Er riss
die Hände aus den Ärmeln und stürmte an den beiden
Nachtelfen vorbei.

Fêowyn und Athónon wechselten abermals Mèras


Verbände und rieben ihre Wunden mit einer stechend
riechenden Kräuterpaste ein.
Srrig stürmte neben Fêowyn und drängte: „Kannst Du 137
sie aufwecken? Es ist wichtig.“
„Das wird ihr schaden“, brummte Fêowyn und
schüttelte den Kopf.
„Es ist wirklich sehr wichtig!“, knurrte Srrig ihm
ins Ohr und legte ihm seine mächtige Hand auf die
schmale Schulter.
Fêowyn sah den Tigermann ausdruckslos an. „Sobald
die Verbände gewechselt sind“, antwortete er bedrückt.
Pêraphèniel stand am Fuß des Krankenlagers und starrte
auf einen der wenigen sauberen Zipfel der Zauberdecke.
Er ließ sich von Sophéion stützen, um sich hinzuknien.
Ehrfürchtig nahm er dann den Deckenzipfel in beide
Hände und hielt ihn sich näher vor die Augen. Ruckartig
sah er zu Sophéion hoch. „Glaubst Du auch, dass dies ...“
„Nein, das sind nur Märchen und Bardenlieder“,
erwiderte Sophéion entschieden. „Diese Ornamente
ähneln nur zufällig den Überlieferungen.“
Srrig und Athónon warfen sich vielsagende Blicke zu,
schwiegen jedoch.
Pêraphèniel allerdings sah plötzlich lauernd zu Srrig und
murmelte: „Diese Decke ist ja völlig kaputt und verdreckt.
Ich lasse Euch sofort eine neue bringen!“ Von Sophéion
gestützt, erhob er sich und zog die Decke mit sich.
„Nein!“, schrie Srrig, sprang vor und entriss dem Greis
die Decke. Die erschrockenen Blicke der Nachtelfen
ignorierend, deckte er Mèras Beine wieder damit zu, soweit
es trotz der laufenden Behandlung möglich war.
Pêraphèniel und Athónon sahen sich in die Augen.
Obwohl der Gnom scheinbar nur seine Steinmiene
138 aufgesetzt hatte, verstand der Älteste es doch, darin die
Wahrheit zu lesen.
„Dies ist ein Original“, raunte er voller Ehrfurcht in
Sophéions Ohr.
Für einen Moment weiteten sich die Augen des
Barden. Aber dann schüttelte er entschieden den
Kopf und rief: „Das ist unmöglich! Mag sein, dass
diese Fremden an die Legende glauben, woher sie die
auch immer kennen. Doch es bleibt nur ein uralter
Mythos, eine Geschichte fürs Lagerfeuer. Wir Elfen
haben immer frei in der Wildnis gelebt, eine Königin
und ein vereintes Elfenreich hat es nie gegeben. Daher
kann es auch ihre magischen Heildecken nie gegeben
haben, und dies hier ist deshalb auch nur ein verrotteter
Wollfetzen voller Blut und kein heiliges Artefakt. Und
wenn doch, müssten wir unsere Gäste wohl hart dafür
bestrafen, dass sie einen heiligen Gegenstand unseres
Volkes derartig haben verkommen lassen.“
Athónon blickte schuldbewusst zu Boden, doch nur
Pêraphèniel bemerkte es und nickte leicht. „Nur eine
Legende ... wie die Amdovenn.“
Fêowyn unterbrach den Streit und seufzte: „Ich
könnte sie jetzt für einen kurzen Moment aufwecken. Ich
empfehle, Eure Fragen vorher gut zu überlegen, denn sie
wird nicht lange wach bleiben.“
„Ich weiß, was ich fragen muss“, antwortete Srrig
düster. „Fang an.“
Fêowyn nickte und legte Mèra eine Hand auf die Stirn.
Er schloss die Augen. Nach einigen Lidschlägen hoben er
und Mèra gleichzeitig die Lider.
„Was hast Du getan?“, fragte Srrig eisig. Er ahnte 139
die Antwort, durch diese und jene Andeutung seiner
Reisegefährten. Er wollte jedoch die Bestätigung seiner
Befürchtung hören.
Mèra lächelte ihn nur an und wisperte: „Ich freue mich
auch, Dich zu sehen.“ Sie verdrehte ein wenig die Augen.
Die beiden kannten sich seit vielen Jahrhunderten,
kannten jedes winzige Zucken in ihren Gesichtern und
jede kleine Augenbewegung. Srrigs Miene erstarrte, dann
grinste er plötzlich breit und sagte: „Wehe, Du stirbst!“
„Keine Sorge“, antwortete Mèra und lächelte
unsicher zurück. Wieder verdrehte sich ein Auge für
einen kurzen Moment.
Srrig erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort.
„Ich muss nachdenken. Passt gut auf sie auf!“, rief er
über die Schulter.

Die richtige Antwort wäre „Fang mich doch!“ gewesen.


Die echte Mèra hätte seine Anspielung verstanden, mit
welcher die beiden sich in der Vergangenheit öfters
geneckt hatten.
Zu einer Zeit, als Cerýllion bereits das Elfenreich an
sich gerissen und Mèra ins Exil geschickt hatte, trafen
Srrigs Truppen und Mèras Rebellen sich, um gemeinsam
gegen eine Übermacht der Amdovenn zu kämpfen. Nach
Jahren sahen der König der Tigermenschen und die
gestürzte Elfenkönigin sich wieder, die schon immer gute
Freunde gewesen waren.
„Du hattest recht, er hat mich verraten. Er hat mich nie
wirklich geliebt, nur benutzt“, hauchte Mèra traurig.
140 Srrig nahm sie sanft in den Arm und flüsterte zurück:
„Nächstes Mal hörst Du einfach gleich auf mich.“
Sie drückte sich von ihm los. Unsägliche Trauer ließ ihre
dünne Stimme vibrieren. „Wir müssen los. Auf in den Tod.“
Srrigs Miene erstarrte. „Wehe, Du stirbst!“, keuchte er.
Mèras Blick sank zu Boden. „Es ist doch aussichtslos.
Ich kann nicht mehr.“ Ganz langsam hob sie die Augen
jedoch wieder, und im selben Maße verzogen sich ihre
Lippen zu einem Lächeln. „Fang mich doch!“, rief sie
plötzlich und rannte los.
Im Stall, bei ihrem Schimmel, stellte er sie. Voller Sorge
packte er ihren Arm und blickte ihr forschend in die
Augen.
Sie lächelte zuerst, doch allmählich blickte sie ebenso
ernst zu ihm hoch. „Wieso hast Du es mir nie gesagt?“,
fragte sie leise.
„Du hattest Cerýllion“, antwortete Srrig. „Und wir
stehen in der Öffentlichkeit. Ein Skandal hätte uns nur
noch mehr geschadet.“
„Tja, das fällt jetzt auch nicht mehr auf“, lächelte Mèra
verliebt zu ihm auf.
9 141

Einige Stunden später hatte Laura sich weitgehend erholt,


was zweifellos an der Wirkung des magischen Heiltranks
lag. Normalerweise hätte sie viele Wochen liegen müssen.
Doch sie hinkte bloß noch leicht und ihre Rippen
schmerzten kaum mehr beim Atmen. Jedenfalls, solang sie
ruhig atmete.
Ihre Gedanken kreisten wild und drohten über ihr
zusammenzustürzen. Sie brauchte Zeit, sie alle zu sortieren,
darum wollte sie sich vorerst ablenken und irgendetwas
Sinnvolles tun, bevor sie durchdrehte.
Vor Tarens Quartier rief sie seinen Namen und der
Mensch bat sie durch den Türvorhang. „Ich will mit Dir
üben“, verlangte sie und hielt zwei Holzschwerter hoch. Sie
lächelte nicht, sondern schaute sehr ernst drein.
Taren saß auf seinen Decken und fuhr sich durch den
Bart, während er Laura undeutbar musterte. „Wenn Du
üben willst, lass Dir von den Elfen eine Zielscheibe geben
und hol Deinen Bogen, Mädchen“, wies Taren sie zurecht
und verschränkte die Arme. „Im Nahkampf wirst Du nur
den Tod finden, wohl eher früher als später.“
Laura warf die Holzschwerter in eine Ecke und
stemmte die Hände in die Hüfte. Sie funkelte Taren
böse an. Als der nur kopfschüttelnd sitzen blieb und die
Hände auf die Knie legte, knurrte Laura: „Ich bin stark
und war die beste Dorfwache meines Jahrgangs. Mein
Geschick und Talent werden die Kraft ausgleichen, von
der ein Menschenmann mehr hat. Meine Mutter war die
142 Anführerin der Dorfwache, sie hat vor zwanzig Jahren
in einem Krieg gegen die Tiefenweltler gekämpft und
überlebt. Sie ist der Beweis, dass ich recht habe!“Taren
blickte sie mit einer Mischung aus Spott und Mitleid an.
„Mädchen ...“, begann er.
„Sag nichts gegen meine Mutter!“, schrie sie. „Ich weiß,
dass sie gefallen ist, verflucht!“
Laura sprang ihm wütend entgegen. Er packte
zielsicher ihre Hände, bar jeden Erschreckens, und
drehte ihre Finger so weit nach außen, dass Laura vor
Schmerzen in die Knie ging und wimmerte. Vergeblich
zerrte sie an dem eisernen Griff des Menschen, der noch
immer ungerührt auf seinem Lager saß. Plötzlich ließ
er los, packte sie aber sofort an den Ellbogen. Ehe sie
reagieren konnte, warf er sich selbst auf den Rücken und
sie über sich und über sein Lager hinaus in die Ecke.
Beide sprangen gleichzeitig wieder auf. Taren schüttelte
drohend den Kopf und starrte Laura finster an, während
die Halbelfin erneut auf ihn zurannte.
Diesmal hielt Taren einfach still, als sie ihn am Kragen
packte. Sie ruderte mit ihrem langen Bein hinter Taren
und wollte ihn mit einer Beinsichel umreißen. Sie hatte
das Gefühl, eine Mauer einreißen zu wollen. Mühelos
packte Taren sie plötzlich an der Hüfte, hob sie weit über
den Kopf und warf sie wie einen Ball in die Ecke zurück.
Mit großen Augen blieb sie diesmal an der Steinwand
liegen und starrte den Tempelkrieger ungläubig an. Sie
war schwer für eine Elfin, wog über 120 Pfund.
Taren brummte: „Du bist nur ein Mädchen. Du wirst
jetzt keine große Kriegerin. Versuchst Du es trotzdem,
wirst Du im Kampf getötet werden. Deine Mutter kannte 143
ich nicht, aber ich sehe Dich und bin mir sicher.“
Laura kam auf die Knie und widersprach: „Meine
Mutter war schlanker als ich, zerbrechlich geradezu, und
ist trotzdem eine große Kriegerin geworden! Ihre Kraft
war durch ihre Übungen sogar größer als meine. Ich werde
das auch schaffen.“
„Sie hatte sicher mehr Zeit zum Lernen“, brummte
Taren lustlos. „Und obwohl sie solch eine Heldin war,
wie Du sie darstellst, ist sie getötet worden!“, knurrte er
feindselig und ballte die Fäuste.
Laura blieben die Worte im Halse stecken. Sie setzte sich
in die Ecke zurück und ihr Blick sank zu Boden. „Nein!“,
schrie sie plötzlich, unfähig, die Wahrheit zu akzeptieren,
und sprintete los, mitten in Taren hinein.
Sie prallte abermals wie gegen eine Wand. Taren wankte
nicht einmal. Als sie seinen Hals packen wollte, stieß er sie
mit einer Hand zurück und ohrfeigte sie mit der anderen – so
sehr, dass sie als Nächstes erst wahrnahm, wie sie ausgestreckt
auf dem Bauch lag und Taren neben ihr kniete. Ungläubig
hob sie den Kopf und starrte Taren mit offenem Mund an.
„Es geht nicht darum, Dich von einer gerechten Sache zu
entmutigen, die Leistungen Deiner Mutter zu schmälern
oder Dich zu kränken, Mädchen“, sagte Taren leise. „Ich
rette gerade Dein Leben.“ Er legte ihr fürsorglich eine
Hand auf die Schulter. Als er ihr hochhalf, holte sie mit
dem Kopf aus, um ihm die Stirn auf die Nase zu schlagen.
Ansatzlos aus der Hüfte schlug Taren ihr in den Magen,
noch während sie ausholte. Diesmal setzte er seine volle
Kraft und Technik ein.
144 Sie war noch nie so hart geschlagen worden. Sie dachte,
er hätte ihr einen Dolch in den Bauch gerammt und
umklammerte die vermeintliche Wunde. Laura kniete
atemlos am Boden und zitterte, gelegentlich klägliche
Geräusche von sich gebend.
Über sich hörte sie Tarens Stimme, nicht wütend,
sondern ruhig und mitfühlend: „Und jetzt bedenke,
dass jemand wie Srrig noch viel stärker ist als ich – und
außerdem starke Krallen und Reißzähne hat. Wenn
Du Dich vorbereiten willst, geh mit dem Bogen üben.
Lerne beispielsweise, im Laufen zu schießen. Nur wenige
beherrschen diese Kunst.“

Sie hörte nicht auf Taren. Laura ging mit den


Holzschwertern zu Athónon. „Wie machst Du das?“,
fragte sie ihn und hielt die Übungswaffen hoch.
Athónon blickte sie fragend an.
„Du bist viel kleiner und leichter als ich und doch
besiegst Du große Kämpfer. Wie?“
„Glück ... und ein bisschen Erfahrung, Augenmaß und
derlei. Aber in erster Linie Glück“, erklärte Athónon lustlos.
„Das glaube ich Dir nicht!“, ereiferte sich Laura. „Es
gibt kein Glück! Glück ist eine Ausrede, Wunschdenken!
Bring mir bei, einen Krieger wie Taren zu besiegen!“
Athónon schnaubte durch die Nase und schüttelte den
Kopf. „Du wirst nie jemanden wie Taren besiegen können.
Er ist viel zu stark für Dich, und vor allem viel zu erfahren.
Ich sehe es in seinen Augen und in seinem Gang.“
Laura ließ die Holzwaffen sinken. Ruhiger raunte sie:
„Bitte. Ich will überleben.“
„Dann nimm Deinen Bogen und halt Dich aus dem 145
Nahkampf heraus“, riet Athónon ihr.
Sie verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den
anderen und schwieg den Gnom wütend an.
„Vielleicht habe ich die Kraft von echten Kriegern
unterschätzt“, gestand sie nach ein paar Lidschlägen
widerwillig ein. „Aber jemand wie Du muss andere Wege
kennen, denn auch Du bist schwächer als die Feinde, die
Du getötet hast. Bitte verrate mir Dein Geheimnis.“
Athónon erwiderte seufzend: „Es gibt kein Geheimnis.
Du kennst alle Techniken selbst, und an Entschlossenheit
fehlt es Dir auch nicht. Ich halte mich aus Kämpfen raus,
die ich nicht gewinnen kann. Ich kämpfe nur, wenn ich
dazu gezwungen bin. Erfahrung und Glück, das ist alles.
Jedenfalls alles, was ich habe. Geh zu Srrig, wenn Dir das
nicht genügt. Er hat zweitausend Jahre Kampferfahrung.
Vielleicht hat er, was Du suchst.“
„Cesius, Dein verstorbener Tempelkrieger-Freund, hat
meine Mutter unterrichtet. Taren weigert sich jedoch,
nun mir zu helfen“, berichtete Laura, ohne auf Athónons
Worte einzugehen.
Athónon machte einen Schritt auf sie zu. Rücksichtslos
fragte der Gnom: „Und, hat es Deiner Mutter geholfen,
dass Cesius sie unterrichtet hat?“
Laura starrte Athónon an, als hätte er ihr ins Gesicht
gespuckt. Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf ihn.
Er war sehr kräftig für seine Größe, sicher stärker als die
Halbelfin, doch Laura war schwerer und hatte Anlauf
genommen. Sie drehte sich ruckartig in der Hüfte und
riss Athónon seitlich nieder. Blitzschnell sprang sie auf
146 seinen Bauch und drückte seine Arme triumphierend
zu Boden.
„Ich war immer die Beste im Ringen! Jetzt zeig mir, wie
Du Dich befreien würdest!“, schnaufte sie erwartungsvoll.
Doch Athónon rührte sich nicht und blickte sie nur
zornig an. „Herzlichen Glückwunsch, Du hast einen
Gnom niedergerungen, der nur halb so schwer ist wie
Du, aber fast dreimal so alt“, knurrte er. „Und, wirst
Du jetzt gegen die Gnome in den Krieg ziehen? Wieso
gehst Du nicht zu Srrig oder Paaldrag und legst Dich mit
Deinesgleichen an?“
Plötzlich fühlte Laura sich schlecht. Sie stand auf und
wollte Athónon helfen, doch der schlug ihre Hand aus.
„Es tut mir leid, Athónon“, raunte sie und schlich mit
hängendem Kopf davon. Die Holzschwerter ließ sie liegen.

Ehrfürchtig rief Laura Srrigs Namen an dessen


Türvorhang. „Komm ruhig näher“, hörte sie seine
bedrückte Stimme. Gleichzeitig hörte sie ihr Herz immer
lauter schlagen.
Sie trat geduckt durch den Vorhang und einen Schritt
weit in den Raum. Scheu sah sie zu dem Tigermann auf.
Ihre Finger kneteten sich gegenseitig.
„Herr ...“, begann sie unschlüssig.
Srrig spazierte zu ihr, legte ihr sacht eine Hand auf die
Schulter und fragte: „Was kann ich für Dich tun, Laura?“
Seine Krallen berührten ihre Schulter nur ganz leicht.
Dennoch fühlte die Halbelfin sich sofort völlig hilflos
einer tödlichen Gefahr ausgesetzt. Die Ausstrahlung des
Halbgottes erdrückte sie nahezu.
Sie öffnete den Mund, ihr Kiefer zitterte. Für einen 147
Lidschlag blieben ihre Augen auf den krallenbewehrten
Zehen des Wesens hängen. Dann zwang sie sich, dem
Tigermann ins Gesicht zu blicken.
„Nehmt Ihr Schüler, Herr? Mich?“, wisperte sie.
Srrigs Miene verfinsterte sich. Er legte nun seinen
ganzen Arm um Lauras Schultern und führte sie zur
Fensteröffnung. Dabei erzählte er mit sanfter Stimme:
„Du hast einer wichtigen Halbgöttin das Leben gerettet
und dabei sehr viel Mut bewiesen.“
Lauras Herz pochte lauter. Verbittert setzte sie Srrigs
Schilderung fort, ihre Stimme bebte: „Aber ich bin nur ein
Mädchen und kann keine Kriegerin werden. Ich soll mir
einen Bogen nehmen und andere für mich sterben lassen.
Ist es das?“
Inzwischen standen die beiden am Fenster, Srrig ließ
sie los. „Sieh dort hinaus“, verlangte Srrig und zeigte nach
draußen. „Wohin hat es geführt, dass sie das Kämpfen
gelernt hatten?“
Laura sah erst unsicher zu Srrig, dann zum Fenster hinaus,
wo etliche verwundete Elfen auf Decken herumlagen, wenn
sie nicht gar auf nacktem Fels liegen mussten. Manche
schliefen, andere stöhnten und schrien. Einige lagen
reglos auf ihren Decken und starrten mit toten Augen zur
Höhlendecke. Um das Krankenlager herum irrten Männer,
Frauen und Kinder und riefen unter Tränen immer wieder
Namen, ohne eine Antwort zu erhalten.
Laura fühlte Tränen aufsteigen, rang sie jedoch nieder.
„Ja! Sehr gut!“, sagte Srrig nah neben ihr. „Kämpfe
Deine Gefühle nieder, bis sie nicht wiederkehren. Werde
148 hart wie Stein! Lerne zu töten. Und dann ende genauso
wie diese Nachtelfen hier. Deine Gefühle dürfen Dir nicht
im Weg sein, wenn Du eine effiziente Mörderin werden
willst. Denn das ist es doch, was Du meinst, wenn Du
von ,Kriegerin‘ redest, nicht? Nur ein hübscheres Wort für
dieselbe Sache: Eine Mörderin willst Du werden!“
Laura zuckte von Srrig fort. „Nein!“, schrie sie und
schüttelte heftig den Kopf. „Ich will nur überleben!“
„Dann halte Dich aus dem Kampf raus, beginne keinen
Kampf und Du wirst überleben“, konterte Srrig trocken
und legte die Hände auf den Rücken.
„Aber dann werden andere sterben, die mich beschützen
wollen!“, widersprach Laura.
„Dann nimm sie mit, sie sollen auch nicht kämpfen.
Wenn niemand kämpft, wird auch niemand sterben“,
sponn Srrig den Gedankengang weiter.
Laura senkte hilflos den Blick, verschränkte die Arme
und zog die Schultern hoch.
Srrig hob den Zeigefinger in ihre Richtung und setzte
noch nach: „Ich habe von Anfang an gesagt, dass niemand
mich und Mèra begleiten soll. Jetzt weißt Du, warum.“
Laura ließ die Tränen frei. „Ich will keine kalte
Mörderin werden!“, beteuerte sie. „Aber ich kann doch
nicht immer nur weglaufen! Wollt Ihr etwa zu viert das
Imperium besiegen?“
Srrig blickte sie ausdruckslos an und legte die Hände
wieder auf den Rücken. Als sie ihn fragend musterte,
raunte er tonlos: „Nur weiter.“
Laura suchte fieberhaft nach Worten. Sie schniefte leise,
wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und rief:
„Vielleicht bin ich nur ein naives Mädchen. Vielleicht sind 149
geübte Menschenkrieger viel stärker als ich. Aber wenigstens
bin ich da, um zu helfen. Ihr müsst mich nur lassen.“
„Wenig überzeugend“, knurrte Srrig und schüttelte
den Kopf.
„Meine Mutter ist für diese Sache gestorben! Ich will
wissen, wofür sie wirklich starb!“, bettelte Laura. „Sie
konnte ja auch nicht weglaufen! Oder einfach die in
Sicherheit bringen, die noch beteiligt waren! So einfach ist
unsere Situation hier eben nicht!“
„Deine Situation schon. Du musst nicht selbst kämpfen,
jedenfalls nicht vorne“, grinste Srrig. Als Laura erneut zum
Sprechen anhob, bereits flehend den Kopf schüttelte und
ratlos die Arme hob, legte Srrig ihr eine Kralle auf die
Nase und flüsterte: „Es wird Zeit, dass Du ehrlich wirst,
Mädchen. Ich kenne alle Ausreden. Ich kenne auch die
Wahrheit. Aber es ist wichtig, dass Du zu Dir selbst ehrlich
bist, bevor Du Deine Ausbildung beginnst.“
Lauras Mundwinkel zuckten kurz nach oben, doch nun
überlegte sie fieberhaft, was Srrig gemeint haben mochte.
Sie strich mit den Handflächen über ihre Tunika, während
sie nachdachte.
Plötzlich wurde ihr Blick traurig und sank noch tiefer.
Sie entspannte sich. Dann antwortete sie matt: „Ich kann
nichts anderes. Ich will meine Lieben beschützen, so gut
ich kann, doch in meinem Elfendorf sind Kämpfernaturen
wie ich bestenfalls geduldet. Ich werde nie eine Bardin
oder sonst eine Künstlerin, damit dieses dekadente
Elfenvolk mich als vollwertiges Mitglied akzeptiert. Ich
werde in einem Elfendorf niemals glücklich werden. Doch
150 hier habe ich eine wirkliche Aufgabe, und mein Volk und
meine Freunde, meinen Vater und meine kleine Schwester
beschütze ich damit auch, selbst ... falls es mein Dorf nie
erfahren sollte.“
Srrig schaute sie ernst an.
Laura neigte sich vor und schrie mit geballten Fäusten:
„Ich kann nicht wegsehen! Ich kann die Dämonen nicht
friedlich bitten zu gehen! Aber ich kann kämpfen wie eine
Löwin! Ihr könnt mir nicht ernsthaft erklären wollen, dass
das falsch ist, nur weil ich weniger Muskeln habe!“
„Nein, das kann ich nicht“, grinste Srrig und ließ Laura
sprachlos am Fenster stehen.
„Heißt das ...?“, stammelte sie glücklich.
Srrig warf ihr zur Antwort ein schweres Holzschwert
zu. „Der Geist ist die tödlichste Waffe des Kriegers. Aber
nur, wenn er richtig mit ihm umzugehen weiß.“

Mèra schwamm durch ein schillerndes Farbenmeer.


Manchmal musste sie gegen eine unsichtbare Strömung
ankämpfen, und manchmal wurde sie mitgerissen und
ein gutes Stück weiterkatapultiert. Seltsame Lebewesen
in verschiedensten Formen und Farben drifteten in
Schwärmen an ihr vorbei, manche beäugten sie dumpf.
Je weiter sie aufwärtsschwamm, desto turbulenter wurden
die Ströme, und inzwischen hatte sie das Gefühl, über
Stromschnellen hinweggeschleudert zu werden. Plötzlich
wurde sie in einen Strudel gezogen. Einige kleine
Lebewesen wirbelten darin hilflos im Kreis und wurden
ins Nichts gezerrt. Es war dunkler hier als im restlichen 151
Farbenmeer. Doch anders als ihr Körper war ihre Seele
unverletzt und hatte noch Kraft. Sie kämpfte gegen den
Strudel an und gewann. Grimmig schwamm sie weiter
aufwärts. Sie wusste, sie hatte soeben ihre Wunden passiert
und näherte sich nun dem Feind.
Rechts von ihr pulsierte ein gleißendes Licht, das sie
blendete und zahllose Strömungen erzeugte, die Mèra
durchschüttelten. Links von ihr pulsierte ein zweites Licht,
doch milder und ruhiger, wie ein Fels in der Brandung.
Mèra war sich nicht sicher, was passierte, wenn sie von
den starken Strömungen des Herzens angespült würde,
also kämpfte sie sich durch die Mitte zum Kopf. Dumpfe
Stimmen drangen durch das Farbenmeer an ihre Ohren,
beinahe konnte sie die Worte verstehen.

Srrig betrat erneut Mèras Quartier. Vor ihren Füßen


blieb er stehen. Safériel überwachte an Fêowyns Stelle
Mèras Zustand und tupfte immer wieder die kochende
Stirn ab. Jetzt starrte sie beängstigt auf das bronzene
Schwert, das Srrig in der Hand hielt.
Die Stimme des Tigermenschen bebte. „Sie ist nicht
Mèra. Der Dämon besetzt nur ihren toten Körper.“
Die Nachtelfin sprang auf. „Herr! Das könnt Ihr nicht
tun!“, rief sie entsetzt. „Es muss einen anderen Weg geben!“
Sie trat wieder einen Schritt zurück, senkte den Blick
und hob unschlüssig die Arme. „Außerdem wird es den
Dämon nicht aufhalten. Als mein Gefährte diesen Zombie
erschlagen hatte, ist der Dämon einfach in den nächsten
toten Körper gewechselt. Wir haben ihn verbrannt, und
152 nun ist dieser Kanzler angeblich hier.“ Sie stutzte und sah
auf. „Woher wisst Ihr das überhaupt?“
Srrig musterte die Nachtelfin ausdruckslos, die nervös
vor ihm von einem Fuß auf den anderen trat, sich am
Arm kratzte, ihn nun wieder nicht ansah und wortlos die
Lippen bewegte. Schließlich sagte Srrig ruhig: „Du hast es
schon ausgesprochen. Der Dämon fährt in Leichen. Mèra
ist tot. Ich werde nicht zulassen, dass ihr Körper noch
länger entweiht wird. Jetzt geh zur Seite!“
„Woher wisst Ihr es?“, rief Safériel. Sie hob die Hände
abwehrend und blickte Srrig direkt in die Augen. Die
grazile Frau zitterte vor Angst. Als Srrig einen Schritt auf
sie zu machte, weiteten sich ihre Augen und sie ballte die
kleinen Fäuste, doch sie blieb standhaft.
Mèra war unsterblich gewesen – sie war nicht gealtert.
Doch gewaltsam töten konnte man die Vier Könige schon,
insbesondere wenn sie geschwächt waren und ein Dämon
seine Finger im Spiel hatte – also ein Feind, dessen Macht an
die der Götter heranreichen konnte. Die Götter beschützten
die Vier Könige und ließen sie nicht am Alter sterben, doch
völlig allmächtig waren sie keineswegs – das dachten nur die
Schwächsten der Sterblichen, die sich in einer gefährlichen
Welt, die sie nicht verstanden, behütet fühlen wollten.

Mèra erkannte Srrigs Stimme, der mit einer Unbekannten


sprach. Sie verstand nicht alles, doch sie erkannte allein am
Ton des Gesprächs, was Srrig vorhatte. Schließlich kannte
sie ihn völlig auswendig. Die Strömungen schüttelten
ihre Seele immer heftiger durch. Das Farbenmeer wurde
rot und ein schrilles Summen scheuchte all die kleinen
Lebewesen auf, die sich in der Nähe befanden. So sah ihre 153
Angst also in der Geisterwelt aus.
Mèra sah die feindliche Präsenz als lichtlosen
Schatten im Farbenmeer. Viele Strömungen umtosten
den Dämon, doch wirkungslos. Zahllose kleine
Lebewesen stürzten sich mit spitzen Zähnen auf ihn,
wurden aber von einer plötzlichen Ausdehnung der
Schwärze verschluckt.
Der Dämon bemerkte Mèra nicht. Seine diffuse Seele
waberte am Rande des Farbenmeers, klebte förmlich an
der weichen, schwarzen Wand.
Zweitausend Jahre Kriegserfahrung. Mèra wurde
vollkommen ruhig. Sie hatte nur diese Chance.
Der Dämon hatte Srrig ebenfalls gehört und war
abgelenkt. Vermutlich dachte er gerade fieberhaft über
einen Rettungsplan nach oder er suchte auf magischem
Wege nach seinem nächsten Opfer. Mèra konzentrierte
sich auf ihren Seelenkörper und wie er mit den
Strömungen des Farbenmeers harmonierte. Als eine
starke Strömung in Richtung Kopf an ihr vorbeipulste,
verband sie sich damit und ließ sich wie ein Pfeil
vorwärtsschießen. Alle Farben verblassten hinter ihr,
das Wasser schmeckte, als sei ein Tier darin verendet
– der Dämon hatte sie bemerkt. Sie hatte vielleicht nur
einen einzigen Lidschlag, um Srrig auf sich aufmerksam
zu machen.
Plötzlich bäumte Mèras Körper sich auf und rang nach
Luft. „Fang mich doch!“, würgte sie hervor. Im nächsten
Moment fiel sie wieder schlaff in sich zusammen und lag
reglos da.
154 Srrig ließ das Schwert fallen und stürzte neben ihr auf
die Knie. „Kann das sein?“, flüsterte er und drehte ihr
Gesicht zu sich. „Seid Ihr beide da drin?“

„Es muss wohl dieser verdammte Heiltrank gewesen


sein“, knurrte Kanzler Rogáril. Er rammte Mèras Seele und
schleuderte sie fort, tiefer in den Kopf hinein. Das schwarze
Wabern versperrte ihr nun den Weg, sie war gefangen.
„Wie auch immer es zustande kam, dass Deine Seele
noch hier ist, es erweist sich als großer Vorteil. Der verehrte
König Srrig kann Deinen Körper jetzt nicht töten“, folgerte
der Kanzler spöttisch. „Und im richtigen Moment werde
ich eine Menge Unheil anrichten!“
„Du arbeitest wohl immer noch mit Cerýllion und
Schattenwacht zusammen“, knurrte Mèra. Wie konnten die
Götter all die Jahrhunderte lang den Verrat des Drachen und
seine Intrigen nicht bemerken?
„Ja, selbstverständlich!“, rief Rogáril höhnisch. „Das ist
eine sehr gedeihliche Zusammenarbeit.“ Eine gehässige
Höflichkeit vorspielend, fügte er hinzu: „Einen schönen
Gruß vom alten und bald neuen König der Elfen soll ich
Dir übrigens bestellen, werte Dame. Für diese dumme
Geschichte mit dem Kopfgeld entschuldigt er sich
vielmals. Wie war es eigentlich so im Exil? Zweitausend
Jahre können ziemlich lang werden, nehme ich an, vor
allem, wenn man ein paar Jahrhunderte davon in einer
Seelenkugel eingesperrt ist.“
„Nun, es war nicht sehr angenehm“, begann Mèra und
wurde ebenfalls sarkastisch. „Aber ich nehme an, Dein
eigenes Exil, irgendwo jenseits Hevanors, hat viel mehr
Spaß gemacht. Stimmt es nicht, dass die Amdovenn ein 155
heimatloses Volk sind, weil sie einen selbst verschuldeten
Krieg gegen eine überlegene Macht verloren?“
Das schwarze Wabern schwieg für ein paar Lidschläge.
Dann spottete Rogáril ebenso sarkastisch weiter: „Wirklich
dumm, dass diese sterblichen Tölpel ausgerechnet Deine
Kugel zerbrochen haben. Du hättest spätestens vorhin, als
Du das erste Mal in die Tiefe gestürzt bist, Frieden finden
können. Und jetzt musst Du mitansehen, wie ich Deine
Gefährten nach und nach töten werde, weil sie mich nicht
loswerden können – außer, sie töten Dich. Welch Ironie!
Du hast sie zum Tode verurteilt, weil Du sie retten wolltest,
anstatt selbst Frieden zu finden. Wirklich gekonnt, das
muss man Dir lassen. Eines Dämons würdig.“ Triefend
vor Sarkasmus, spielte Rogáril den Nachdenkenden: „Sag,
hast Du nicht Interesse an einem Söldner-Vertrag bei uns?
Wir bieten gute Bezahlung, Kost und Logis, und Du darfst
Dich so schlecht benehmen, wie immer Du willst. Leute
mit Deinem Ideenreichtum können wir gebrauchen.“
Mèras Seele, ein mattes Silberleuchten, wurde für einen
Moment noch blasser und schwieg.
„Wie auch immer, genug gespielt“, knurrte Rogáril.
„Du wirst tun, was ich verlange. Als Erstes wirst Du
behaupten, Dein Gedankenschutz-Zauber sei noch aktiv
gegen Cerýllion. Los!“
Mèra entgegnete: „Ich kann Srrig nicht belügen. Er
kennt jedes kleine Zucken in meinen Augen. Er würde
sofort wissen, ob ich lüge.“
Das schwarze Wabern pulsierte schneller und
vergrößerte sich drohend, schwieg jedoch.
156 10

„Es war ganz seltsam“, berichtete Laura und schenkte


Athónon dampfenden Tee ein.
Laura wollte eigentlich weiterreden, aber sie starrte
auf Athónon. Er lächelte tatsächlich. Er hatte sein Auge
geschlossen und hielt murmelnd die Nase über den Tee.
„Elfischer Rosentee mit ... mit ... Zimt? Nein ... doch! Und
Nelken.“
Schließlich öffnete er das Auge wieder und fragte Laura:
„Was wolltest Du eben erzählen?“
Laura grinste schief und berichtete. „Es war ganz seltsam.
Er hat mich dazu gebracht, bis auf den Grund meiner
Gedanken zu sehen und vollends zu akzeptieren, dass ich
keine echte Elfin bin und niemals eine werde. Vorher war
der Gedanke nur in meinem Kopf, aber nicht in der Seele.
Verstehst Du? Und irgendwie ist es gar nicht schlimm! Denn
ich habe etwas Besseres gefunden als ein Leben zwischen
diesen naiven, oberflächlichen Elfen meines Dorfes. Aber
Du kennst deren affektiertes Gehabe ja selbst.“
„Schon. Aber was meinst Du mit ,etwas Besseres‘?“,
fragte Athónon und legte zweifelnd den Kopf schräg.
„Ich habe eine Aufgabe und neue Freunde“, lächelte sie.
„Und Dein Vater? Und Deine kleine Schwester?“, fragte
Athónon und sank unmerklich zusammen. Auch er hatte
seine Familie vor langer Zeit aufgegeben.
Lauras Lächeln verblasste. Leise erwiderte sie: „Die
werden weiterleben, wenn wir Erfolg haben. Dann kann
ich sie besuchen.“
„Deine Hand zittert“, stellte Athónon unvermittelt fest. 157
„Was, immer noch?“, rief Laura aufgebracht und
starrte auf ihre zitternden Finger. „Tatsächlich“, knurrte
sie mit einem unterdrückten Grinsen. „Dabei habe ich
heute noch kaum praktische Übungen mit Srrig machen
dürfen.“ Sie seufzte und griff ihren Teebecher mit der
anderen Hand. „Auf jeden Fall weiß ich seit vorhin, was
ein wirklich harter Schlag ist!“, grinste sie und hielt ihre
zitternde Hand hoch.
„Die Nachtelfen haben heißes Wasser zum Baden
aufgesetzt. Im Haus nebenan“, berichtete Athónon nun.
Laura schloss die Augen, legte genussvoll den Kopf in
den Nacken und stöhnte laut. „Oh ... baden! Ich sollte
gleich mitsamt dieser Kleidung in den Zuber steigen, aber
dann ist das Wasser sicher nicht mehr zu gebrauchen.“
Plötzlich fielen im Sekundentakt Kekse auf den Tisch.
Sie flogen aus Athónons Rucksack herüber. Nach dem
zehnten Keks sprang Taffi hinterher, hob einen Keks
mit beiden Händen zum Maul und starrte ihn gierig an.
„Bedient euch!“, krähte Taffi, dann biss er eine große
Kerbe in das Gebäck.
„Ich frage mich nur, wo Zeeris steckt“, murmelte
Athónon. „So lange war er noch nie fortgeblieben, seit wir
ihn von diesem Dämoniden in der Wüste freigekauft hatten.“

Nachdem der Tee getrunken und die Kekse gegessen


waren, folgte Laura den Dampfwolken aus dem
Nebenhaus. Am Eingang begegnete ihr Taren.
„Ich entschuldige mich für vorhin“, sagte sie sofort und
blickte ihm offenherzig in die Augen.
158 Taren nickte und lächelte dünn. „Schon gut. Ich hörte
bereits von Deinem Gespräch mit Srrig. Er war vor mir
hier, wir trafen uns.“
Zufrieden mit sich betrat Laura das Steinhaus. Sie
stand in einem Raum mit einem Bruchsteinkamin an
der Stirnseite und einem Bärenfell davor, das Laura
sofort an ihre oberweltliche Heimat erinnerte. Zu beiden
Seiten gingen Vorhänge ab und von rechts drang der
Wasserdampf herbei.
In der Mitte des Baderaums stand ein großer Holzzuber,
in den Tanétiel gerade heißes Wasser aus einem Ledereimer
goss. Durch das Fenster hielt ein anderer Junge den
nächsten Eimer parat. Draußen heizte ein Grubenfeuer
einen Kupferkessel.
Der Boden des Baderaums lag etwas höher als im
restlichen Haus, da er mit Holzstreben ausgelegt war. Durch
die Zwischenräume der Streben konnte überschwappendes
Wasser abfließen, außerdem war das glatt geschmirgelte
Holz angenehm an den Füßen, stellte Laura fest, nachdem
sie die Stiefel ausgezogen hatte.
Als sie gerade ihre leicht schmierigen Wollsocken – die
sie ja immerhin schon die ganze Reise über getragen hatte
– von ihren verschwitzten Füßen zerren wollte, entdeckte
sie links vom Türvorhang ein riesiges Stück polierten
Obsidians an der Wand. Der Anblick dieses schwarzen
Spiegels aus Vulkangestein zog Laura magisch herbei. Sie
stellte sich davor, wog kokett die Hüfte hin und her, zog
missbilligend den Bauch ein wenig ein und zupfte ihre
fettigen, verdreckten Locken zurecht. Sie wirbelte auf dem
Absatz herum. „Ist schon gut, Du kannst gehen“, sagte
Laura eilig zu Tanétiel. Wie ein Raubtier die Beute fixierte 159
sie das Wasser.
Der Junge schüttete noch einen letzten Eimer heißes
Wasser in den Zuber, dann sprang er mit wehender Mähne
durchs Fenster nach draußen.
Neben dem Zuber fielen Laura einige Kupferfläschchen
auf, während sie ihre unappetitlichen Socken zunächst
neben ihre Stiefel fallen ließ. Sie nahm sich vor, ihre
Kleidung später in einem einzelnen Eimer zu waschen und
lieber doch nicht mit in den Zuber zu nehmen.
Sie begutachtete die Fläschchen. Jedes enthielt einen
anderen Duft, einer angenehmer als der nächste, auch
wenn sie nicht alle erkannte. Das Kupfer machte das
Raten ohnehin schwerer, doch Rose, Fichte, Lavendel,
Steinklee und Zeder meinte sie zu erkennen. Sie mischte
einige Tropfen Rose und Steinklee im Zuber und stellte
fest, dass die Öle zusammen weniger gut harmonierten.
Also schüttete sie vom Steinklee-Öl besonders viel nach
und schmunzelte zufrieden.
Laura zerrte ihre Beinlinge vom Körper, streifte die
Tunika ab und warf beides achtlos zu ihren Stiefeln. Das
Lendentuch und das Brusttuch, das sie als Unterwäsche
getragen hatte, wiesen dicke Schweißränder auf, die sie
sich gar nicht genauer ansehen wollte. Sie ließ beides nur
noch fallen und hüpfte in den Zuber. Ihr Kopf sank auf
den Holzrand nach hinten. Sie schlang die Arme um den
Körper und schlief sofort ein.
Obwohl sie tief in ihrem Hinterkopf spürte, dass bereits
einige Albträume auf sie warteten, fühlte Laura sich so
wohl, dass sie vorerst keine bekam. Nur einmal wachte sie
160 kurz auf, als sie von draußen den verärgerten Ruf einer
fremden Stimme hörte: „He, Jungs, weg vom Fenster, lasst
die Frau in Ruhe!“
Nach einer Weile sah Laura im Traum jedoch ihre Mutter
Jade, wie sie in einem smaragdgrünen Kleid dastand,
das schwarze Haar halb im Gesicht, mit verweinten
Edelsteinaugen, denen sie ihren Namen verdankt hatte.
„Wie kannst Du Dich mit diesen Leuten einlassen?“,
raunte sie. „Ehrst Du so mein Andenken? Du trinkst Tee
mit Athónon, dabei hat er mich getötet! Du riskierst Dein
Leben für diese Betrügerin, für die schon ich gestorben
bin! Und jetzt haben sie Dir eingeredet, das wäre alles für
eine gute Sache und Du könntest daheim sowieso nicht
glücklich werden? Dein Vater und Deine kleine Schwester
warten auf Dich und sind krank vor Sorge! Ich hätte nicht
gedacht, dass man Dich so leicht beeinflussen kann. Auf
mich hast Du nie gehört!“
Erschrocken setzte Laura sich auf und atmete heftig.
„Vater!“, keuchte sie. „Wie konnte ich Dich so einfach
übergehen?“ Laura wollte schon aus dem Zuber springen,
da tauchte sie endlich auch ihre Haare unter, die bis eben
trocken geblieben waren. Kurz und heftig rubbelte sie
ihre Locken.
So schnell, wie sie sich aufgeregt hatte, beruhigte sie
sich aber wieder. „Das sind nicht meine Gedanken. Es
sind noch nicht einmal meine Albträume!“, flüsterte sie
mit großen Augen. „Raus aus meinem Kopf, wer immer
Du bist! Ich falle doch nicht zwei Mal auf denselben
Trick herein!“ Wütend sah sie sich um. Natürlich war
niemand da. Doch Laura lächelte dünn, denn dies war
auch eine Form von Kampf – den sie soeben gewonnen 161
hatte. Zufrieden legte sie sich wieder ins warme,
duftende Wasser.

Missmutig kniete Taren vor einem kleinen Zuber und


rubbelte seine Kleidung auf einem Waschbrett sauber.
Tanétiel, der Elfenjunge, der ihm das heiße Wasser
gebracht hatte, starrte den nackten Oberkörper des
Menschen unverhohlen an.
„Wartest Du auf etwas?“, brummte Taren und blickte
kurz auf.
„Du bist ganz haarig! Und Dein runder Bauch hängt
über den Hosenbund“, stellte Tanétiel mit der Ehrlichkeit
eines Kindes fest.
Taren hielt inne und sah den Elfenjungen finster an.
Doch plötzlich grinste er dünn.
Taren hatte schon vor Nenúriel Gerüchte darüber gehört,
dass Elfen allesamt gertenschlank und nur auf dem Kopf
behaart seien. Als Taren die Nachtelfin das erste Mal zu
küssen begonnen hatte, schämte er sich plötzlich für seinen
ausladenden Vorbau. Nicht dass er fett gewesen wäre, aber
ein Krieger aß eben viel und gern, und als zu beleibt galt ein
Krieger in Silberberg erst, wenn man die Bauchmuskeln nicht
mehr auf der Wölbung sehen konnte. Überhaupt galt es in
seiner Heimat als unmännlich, sich allzu sehr um das eigene
Aussehen zu kümmern.
Als Nenúriels Taille in seinen großen Händen förmlich
verschwunden war, hatte er plötzlich innegehalten. Irritiert
hatte sie ihn gefragt: „Was hast Du? Mache ich etwas falsch?“
Taren antwortete nicht, sondern strich sich über den Bauch.
162 „Du bist süß“, hatte sie darauf bloß erwidert. Neugierig war
sie mit den Fingern von seinem Nabel bis zur Brust gefahren
und hatte dabei beobachtet, wie sich die schwarzen, kurzen
Haare um ihre Fingerspitzen schlängelten. „Scheint harmlos
zu sein“, hatte sie geflüstert und ihr Experiment mit den
Lippen wiederholt.
Taren ertappte sich dabei, dass er eine scheinbare
Ewigkeit über dem kleinen Waschzuber gehangen und mit
gequältem Blick ins Leere gestarrt hatte.
Tanétiel trat von einem Fuß auf den anderen und legte
die Hände ineinander. „Herr? Ist alles in Ordnung?“,
fragte er zögerlich.
Taren rubbelte wieder energisch seine Tunika über das
Holz. „Ja, alles bestens. Danke für das Wasser“, brummte
er leise.
Srrig kam herein und fragte ohne Umschweife:
„Du bist doch Tempelkrieger, Taren. Kannst Du eine
Dämonenaustreibung durchführen?“
Taren rieb die Tunika immer langsamer über das
Waschbrett, während er ausdruckslos ins Wasser starrte.
Mit einer zähen Bewegung drehte er Srrig den Kopf zu.
„Dämonenaustreibung?“, presste er mit heiserer Stimme
hervor. Als er sah, dass Srrig es ernst meinte, weiteten sich
seine Augen und sein Kiefer fiel herab.
„Dämonenaustreibung?“, wisperte auch Tanétiel
furchtsam, legte den Kopf in den Nacken und starrte zu
dem Tigermann empor.
„Oh doch. Du wirst tun, was ich befehle!“, schrie 163
Kanzler Rogáril. Der Dämon raste auf Mèra zu, aber es
gab keinen Fluchtweg. Ihr gellender Schrei riss ab, als sie
von der Schwärze durchdrungen wurde.
Ihre dünnen Glieder zitterten, als sie sich langsam mit
den Händen vom Fels hochdrückte. Sie roch Nachtluft,
Schnee und nassen Stein, das Haar hing ihr ins Gesicht.
Endlich hatte sie sich wackelig auf die Füße gearbeitet und
hob den Kopf. Sie stank nach Schweiß und Angst ... wie
eine Sterbliche.
Mèra war nackt und allein. Eiseskälte schnitt in
ihre Haut, ihre Zehen kribbelten taub. Weit und breit
gab es nichts als nasse Felsen, die in die finstere Nacht
aufragten. Kein Sternenlicht flackerte, kein Mond
leuchtete ihr. Mèra zitterte heftig, rieb sich vergeblich
über Arme und Beine und suchte den schwarzfelsigen
Horizont ab. Blasse Atemwölkchen wehten unruhig aus
ihrem Mund. Ihre nackten Eisfüße rieben abwechselnd
ihre Waden.
„Komm hierher!“, rief eine Stimme zwischen den
Felsen, weit entfernt von ihr.
Sie schüttelte ängstlich den Kopf und wich zurück,
taumelte vor Schwäche. Gleichzeitig knurrte ihr Magen.
Mutlos schloss sie die Lider und fuhr sich mit der Hand
durchs Haar.
„Das ist nur das Fieber oder der nahende Tod. Dies alles
ist nicht wirklich“, sagte sie laut. Ihre Stimme vibrierte vor
Anstrengung.
„Komm hierher!“, rief die ferne Stimme wieder,
diesmal eindringlicher.
164 Mèra stolperte zurück, riss sich die Haut der Zehen auf
und stürzte schmerzvoll auf den Stein. Sie blieb liegen und
schluchzte leise.
Plötzlich legte ihr jemand eine warme Decke um die
schmalen Schultern und sprach ihr sanft ins Ohr: „Komm
mit uns ins Warme, Du hast sicher Hunger.“
Zwei Nachtelfen hatten Mèra gefunden und halfen
ihr auf die Füße. Schweigend schlang sie die Decke um
den Körper und ließ sich zu einer ganzen Gruppe von
Nachtelfen bringen. Männer, Frauen und Kinder hielten
magische Lichter hoch und blickten Mèra freundlich
entgegen. Zweifellos wussten sie nicht, dass die gefallene
Halbgöttin am Schicksal der Nachtelfen Schuld war, in
ständiger Dunkelheit leben zu müssen.
„Komm hierher!“, hörte sie abermals die Stimme hinter
sich, noch viel ferner als zuvor. Der Weg zur Stimme wäre
steil und steinig gewesen. Doch die Nachtelfen mit ihrer
Nahrung und ihren Decken waren direkt bei Mèra. Sie
durften nur nie erfahren, wer sie war.
Die Nachtelfen folgten engen Tunneln voller Fleder-
mausschwärme und Spinnweben. Die Wände und die
Decken der Tunnel wurden von uraltem Gebälk gestützt,
deren Erbauer schon lange vergessen waren. Sie gingen in
die Tiefe.
Mèra ließ sich stumm mit den Nachtelfen treiben.
Sie hatte ihre Sprache verloren, als sie die Nahrung der
Nachtelfen gierig verschlungen hatte. Ihre neue Sippe
hatte ihr auch Kleidung geschenkt und gab ihr immer
wieder Nahrung, und alles was sie dafür tun musste, war
beim Lagerfeuer die Laute zu spielen. Sie spielte auf der
Laute eines toten Halbelfen, dessen Namen sie vergessen 165
hatte. Sie sang nicht, sie hatte keine Stimme mehr, aber ihr
wehmütiges, meisterliches Lautenspiel verzauberte jeden
Zuhörer – und zwar um so mehr, je tiefer das Volk in die
Höhlen hinabging.
In der Dunkelheit war Mèra blind geworden, doch sie
musste nichts sehen. Sie spielte immerfort nur die Laute,
wenn ihre Sippe nicht gerade weitermarschierte, immer
tiefer in die Erde hinein. Stets waren sie auf der Flucht
vor Feinden, die Mèra nicht mehr kannte. Sie umarmte
die Laute sogar im Schlaf, damit sie spielen konnte, wenn
sie Angst bekam. Ihre Welt wurde immer kleiner und
einfacher. Andere kämpften und starben für sie. Sie wurde
die zweite Gefährtin des Anführers und blieb die meiste
Zeit in seinem Bett.
Ihre Sippe ließ sich schließlich in der Nachbarschaft
Inzucht treibender, tumber Schlangenmenschen nieder,
die auf dem Bauch umherkrochen und geistlos heulten.
Die Nachtelfen gaben ihnen Nahrung und gelegentlich ein
Blutopfer, dafür halfen die klügeren Schlangenmenschen
der Sippe im Kampf. Durch dieses Bündnis mussten die
Nachtelfen nicht länger auf der Flucht leben.
Als Mèras Musik längst alle auswendig kannten und
der Anführer ihrer Nähe überdrüssig wurde, war sie an
der Reihe, den Schlangenmenschen geopfert zu werden,
denn sie konnte nichts außer ihrer Musik für die Sippe
beisteuern und war stumm und blind.
„Komm hierher!“, rief da jene Stimme aus der Ferne,
die sie vor langer Zeit schon einmal in den Felsen
gehört hatte. Dieses Mal hatte sie jedoch nichts zu
166 verlieren und rannte blind davon, nur von der Stimme
geleitet. Sie brach sich die Zehen an spitzen Felskanten,
schlug mit der Stirn gegen Hindernisse und riss sich bei
Stürzen auf Eisesglätte Knie und Ellbogen auf. Aber sie
hielt nicht an.
Mit jedem Schritt wurden ihre Gedanken wieder
klarer und kehrte ihre Sicht zurück, nur sprechen konnte
sie nicht.
Unbequemen Wahrheiten entfloh man gern, doch
änderten sie sich davon nicht und jedes Fliehen machte
den Flüchtigen ängstlicher. Der Preis der Umkehr wurde
zudem immer größer, je länger man sich etwas vormachte.
Und Mèra machte sich vieles vor ...
Der Rufer, der Mèra gerettet hatte, war Randolph,
König der Menschen im Glorreichen Zeitalter. Er stand
als ruhiger Riese vor ihr mit langen braunen Haaren
und Muskelbergen, die sogar die von Srrig übertrafen.
Ein unmerklicher Duft von Wald und Moos umgab ihn.
Tiefe Sorgenfalten hatten sein nobles Gesicht gezeichnet,
doch auch nach all den Jahrhunderten loderte in seinen
dunklen Augenhöhlen noch Feuer. Wie immer war sein
Gesicht gänzlich glatt rasiert; das war sein persönliches
Symbol für die Macht der Ordnung, die Menschen allen
Dingen geben konnten.
Hinter Randolph stand T’ral – der Feuerbringer.
Er war eine archaische Gestalt, die vielen primitiven
Völkern schon lange vor dem Glorreichen Zeitalter als
Gott erschienen war. Die Amdovenn hatten ihn für einen
anderen Krieg erschaffen, Jahrtausende bevor sie sich
erstmals Hevanor zuwandten. Als vierter König, Anführer
der dämonidischen Rebellion auf Hevanor, hatte er sich 167
Mèra, Randolph und Srrig angeschlossen. Mèra zog sich
unwillkürlich zurück.
Aus der zerschlissenen Kutte des Dämoniden stieg
Rauch auf und der Gestank brennenden Fleisches.
Seine Klauen hielten einen verkohlten Stab, auf den er
seinen verkrümmten Körper stützte. Sein Kopf ähnelte
dem eines Chimäriers, doch glichen seine Schuppen
glühenden Kohlen. Das Schlimme an T’rals Äußerem
waren die blutroten Schlangenaugen, die jeden Betrachter
wie Feuer berührten.
„Was ist? Sag was!“, knurrte T’ral bloß mit verzerrter
Stimme. Mèra konnte nicht antworten. Als sie wimmernd
vor seine Füße stürzte, schüttelte er verächtlich den Kopf
und hinkte davon. Er setzte sich auf einen Thron aus
Knochen von Nachtelfen und Schlangenmenschen. Seine
lodernden Augen sahen kalt auf Mèra und Randolph herab.
„Bringt beide weg!“, hörte Mèra seine Dämonenstimme
von den Wänden widerhallen. Wo Srrig war, wusste sie
nicht. Randolph legte ihr eine Hand auf die Schulter und
sagte mit fester Stimme: „Vergiss nicht, Du hast trotzdem
den richtigen Weg eingeschlagen.“
Sie würden Randolph nicht befreien. Plötzlich
wusste Mèra es, auch wenn sie den Grund noch nicht
verstand. Doch sie würden ihn zurücklassen. Noch eine
unbequeme Wahrheit.
Mèra spurtete in die Regennacht hinaus und erreichte
einen schmalen Pfad. Grabhügel waren daran aufgereiht.
In kleine, flache Gedenksteine waren die Gesichter der
Verstorbenen mit Säure graviert.
168 Mèra erkannte Jades Gesicht auf dem ersten Grab. Sie
blieb kaum stehen und eilte traurig weiter. Regen wurde
zu Schnee, dazu schnitt eisiger Wind wie ein Messer durch
ihr Gesicht. Obwohl sie das blaue Glimmen der Nacht
sonst genoss, fühlte sie sich hier nur von unheilvollen
Schatten belauert.
Das zweite Grab war Lauras. Mèra stockte und kam
näher. „Nein, nicht auch Du!“, flehte sie gen Himmel. Der
Schneeregen wurde stärker, längst war Mèra durchnässt
und zitterte vor Kälte. Kleine Hagelkörner wurden ihr
vom Eiswind in die Augen geschleudert.
Sie schlang die Arme eng um den Körper und stapfte
weiter, einem anschwellenden Schneesturm entgegen.
Am dritten Grab lag ein Stein mit Athónons Gesicht.
Taub vor Kälte und Schmerz fiel Mèra auf die Knie. Sie
hielt sich die Hände vors Gesicht und versuchte vergeblich
zu schreien. „Du hattest von uns allen das größte Herz“,
schluchzte sie leise.
Das letzte Grab war ihr eigenes. Mèra schleppte sich mit
letzter Kraft darauf und brach zusammen. Sie kämpfte nicht
länger gegen die Kälte und den inneren Schmerz an, die sie
langsam töteten. Schneeflocken begannen sie zu bedecken.
„Willst Du es wirklich so enden lassen? Du hast immer
noch eine Wahl“, hörte sie eine entrückte Stimme hinter
sich. Die Schneeflocken glitzerten in einem unruhigen
Licht, das Mèra wie eine Decke umspielte und wärmte. Sie
wandte den Kopf herum. Erst wurden ihre Augen immer
größer, doch dann lächelte sie.
Das fremde Licht verströmte Lebenskraft, so fehl am
Platz es auch in der seltsamen Winternacht anmutete. Eine
andere Stimme aus der Mitte der Präsenz sang: „In den 169
Dahnrud hast Du Dich geirrt. Es ist nicht unser Interesse,
das Äußere Volk nach Hevanor eindringen zu lassen. Noch
ist es unser Interesse, Dich und Deine Begleiter zu quälen.
Doch sind wir nur wenige und können den Krieg nicht
allein auskämpfen. Noch können wir Deine Gefährten
von ihrem Schicksal und den eigenen Wegen Eurer Götter
entbinden. Aber Deine Gefährten könnten bei Srrig sicher
sein. Du könntest mit uns kommen und den verdienten
Frieden finden. Oder aber wir geben Dir Deine alte Kraft
zurück und Du begleitest Deine Freunde weiter, so schwer
der Weg auch werden mag. Es ist Deine Wahl! Sie rufen
schon nach Dir und bekämpfen den Amdovenn. Doch
allein werden sie keinen Erfolg haben. Eine Seele werden
wir heute mitnehmen, Deine oder Rogárils. Aber welche,
das entscheidest nun Du.“
170 11
Srrig und Taren standen vor Mèras Lager, auf dem die
Elfin sich unruhig hin und her warf. Safériel kniete neben
ihr, tupfte immer wieder kalten Schweiß von der Stirn und
benetzte Mèras Lippen mit Wasser aus einem Eimer, den
Tanétiel gebracht hatte. Auch der Junge stand im Zimmer,
allerdings hinter Taren und von tiefer Furcht gezeichnet.
„Was immer sie hat, es kann kein Dämon sein.
Dämonen können Hevanor nicht betreten, auch nicht als
körperlose Präsenzen“, erklärte Taren voller Überzeugung.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und richtete den
Blick starr auf Srrig. „Unser Widersacher mag ein astraler
Diener des Drachen sein, aber kein Amdovenn. Dieses
Volk wurde vor zwei Jahrtausenden verbannt.“
Der Tigermann sah düster zum Tempelkrieger hinab.
„Glaub es mir, mein Freund. In diesem Körper kämpfen
gerade zwei Seelen miteinander, und die eine gehört nicht
nach Hevanor“, raunte er.
Taren seufzte leise. „Ich habe Legenden und Märchen
über Dämonenaustreibungen gehört, aber ich habe so
etwas noch nie gemacht“, gab er kleinlaut zu. „In ganz
Silberberg gibt es nur zwei Hohepriester, die sich damit
auskennen. Bisher habe ich die immer nur belächelt.“ Mit
unterschwelliger Furcht in den Augen fragte er Srrig: „Wie
ist das möglich? Wie lange sind die Dämonen schon unter
uns, ohne dass Tempelanhänger wie ich es wissen? Wissen
es wenigstens die Hohepriester?“
Schatten huschten über Srrigs grimmige Züge. Alte
Schatten eines vergangenen Zeitalters, aus denen Srrig ein
Relikt war. Anstatt eine Antwort zu geben, musterte er 171
Mèra in ihrem Fieberschlaf. Sie sind nie ganz fort gewesen. So
gut waren wir nicht ... Ihr solltet nur nicht in Furcht vor ihnen
leben. Wir schufen eigene Diener für den Krieg und weihten
nur wenige andere Sterbliche ein. Der Königskult entstand.
Theb Nor gehörte auch dazu, doch er brach das Schweigen ...
„Ihre Lippen werden schon blau und ihre Haut ist ganz
weiß!“, jammerte Safériel. Resigniert warf sie das Tuch
in den Eimer, mit dem sie Mèras Stirn abgetupft hatte.
„Außerdem wird sie immer kälter. Würde sie still daliegen,
ich würde sie für tot halten.“
Srrig sah eindringlich zu Taren. „Du musst ihr doch
irgendwie helfen können! Bitte Deinen Gott um Beistand
für sie!“, verlangte er. Srrig glaubte keinen Moment, dass
Taren mit einem magischen Gebet wirklich einen Kontakt
zu den Göttern herstellen konnte. Vielmehr war er so
freundlich, die Worte so zu wählen, wie der Tempelkrieger
es aufgrund seines Glaubens gern hörte.
Taren seufzte durch die Nase und kniete sich neben
Mèra. Er nahm ihre Hand – und zögerte, denn sie war kalt.
Düster ins Leere starrend, schloss Taren beide Hände um
Mèras totengleiche Hand und begann zu murmeln. Da
er kein echter Priester war, besaß er keinerlei Hilfsmittel,
um solch eine Prozedur zu unterstützen. Er kannte keine
heiligen Symbole für diesen Zweck und auch keine
passenden Gesänge. Zudem fühlte er sich ohne den Anblick
des Mondes unsicher; größere Rituale hätte der Diener des
Nachtgottes normalerweise nur im Schein des Vollmonds
versucht. Taren hatte nichts als den unerschütterten
Glauben daran, dass er diese Elfin retten musste.
172 Taren betete leise, wie es in seinem Tempel üblich war.
Doch seine Worte wählte er inbrünstig. „Oh, mein Bruder
Mond! Dein ärgster Feind hat diese Streiterin für das Gute
überfallen, er hält ihre Seele gefangen und martert sie
zu Tode. Befreie sie von dem ... Dämon. Kräftige ihren
Körper, sodass sie ihre heilige Mission erfüllen kann.“
Mèra riss die zuckenden Augen auf. Sie wollte ihre Hand
aus Tarens reißen, doch der Mensch hielt sie eisern fest.
„Daraus wird nichts, Menschlein!“, schrie Mèras
Körper mit Rogárils Stimme. „Ich bleibe hier! Ich werde
Euch töten oder Ihr müsst mich töten – doch dann verliert
Ihr auch Mèra!“ Der Kanzler lachte schrill. „Wunderbar!
Das hat schon bei dieser Nachtelfin funktioniert, und
jetzt funktioniert es sogar mit Mèra! Wie auch immer, Ihr
verliert den Kampf!“
„Haltet sie fest!“, befahl Taren. Mèra versuchte
aufzustehen. Srrig sprang neben Safériel und drückte Mèras
Kopf und ihren anderen Arm zu Boden. Sie strampelte
wild mit den Beinen, während Taren eindringlich weiter
für ihre Seele betete.
Angelockt vom Geschrei, stürmte auch Athónon
mit Taffi ins Zimmer, gefolgt von Brommil und dem
donnernd aufstampfenden Paaldrag. Nur Laura lag noch
im Badezuber und bekam vom Geschehen nichts mit.

Mèra schob sich mühsam auf die Knie und blickte auf
die anderen Gräber zurück, insbesondere auf die Gräber
von Laura und Athónon, von denen sie spürte, dass die
beiden im Moment noch lebten. Hoffnungsvoll blickte
die Elfin in das unwirkliche Licht der Dahnrud. „Und ich
werde wieder die echte Mèra sein, wenn ich mich für die 173
Lebenden entscheide?“, raunte sie demütig.

Obwohl Paaldrag die Beine festhielt und die Elfin sich


kaum noch bewegen konnte, schrie Mèra und bäumte
sich auf.
„Was können wir tun?“, fragte Athónon ruhig und sah
Srrig an.
Dessen bittere Miene gab eine Antwort, die niemandem
gefiel. Gerade als Athónon nickte und die Hand an den
Schwertgriff legte, sprang Taffi auf Mèras Bauch und
schrie die anderen mit erstaunlicher Lautstärke an: „Das
ist nicht Euer Ernst! Es gibt einen anderen Weg – wir
müssen ihn nur finden!“
Mutlos flüsterte Srrig: „Ich wünschte, es wäre so. Doch
wir haben anscheinend keine Möglichkeit, den Dämon
loszuwerden.“
„So werden wir ihn aber auch nicht los!“, schrie Taffi
aufgebracht. „Er wird in die nächste Leiche fahren! Das
wird immer so weitergehen, das musst Du doch sehen! Und
Mèras Entweihung kannst Du nicht rückgängig machen!“
Schlagartig wurde der dürre Elfenkörper schlaff. Mèra
schloss die Augen und atmete immer ruhiger, bis sie
friedlich schlief.
Safériel richtete sich hinter Srrig auf. Verwundert
erklärte sie: „Ich habe dieses ungute Gefühl verloren, das
der Dämon vorher verursachte.“
Taren machte ein Auge auf und sah skeptisch hoch.
„An meinem Gebet hat es wohl nicht gelegen. Jedenfalls
hatte ich nicht das Gefühl, dass ich schon zu dem Dämon
174 durchgedrungen wäre.“ Er öffnete auch das andere Auge,
bog den Rücken gerade und atmete durch.
Srrig ließ Mèra nicht aus den Augen. Der Halbgott
erhob sich und trat ans Fenster, um nach draußen zu
spähen. „Scheint alles ruhig zu sein“, murmelte er.
„Wenn der Dämon so einfach fort sein sollte, plant er
etwas“, sprach Athónon Srrigs Sorge aus.
Paaldrag ließ Mèras Beine los. Seine Pranken schwebten
aber noch über ihren Knöcheln, so als erwartete er, dass
die Elfin wieder loswütete und nur darauf gewartet hatte,
losgelassen zu werden.
Srrig kniete sich neben Mèra und strich ihr liebevoll
über Wange und Ohr. Sie schmiegte im Schlaf ihr
Gesicht in seine Hand und lächelte schwach. Ihre Haut
färbte sich wieder.
Der Tigermann fasste Mèras Schulter und rüttelte sacht
daran. Die Elfin schlug tatsächlich die Augen auf und
erwiderte glücklich seinen besorgten Blick.
„Die Dahnrud haben Rogáril mitgenommen“, raunte
Mèra. Tarens Augen weiteten sich sofort und sein Kiefer
sank herab. Paaldrag und Brommil blickten neugierig
und etwas verwirrt drein, während Srrig, Taffi und sogar
Athónon zu lächeln begannen.
Mèra strich sich durch ihr goldenes Haar. Erst jetzt
bemerkte Srrig, wie die grauen Strähnen verschwanden.
Auch die Fältchen in Mèras Gesicht glätteten sich; beinahe
schon besaß sie wieder ihre jugendliche Schönheit von
einst, bevor ihr Seelengefäß zerbrochen war.
Sie sah sich im Raum um und musterte jeden Einzelnen,
auch Taffi auf ihrem Bauch. Plötzlich schwand ihr Lächeln.
„Wo ist Laura?“, fragte sie ahnungsvoll. Srrig beruhigte sie: 175
„Im Badezuber eingeschlafen, nehme ich an.“
Paaldrag und Brommil wechselten stumme Blicke.
Schließlich räusperte Brommil sich und fragte: „Vielleicht bin
ich ja nur ein dummer Zwerg, aber ... wer sind die Dahnrud?“
Taffi straffte feierlich den Hals und reckte das Kinn,
sichtlich von Stolz erfüllt. „Die großen Brüder der Götter!“,
antwortete er.

Cerýllion kniete in einer Flut kalten Silberlichts. Sein


linker Fuß zitterte heftig, ansonsten zwang er seinen
Körper zur Reglosigkeit. Er hielt den Kopf gesenkt und
sprach: „Mein Gebieter! Dieser Gedankenzauber wird
keine Spuren bis zu Euch hinterlassen.“
„Dann berichte“, forderte Schattenwacht.
Cerýllion schluckte. „Die Dahnrud haben Kanzler
Rogáril gefangen. Mèra lebt noch, und der Feind weiß
nun von Rogáril und mir. Sie wollen die Nachtelfen in
die Tiefe begleiten und T’ral befreien.“ Cerýllions feine
Gesichtszüge ermatteten. Nun erwartete er sein Urteil.
„Also eine Niederlage, die Du auf ganzer Linie
eingefahren hast, Schüler!“, zischte der Drache. Jede Silbe
stach wie eine Klinge ins Herz. „Kaum hat der Kanzler
einen tiefer greifenden Zugriff auf Hevanor erlangt als nur
Kommunikation, da wird er schon erwischt. Von einer
Truppenstationierung der Amdovenn sind wir nun wieder
weit entfernt. Und die Nachtelfen im Operationsgebiet
wurden auch nicht vollständig vernichtet.“
176 „Noch kann der Feind nichts ausrichten“, widersprach
Cerýllion leise. Sein linker Fuß zitterte heftiger.
„Sie dürfen T’ral nicht erreichen. Er ist Dir nach wie
vor überlegen, ob Du das wahrhaben willst oder nicht. Mit
T’ral werden sie bis zu mir durchkommen. Wenn sie mir
aber zu nahe kommen und herausfinden, was ich vorhabe,
werden die Götter und die Dahnrud mich angreifen. Das
darf keinesfalls passieren! Genauso ist es, wenn ich Srrig
und Mèra persönlich angreife; ich stehe unter Beobachtung,
wie Du weißt. Selbst diese angeblich spurlose Verbindung
hier sollte nicht zu lange bestehen. Also: Ich erwarte mehr
Erfolg bei Deinem nächsten Plan. Fang sofort an, warte
nicht darauf, ob ich Rogáril freibekomme oder ob jemand
anderes seinen Platz einnimmt.“
„Ja, mein Gebieter.“
Wie ein unnatürlich schneller Sonnenuntergang
verdunkelte sich der Raum, als das Silberfeld verblasste.
In den vier Ecken loderten jedoch Feuerkugeln auf und
erhellten die Bruchsteinwände wieder. Cerýllion befand
sich in einem leeren Turmzimmer. Finsternis lauerte vor
den winzigen Fenstern. Auf dem Boden verblassten Reste
von Ritualkreisen, gezeichnet aus Blut und Kreide.
Cerýllion erhob sich mit einer fließenden Bewegung und
folgte flachen Stufen den quadratischen Turm hinab. Im
Gehen bemerkte er einen Riss im Gestein. Er wischte mit
der Hand darüber und der Riss verschwand. Nachdenklich
blieb Cerýllion stehen. Er drehte sich noch einmal um,
verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den
Ritualraum. Mit den Fingern einer Hand fuhr er sich am
Kinn entlang und schürzte die Lippen, bis er schließlich
lächelte und mit den Fingern schnippte. Roter Wandputz 177
kleidete das Innere nun aus, die Fenster wurden dick
schwarz umrandet. Der Boden war auf einmal mit einem
bunten Teppich der Tigermenschen ausgelegt, und auch
die neuen Kissen in den Ecken entsprachen diesem Stil.
Schmunzelnd spazierte Cerýllion weiter die Wendeltreppe
hinab. Hinter ihm erloschen die Feuerkugeln.
Im darunterliegenden Turmzimmer, das in Geruch und
Ausstattung einer Kerkerzelle glich, hing ein augenloser
Tiefenweltler an Ketten an der Wand. Als er Cerýllion
hörte, knurrte er: „Wer immer Du bist, das wird Dir noch
leidtun! Meine Leute werden die Festung zurückerobern!
Für alles wirst Du bezahlen!“
Cerýllion ignorierte den Gefangenen und schlenderte
weiter hinab ins unterste Turmzimmer. Hier standen vier
messingbeschlagene Holztruhen in der Mitte, ein heller
Schreibtisch und ein Haufen mit Kleidung und Decken.
Die Truhendeckel standen offen. Eine Truhe enthielt
unförmige Münzen aus Gold und Silber sowie klobigen
Schmuck aus Bronze, Eisen und Messing, verziert
mit Türkisen, Glas, Bernsteinen und ungeschliffenen
Edelsteinsplittern. Die anderen drei enthielten unnützen
Plunder, bunte Kleider, Fibeln und Armreife aus Kupfer,
Zierrat aus Alabaster und Knochen, Geschirr aus Silber,
Holz und Obsidian.

Am Fuß der Turmtreppe erwarteten den Elfen zwei


vieläugige, besonders haarige Sporks, bei denen die
Spinnenbeine auf dem Rücken kurz geraten waren. Ihre
orkische Herkunft, bevor sie in einem chimärischen
178 Labor mit Vogelspinnen gekreuzt worden waren, erkannte
Cerýllion sofort an Geruch, Gebiss und Muskulatur. Der
Elf blieb vor ihnen stehen. Die Sporks warfen ihm eine
nackte Tiefenweltlerin vor die Füße, wo sie zitternd kniete.
Ihr kahler Schädel glich dem Leib einer Smaragdnatter,
ihre Schuppung verlor sich die Wirbelsäule hinab jedoch
mehr und mehr.
„Sie hat alles gestanden, Herr“, gab ein Spork von
sich; seine Stimme fiepte zwischen den Silben, der
Spinnenkiefer arbeitete beim Sprechen. „Ihr Volk hat sich
in der unterirdischen Feste nur zum Leben niedergelassen.
Von der magischen Forschung des Imperiums hier wussten
sie nicht mehr als wir.“
Der andere Spork ergänzte sabbernd: „Klom ist so klug!
Er hat alles aus Kopf von quiekender Frau bekommen!“
„Halt ’s Maul!“, zischte Klom zur Seite.
Cerýllions ruhiger Blick lag auf der zitternden Frau. Bis
auf ein paar Schürfwunden und ein blaues Auge schien sie
nicht weiter verletzt zu sein, wenn auch innerlich zerbrochen.
Für einen Moment überlegte Cerýllion, ob er sich zur
Abwechslung mal wieder mit einer echten Frau aus Fleisch
und Blut vergnügen sollte, statt sich seiner meisterhaften
Trugbildmagie zu bedienen. Seine Grausamkeit konnte er
schon lange nicht mehr wahrnehmen, und er hatte alle
getötet, die ihm einen Spiegel hätten vorhalten können.
Der dümmere der beiden Sporks sabberte und gluckste,
während all seine Augen von der trainierten Anatomie der
Gefangenen gefesselt wurden.
„Sie kommt in den alten Vorratskeller zu allen anderen“,
befahl Cerýllion abfällig. „Klom, Du kommst mit mir, wir
müssen die Spähtrupps einteilen.“ 179
„Ja, Herr!“, riefen die Sporks.

Cerýllion spazierte weiter, gefolgt von Klom. Der


andere Spork führte die apathische Gefangene ab.
Sie durchschritten einen großen Steinsaal, der von
Eichentischen und Kohlenbecken flankiert wurde. Die
Kohlenbecken waren jedoch nicht entzündet, stattdessen
schwebten magische, rauchlose Feuerkugeln über ihnen.
„Wenn ich ,unversehrt‘ sage, dann meine ich das
wörtlich!“, zischte Cerýllion in Kloms Ohr.
„Aber so ging das Verhör viel schneller, wenn Ihr es
schon nicht mit Eurer Magie gemacht habt“, murmelte
Klom verständnislos. „Hätte nicht gedacht, dass Ihr
edelmütig seid ...“
Ein magischer Schmerz explodierte in Kloms Kopf,
verschwand aber gleich wieder. „Du sollst nicht denken!“,
zischte Cerýllion giftig. „Du musst meine Gründe nicht
verstehen“, fügte er gelassener hinzu.
Er war nicht wirklich wütend, er hatte die Unglückliche
den Sporks bei diesem überflüssigen Verhör überlassen,
um seine Diener loyal zu halten. Insbesondere Kloms
Kerkermeister und Verhörpartner würde dem Elfen noch
lange dankbar sein. Alle ihm wichtigen Informationen
hatte Cerýllion längst von dem Mann, der noch in Ketten
im Turm hing.

Vor dem geschlossenen Festungsgitter kam Cerýllion


und Klom eine hagere, baumlange Gestalt entgegen.
Schwarzes Fell hing verfilzt an dem Wesen herab. Sein
180 Trollgesicht war verwest und an einigen Teilen bedeckten
die verfaulten Hautfetzen nicht länger die gelben Knochen.
Seine Pranken und bleichen Krallen wirkten bedrohlich
wie überlange Dolche. Seine Augen stachen gefährlich
aus tiefen Höhlen. Sie sprachen von den Schrecken des
Grabs und des Totenreiches; von einem Wesen, das allen
körperlichen Spuren zum Trotz dem Gott des Todes
entkommen war. Vielleicht hatte es als Geist Jahrhundert
um Jahrhundert an seinem Grab verbracht, ohne Sinn
oder Ziel, ohne Körper, nur ein heulender Schmerz.
Die Wiedergekehrten konnten dumpfe Zombies oder
Erzschurken sein. Aber harmlos waren sie nie.
Cerýllion und Klom blieben stehen. Klom senkte sogar
das Haupt ein wenig. Cerýllion stemmte die Hände in die
Hüfte, schob die magere Elfenbrust vor und lächelte.
Der Geistertroll knurrte: „Danke, dass Du mich befreit
hast, Elf. Brauchst Du noch einen Gefolgsmann?“ Seine
Stimme spukte durch den Saal.
„Aber gern“, grinste Cerýllion. „Wie heißt Du?“
Kloms Spinnenkiefer klappte auf, als all seine Augen
sich wieder hoben und den Geistertroll betrachteten.
Das also hatte sein Herr am Vortag in dem tiefen
Gewölbe gefunden, was ihn so gut gestimmt hatte. Einen
leibhaftigen Wiedergekehrten.
Der Geistertroll grollte: „Meine Nummer war 16. Aber
Nachtmahr würde mir als Name besser gefallen.“
„Also gut, Nachtmahr, ich bin Cerýllion. Neben mir
steht Klom, der Zweite der Sporks nach Hauptmann
Gaal. Komm mit, ich wollte gerade ein paar Spähtrupps
einteilen lassen.“
Cerýllion hätte gern gewusst, wie alt der Wiedergekehrte 181
war, was er alles gesehen hatte vom Wandel der Zeiten.
Doch manche Dinge fragte man solch ein Wesen besser nie.

Der Elf machte eine lapidare Handbewegung und das


Festungsgitter öffnete sich. In der dunklen Höhle davor
standen in Reih und Glied gut zwei Dutzend Sporks
mit Speeren. Vor ihnen stand ein riesiger Spork in einem
Eisenpanzer. Seine Spinnenbeine schmiegten sich um
einen Schild auf seinem Rücken, während er in der Faust
ein gezacktes Schwert hielt. Klom und Nachtmahr folgten
Cerýllion bis zum gepanzerten Spork.
„Herr! Eure Kampftruppe ist vollzählig angetreten!“,
zischte Hauptmann Gaal böse. In seinen zahllosen Augen,
von denen einige bis zu seinem breiten Hals hinabreichten,
lag ein infernalisches Glühen.
„Sehr gut“, nickte Cerýllion ausdruckslos. „Klom
wird nun Männer für Spähtrupps einteilen, aber vorher
wirst Du, Gaal, Dir die fünf wachsamsten aussuchen, die
zur Verteidigung mit Dir hierbleiben. Der Geistertroll
Nachtmahr wird mit Klom den Spähtrupp in den Gang
nach Süden begleiten, denn von dort erwarte ich am
ehesten, dass man uns angreifen wird.“
Gaal blickte zu dem Geistertroll auf. Er schwieg einen
Moment unbewegt, bevor er Cerýllions Befehl nachkam.

Laura rubbelte in Tanétiels Schöpfeimer gerade ihre


Unterkleidungs-Tücher sauber, als Mèra ihren Namen
182 von draußen rief. „Ich bin gleich fertig!“, erwiderte Laura
schuldbewusst; zwar konnte sie den Sonnenstand in der
Höhle nicht sehen, doch sie hatte das Gefühl, dass sie aus
purer Erschöpfung recht lange im Zuber geschlafen hatte.
Das Wasser war kalt.
„Ich habe etwas für Dich“, entgegnete Mèra.
Die Stimme der Halbgöttin klang nach einem
auf blühenden Frühlingsmorgen.
Laura wusste nicht, was sie antworten sollte. Mit solch
einer Stimme hatte sie Mèra die ganze Reise über nicht
sprechen hören. Außerdem wurde sie neugierig, was
die Elfin für sie haben mochte. Andererseits kämpfte
Laura noch immer mit zwiespältigen Gefühlen für die
undurchschaubare Frau.
„Ich habe nichts anzuziehen. Ich wasche gerade meine
Sachen“, rief Laura schließlich in Ermangelung einer besseren
ablehnenden Aussage. Sie wollte sich ihren Gefühlen jetzt
noch nicht stellen. Denn obgleich sie mit dem Kopf verstanden
hatte, dass Mèra nicht schuld am Tod ihrer Mutter war,
sondern allein der Mörder und sein Auftraggeber, schmerzte
ihr Herz trotzdem noch blind vor Rachedurst und verlangte
nach einem greifbaren Schuldigen.
„Ich verstehe Deine Wut“, erwiderte Mèra sanft. „Ich
erbitte nichts von Dir. Ich will auch den Tod Deiner Mutter
nicht rechtfertigen, noch kann ich mich dafür entschuldigen,
dass ich sie nicht habe zurückbringen können. Aber ich will
Dir ein Geschenk machen. Du hast mein Leben gerettet!“
Laura blieb vor dem Wascheimer knien und schluckte.
Sie lenkte ab: „Wieso geht es Dir jetzt wieder gut? Hat
Dich jemand mit Zauberei geheilt?“
„Ja, allerdings. Soll ich lieber später in Dein Quartier 183
kommen?“, fragte Mèra ungetrübt.
Laura öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete
ihn abermals, doch sie war sich über ihre Antwort nicht
sicher. Sie konnte die ungerechte Wut auf Mèra, weil sie
überlebte und Jade tot war, noch nicht bezwingen. Laura war
aber auch wütend auf sich selbst und auf Athónon, weil sie
nicht da gewesen waren, und wütend auf den unbekannten
Feind. Sie wusste, dass ihre Mutter selbst die tödliche
Entscheidung getroffen hatte, nicht Mèra. Vielleicht waren
die Umstände, mit denen die geheimnisvolle Elfin Jade zum
Mitkommen überredet hatte, manipulativ und hinterhältig
gewesen. Aber Athónon hatte Jade diese Umstände erklärt;
sie hätte umkehren können, doch hatte sie es nicht getan.
Jade allein hatte die Entscheidung getroffen, ihr Leben für
Mèra zu opfern. Laura hatte sogar die gleiche Entscheidung
aus gleichem Grund getroffen und nur durch großes Glück
überlebt. Es hatte einfach keinen Sinn, wütend auf Mèra zu
sein, sowenig das Weglaufen eine Lösung war. Wieder und
wieder befahl sie dies ihrem Herzen. Laura musste ihren
Schmerz ehrlicher verarbeiten. Diese Lektion hatte sie von
Srrig gelernt.
„Komm herein“, rief sie traurig und erhob sich.
Mèra lächelte die Halbelfin auf eine Weise an, die vieler
Worte bedurft hätte, sie zu verstehen. Seine Wirkung
verfehlte der Blick jedoch nicht: Alle Wut der jungen Frau
verrauchte und Wärme breitete sich in ihr aus.
Sie flüsterte: „Dein Haar, Dein Gesicht ...!“
„Ich bin wieder die alte, die echte Mèra.“ Dann hielt
sie Lauras Kurzschwert samt Scheide hoch. Während die
184 Halbelfin verdutzt ihr Schwert betrachtete, erklärte Mèra:
„Ich habe es verzaubert. Für immer. Unsere Feinde wissen
offensichtlich auch so, wo wir sind, daher muss ich mir keine
Sorgen darum machen, dass solch ein Zauber meilenweit
aufgespürt werden kann. Deine Klinge besitzt nun eine
Seele, mit der Du Dich anfreunden musst. Gib ihr einen
Namen und behandele sie immer gut und aufmerksam,
dann wird sie Dir ein treuer Freund sein. In den nächsten
Tagen braucht sie besonders viel Aufmerksamkeit, denn
sie ist noch ganz unerfahren und verwirrt über die Welt,
in die sie geboren wurde.“
Mit großen Augen und offenem Mund streckte Laura
die Hände nach der Waffe aus. „Danke“, stammelte sie
gerührt. „Eine magische Waffe ...“, raunte sie ehrfürchtig.
Sie kannte so etwas nur aus Lagerfeuergeschichten über
die größten aller Helden ... wie Athónon.
Mèra sagte ernst und leise: „Solch eine beseelte Waffe
stellt eine große Verantwortung dar. Vergiss nie, Du hast
es nun mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun.
Wenn Du sie schlecht behandelst und verkümmern lässt,
wird die Magie mit der Zeit verschwinden. Die Seele wird
sterben. Doch je glücklicher diese Seele bei Dir wird,
desto stärker wird die Magie und desto besser wird sie Dir
dienen. Was genau die Seele dieser Waffe für Dich tun
wird, entscheidet sich in den nächsten Tagen. Es hängt
davon ab, was Du Dir wünschst, was Du wirklich brauchst
und wie Du Dich mit der Seele anfreundest.“
Wie ein Baby nahm Laura die Klinge in den Arm.
Ehrfürchtig sah die Halbelfin dann zurück zu Mèra. „Ich
danke Dir“, wiederholte sie. „Danke für Dein Vertrauen.“
„Du hast eindrucksvoll bewiesen, dass Du mein 185
Vertrauen verdienst“, lächelte Mèra.

„Und, hast Du Dich entschieden?“, fragte Brommil und


sah zerknirscht zu Paaldrag auf, als würde er die negative
Antwort schon kennen.
„Machst Du Dir etwa Sorgen um mich, Zwerg?“,
knurrte Paaldrag und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Tut ja sonst niemand.“ Brommil senkte den Blick.
Paaldrag legte den Kopf schräg und starrte den Zwerg
überrascht an. Beinahe wäre er gerührt gewesen. Natürlich
hätte er das niemals zugegeben oder gezeigt.
„Es ist und bleibt ein Himmelfahrtskommando und ein
religiöser Kreuzzug ohne jede Vernunft“, schimpfte der
Chimärier und schüttelte missmutig den Kopf. „Dieses
Märchen von den Dahnrud, den Götterfreunden und
Ureinwohnern unserer Welt, fällt mir jedenfalls genauso
schwer zu glauben wie alles andere, was Srrig und Mèra
bisher erzählt haben.“
„Nun, finden wir doch die Wahrheit heraus! Oder hast
Du etwa was Besseres zu tun?“, fragte Brommil abfällig.
„Vielleicht ...!“, gab Paaldrag trotzig zurück und beugte
sein riesiges Haupt zum Zwerg hinab.
„Unsere Überlebenschancen würden sich beträchtlich
erhöhen, wenn ein Ungetüm wie Du an unserer Seite wäre“,
grinste Brommil dem Chimärier respektlos entgegen.
„Außerdem könntest Du zweifellos Deine Pluspunkte
bei den Nachtelfen vermehren, wenn Du ihren Marsch
186 flankierst. Wer weiß, vielleicht mögen sie Dich eines Tages
sogar. Viel Auswahl, wo Du noch willkommen bist, hast
Du ja nicht mehr.“
Paaldrag richtete sich ruckartig auf und funkelte den
Zwerg zornig an. Aus seinen Nasenlöchern stieg Rauch
auf. „Ich sollte Dich ...“, grollte er, doch Brommil winkte
ab und fiel ihm ins Wort.
„Ach, hör schon auf mit Deiner durchschaubaren ,Ich bin
ja so böse!‘-Masche. Du bist froh, neue Freunde gefunden
zu haben! Du bist bloß wütend, weil Du sie nicht gleich
wieder verlieren willst. Aber die Lösung ist ganz einfach:
Überwinde Deine ... Sorgen und komm mit uns.“
Paaldrag verzog keine Miene und schwieg. Leise sagte
er schließlich, mit nur wenig Sarkasmus in der Stimme:
„Nett von Dir, mich nicht wieder einen Feigling zu
nennen, wie beim letzten Gespräch. Bist gar nicht so
dumm für einen Niederen.“
12 187

Der Festsaal im Statthalter-Palast von Pheraar bestand im


Wesentlichen aus zwei Dingen: imperialen Flaggen, die
von der Decke herabwehten, und Marmorliegen, unter
denen glühende Kohlen für Hitze sorgten. Die Liegen
befanden sich allesamt nah an den Wänden. Nur ein
schmaler Gang für die Sklaven war dazwischen noch frei.
Menschen und Orks überwachten die Kohlen, legten neue
nach und schaufelten vorsichtig die Asche fort. Knapp
oberhalb der Kohlen standen flache Tischchen vor den
Liegen, auf die ein Elf mit verstümmelten Ohren ständig
neues Fleisch nachlegte. Geriet beim Fortschaufeln Asche
auf das Essen, wurden alle Sklaven mit Peitschenhieben in
den Rücken bedacht, auch der Elf. Dafür standen eigens
einige Chimärier in den Ecken des Saals parat.
Auf dem warmen Marmor lagen Chimärier in roten
und schwarzen Tüchern, die sich die Wänste vollstopften.
„Wirklich köstlich, dieses junge Elfenfleisch!“, schwärmte
ein Chimärier mit ergrauten Schuppen und rollte die Augen.
In der Mitte des Festsaals, auf einer kunstvollen Mosaik-
Darstellung des Imperators, standen Ressu und Gebrak,
die chimärische Rassenforscherin und ihr Mensch. Sie
waren die Drahtzieher der Gladiatoren-Flucht, bei der
auch Srrig und Taren entkamen. Mit Eisenketten waren
sie aneinandergefesselt. Sie schwiegen und wurden
ignoriert. Zwei eisengepanzerte Chimärier mit Speer und
Schild bewachten sie stumm. Die Armbrustbolzen hatten
Ressus Schuppen während der zurückliegenden Flucht
188 zersplittert. Das gelbe Blut war zu einer orangefarbenen
Kruste angetrocknet.
Ohne hinzusehen wandte sich der Chimärier mit den
ergrauten Schuppen nun an die beiden Gefangenen:
„So, und ihr behauptet ernsthaft, der ehrenwerte Richter
Konndamur habe Euch hierher eingeladen, nachdem
ihr irgendeine Mission in der Arena erfüllt hättet? Ein
unfruchtbares Weibchen und ein Niederer, auf einer
Mission für das Imperium? Lächerlich.“
„Bittet den Richter her, dann wird er meinen Bericht
bestätigen“, verlangte Ressu mit fester Stimme und
hochgerecktem Kopf.
Ein anderer Chimärier setzte sich schwer seufzend
auf seiner Marmorliege auf und rief: „Ich bin Richter
Konndamur. Aber Euch kenne ich nicht.“
Ressu drehte sich zu ihm um und drehte sich sofort
wieder zurück. „Das ist nicht Richter Konndamur“,
grollte sie. Damit hatte sie ihre Behauptung, den Richter
zu kennen, beweisen dürfen.
Dem grau geschuppten Chimärier raunte sein Nachbar
zu: „Wir sollten das Weibchen öffentlich hinrichten. Wir
brauchen für diesen Mond sowieso noch eine Hinrichtung.“
Er stieß ein verärgertes Zischen durch die Nase
und grummelte: „Falls sie aber die Wahrheit sagt, so
unwahrscheinlich das sein mag?“ Einem der Soldaten
am Eingang des Festsaals rief er zu: „Lasst Richter
Konndamur höflichst zu mir bitten. Ich beanspruche seine
Zeit nur ungern, doch ist seine persönliche Anwesenheit
hier erforderlich. Sagt ihm, es geht um ein altes Weibchen
namens Ressu.“
Kurz darauf ertönte eine Trompete. Die Chimärier 189
standen von ihren Marmorliegen auf und blickten ernst zum
Eingang. Ein grauschuppiger Chimärier mit gebeugtem
Gang schlurfte in den Festsaal. Über einer schwarzen Robe
trug er eine blutrote Schärpe mit der schwarzen Faust des
Imperators darauf. In seiner Hand hielt er ein goldenes
Zepter, dessen Kopf ebenfalls eine geballte Drachenfaust
darstellte. Fünf Khorisser der imperialen Palastwache –
durch Drogen aufgeputschte Elitekrieger – folgten dem
Richter in gebührendem Abstand.
Die Anwesenden salutierten mit ihren Fäusten auf der
Brust. Richter Konndamur fixierte Ressu. Die beiden
schwiegen sich an. Schließlich drehte Konndamur den
Kopf zum grau Geschuppten, der ihn hergebeten hatte,
und salutierte kurz. Konndamur erklärte mit nasaler,
arroganter Stimme: „Statthalter Marrveg. Ich danke Euch
für Eure Weitsicht. In der Tat ist mir dieses Weibchen
bekannt. Da ihre Aktivitäten nicht in den Bereich der
Stadt Pheraar fallen, braucht Ihr die Einzelheiten nicht zu
wissen. Ich werde sie mitnehmen. Den Niederen schenke
ich Euch als Ausgleich für die Unannehmlichkeit, er sieht
ja durchaus kräftig aus.“
„Ihr seid sehr großzügig, Richter. Bleibt doch noch zum
Essen. Ein paar junge Weibchen werden später für uns
tanzen“, antwortete Marrveg höflich.
„Ihr beschämt einen alten Mann“, lächelte
Konndamur kühl. „Aber ich muss dieses Weibchen
hier leider gleich mitnehmen und mich um äußerst
dringende Geschäfte kümmern. Ich wünsche Euch
dennoch viel Spaß.“
190 „Wie Ihr meint, Richter“, erwiderte Marrveg mit
einem gezwungenen Lächeln und salutierte. Die anderen
Chimärier folgten seinem Beispiel, während Ressu von
Gebrak getrennt und ohne Ketten vorwärtsgestoßen
wurde. Richter Konndamur verließ den Festsaal wieder,
gemeinsam mit Ressu und seinen Soldaten. Gebrak blieb
mit finsterer Miene in der Saalmitte zurück.

Konndamur ließ mit Ressu die hohen Säulen des


Palastes hinter sich und trat auf die Pflasterstraße. „Es
könnte uns beide den Kopf kosten, dass Du hier bist!“,
knurrte er. „Jemand in meiner Position, mit einem
unfruchtbaren Weibchen!“
„Ich weiß, aber ich konnte das Vertrauen des Tigermanns
unmöglich erlangen! Wir brauchen einen neuen Plan!“,
verteidigte sich Ressu.
„Was ist schiefgelaufen?“, fragte Konndamur schroff.
„Der Tigermann hatte noch andere Freunde in der
Arena. Er hat gespürt, dass ich ihm nur etwas vorspiele“,
berichtete Ressu.
„Andere Freunde? Wie konnte er Deine Absichten
spüren? Ich erwarte einen alles umfassenden Bericht, wenn
ich meine Position und Reputation für Dich riskiere“,
schnauzte der Richter.
Ressu seufzte und schilderte: „Ich wollte den Verbündeten
des Tigermanns mithilfe von Gebrak, dem Niederen, den
Du gerade verschenkt hast, loswerden. Ich kannte Gebrak
schon von früher, er war eins meiner Studienobjekte.
Leider hat der Tigermann die Sache durchschaut, und von
da an war klar, dass ich sein Vertrauen nicht mehr erlangen
würde. Es hatte gut angefangen, wir hatten ihn gefunden 191
und gepflegt. Doch bei der inszenierten Gefangennahme
wurde auch jener Mensch namens Taren gefangen, der den
Tigermann ebenfalls schon zuvor gekannt hatte. Ich hatte
Dir ja von Taren berichtet, dem Narren, der sich hatte zu
uns locken lassen. Er wäre auch in der Forschung geendet,
wie so viele vor ihm. Aber gut, das ist jetzt erst mal vorbei:
Darrakos, mein einst geliebter Gefährte, ist tot.“
Konndamur knurrte: „Oder um es zusammenzufassen:
Du hast es vermasselt. Ich war Deines Körpers sowieso
überdrüssig.“ Konndamur winkte zwei seiner Wachen
zu sich, zeigte nur auf Ressu und nickte. Weibchenmord
nannten die Chimärier es. Solch eine Tat wurde hart
bestraft, gab es doch nur sehr wenige Frauen bei ihrem
Volk. Ressu jedoch war alt und fiel nicht mehr unter den
Schutz dieses Gesetzes. Bevor sie richtig verstand, wurde
sie von zwei Speeren durchbohrt. Mit einem erstickten
Schrei sank sie zu Boden. „Unfruchtbare Weibchen
erfüllen keinen Zweck“, knurrte Konndamur und ließ
die Tote wegschleifen, deren Gesicht ihn noch immer
entsetzt anzustarren schien. „Auf dieses überholte, eklige
Balzverhalten kann ich bestens verzichten. Liebe, so ein
Quatsch. Das ist was für Niedere.“
An einen seiner Soldaten gewandt, befahl Konndamur:
„Bring mir General Veydrag. Sage ihm, ich setze ein hohes
Kopfgeld auf einen flüchtigen Tigermann in Harkýior aus,
der aus der Arena entkommen ist, gemeinsam mit einem
Menschenmann.“ Zu sich selbst flüsterte Konndamur:
„Du bist mir einmal entkommen, Tigermann, aber das
wird sich nicht wiederholen. Ich werde das Geheimnis
192 Deiner Kraft und Jugend ergründen, ich werde Dir die
Unsterblichkeit entreißen!“

General Veydrag war der einzige General des Imperiums,


dessen Schuppen noch nicht ergraut waren. Wirklich ockern
waren sie allerdings auch nicht, sondern viel dunkler, und
sie hatten schwarze Ränder. Es gab viele Gerüchte über
Veydrag, gute und schlechte. Manche sagten, er höre die
Stimmen archaischer Drachen, die ihn leiteten, die Stimmen
der Inferior. Andere sagten, er besäße mehr magische Kräfte
als mancher Bataillonsmagier. Alle waren sich darin einig,
dass er einer der klügsten und gefährlichsten Generäle des
Imperiums war, und einer der bösartigsten.
Zwischen seinen dunklen Flügeln liefen seltsame
Geburtsflecken die Wirbeldornen herab. Niemand
kannte jene uralten Symbole, doch Veydrag wusste: Diese
Geburtszeichnung stellte das Wort „Inferior“ dar.
Inferior hießen die hochmagischen Vorfahren
der Chimärier, gefallene Drachen, die nach einem
tausendjährigen Krieg gegen die Götter und Dahnrud
besiegt und in ein Exil jenseits der Wirklichkeit verbannt
wurden. Doch sie waren nicht tot, dafür waren ihre Seelen
viel zu stark. Schattenwacht war der einzige noch freie
Inferior. Vor vielen Zeitaltern waren seine Brüder und
Schwestern aus dem Himmel herabgestiegen, so wie auch
Götter manchmal zwischen den Sterblichen wandelten.
Doch die Inferior hatten nur eins gewollt: die Sterblichen
versklaven, anstatt sie verliebt aus der Ferne zu beobachten
und sie zu verhätscheln, wie die Götter es nach Meinung
der Inferior taten.
Veydrag würde es nie zugeben, doch er sah sich als 193
Sohn Schattenwachts. Er war sich nicht sicher, welche der
Stimmen in seinem Kopf dem Imperator gehörte, doch er
glaubte fest daran, dass einer der verschollenen Inferior,
die in seinem Kopf sprachen und ihm die Kräfte der
Urdrachen verliehen, der Imperator war.
Veydrag war Stammgast im Brutborn von Pheraar und
hatte dort sicherlich schon ein gutes Dutzend Nachfahren
mit ebenso vielen der besten Mütter gezeugt. Keiner davon
war wie er, ein dunkler Erbe der Inferior. Doch allesamt
waren es Söhne geworden, stärker und größer als die
meisten Chimärier ihres Alters. Töchter hätte Veydrag
als Beleidigung empfunden. Veydrag durfte seine Söhne
nicht oft besuchen, die Erziehung des Nachwuchses aller
Chimärier oblag Spezialisten des Brutborns. Aber jedes
Mal, wenn er seine Söhne sah, sah er heranwachsende,
große Generäle und stolze Eroberer vor sich, strotzend
vor Machtwillen und Stärke. Genau genommen freute es
Veydrag ohnehin, dass er die mühselige Erziehung seines
Nachwuchses nicht auf Kosten seiner Karriere selbst
erledigen musste.
Konndamurs Bote fing Veydrag vor dem Brutborn
ab und überbrachte die Nachricht des Richters. Veydrag
grinste dämonisch und erklärte: „Sag Deinem Herrn, ich
mache mich sofort auf den Weg.“

„Die göttliche Stimme spricht nicht mehr zu uns! Was


müssen wir tun?“, riefen einige Schlangenblüter ihrer
194 Anführerin zu. Versammelt in einem Felsspalt, versorgte
das kleine Volk Wunden, hielt die Hände von Sterbenden
oder betete für die Toten.
Die schwarzhaarige Anführerin mit der silbergrünen
Schuppenhaut stand auf einem Felsbrocken und betrachtete
die Reste ihres Volkes. Sie reckte das Schwert von Theb
Nor in die Höhe, ein makelloses, eisernes Runenschwert
mit langem Griff. Ihr Schlangenlispeln hallte durch die
Schlucht: „Solange wir das heilige Schwert haben, besitzen
wir auch die Gunst der Göttinnen! Es wird eine neue
Stimme zu uns sprechen, glaubt mir!“
„Und werden wir noch mehr Artefakte gezeigt
bekommen, wie diese Feuerball-Steine aus der
magischen Truhe?“, zischelte eine zernarbte Veteranin
mit grauen Schuppen.
„Auch da bin ich mir sicher!“, erwiderte die Anführerin
laut. „Wieso sollte es nur noch zwei Artefakte aus dem
Vergessenen Zeitalter geben, wenn unsere Urahninnen
wussten, wie sie Truhen herstellen konnten, die der Zeit
trotzen? Ich bin sicher, wir werden noch mehr dieser
Artefakte finden, vielleicht sogar noch mächtigere! Dies
war nur der Anfang, Schwestern! Schon bald werden wir
allein die ganze Tiefenwelt beherrschen!“
Die Schlangenblüter jubelten ihrer Anführerin zu und
riefen ihren Namen, Khassedra. Sie jedoch lächelte nur
dünn. Aus Verzweiflung, um ihre Position als Anführerin
zu behalten, hatte sie großspurige Behauptungen
aufgestellt. Jetzt hoffte sie auf ihr Glück und darauf, dass
sie ihre vagen Träume richtig gedeutet hatte.
Khassedra zwängte sich durch einen Felsspalt in eine 195
bewachte Höhle, wo die letzten Männer ihres Volkes
nackt und mit ausgebreiteten Armen an Wandketten
hingen. Widerwärtiger Gestank nach Exkrementen ließ
sie abfällig ausspucken. Sie hörte eine ihrer Kriegerinnen
in der Höhle raunen, ließ sich davon aber nicht abhalten
und schlich näher. Die Kriegerin trug nur noch eine
lange Tunika und Stiefel und rieb sich an Khassedras
Lieblingsmann Bephaal, ihrem entmachteten Vorgänger
mit dem blonden Bart. Wutschnaubend warf Khassedra
das Schwert von Theb Nor in die Ecke. Das Metallklirren
ließ die Rivalin zusammenzucken und von Bephaal
fortweichen. Khassedra stürmte auf sie los und ohrfeigte
sie. „Nur ich kriege ein Kind von ihm, Vrenna!“
Vrenna hielt sich die Wange und funkelte Khassedra
zornig an. Ihre braunen Locken zitterten um ihr junges
Gesicht. „Lass es doch drauf ankommen! Wie mit der
göttlichen Stimme, die Dich so nett beschützt!“, spottete
Vrenna und trat rückwärts wieder an Bephaal heran.
Lasziv drückte sie sich an ihn und grinste gehässig. „Er ist
nicht unterzukriegen!“, schnurrte sie. Als sie sich zwischen
die Schenkel griff, um vor Khassedras Augen zu stehlen,
was nur der Anführerin zustand, packte Khassedra ihre
Runenklinge vom Boden und holte aus.
Entsetzt sprang Vrenna vorwärts, um dem Hieb zu
entgehen. Doch sie lief genau in Khassedras Tritt zum
Bauch, stürzte und krümmte sich röchelnd. Khassedra
hielt ihr die Schwertspitze an die Kehle und zischte:
„Ich brauche jede Waffenhand! Aber machst Du mir
noch einmal meinen Rang streitig, töte ich Dich! Jetzt
196 verschwinde! Ich sage den Wachen, dass Du bis zu unserem
Sieg hier keinen Zutritt mehr hast!“

Athónon wälzte sich im Schlaf hin und her. Immer


wieder hörte er das dumpfe Geräusch, als seine Klinge
Jades Bauch durchstieß. Er spürte am Griff der Waffe den
Widerstand ihres Körpers, als das Eisen sich hineinbohrte.
Ständig sah und spürte er Jade über sich zusammenbrechen
und schmeckte ihr Blut auf seinen Lippen. Ihr ungläubiges
Starren, als der Dämon ihren Körper verließ und die echte
Jade zurückließ, hatte sich in Athónons Geist eingebrannt.
Schon einmal hatte er einen Freund töten müssen,
als der Zauberer Xelos durch einen Fluch wahnsinnig
geworden war. Xelos hatte dem Gefährten Cesius fünf
Feuerkugeln in den Hinterkopf geschossen und war
danach auf der Suche nach Athónon gewesen, um auch ihn
zu töten. Das Verhältnis zwischen Xelos und der restlichen
Gruppe war immer schwierig gewesen, galt der Experte
für Dämonologie doch als zwiespältiger Mensch, dessen
Geist eine ständige Gratwanderung hatte vollführen
müssen. Für den Fluch, den eine uralte Münze der
Schlangenmenschen ausgelöst hatte, war es ein Leichtes
gewesen, den Verfolgungswahn des Zauberers bis in den
Wahnsinn zu verstärken. Athónon war ein erfahrener
Kundschafter und hatte sich damals an den Zauberer
heranschleichen können. Doch jemanden hinterrücks und
berechnend zu töten, der mal ein Freund gewesen war, das
hatte Athónon vorher nie üben können.
Der Gnom öffnete ruhig die Augen, als eine Hand sich 197
ihm näherte. Er hatte sie gespürt, lange bevor sie ihn erreicht
und geweckt hatte. Außerdem hatte er wahrgenommen,
dass keine Gefahr drohte. Sonst hätte er schon längst sein
Schwert in der Hand gehabt, das unter seinem Rucksack
bereitlag. Selbst seine Nase hätte ihm eine Bedrohung
durch Schweißgeruch vermutlich verraten. Aber was er
wahrnahm, war der angenehme Duft einer Elfin.
Mèra lächelte still zum Gruß und nahm Athónon die
Augenklappe ab. „Tut mir leid, dass ich nicht früher dazu
gekommen bin“, flüsterte sie und legte Athónon die Hand
auf das zerstörte Auge. Seine Mundwinkel zuckten nach
oben. Magische Energien pulsten durch sein Gesicht
und lösten seltsame Empfindungen im erblindeten Auge
aus. Mèra summte eine getragene Melodie und wiegte
unmerklich den Kopf dazu. Nach wenigen Minuten
öffnete Athónon das geheilte Auge und blinzelte.
Für einen stillen Moment blieb Mèra sitzen und tupfte
sich eine Schweißperle von der Stirn. Athónon fragte
schließlich: „Wie geht es Laura?“
„Sie ist tapfer“, erwiderte Mèra. „Sie gibt niemandem
außer dem Feind die Schuld am Tod ihrer Mutter.“„Das
ist gut“, nickte Athónon. Seine Mundwinkel versteinerten
schon wieder.
„In wenigen Stunden ziehen die Nachtelfen los in die
Tiefe“, berichtete Mèra. „Srrig und ich werden sie begleiten.
Ich habe ihn überzeugt, dass wir niemanden zurücklassen
können und dass Ihr Euch mit den anderen ebenfalls den
Nachtelfen anschließen werdet – wenn Ihr weiter mit uns
kommen wollt.“
198 Athónon nickte nur und murmelte abwesend:
„Natürlich.“
Mèra legte den Kopf schief und stupste Athónon mit
dem Finger in die Schulter. „Sagt schon, was beschäftigt
Euch noch?“
Athónon sah sie ausdruckslos an. Ohne Umschweife
erzählte er: „Manchmal sehe ich mehr mit dem inneren
Auge, als ich von der wirklichen Welt mitbekomme. Ich
sah Euch, vom Dämon besessen, bevor ich wirklich davon
hörte. Ich sehe immer wieder Jade über mir sterben und
mich verzweifelt anstarren. Jedes Mal, wenn ich Laura
anblicke, sehe ich ihre Mutter in der Höhle liegen, mit
meiner Waffe im Leib. Ich sehe zu viel auf einmal. Macht
Euch das alles gar nichts mehr aus? Ihr seht doch auch
mehr, als Heva freiwillig offenbart.“
Mèras Lächeln verblich und sie schwieg. Nach einer
Weile antwortete sie leise: „Irgendwann sterben die
richtigen Empfindungen ab. Ich versuche, sie mir zu
bewahren, aber es sind eher Erinnerungen. Alles, was
von ihnen wirklich bleibt, ist ein fernes Gefühl, wie
in Watte eingeschlossen zu sein und langsam darin zu
ersticken, bis man nur noch funktioniert, tagein, tagaus.
Es mag ein Segen sein, nicht Eure Qualen zu erleiden,
aber wenigstens habt Ihr noch Empfindungen, statt
immer nur dieselbe dumpfe Taubheit. Nur manchmal
kann ich etwas anderes fühlen, meist ist es jedoch
nicht angenehm. Jedes Lächeln von mir ist in Wahrheit
nur eine Erinnerung. Oder ein Wunsch, das Lächeln
wirklich zu fühlen. Doch Wünsche gehen nicht immer
in Erfüllung.“
„Ich fühle mich zunehmend auch so, mit einem 199
Bruchteil Eures Alters“, murmelte Athónon.

Srrig und Mèra hatten sich in eine einsame Höhle


zurückgezogen. „Wie konntest Du in Deinem Zustand
eine Wiederbelebung versuchen? Jetzt ist das Tor
durchlässig und sie strecken ihre Fühler wieder persönlich
aus“, grollte Srrig und lief unruhig auf und ab. „Jetzt haben
wir keine Zeit mehr, Randolph zu befreien! Schattenwacht
unternimmt nichts, obwohl der doch der Sphärenwächter
der Götter sein sollte – so zeigt er uns sein wahres Gesicht,
und die Götter rühren sich nicht.“
Mèra saß auf einem Felsen und starrte an die Wand.
„Du hast Dich von Deiner Erinnerung leiten lassen,
dachtest, so müsste sich Mitleid anfühlen, nehme ich an“,
knurrte Srrig böse.
Mèras Blick veränderte sich nicht.
„Wir haben Glück, dass die Dahnrud eingegriffen haben.
Wer weiß, vielleicht schließen sie sogar die Risse im Tor
wieder“, überlegte Srrig laut. „Vielleicht finden sie Beweise
gegen Schattenwacht, um die Götter zu alarmieren.“
Seufzend schaute er sie an, dann setzte er sich zu ihr
und legte den mächtigen Arm um sie. „Was wirst Du tun,
wenn der nächste Sterbliche auf dem Weg stirbt? Wirst
Du denselben Fehler noch einmal machen?“, fragte er
versöhnlich. Doch sein Ton ließ nur eine Antwort zu.
Mèra blickte ihn müde an und redete mit kühler
Stimme. „Ich werde sie sterben lassen. Selbst wenn es
200 Athónon oder Laura trifft. Selbst wenn diese beiden mir
erlauben, mich an ein paar mehr Gefühle zu erinnern.“
Srrig nickte. „Es ist die einzige Möglichkeit, unsere
Aufgaben zu erfüllen.“
„Und eine kalte Welt zu retten, in der Regeln wichtiger
als das Leben sind. Wofür auch immer sie dann gerettet
werden soll“, blockte Mèra, als sie sich an Athónons Worte
in der Herberge erinnerte. Mit hartem Gesicht sah sie weg.
„Wir können uns das nicht leisten, nicht wir“,
widersprach Srrig. „Das ist der Preis. Die Sterblichen
dürfen leben und fühlen, aber wir nicht. Du weißt das, Du
hast es nur aus den Augen verloren. Das ist es, woran Du
Dich erinnern solltest. Nicht an irgendwelche hinderlichen
Gefühle, die unseren Aufgaben im Weg stehen.“
Für einen Moment blickten sie sich sanft in die Augen,
ihre Gesichter schwebten nah voreinander. Doch sie
empfanden gar nichts.
Mèra stand auf. „Für die Sterblichen sind Gefühle
eine Kraftquelle, wenn sie richtig fokussiert sind“,
meinte sie nachdenklich.
„Ja, wenn ...“, spottete Srrig und erhob sich ebenfalls.
„Ich dachte für einen kurzen Moment auch, Taren sei
ein passabler Weggefährte. Aber er ist ein Sterblicher,
und das macht jede weitere Überlegung nutzlos. Vergiss
nicht, wir suchen T’ral. Danach kehren wir durch T’rals
Teleportation zurück nach Harkýior, falls die Zeit reicht,
und befreien Randolph. Dann werden wir Schattenwacht
gegenübertreten. Wir begleiten die Nachtelfen und Deine
anderen Freunde zwar eine kurze Zeit – was gut für sie ist
– und meinetwegen unterrichte ich sie auch, aber wir sind
nicht wirklich zum Kinderhüten da“, sagte er mit einer 201
unterschwelligen Forderung.
„Ich würde gern Kinder hüten“, murmelte Mèra
und ging. Dass sie nach T’rals Befreiung noch einmal
umkehren würden, um Randolph zu befreien, glaubte sie
seit ihrer Vision im nahen Tod nicht mehr.
Srrig blieb zurück. Er empfand keine Wut über
seine uneinsichtige Kameradin. Er verstand sie gut.
Auch er genoss die seltenen Momente, wenn er noch
einmal eine Empfindung hatte, welche auch immer.
Sein Zornesausbruch über die Verräterin Safáydra, kurz
bevor er sein Gedächtnis zurückerlangt hatte, war eine
Wohltat für ihn gewesen, auch wenn das keine gutartige
Empfindung gewesen war. Vor knapp zweitausend Jahren
war die Empfindung, von Cerýllion verraten worden
zu sein, so stark gewesen, dass Srrig blindwütig über
die Schlachtfelder getobt war und sich, wie gerade erst
in Quirmó, N’rracorr hingegeben hatte. Er würde nie
zugeben, auch das insgeheim als wohltuende Befreiung
empfunden zu haben. Wie Mèra verletzte er Regeln, auch
wenn es andere Regeln waren. Genauso wie sie trug er
zum Untergang bei, gab es jedoch nicht zu.
Die damalige Liebe zu Mèra hatte Srrig Halt gegeben
und fast zwei Jahrtausende lang war er N’rracorr nicht
mehr verfallen. Doch nun, da seine Gefühle erloschen
waren, gab es keinen Halt mehr.
Er dachte an die letzten zwanzig Jahre zurück, die er
ohne Erinnerung umhergeirrt war. Er hatte als Sklave
gelebt, war durch die Wildnis geflohen, hatte sich dem
Blutdurst hingegeben und ihn wieder besiegt. Doch nie
202 hatte er wirklich starke Gefühle erleben dürfen. Er hatte
sich immer gewundert, wie sehr die anderen Wesen um
ihn herum von ihren Gefühlen verwirrt, beeinflusst und
in Probleme getrieben wurden. Er war froh gewesen, sich
selbst besser im Griff zu haben. Und nun machten er und
Mèra plötzlich dieselben Fehler wie die Sterblichen. Mèra
konnte mit ihrer großen Macht nicht umgehen und Srrig
wurde Opfer seiner archaischen Wurzeln. Beide riskierten
Hevanor, nur um vielleicht ein Gefühl zu empfinden.
Verzweiflung war keine Entschuldigung bei einer so
großen Verantwortung wie ihrer. Srrig musste ihr das
nicht sagen. Sie wusste es selbst genauso gut.

Mèra klopfte an Lauras Tür und wurde hereingebeten.


„Ich habe Wenndurs Laute mitgebracht“, sagte die Elfin
und hielt das Instrument hoch.
Laura blickte die Laute wehmütig an, schwieg jedoch.
Mèra wartete nicht lang, sondern stellte sich hinter die
Halbelfin, drückte ihr die Laute vor den Bauch und nahm
Lauras linke Hand, um sie an das Griffbrett zu schmiegen.
Dann legte sie Lauras andere Hand an die Saiten und
bewegte sich mit winzigen Schritten. Mèra schloss die
Augen, legte Lauras Finger zurecht und summte zu den
einfachen Akkorden, die sie gemeinsam spielten.
Mittendrin sagte Mèra plötzlich: „Du bist gehemmt,
weil Du Wenndur nicht so behandelt hast, wie Du es gern
gewollt hättest. Du denkst, Du hättest ihm Deine wahren
Gefühle zeigen sollen. Doch er kannte sie vom ersten
Moment an. Auf seine Weise war er ziemlich klug. Lass 203
ihn los, lebe weiter. Mit Deiner Mutter hast Du das auch
geschafft. Auch ihr musstest Du nicht erst sagen, was Du
empfunden hast. Der Unterschied zwischen einem guten
und einem toten Kämpfer ist, dass der gute Kämpfer sich
vor dem Kampf von allen Sorgen befreit und dadurch
überlebt. Und Du willst doch eine Kämpferin werden.“
204 13

Melek stand angespannt auf einer Klippe über der


Stadt, nahe der Höhlendecke. Unter ihm hatte Laura
im Badezuber gelegen, nun schmiegte sie sich in die
Umarmung einer Halbgöttin. Lauras Anblick schmerzte
Melek wie chimärische Folter, weil er sie nicht erreichen
konnte. Seine Lider flatterten vor Müdigkeit und er
wankte. Schon zum zweiten Mal befürchtete er, von der
Klippe in die Stadt zu stürzen. Wenigstens gab es von der
Wanderin keine neue Spur.
Späher der Nachtelfen, zwei Männer und zwei
Frauen, standen neben dem Unsichtbaren und lachten
leise. Schmunzelnd hatten sie alle Fremden beim Baden
beobachtet. Zwar verstand Melek ihre Sprache nicht,
doch die Blicke und Gesten der beiden Frauen auf Srrig
bedurften keiner Übersetzung.
Melek sah wütend zur Seite. Er wusste, dass er
den Spähern nichts tun durfte, weil die Quirmóer
sie vermissen und unnötig gewarnt würden. Aber
er hasste das Lachen der jungen Späher. Den Neid
auf ihre Ausgelassenheit gestand er sich nicht ein,
stattdessen klammerte er sich an seine Überzeugung,
deren Lebensweise überlegen zu sein. „Ihr treibt ohne
Ehrgeiz vor Euch hin!“, dachte er giftig. Der Satz eines
Hohepriesters von Sturm und Donner fiel ihm wieder
ein, den er vor drei Jahren gehört hatte: „Lachen macht
souverän und schön, aber allein tritt es auf der Stelle
und hinterlässt nichts.“
Nie zuvor hatte Melek so glatten und hohen Stein 205
gesehen. Eine breite Schneise führte durch den Wald auf den
Säulengang vorm Tempeltor zu. Meleks Kapuzenmantel
klatschte schwer vor Nässe um seine Beine. Regen rauschte
und verwandelte den Erdboden in Schlamm, doch führte
ein angelegter Steinpfad zum Tor. Auf dem flachen Dach
des Tempels versammelten sich die Gläubigen, um Regen
und Sturm zu huldigen und sich an Blitz und Donner zu
erfreuen. Die Stimme des Hohepriesters klang fest von dort
herab, als Melek den Säulengang passierte und ins Innere
lief. Das Gebet mahnte die Gläubigen, den Ernst ihres
Lebens als Herausforderung und nicht als Last zu sehen,
anstatt allein dem Vergnügen nachzugehen, so wie auch
der Donner schwer und der Blitz tödlich blieb, egal wie oft
davor die Sonne schien.
Die Eingangshalle war dunkel und verlassen. Melek
hörte den Hohepriester nun von den breiten Stufen auf der
Stirnseite des klobigen Baus her. Zahlreiche Waffen und
Schilde lagen an den Wänden. Die Gläubigen, vornehmlich
Krieger, hatten sie ablegen müssen, bevor sie das heilige
Tempeldach betreten durften. An beiden Seiten der Treppe
führten Holztüren tiefer ins Gebäude.
Melek gesellte sich zunächst in die hinterste Reihe der
Gläubigen, die jedoch alle möglichst nah am Hohepriester
stehen wollten und nicht auf die Treppe hinter sich achteten.
Als der Hohepriester zudem den Gläubigen den Rücken kehrte
und die Arme ausbreitete, schlich Melek zurück zu einer der
riegellosen Holztüren und lauschte. Leises Klimpern ließ sein
Herz nun schneller jagen als das gemeinsame Dastehen mit
seinen potenziellen Feinden, den Gläubigen über ihm. Er
206 schob sich lautlos durch die Tür – bis das Scharnier knarrte
und das Klimpern abriss. Melek erstarrte und biss die Zähne
zusammen. Langsam hob er den Dolch zur Hüfte, bereit zum
Stich. In dem langen Gang vor ihm gingen vier unverhangene
Türbögen zu den Seiten ab.
Ein Panther schlich aus dem vordersten Durchgang,
fletschte die Zähne und knurrte. Sprungbereit baute er sich
vor Melek auf. Ihm nach schlich ein zerlumptes Mädchen
seines Alters. Sie schürzte den kleinen Mund und grinste
Melek abschätzig an. „Mein Gold“, sagte sie entschieden und
reckte das Kinn, als wolle sie Melek damit rauswerfen. „Oder
Ragan zerfleischt Dich.“
„Ich könnte die Krieger alarmieren.“ Meleks Stimme
vibrierte ängstlich. „Wenn dieses Tier losspringt, schreie ich.“
Das Mädchen legte zornig den Kopf schräg und schwieg.
„Lass uns teilen“, schlug Melek vor. „Vielleicht werden wir
ein gutes Paar!“ Er starrte gierig auf die sanften Wölbungen
unter der Lumpenkleidung.
Das Mädchen straffte sich und genoss seine Blicke. Sie
kraulte den Nacken des Panthers – und er verschwand. „Nur
ein Trugbild“, flüsterte sie und lächelte Melek an. „Ich bin
die Hexe Valizia!“
Melek zeigte seine Furcht vor Magie nicht. Valizia mochte
ihm in dieser Hinsicht überlegen sein, aber der Gedanke an
eine mächtige Verbündete und schöne Gefährtin verlockte
ihn mehr.
Vor dem Kampf gegen sie hatte Melek bei Laura
nicht anders gehandelt. Er hatte freundlich sein Interesse
gezeigt, ein alltägliches Bedürfnis wie Essen und Trinken
geäußert. Aber Laura hatte ihn erbittert abgelehnt,
so als hätte er eine Krankheit oder als wäre sie etwas 207
Besseres. Dabei waren er und Laura sich in ebenso vielen
Dingen ähnlich, wie er mit Valizia Gemeinsamkeiten
gehabt hatte. Alle drei bestritten ihr Leben nach eigenen
Regeln und waren verstoßene Waisen. So klug Melek in
mancher Hinsicht war, aus gesellschaftlichem Verhalten
wurde er nicht schlau. Er verstand einfach nicht, wieso
Laura nicht bereitwillig mit ihm gegangen war, wieso sie
unbedingt beschlossen hatte, sein Feind zu sein. Er würde
sie zu ihrem Glück und zum Verstehen zwingen. All die
überbordenden Regeln von Menschen und Elfen würde er
aus ihrem Kopf verbannen, bis nur die klaren Wahrheiten
der Natur blieben. Mit ihr würde er vielleicht sogar ein
Kind aufziehen und sie nicht damit alleinlassen.
Valizia und Melek hatten den Tempelschatz in einen
Rucksack gefüllt und waren aus dem Seitenfenster geflohen,
um in der breiten Waldschneise nicht aufzufallen. Schon
dabei hatten sie sich gegenseitig gestreift und sich aneinander
gerieben, kaum mehr zur Selbstbeherrschung fähig. Im Schutz
des Waldes fielen sie dann übereinander her, wälzten sich im
Schlamm, kämpften spielerisch und genossen den plötzlich ins
Leben getretenen Gleichgesinnten.
Doch so schnell, wie sie erblüht war, verging ihre Liebe
wieder. Nach wenigen Tagen störten sie sich aneinander und
empfanden ihre Berührungen so lästig wie Brennnesseln. Aus
Furcht vor Valizias Magie schnitt Melek ihr im Schlaf die
Kehle durch, kaum dass die erste Morgenröte heraufkroch.
Tau und frische Gräser dufteten und die Vögel sangen ihre
vielstimmige Sinfonie für Heva.
208 Melek erwachte. Für einige Sekunden hatte er im Stehen
geschlafen. Sein Herz schlug bis zum Hals, doch offenbar
hatte er Glück gehabt: Weder war er gestürzt oder durch
eine zufällige Berührung entdeckt worden, noch hatte die
Wanderin sich so schnell seines Schlafes bemächtigt.
Wie ein Verhungernder auf einen saftigen Braten
stürzten Meleks Gedanken sich abermals auf Erinnerungen
an salzige Haut, Stöhnen und kämpfende Muskeln. Die
Müdigkeit wich zurück, doch sein Schädel dröhnte, er
zitterte vor Schwäche und spürte Übelkeit im Hals.
Gozbad. Der Jahrhunderte alte Geist hatte Meleks
Kinderzeit gestohlen. Viele seiner Worte fielen Melek
nun wieder ein, da der Schlafmangel ihn in eine seltsame
Laune brachte. „Niemals älter als zwanzig!“, hatte Gozbad
als Parole seines Wahns ausgegeben, als er Melek noch
heimgesucht hatte. „Denn wozu zweite Wahl, wenn Du
auch die erste haben kannst? Nur Verlierer begnügen
sich mit weniger als den Jüngsten, reden mit ihrer Beute
oder machen sie mit Reichtum gefügig. Nur Verlierer
begnügen sich mit bloßen Blicken auf die Objekte
ihrer Gier.“ Das waren die ersten Sätze, die Melek von
Gozbad über das andere Geschlecht gelernt hatte, als sein
Interesse erwacht war. Der Geist hatte Meleks Denken
in eine unerschütterliche Bahn gelenkt und ihn in
seinen Abgründen ausgebildet. Melek hatte keine andere
Bezugsperson mehr gehabt, seit er sechs Jahre alt war. Er
war sehr schnell ein Mann geworden; die Natur hatte ihn
dazu gezwungen – oder hatte er die Natur gezwungen?
Viel später erst hatte Melek Gozbad als das erkannt,
war er war: ein Monster unter Sterblichen, der seine Kraft
daraus bezog, unschuldige Seelen zu stehlen und mit sich 209
in die Verdammnis zu reißen. Vermutlich hätte Gozbad
ein anderes Kind in seinen Fluch verstrickt, hätte er nicht
Melek erwischt. Vielleicht hätte Gozbad aber auch ohne
Melek nur ein Jahr später nicht mehr die Kraft gehabt,
irgendjemanden zu manipulieren – denn seine Kraft
schwand stetig, wenn er keine Sterblichen quälen konnte.
Wo mochte Gozbad gerade sein? Existierte der Geist noch?
Melek hatte seit acht Jahren nichts mehr von Gozbad
gehört, außer in seiner Einbildung oder Erinnerung.
Der Geist hatte Melek am Leben gelassen. Immer
hatte Melek sich darüber gewundert, es schien nicht zu
Gozbad zu passen.
Die Erkenntnis dämmerte. Kontrolle war nicht mehr
nötig. Melek war zu dem geworden, was Gozbad gewollt
hatte und was dem Geist selbst jetzt noch Kraft gab, ohne
dass ein magischer Zwang bestand. Lauras Qualen gaben
Gozbad Kraft. Doch diesen Gedanken, anders als die
Bilderflut von Laura, brach Melek erfolgreich ab. Es war
ihm egal.

Dass man nicht kämpfte, wenn man keine gute Chance


auf den Sieg hatte – eben noch hatte er dies auf Laura
bezogen, die von einer Übermacht Gefährten bewacht
wurde. Mehr und mehr bezog Melek dies nun auch auf
Gozbad, der durch ihn und alle späteren Jünger Kraft
gewann und vielleicht schon bald ganze Dörfer würde
verheeren können. Gozbad war ein Teil von Melek
geworden. Er würde nie wieder gänzlich verschwinden,
außer mit Meleks Tod.
210 Doch Laura konnte er, anders als Gozbad, nicht
vergessen. Wie neckende Blitze schoss sie ihm durch den
Schädel. In seinen Tagträumen hatte er die Jagd schon oft
zu Ende gebracht – und seine Fehler gesucht, warum die
Wirklichkeit anders aussah.
Melek ärgerte sich auch, dass er nur so wenig Zeit
für Alynde gehabt hatte, die Sklavin in der Arena.
Überhaupt war er voller Hass auf jeden und alles. Der
Hass war Gozbads Erbe und die Kraft, die Melek antrieb.
Unmittelbar nachdem Gozbad ihn verlassen hatte und
er auf sich allein gestellt war, hatte er sich eine Weile um
ein rechtschaffenes Leben bemüht und versucht, etwas zu
sein, was er nicht war, etwas angeblich Besseres. Doch wie
auch bei der Unsicherheit in der Höhle der Gladiatoren,
empfand sich Melek als schwach und lächerlich, nicht
besser, wenn er gegen sein Inneres handelte.
Bei der Flucht aus der Arena hatte er seine selbst
angelegten Fesseln endgültig abgestreift und befreit
aufgeatmet. Er konnte kein anderes Selbst über seine
Natur stülpen. Seine innere Kraft war immens, doch das
Ziel, für das er sie aufwendete, war von einem abgrundtief
bösen Geist vorgegeben, nicht von anderen Menschen
einer Gemeinschaft. Gozbads Gier nach Macht indes war
noch weitaus größer als Meleks, denn wie bei der Wanderin
hatte Gozbad sogar das Totenreich überwunden, um mit
seinem Tun nicht aufzuhören.
Melek vermisste Gozbad. Früher hatte er vor dem Geist
mit seinen meisterlichen Fähigkeiten als Schleicher und
mit seiner Beute prahlen können, und Gozbad hatte ihn
beglückwünscht. Nun war niemand mehr da. Längst hatte
212 Melek begriffen, was die Einsamkeit des Jägers alles mit
sich brachte. „Der Preis ist es allemal wert!“, maßregelte
er sich selbst.
Doch vielleicht fand er ja Anschluss an ein Rudel. Als
die Sippe seines Großvaters noch nomadisch lebte, war sie
auch regelmäßig auf Menschenjagd gegangen, um Beute
bei feindlichen Stämmen zu machen. „Diese Tradition
kann doch nicht vollkommen erloschen sein, wo sie
solch eine starke Macht ausübt!“, murmelte Melek. Sein
Großvater hatte stets die Sesshaftigkeit der Sippe beklagt
und das freie Nomadenleben seiner eigenen Jugend hoch
gelobt. „Früher haben wir ein paar Tiere erlegt, dann
hatten wir Ruhe. Jetzt musst Du tagein, tagaus das Feld
bearbeiten und Dir den Rücken krummschuften – für
ein bisschen dummes Brot!“, hatte der Großvater Meleks
Vater oft vorgehalten.

Melek vergaß die vier Elfen auf der Klippe. Er hatte


einen Weg den Fels hinab entdeckt, den zu klettern er sich
zutraute und der sehr nah vor Lauras Unterkunft endete.
Mèra war gegangen, die Halbelfin lag allein auf ihrem
Lager. Natürlich konnte er sie inmitten der Verbündeten,
zu Füßen der wachsamen Späher nicht anrühren. Er
wollte diesmal erst zuschlagen, wenn er völlig sicher
war, dass niemand ihn stören würde. Doch das nächste
verräterische Magenknurren würde kommen und er wurde
bald wieder schwächer. Er wollte Lauras Rucksack und die
Vorräte stehlen, denn er ahnte, dass er noch viele Stunden
überwinden musste, bis sie endlich ihm gehörte. Aber sie
sollte wissen, wie nah er war.
Den Dolch nahm er zwischen die Zähne, da er seinem 213
lockeren Hosenbund nicht traute. Vorsichtig streckte er die
Hand nach einer rauen Felsnase zu seinen Füßen aus. Mit
der anderen Hand überkreuzte er die Felsnase und hielt
sich an der Klippe fest. Dann sprang er ab, drehte sich im
Sprung und hing im nächsten Moment frei über Laura,
nur noch zwanzig Meter entfernt. Er hatte keine Mühe,
den Ruck in Armen und Rücken abzufangen, allerdings
zischte sein Atem zwischen den Zähnen hervor. Die Späher
über ihm verstummten, doch nicht lange. Weiter die Arme
überkreuzend, kletterte Melek seitlich von der Klippe fort,
bis seine Füße am Fels Halt fanden. Nun brauchte er nicht
mehr lange, um unter minimalen Knirschgeräuschen bis
zwischen zwei Häuser Quirmós herabzusteigen. Links
von sich sah er Laura durch den Türvorhang und erstarrte
vor Gier. Sie zog sich gerade die Oberkleidung aus. Nur
in ihren Lendentüchern stand das durchtrainierte junge
Mädchen da und trank Wasser aus einer irdenen Karaffe.
Laura rollte sich auf ihrem Lager zusammen und deckte
sich zu. Aus Gewohnheit spähte Melek zuerst jede Ecke des
Bodens aus, um sich zu merken, wo eventuell ein Hindernis
lag oder sich eine Unebenheit befand. Dann schlich er auf
Zehenspitzen durch den Vorhang und blieb drei Schritte
von Laura entfernt stehen. Er wagte nicht, sich hinzusetzen,
weil seine Kleidung rascheln würde. Eine Fußspitze setzte
er ganz langsam vor, berührte den Felsboden und setzte die
Sohle lautlos ab. Genauso ruhig verschob er den hinteren
Fuß. So trat er immer näher an Laura heran, bis er nicht
mehr zu atmen wagte, weil er ihren Atem hören konnte.
Den letzten Schritt hatte er breiter gesetzt. Nun ging er
214 unendlich langsam in die Hocke, sodass seine Schenkel vor
Anstrengung zu zittern begannen, doch er blieb lautlos.
Seine Fingerspitzen berührten den Boden keine Armlänge
von Lauras Knien entfernt. Melek legte die eigenen Knie
zwischen seinen Fingern ab und richtete den Oberkörper
vorsichtig auf. Während er vor Aufregung hellwach blieb,
schlief die erschöpfte Laura ein, eine Hand zwischen
den Schenkeln. Melek wurde zu dem Grund, warum
Kleinkinder sich vor dunklen Nachtschatten so sehr
fürchteten. Der Gedanke gefiel ihm.
Er schob die Nase zum Rand ihrer Decke und
betrachtete Lauras Lippen. Melek lauschte ihrem Atem
und sog ihren Duft ein. Seine Augen folgten ihren Brüsten
bis tief unter die Decke. Ihm war völlig klar, dass er sofort
auffliegen würde, griff er sie jetzt an. Darum fiel es ihm
leicht, sich zu beherrschen. Mit derselben Geduld, wie er
den Raum betreten hatte, schlich er zu Lauras Rucksack.
Viel langsamer noch als Lauras Atem öffnete Melek ihn
und sah hinein. Tatsächlich waren die Vorräte bereits
gepackt. Melek stahl sich mit dem Rucksack fort in die
gegenüberliegende, leere Hütte.
Seine Nackenhaare sträubten sich, wie es manchmal
geschah, wenn Lebewesen unbemerkt in seiner Nähe waren.
Ein verräterisches Knirschen hinter einer Fensteröffnung
bestätigte ihm den Verdacht. Ein Kopf hob sich über die
Fensterkante, große Augen starrten den Rucksack an,
der aus Sicht des Beobachters vermutlich soeben in der
Raummitte erschienen war, als Melek ihn losgelassen
hatte. Die Unsichtbarkeit betraf andere Gegenstände nur,
solange er sie berührte.
Melek hatte nicht aufgepasst, war beobachtet worden, 215
hatte sich zu sehr von Laura ablenken lassen, hatte Lauras
kleinen Verehrer nicht bemerkt. Wut über sich selbst
kochte hoch, doch er konnte nichts tun. Die Späher
über ihm sahen die ganze Stadt ein. Plötzlich hörte er sie
lachen. Einer der Späher rief etwas Elfisches von oben. Der
Beobachter, ein Junge mit hüftlangem Haar kam hinter
Meleks Fenster hervor und antwortete in furchtsamem Ton
nach oben. Der Späher raunte nun nur noch überrascht.
Melek reimte sich die Übersetzung des Gespräches
zusammen. Die Späher dachten, der Junge habe einen
Zaubertrick mit Lauras Rucksack versucht, so wie die
meisten Elfen eben zaubermächtig waren. Doch der Junge
hatte mit dem Rucksack nichts zu tun.
Die erwachte Laura rief ebenfalls etwas Elfisches,
und plötzlich ging ein Alarmruf durch die ganze Stadt.
Melek schnitt sich voller Wut über die Arme, Schnitt
neben Schnitt. Mit einem einzigen Stück Fleisch im
Mund und einem Wasserschlauch um den Hals kletterte
er die Späherklippe wieder hinauf und verkroch sich in
einer Nische.
216 14

Der Alarm wurde ernst genommen, doch fand man


keine verborgenen Feinde und die Stadt beruhigte sich
schließlich wieder. Laura hatte von Srrig nach ihrer ersten
lehrreichen Übungsstunde eine Aufgabe bekommen,
die sie nun erledigen musste. Weil sie trotz aller Magie
noch nicht richtig erholt gewesen war, sollte sie statt zu
kämpfen etwas anderes tun: Sie sollte die Verwundeten
besuchen und dem Meisterheiler Fêowyn bei den
Aufbruchsvorbereitungen helfen. Laura hatte es nicht
gewagt, Srrig, dem König und Halbgott zu widersprechen,
sondern hatte gehorsam zugesagt. Doch innerlich verstand
sie nicht, wie diese Aufgabe sie weiterbringen sollte. Viel
eher vermutete sie, dass Srrig ihrer undankbaren Tätigkeit
nur einen schöneren Klang hatte geben wollen. Nicht, dass
sie nicht gern den Verwundeten half – aber die Art, auf die
sie dafür eingeteilt wurde, gefiel ihr nicht.
Auch verstand sie nicht, weshalb Mèra, die nun wieder
die Alte sein sollte, die Verwundeten nicht so weit heilte,
dass sie laufen konnten. Vielleicht waren es einfach zu
viele. Laura war früher immer neidisch auf magisch
begabte, reinblütige Elfen gewesen und hatte mit ihnen
nichts zu tun haben wollen. So kannte sie sich nun kaum
mit Magie aus – ein weiterer Grund, weshalb sie in ihrem
Dorf niemals dazugehören würde. Sie hatte sich damit
abgefunden, für die Zauberei kein Talent geerbt zu haben,
so wie schon ihre Mutter es nicht gehabt hatte. Immerhin
lehnte Laura die Magie heute nicht mehr ab, so wie noch
vor einigen Jahren. Der Nutzen war ihr insgeheim immer 217
klar gewesen.
Ihr Kurzschwert, das Mèra verzaubert hatte, trug Laura
am Gürtel. Solange sie in niemandes Nähe war, legte
sie zärtlich eine Hand auf den Knauf, doch wenn sie in
die Nähe anderer Personen kam, die das Berühren einer
Waffe als Provokation empfinden konnten, ließ sie los.
Bisher hatte sie nicht das Gefühl, dass irgendetwas mit
der Klinge geschah. Laura hatte sich allerdings auch noch
nicht für einen Namen entschieden.

Missmutig marschierte Laura zu den Verwundeten.


Viele lagen auf blutigen Decken um Fêowyns Haus herum.
Ein großer Karren stand vor dem Haus, auf den drei
Elfen die schwer Verwundeten hoben. Vor dem Karren
nähte ein Elf sechs Trageriemen aus Leder zusammen,
damit kräftige Quirmóer den Karren in Zweierreihen
ziehen konnten. Laura fragte sich, wer eigentlich all die
unterirdischen Wege angelegt hatte, auf denen solche
Karren fahren konnten.
Den leichter Verwundeten suchte eine Elfin passend lange
Stöcke als Krücken aus einem Stapel und ließ dann Griffe
aus dem Holz wachsen, indem sie sich kurz konzentrierte
und mit den Fingern das Holz scheinbar herauszog. Gerade
stakste ein zerlumpter Verwundeter mit wütendem Gesicht
davon. Er war nicht damit einverstanden gewesen, dass
seine Krücke mit Zauberei bearbeitet wurde. Lieber wollte
er den Stock ohne Griff nehmen.
„Hallo, ich bin Laura, ich möchte bei der Versorgung
der Verwundeten helfen“, erklärte sie und blieb vor der
218 Krückenverteilerin stehen. Dem abziehenden Nachtelfen
mit dem grifflosen Stock sah sie nur kurz nach.
„Ich habe schon von Dir gehört! Ich bin Safériel“,
lächelte die Nachtelfin und hielt inne. „Du siehst ja
ziemlich kräftig aus für eine ... oh.“ Safériel blickte auf
Lauras Ohren, die aus elfischer Sicht kurz und klobig
waren. Laura wurde sichtlich traurig. Doch dann grinste
sie schief und blockte: „Ja, ich kann zupacken, im Vergleich
zu anderen Elfinnen.“ Bitter dachte sie: „So, Du hast also
schon von mir gehört. Aber scheinbar nichts von meiner
schlimmen Seite.“
Safériel sah beschämt zu Boden. Sie fing sich jedoch
schnell und erklärte: „Du kannst helfen, die Verwundeten
auf den Karren zu heben. Die drei Jungs da hinten sind
schon ganz kaputt.“
Laura nickte und ging zum Karren mit den Verwundeten.
„Hallo, ich soll Euch helfen!“, rief sie freundlich. Die drei
Nachtelfen blickten zu ihr, sahen ihre Halbelfen-Ohren
und ließen sich fast nichts anmerken.
„Das ist gut!“, schnaufte einer der Nachtelfen und
winkte Laura zu sich. „Du kannst mich ablösen damit,
die Füße der Verwundeten hochzustemmen. Ihr müsst
noch fünf weitere Elfen hochhieven. Ich werde nach ihnen
sehen und ein paar Verbände wechseln.“ Damit nickte er
den anderen zu und ging.
„Ich bin übrigens Laura“, sagte sie mit einem dünnen
Lächeln. Mit den beiden verbliebenen Nachtelfen ging sie
zum nächsten Verwundeten.
„Das ist ein Menschenname“, erwiderte der Jüngere
mit undeutbarer Stimme. Der Ältere schwieg und tat
teilnahmslos. Der Jüngere fügte hinzu: „Man sagt, Du 219
hättest die alte Blonde gerettet.“
Laura zögerte mit ihrer Antwort. Sie wollte „Ja,
allerdings!“ rufen und möglichst ärgerlich klingen. Aber
ihr war nicht nach Auseinandersetzung zumute. Mit
kraftloser Stimme antwortete sie bloß: „Das ist übertrieben.
Und mein Menschenname rührt daher, dass meine Mutter
viele Jahre die Menschenlande bereiste.“
Stumm trugen sie zu dritt den nächsten Bewusstlosen
zum Karren und hoben ihn hinauf.
„Du hast ganz schön dicke Arme und ein ziemlich
breites Kreuz für eine Elfin“, sagte der jüngere Nachtelf,
während Laura die Füße des Verwundeten hochhob.
Diesmal war es Laura, die schwieg und teilnahmslos tat.
Zum ersten Mal sagte der ältere Nachtelf etwas: „Sie ist
ja auch keine Elfin, Thióvael.“
Lauras Miene wurde unmerklich härter. Sie gestattete
sich nicht, noch stärker auf die Provokation zu reagieren.
„Ich habe dadurch Kämpfe überlebt, die Euch getötet
hätten!“, lag ihr auf der Zunge. Doch sie brach ihr
Schweigen nicht.
Stumm holten die drei den nächsten Verwundeten,
der manchmal träge die Lider zu heben versuchte. Wo
einst Hände waren, hatte er Stumpen, umwickelt mit
blutigem Stoff.
Sie legten ihn wie einen Sack Steine auf den Karren,
ohne Anteilnahme, jeder mit eigenen Gedanken
beschäftigt. Als sie sich wieder auf den Weg machen
wollten, hielt Thióvael Laura plötzlich fest. „Ich bin auch
stark!“, sagte der Nachtelf und kniete sich vor Laura.
220 „Komm, ich will wissen, wer stärker ist!“, verlangte er
und deutete mit dem Finger vor sich. Dann setzte er den
Ellbogen auf den Boden, hielt die offene Hand hin und
blickte erwartungsvoll zu Laura auf.
Stolz flammte in ihrem Gesicht auf und loderte in ihrer
Brust. Sie wollte die Herausforderung zum Armdrücken
annehmen. Doch wie sie den jungen Elfen so vor sich
knien sah, mit seinem naiven Blick und seinem makellosen
Gesicht, wurde sie wieder traurig. Ihr inneres Feuer
erlosch, als habe sein Anblick ihr kühles Wasser in den
Geist geschüttet. „Dafür ist keine Zeit“, seufzte sie und
wandte sich zum Gehen.
„Wie konnte so ein Feigling jemanden vor einer
Überzahl retten?“, fragte der ältere Nachtelf darauf von
der Seite und musterte Laura finster. Mit verschränkten
Armen stand er da, senkte den Blick wie ein Stier die
Hörner und schaute auf Laura herab, obwohl er nur
unmerklich größer als sie war.
Laura starrte mit offenem Mund zurück. „Was?“,
hauchte sie bloß verständnislos.
„Komm schon, Halbmensch!“, rief Thióvael aufgebracht
vom Boden aus. „Ich will wissen, wie stark Du bist!“
„Stärke ist nicht das Wichtigste im Kampf“, entgegnete
Laura verärgert und verschränkte ebenfalls die Arme. Sie
wusste, sie sollte Beleidigungen bloß geduldig zuhören,
bis dem Gegenüber von allein die Puste ausging. Aber
in ihr knisterte und knackte immer noch die Glut ihres
Stolzes. Außerdem wusste sie: Wenn sie das Armdrücken
verlor, galt sie als Schwächling, obwohl das für sie trotz
des menschlichen Anteils keine Schande gewesen wäre.
Doch wenn sie das Armdrücken gewann – wovon sie eher 221
ausging – galt sie als Barbarin. Sie konnte nur verlieren,
das machte sie zornig.
So lief es unter Elfen immer für sie. Schwächling,
Barbarin oder Feigling. So oder so, sie hatte schon
verloren – einzig durch das, was sie war und die feindselige
Absicht ihres Gegenübers. Sie schaffte es einfach nicht,
dass die bloßen Worte der beiden an ihr abperlten wie
Wasser, obwohl sie sich immer heimlich wünschte,
so ruhig bleiben zu können. „Feuer des Lebens“ hatte
ihre Mutter diese Eigenschaft genannt und keineswegs
verteufelt. „Lieber ein helles, gefährliches Feuer, als ein
unlebendiger, verirrter Funken, der schnell im Wind
vergeht. Nur den Umgang mit den Flammen muss man
üben, damit man sich nicht die Finger verbrennt“, hatte
sie stets hinzugefügt.
Traurig trottete Laura zum nächsten Verwundeten,
der auf den Karren getragen werden sollte. Dort wartete
sie mit leerer Miene auf die Nachtelfen, die ihr folgten
und hämisch grinsten. Beinahe glaubte sie die naive
Engstirnigkeit der beiden körperlich zu fühlen. Laura
fühlte sich ruhiger werden. Dadurch war sie bereits
zufrieden mit sich. Sie dachte sogar, die unschöne Szene
sei ausgestanden und zu dritt würden sie nun weiter die
Verwundeten tragen. Da schubste Thióvael sie zur Seite.
„Was ist denn dann das Wichtigste im Kampf, wenn
nicht Kraft? Los, zeig es mir, Halbmensch!“, pöbelte er.
Ungläubig starrte Laura ihn an und blieb ruhig stehen.
Das kostete sie alle innere Kraft. Hitze breitete sich
abermals in ihrer Brust aus.
222 „Das Wichtigste ist, zu wissen, wann man nicht
kämpft!“, knurrte Laura. „Außerdem sollte man Freund
und Feind auseinanderhalten können“, fügte sie spitz
hinzu. Sie wurde laut und schnauzte: „Und jetzt hör auf,
Dich wie ein Mensch zu benehmen!“
Thióvael starrte Laura reglos an. Dann sprang er wütend
vor und schlug mit der Faust nach ihr. „Ich lasse mich
nicht beleidigen!“, knurrte er.
Laura wich ungerührt nach seitlich vorn aus, ließ aber
einen Fuß in Thióvaels Bahn stehen. Er stolperte darüber.
Sie wunderte sich im nächsten Moment selbst darüber,
wie ruhig und souverän sie geblieben war, obwohl helle
Flammen in ihrer Brust züngelten. Noch vor ein paar Tagen
wäre sie vor Wut über die Maßen brutal geworden, wenn
ein Mitglied der Dorfwache sie so herausgefordert hätte.
Doch jetzt musste sie keine Angriffe mehr ausprobieren.
Sie wusste mit erschreckender Klarheit, wie sie dem Jungen
noch im Sturz das Genick hätte brechen können. Diese
Änderung am Anfang einer Kette von Reaktionen änderte
alles Weitere in ihrem Kopf. Sie wusste so genau, was sie
dem Jungen hätte antun können, dass sie die Angriffe
nicht einmal mehr andeuten musste, auch auf die Gefahr
hin, dass der unwürdige Gegner nicht von seiner naiven
Selbstüberschätzung erlöst wurde. Ausdruckslos sah sie
auf ihn herab. Das Lodern in ihr schwand.
Der Nachtelf schlug sich die Ellbogen am Boden auf
und sprang fluchend zurück auf die Füße. „Das wird Dir
noch leidtun!“, schrie er. Wieder hob er die Faust und
wollte Laura anspringen. Die Halbelfin hob nur leicht
das Kinn. Nicht einmal ihre Fäuste spannten sich an. Die
Fäuste waren das letzte Glied in der Kette und wurden 223
erst direkt vor dem Aufprall zum Leben erweckt, wusste
sie. Laura hatte diese Anweisung oft gehört. Jetzt plötzlich
wäre ihr zum ersten Mal auch die Umsetzung gelungen,
ohne dies noch einmal geübt zu haben. In der Ruhe
liegt die Kraft. Endlich fühlte sie, was diese Floskel aus
dem Training der Dorfwache bedeutete. Laura war wie
ausgewechselt, nur weil sie zu Beginn der Konfrontation
ruhig geblieben war.
Sie fühlte allerdings unmerkliche Anspannungen in
ihren Beinmuskeln, die von ganz allein bereit waren,
ihre Fäuste aus der Hüfte heraus mit unsäglicher Gewalt
vorwärtszuschleudern. Ohne einen bewussten Gedanken
programmierte ihr Körper ihre Fäuste auf sinnvolle
Ziele wie Lenden, Nase oder Kehle. Doch sie verspürte
weiterhin keinen Drang, dem ungestümen Jungen eine
ernste Verletzung zuzufügen. Sie wollte einfach bloß
dafür sorgen, dass er sie in Ruhe ließ. Etwas Neues
in ihr, dass sie noch nicht benennen konnte, hatte ihr
schwelendes Feuer plötzlich unter Kontrolle gebracht.
„Banale Fortschritte geschehen stufenlos im Körper,
doch echte Fortschritte sind Wendungen und Sprünge im
Kopf “, erinnerte Laura sich an einen weiteren Lehrsatz
ihrer Mutter.
Hinter sich hörte Laura plötzlich Safériels Stimme:
„Was ist hier los? Ihr sollt die Verwundeten auf den Karren
heben!“ Die Nachtelfin packte Laura am Arm und wollte
sie herumreißen, doch Laura blieb stehen. Als Safériel
ihren Arm losließ, drehte Laura sich ihr freiwillig zu.
„Was tust Du hier, Mädchen?“, fragte Safériel böse.
224 „Gar nichts“, antwortete Laura traurig. Sie wusste,
worauf das Gespräch hinauslief, als sie die höhnische
Miene des älteren Nachtelfen sah.
„Sie hat uns als Schwächlinge beschimpft und wollte
mich verprügeln!“, rief Thióvael und zeigte auf Laura.
Lauras Kopf sank ein wenig tiefer, ihre Augen wurden
dadurch in Schatten getaucht. „Das stimmt nicht“, seufzte
sie und drehte verneinend den Kopf hin und zurück.
„Vielleicht hilfst Du lieber woanders“, schimpfte Safériel
und wollte Laura fortschieben. Wieder rührte sie sich
nicht von der Stelle, ging dann aber von allein, als Safériel
sie losließ und zornig anfunkelte.

„Wieso macht mich das so traurig?“, fragte sich die


Halbelfin. „Ich weiß doch, dass ich nie dazugehören
werde!“ Sie dachte an Srrig und begann zu ahnen, warum
er ihr diese Aufgabe erteilt hatte. Ob sie in ihrer kurzen
Lebensspanne jemals sein Maß an Weisheit erreichen
konnte? Er hatte lange vor ihr gewusst, dass sie noch
immer nicht verarbeitet hatte, dass sie einfach keine Elfin
sein konnte.
Laura legte sich wieder auf die Decken in ihrem
Zimmer und schloss die Augen. „Ich vermisse Dich so,
Mutter!“, flüsterte sie unglücklich und legte einen Arm
über die Augen. Sie presste die Lippen fest aufeinander,
doch sie konnte ihre brennenden Augen nicht unter
Kontrolle halten.
Ein seltsam vertrauter Geruch erreichte ihre Nase, doch
sie wusste nicht, woher sie ihn kannte. Sie öffnete die
Augen – Srrig saß im Schneidersitz an ihrem Lager.
Sie erschrak vor der Gefahr, die das Wesen aus jeder 225
Pore seines Körpers verströmte, selbst wenn es sich ganz
friedlich verhielt. Aufmerksamkeit von einem Halbgott zu
bekommen, ehrte und beschämte Laura gleichermaßen.
Stillschweigend freute sie sich natürlich. Ihr Stolz erhielt
neue Nahrung. Verlegen berichtete sie: „Die Lösung
meiner Aufgabe ist nicht so gut gelaufen.“
„Ich weiß, ich habe zugesehen. Das Tragen der
Verwundeten war nicht der wichtige Teil, aber das hast
Du sicher schon selbst verstanden.“
Laura nickte und legte den Kopf wieder auf die Decke.
Sie faltete die Hände auf dem Bauch und berichtete: „Es
ist schwerer als gedacht, zu akzeptieren, was ich bin.“
Srrig nickte. „Ob jemandem eine Meinung gefällt oder
ob sie wahr ist, sind zwei unterschiedliche Dinge. Du
musst unterscheiden lernen, was wahr ist – und was nur
bequem wäre, für wahr zu halten. Und Dir muss klar sein,
dass die meisten Wesen, denen Du begegnest, bequem
sind und instinktiv gegen Dich sein werden, weil Deine
Seele überlegen ist. Wenn Du bequem wirst, trittst Du auf
der Stelle und entwickelst Dich nicht weiter. Die Wahrheit
ist unbequem, doch sie ist ein mächtiger Verbündeter.
Falle nicht auf den Begriff ,Gemeinschaft’ herein. Eine
Gemeinschaft ist immer ein Gegeneinander der Bequemen.
Ganz egal, ob es Elfen oder Tigermenschen sind.“
Laura ahnte ungefähr, was Srrig meinte, und nickte betrübt.
Sie driftete in einen Strudel aus Gedanken ab und
bemerkte kaum richtig, wann Srrig den Raum verließ.
Mit geschlossenen Augen träumte sie von ihrem Ziehvater
Endáruel und auch von ihrer kleinen Schwester Lishárial,
226 von der Laura oft als Halbmensch und Trampel aufgezogen
wurde. Außer den beiden schien ihr nichts geblieben zu
sein. Doch sie lebten in einem Dorf, das Laura niemals
wieder als ihre Heimat betrachten würde, nun, da sie es
einmal körperlich und auch geistig verlassen hatte.
Mit seltsamer Gewissheit wusste Laura, dass sie Endáruel
und Lishárial niemals wiedersehen würde. Die beiden
würden auf Jade und Laura warten, sie würden Tränen
vergießen und irgendwann das qualvolle Warten aufgeben.
Endáruel war ein attraktiver Elfenmann, er würde eine neue
Gefährtin finden und seinen Verlust überwinden. Lishárial
würde durch den Verlust ihrer ungeliebten Halbschwester
keine große Wunde davontragen – jedenfalls redete Laura
sich das ein. Sie wusste, sie müsste Heimweh haben, aber
wonach eigentlich? Nach wie vor fühlte sie sich heimatlos,
seit ihre Mutter tot war.

Laura erhob sich schniefend und verließ ihr Lager, um


Athónon aufzusuchen. Dort erstrahlte sie vor Freude und
rief: „Dein Auge ist wieder gesund!“
Athónon nickte, beide Mundwinkel zuckten nach
oben. Er wurde gleich wieder ernst und fragte: „Wieso
hast Du geweint?“
Lauras Lächeln verblühte. „Heimweh. Ich vermisse
meine Mutter. Außerdem hatte ich etwas Ärger mit den
Elfen hier. Sie akzeptieren mich nicht sonderlich.“
Athónon brummte: „’s ist noch heißer Tee da,
Pfefferminze mit Tempelbaum-Kraut und ein paar anderen
Zutaten. Das stammt von den Tigermenschen und soll gut
für das Gedächtnis sein.“ Er deutete auf seinen Rucksack.
Die magische Teekanne seines verstorbenen Mentors 227
Tugibenn, die jede Flüssigkeit beliebig lange warmhielt,
stand dampfend darauf. Taffi lag schlafend neben dem
Giebel und schnupperte gelegentlich.
Laura hatte bis eben eine Hand auf dem Rücken
behalten. Jetzt grinste sie verschmitzt und zog die Hand
hervor. Sie präsentierte Athónon einen irdenen Becher und
setzte sich im Schneidersitz an seinen Rucksack. Athónon
setzte sich dazu und schenkte ein.„Das riecht ... alt.“ Laura
rümpfte die Nase und blickte skeptisch.
Enttäuscht stellte Athónon die Kanne zurück und zog
einen Schmollmund. Zum ersten Mal, seit Laura ihn
kannte, versuchte er tatsächlich witzig zu sein.
„Ich bin fast zwanzig Jahre älter als dieser Tee, rieche ich
auch schon komisch?“, fragte der Gnom. „Nun hab Dich
nicht so. Der Tee kann gar nicht alt sein. Ich habe ihn in der
Zeitentruhe meines Lehrmeisters Tugibenn aufbewahrt
und erst für diese Reise wieder herausgenommen. Er ist in
den letzten zwanzig Jahren keinen Tag gealtert.“
„Er riecht trotzdem komisch. Ist da wieder Elfentod mit
drin? Wie bei dem Tee in der Menschentaverne?“
„Nur ein winzig kleines bisschen. Anregend.“ Athónon
zog einen Mundwinkel hoch, was bei anderen ein breites
Grinsen bedeutete.
Laura vertraute den Teekünsten des Gnoms und
wurde, wie schon zuvor in der Menschentaverne, vom
herausragenden Geschmack des Gebräus überrascht.
Sie wechselte das Thema. „Wie war das, als Du
Deine magische Klinge bekommen hast? Wie hast Du
sie ... erzogen?“
228 Athónon blickte überrascht auf das Kurzschwert an
Lauras Seite. Er nahm noch einen großen Schluck Tee,
bevor er antwortete. „Ich habe nicht viel gemacht. Die
Klinge war unterwegs immer dabei, manchmal spürte
ich eine Empfindung. Ich habe stets lange darüber
nachgedacht, was die jeweilige Empfindung bedeuten
könnte. Mit der Zeit entstand ein starkes Band. Die
Klinge half mir immer bereitwilliger und wurde stärker.
Heute sind wir wie ein altes Ehepaar, wir verstehen uns
ohne Worte, weil jeder vom anderen genau weiß, was
er denkt.“
Laura schmunzelte. „Ich bin wirklich gespannt, ob es
für mich genauso leicht sein wird“, dachte sie laut und
strich liebevoll über den Griff ihres Kurzschwerts – jener
Eisenwaffe, die selbst unverzaubert schon einen kleinen
Schatz darstellte, für den viele skrupellose Diebe sie ohne
Zögern im Schlaf erdolcht hätten.
Plötzlich wurde Athónon ernst. „Ich hatte einen
Traum“, begann er leise. Seine faltigen Augenschlitze
musterten Laura stumm.
Schließlich hielt sie die Spannung nicht mehr aus und
platzte: „Na los! Erzähl schon!“
Athónon schluckte bloß.
Laura kannte den alten Gnom inzwischen gut genug, um
jetzt hellwach und alarmiert zu sein. Ihr Herz beschleunigte.
„Es könnte sein, dass jemand noch einmal ein Opfer
bringen muss, zum Wohle Hevanors und der Welt“,
brachte Athónon tonlos hervor. Seine Stimme schien um
weitere zwanzig Jahre gealtert zu sein. Laura erstarrte und
blickte ihn mit wachsender Furcht an.
„Das wirst auf keinen Fall Du sein“, knurrte er leise. 229
„Hast Du verstanden?“
Laura wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Sie
öffnete den Mund, schloss ihn wieder und gestikulierte
unschlüssig mit der freien Hand, die nicht den Teebecher
hielt. Endlich brachte sie hervor: „Es war doch nur ein
Traum! Mach mir keine Angst um Dich!“
Athónon schwieg und blickte mit seiner Steinmiene in
den Tee.
Laura fasste seinen Ärmel und flüsterte: „Ich will nicht
schon wieder jemanden verlieren!“
Steinhart blickte Athónon auf und knurrte: „So ist das
sogenannte Abenteurer-Dasein nun mal. Du hättest es
wohl nicht so vorschnell wählen sollen.“
Erschrocken lehnte Laura sich zurück und ließ
Athónons Arm los.
Der alte Kundschafter redete sanfter weiter: „Du hast
Dein Leben noch vor Dir. Ich erlaube Dir ganz einfach
nicht, dass Du vor mir abtrittst. Wenn ich zu den Göttern
gehe, will ich Deiner Mutter ruhigen Gewissens ins
Gesicht sehen können.“
„Sag so was nicht!“, bat Laura entsetzt und blinzelte
eine Träne fort. „Es gibt immer einen Ausweg!“, rief sie
und beugte sich sorgenvoll Athónon entgegen.
Der Gnom lachte leise, ohne eine Miene zu verziehen.
„Ja, genau“, flüsterte er. Er hatte diesen Satz selbst schon
oft gesagt – sogar zu Jade, bevor sie jenes Dorf erreicht
hatten, in dem sie den Tod gefunden hatte.
Athónon stand auf und überragte die sitzende Laura
nun ein wenig. Er zeigte mit dem Finger drohend auf
230 sie und funkelte sie an. „Du wirst nicht freiwillig in den
Tod gehen, für niemanden“, befahl er laut. „Nicht für
Mèra, nicht für Srrig und nicht für mich. Für nichts und
niemanden. Hast Du verstanden?“
Laura starrte fassungslos zurück und merkte, wie sie
vor Aufregung und Angst zitterte. Plötzlich erdrückte
sein Charisma ihren Willen und Stolz. Sie wusste nicht
wieso, aber sie war einfach nicht in der Lage, irgendetwas
zu erwidern oder gar zu widersprechen, während seine
glimmenden Augenschlitze auf ihr ruhten. Mit offenem
Mund starrte sie Athónon nur an, während er sich
wieder hinsetzte und seinen Tee herunterkippte wie ein
Mensch einen Schnaps. Sie konnte auch jetzt noch nicht
widersprechen. Stumm wischte sie sich eine Träne von der
Wange. Erst jetzt bemerkte sie, dass Taffi zwischendurch
wach geworden war und zugehört hatte. Das Chamäleon
musterte Athónon. Laura unterdrückte den Reflex,
aufzuspringen und fortzulaufen. Sie wollte so lange wie
möglich in Athónons Nähe bleiben.
Laura schloss die Lider und legte den Kopf in den
Nacken. Innerlich sah sie noch immer Athónons Augen
auf sich gerichtet und sie war unfähig, sich gegen seine
Ausstrahlung zu wehren. Sie schluckte schwer. Ohne den
Kopf wieder zu senken oder die Augen zu öffnen, sagte sie
leise: „Ich schwöre Dir, mich nicht zu opfern – wenn Du
mir schwörst, es auch nicht zu tun.“ Als Athónon nicht
antwortete, blickte sie ihn plötzlich gehetzt an und packte
wieder seinen Ärmel. „Lass uns das gegenseitig schwören!
Lass uns zusammenhalten!“ Athónon schüttelte schwach
den Kopf. Laura ließ ihm keine Zeit für eine Antwort.
„Warum nicht?“ Sie rüttelte an seinem Arm und schrie 231
noch lauter: „Warum nicht?“
„Jemand muss es tun“, raunte Athónon mit seiner alten
Felsenstimme. „Aber das wirst nicht Du sein. Ich weiß
nicht, wer es sonst sein wird, wenn nicht ich – vielleicht
kommt mir Taren zuvor; ihm würde ich es auch zutrauen.
Doch ich kenne weder ihn, noch Paaldrag oder Brommil
gut genug, als dass sie in meinen Träumen vorkämen. Du
bist die Tochter einer guten Freundin, die ich zwanzig
Jahre lang kannte, daher warst Du Teil meiner Gedanken.“
Athónon seufzte schwer durch die Nase und schloss mit
unanfechtbarer Endgültigkeit: „Es wird noch ein Opfer
von unserer Gruppe verlangt werden, aber Du wirst dieses
Opfer nicht bringen. Ich verbiete es Dir im Namen Deiner
Mutter. Das ist alles, was es darüber zu sagen gibt.“
Als Laura aufgebracht etwas erwidern wollte, sah
Athónon sie so intensiv an, dass ihr die Worte im Halse
stecken blieben. Sie rutschte nur näher, umklammerte den
reglosen Gnom und legte ihren Kopf auf seine Schulter.
232 15

Taren marschierte durch Quirmó und schaute sich nach


Elfen um, die vielleicht seine Hilfe brauchten. Seine Gebete
hatten seinen Glauben wieder gestärkt. Ohne Wissen einer
Aufgabe entgegen ... eine heilige Wegweisung!
In jeder zweiten Nachtelfin sah er jedoch Nenúriel,
seine gefallene Gefährtin. Er hatte seinen Schmerz noch
nicht verarbeiten können. Taren war kein Mann, der sich
wehleidig in eine Ecke setzte. Zumal langes Grübeln zu
Wissen führen konnte und damit die Amdovenn stärken
würde, wie die Prophezeiung von Theb Nor lehrte
und er selbst fest glaubte. „Wissen ist böse!“, legten die
heutigen Priester die Worte Theb Nors aus. Kein noch so
wohlüberlegter Gedanke hätte außerdem Tarens Gefährtin
zurückgebracht. Doch Taren musste sich beschäftigen, bis
der Verlustschmerz von allein heilte.
In einer Höhle am Stadtrand hörte er ein Streitgespräch
zwischen zwei männlichen und einer weiblichen Stimme.
Scheinbar ging es darum, nicht zu viel unnützen Plunder
mitzunehmen. Die weibliche Stimme beharrte darauf, dass
ihr angeblicher Plunder keineswegs unnütz sei. Taren ging
zum Eingang der Höhle, um nach dem Rechten zu sehen.
Auch Neugier führte zu Wissen und stärkte die Amdovenn ...
Die Nachtelfin hielt einen Hammer in der Rechten
erhoben. Unter der nackten Haut der Oberarme sah
Taren jeden einzelnen Muskelstrang arbeiten. In
der Linken hielt sie einen Lederbeutel fest, an dem
einer der zwei männlichen Nachtelfen zerrte. Die
Nachtelfin stand trutzig vor einem flachen Stein, der 233
wiederum zu Füßen eines glühenden Kohlenbeckens
lag. Achtlos daneben in eine Ecke geworfen, lagerten
steinerne Gussformen für Metallgießerei. Dazwischen
verstreut lagen kupferne und bronzene Speer- und
Pfeilspitzen sowie einige Dolch-Rohlinge ohne Griffe.
Bei genauerer Betrachtung stellte Taren fest, dass
diese Metallgegenstände schief und unförmig waren
und beim Gießen außerdem Bläschen gebildet hatten.
Augenscheinlich übte hier jemand noch.
Rauch hing kalt und schmierig in der Höhle, die Wände
waren schwarz vor Ruß. Auch die Haut der Nachtelfin war
nicht gerade sauber. Sie trug eine schwere Lederschürze
und darunter ein zerschlissenes Kleid, das, wie ihr kurzes
Haar, starr vor Ruß war und nur an wenigen Stellen noch
erkennen ließ, dass der Leinenstoff einst hell gewesen war.
Der dritte Nachtelf verlangte scharf: „Du lässt diesen
Menschenkram hier! Wir brauchen Dein Eisenerz nicht!
Das sind sowieso bloß glitzernde Steine und ein paar
Späne! Du wirst es nie hinkriegen, genug Erz zu sammeln
und eine Waffe ganz aus Eisen zu schmieden! Also lass den
Unsinn zurück und komm jetzt mit!“
Die Elfin schrie wütend: „Du Dummkopf hast keine
Ahnung, wie Eisenerz aussieht! Ich brauche nur etwas
Zeit, dann schmiede ich ein eigenes Schwert aus Eisen und
wir werden unabhängig von der Außenwelt sein! Ich trage
meine Steine allein, keine Sorge! Also lass mich einfach in
Ruhe und kümmere Dich um Dein eigenes Gepäck!“
Der Elf riss vergeblich am Beutel der Frau. Als er
herumwirbelte, um Schwung zu nehmen, sah er Taren im
234 Eingang stehen. Alle drei Elfen hielten inne und musterten
den Fremden beschämt.
„Ich habe schon oft rohes Eisenerz gesehen. Soll ich mal
einen Blick auf Deine Steine werfen?“, fragte Taren höflich.
Zwar mehrte er so das Wissen der Elfen, doch befing
ihn Stolz auf sein Volk, das die Eisenverarbeitung im
Gegensatz zu den Quirmóern sehr gut beherrschte. Und
wie Eisenverarbeitung den Amdovenn nützen sollte, sah
er nun wirklich nicht. Würde sie dies stärken, dürften
die Menschen auch kein Metall bearbeiten. Taren würde
es nach außen nie zugeben, aber er wusste nicht, wo
die Grenze lag. In seinem ganzen Leben hatte er es nie
gewagt, einen Hohepriester danach zu fragen. Als reiner
Befehlsempfänger fühlte er sich sicherer.
„Ja, bitte schau einmal!“, sagte die Elfin energisch und
entriss dem Widersacher den Lederbeutel. Sie stapfte zu
Taren und blickte zu ihm herab. Der Mensch war fast
einen Kopf kleiner. Sie legte den Hammer zu Boden
und öffnete den Beutel, sodass Taren hineingreifen
konnte. Er nahm einen der glitzernden dunklen Steine
heraus und betrachtete ihn. Währenddessen kamen die
beiden anderen Elfen zögernd näher und musterten den
Steinklumpen abfällig.
„Da ist rohes Eisen drin, so, wie es in der Natur eben
vorkommt. Es ist allerdings nicht sehr viel. Ich glaube
nicht, dass dieser Beutel für ein Schwert reichen wird“,
erklärte Taren und zeigte auf die Erzspuren.
Die Elfin und die beiden Männer betrachteten sich
gegenseitig triumphierend. Beide Parteien fühlten sich in
ihrer Meinung bestätigt.
Taren wandte sich der Elfin zu. „Für einen Langdolch 235
wird es aber sicher reichen, und dann kannst Du Übung
im Bearbeiten von Eisen sammeln.“ Er warf den Stein in
den Beutel zurück.
Die Elfin nickte freundlich und lächelte breit in Tarens
Gesicht. Ihre Zähne waren allerdings keine Augenweide.
Taren biss sich auf die Lippe, als er bemerkte, dass er auf
die braunen Löcher gestarrt hatte. Er merkte es daran,
dass die Elfin schnell wieder die Lippen schloss und
betreten zu Boden sah. Bei Menschen wäre das kein allzu
ungewöhnlicher Anblick gewesen. Doch bei Elfen sah
Taren so etwas zum ersten Mal. Irgendwie passten kaputte
Zähne und Elfen nicht zusammen.
Die beiden Männer zogen derweil schnaubend ab.
Hinter Taren entfernte sich einige Lästerei über den
„sinnlosen, dreckigen Menschenkram.“

Die Elfin lächelte dünn. „Danke. Ich heiße Olériel. Wo


hast Du unsere Sprache gelernt?“
„Ich bin Taren.“ Er zögerte und sackte ein wenig
zusammen. „Ich kannte eine Elfin, die mich Eure
Sprache lehrte. Sie hatte einen anderen Dialekt als hier
in Quirmó, aber es funktioniert. Wieso befasst Du Dich
mit Schmiedekunst?“
Olériel blickte Taren ernst an. Ungerührt antwortete sie:
„Meine Eltern und meine Brüder wurden vor zehn Jahren
von Menschen ermordet, als sie Eisenwaffen eintauschen
wollten, die wir leider nicht selbst herstellen und doch
gebrauchen können. Der rechte Arm meines Vaters briet
über dem Feuer, als wir die schuldigen Menschen fanden.
236 Von meinen Brüdern fanden wir nur noch getrocknete
Blutlachen auf dem Fels. Meine Mutter fanden wir gar
nicht. Aber ich fühlte, dass auch sie nicht mehr lebte.“
Taren sah zu Boden und schwieg.
Olériel ließ den Blick über die Stadt schweifen
und grinste schief. „Ich weiß, dass Menschen sehr
unterschiedlich sind. Ich kenne Euch ganz gut, glaube ich.
Seit meine Eltern starben, war ich jedes Mal dabei, wenn
Quirmó seine Händler an die Oberfläche geschickt hat,
um mit den letzten Freien zu tauschen, die noch nicht vom
Imperium versklavt worden sind. Wärst Du jedoch einer
von diesen wilden Mördern gewesen, hätte ich Dir längst
den Schädel eingeschlagen.“ Etwas scheu beobachtete sie
Tarens Reaktion.
Der Tempelkrieger brach sein Schweigen nicht. Er
musterte seinerseits Olériel. In seinem Gesicht arbeitete es.
„Wer war Deine Sprachlehrerin?“, wollte Olériel
die Spannung schnell auflösen, die ihr nun selbst
unangenehm wurde.
Taren presste die Kiefer aufeinander und blickte an
Olériel vorbei auf ihren Steinamboss. Ohne auf ihre Frage zu
antworten, sagte er: „Du wirst auf Dauer härteres Material
als Stein brauchen, um Eisen darauf zu schmieden.“
„Tut mir leid“, raunte Olériel, als sie Tarens Schmerz
in seinen Augen sah. Sie wechselte das Thema und fragte
neugierig: „Wie viel weißt Du über Eisen? Kannst Du mir
etwas beibringen?“
„Ich bin kein Experte“, brummte Taren. Und zu
viel Wissen ist ungesund. „Aber ich weiß, dass Du
einen abgeschlossenen Ofen für Dein Feuer brauchst,
um eine ausreichend hohe Hitze zum Eisengießen zu 237
bekommen. Außerdem glaube ich zu wissen, dass rotes
Glühen weiches Eisen bedeutet, und hellorangefarbenes
Glühen hartes Eisen, wenn Du es nach dem Erhitzen
sofort in Eiswasser tauchst. Aber wie gesagt, ich bin
kein Experte.“
Olériel sah Taren mit leuchtenden Augen an. Sie reckte
ihm die Hände entgegen und rief: „Ich habe geahnt, dass
es an der Hitze scheitert!“ Bevor Taren noch etwas sagen
konnte, drückte Olériel den zweihundert Pfund schweren
Krieger fest an sich und hob ihn an. „Leider kann ich die
ganzen Formen nicht auch noch mitnehmen, aber ich
werde neue meißeln!“, rief sie aufgeregt und lief in die
Ecke mit den Resten ihrer Experimente. Ihren Hammer
hatte sie vor Tarens Füßen liegen gelassen.
Einige Bronzestücke warf die Nachtelfin zu den
Eisenerz-Klumpen in den Lederbeutel. Taren ertappte sich
dabei, wie er ihre Hüfte anstarrte, während sie sich bückte.
Ihr zerschlissenes Leinenkleid spannte sich wohlgeformt.
Sie war so mit ihren Metallstücken beschäftigt, dass sie
nicht mitbekam, wie Taren rot wurde und sich abwandte.
„Ich warte draußen, wenn es Dir recht ist“, rief er ein
wenig verlegen. Schon seit Kindertagen hatte man ihm
nachgesagt, er könne sich keinen Lidschlag seines Daseins
entspannen. Ein Lächeln von Taren war meist eine
eingelöste Schuld gegenüber einem Gesprächspartner,
aber selten ein Zeichen von Freude.
Olériel stutzte und blickte hinter sich, noch immer
gebückt. Sie grinste schwach, vermied es aber, ihre
Zähne zu zeigen.
238 Taren hörte die Nachtelfin in der Höhle rumoren. Er
konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Irgendwie war
sie ihm sympathisch, aber nicht wie Nenúriel, sondern
einfach wie ein guter, lange vertrauter Freund. Zumindest
redete er sich das ein. Er wollte nicht schon wieder
jemanden näher an sich heranlassen. Außerdem kannte er
diese robuste Schmiedin praktisch nicht. Wie gern würde
er jetzt den Nachthimmel und den Mond sehen, um zu
deuten, was sein Gott von ihm erwartete!
Wo Taren voller Spiritualität und Disziplin war, war
Olériel ganz natürlich. Wie ein naives Kind vor jeglichem
Altar, war ihr Geist noch nicht mit Rollen, Erwartungen
und heiligen Gesetzen malträtiert und unter Schmerzen
in ein Seelenkorsett gezwungen worden. Dennoch war
eine vor Schmutz starrende Schmiedin mit so schlechten
Zähnen nicht gerade ein Wesen, mit dem Taren sich
vorstellen konnte zu leben, das Bett zu teilen und
Kinder zu zeugen. Nur, wieso war der immerernste
Tempelkrieger dann plötzlich nervös und trat von einem
Fuß auf den anderen?
Der Hauch eines schlechten Gewissens nagte an ihm,
weil er sich für Olériel mit Wissen beschäftigt hatte,
mit Eisenverarbeitung, obwohl niemandes Überleben
davon abhing.

Schließlich stapfte Olériel mit einem riesigen Rucksack


auf dem Rücken aus der Höhle. Der Hammer baumelte in
ihrer Hand und die schwere Lederschürze trug sie ebenfalls
noch. Die beiden lächelten sich an, als würden sie sich
schon ewig kennen. Nebeneinander marschierten sie zum
Treffpunkt am Ausgang der Haupthöhle von Quirmó, an 239
dem Taren und Srrig vor der Schlacht angekommen waren.
„Bist Du eigentlich magisch begabt?“, fragte Taren im
Gehen, ohne Olériel anzublicken.
Olériel zögerte. Leise verneinte sie. „Du?“
Taren wollte ebenfalls verneinen, doch dann fiel ihm
ein, dass Elfen seine göttliche Gunst von Bruder Mond,
dessen Beistand er erbitten konnte, für Magie hielten.
Er warf Olériel einen kurzen Seitenblick zu. „Ich bin
ein Tempelkrieger. Das bedeutet, ich diene einem Gott
der Menschen, dessen Kraft ich erbitten kann, um
beispielsweise einem Kämpfer den Arm zu stärken oder
um Wunden zu heilen. Mein Gott, Bruder Mond, ist
außerdem sehr stark, wenn es um das Vernichten untoter
Kreaturen geht. Vom Volk wird er aber vor allem um eine
erholsame Nachtruhe gebeten.“
Olériel berührte Tarens Arm mit der freien Hand
ganz leicht und flüsterte: „Meine Zähne stoßen Dich ab,
deshalb siehst Du mich nicht an, oder?“
Taren blieb stehen und drehte sich ihr zu. Auch Olériel
hielt inne. Sie bebte sacht und starrte Taren in die Augen.
Stirnrunzelnd fragte er: „Was hast Du denn auf einmal?“
Natürlich kannte er die Antwort, er war nur unbeholfen.
Olériel lächelte unsicher und hielt sich mit der freien
Hand am Schulterriemen ihres Rucksacks fest.
„Von wegen, Du kannst nicht zaubern“, flüsterte Taren
und spürte, wie sein Herz zu hämmern begann. „Wie ist
das möglich? Wir kennen uns erst ein paar Augenblicke!“,
keuchte er und trat einen Schritt zurück. Für einen
Moment dachte er in völligem Ernst daran, dass sie ihn
240 verzaubert haben musste. Er fühlte sich, als hätte Nenúriel
selbst ihm ihren Segen zu einer neuen Gefährtin gegeben.
Zu einer Nachtelfin, die er praktisch nicht kannte und
die ganz und gar nicht dem Bild entsprach, das er – hätte
man ihn zum Wählen gezwungen – als seinen Geschmack
beschrieben hätte.
Langsam ließ Olériel den Kopf sinken. Traurig raunte
sie: „Entschuldige. Ich weiß nicht, was in mich gefahren
ist.“ Sie stapfte mit hängendem Kopf an Taren vorbei.
Nach zwei Schritten machte er einen Satz hinter ihr her,
überholte sie und sah zu ihr auf. Seine Hände strichen
zärtlich über die Rußflecken auf ihren Schultern, unter
denen ihre Haut samtig weich war – jedenfalls dort, wo
ihre Muskeln nicht ganz so deutlich hervortraten. Olériel
ließ langsam den Rucksack vom Rücken gleiten, bis er und
der Schmiedehammer gleichzeitig dumpf zu Boden fielen.
Verlegen blickte Taren zu den Seiten, wo geschäftige
Elfen die beiden angrinsten.
„Was ist? Stören Dich etwa die Blicke der anderen?“,
wunderte Olériel sich und legte den Kopf schief. „Das ist
süß“, flüsterte sie und küsste Taren auf die Stirn. „Komm!“,
rief sie, fasste Tarens große Hand und zog ihn mit sanfter
Gewalt hinter sich her.
„Dein Hammer und Dein Rucksack“, erinnerte Taren
sie und hielt sie fest.
„Jeder weiß, wessen Sachen das sind. Nur Olériel
nimmt Hammer und Steine mit auf die Reise“, lachte
die Nachtelfin und zerrte erneut an Tarens Hand. Mit
einem zaghaften Lächeln gab der Tempelkrieger nach
und folgte Olériel.
Sie führte ihn in einen kleinen Tunnel, in dem selbst 241
Taren sich bücken musste, um sich nicht den Kopf zu
stoßen. Abermals hielt er Olériel fest und blieb stehen.
„Was ist, wenn die Schlangenblüter hier herumschleichen?
Ich habe keine Waffe dabei!“
Olériel setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken
an die gewölbte Tunnelwand. Die Arme breitete sie an der
Wand aus. „Der Tunnel führt zu einem winzigen See in
einer Grotte, zu der es keinen anderen Zugang gibt.“ Sie
sah Taren so ausdruckslos an, wie ihr hämmerndes Herz es
zuließ. „Möchtest Du mit mir dorthin gehen, oder sollen
wir zurück?“, hauchte sie.
Taren schluckte. Er verlor sich in den liebevollen Augen
der elfischen Schmiedin und vergaß alles andere. Er vergaß
den Ruß in ihrem Haar und die Löcher in ihren Zähnen,
versank hilflos in ihren verträumten Blicken. Als hätte er
einen Schlag in den Nacken erhalten, fiel er vor Olériel auf
die Knie und mit seinem Gesicht direkt vor ihres. „Ich will
nicht zurück. Aber schaffen wir es bis zur Grotte?“, raunte
er und kam mit seinen Lippen näher an Olériels heran,
während seine Lider herabsanken.
„Ich muss wohl eine Schwäche für Außenseiter haben“,
dachte Taren bei sich. Außerdem war ihm klar, dass er
kein Verführer war und längst nicht jede haben konnte.
Er schob sein Gesicht noch weiter – auf einmal wäre er
fast vornübergekippt. Olériel krabbelte lachend auf allen
vieren voraus und winkte Taren hinter sich her. „Ist nicht
mehr weit!“, rief sie vergnügt und strahlte ihn an.
Taren krabbelte ihr nach um eine Biegung, schon hörte
er sie planschen. Für einen Moment wurde er langsamer,
242 fast hätte er angehalten. Die Bewohner von Quirmó zogen
vielleicht alle dem Tod entgegen. Würde er es noch einmal
ertragen, eine Gefährtin zu verlieren?
Er schüttelte die düsteren Gedanken ab und kroch eilig
weiter. Nenúriel hatte ihm eine so einfache Denkweise
über das Leben beigebracht, wie er sie im Tempel nie
kennengelernt hatte, obwohl sie hervorragend zur Auslegung
der Prophezeiung Theb Nors passte: Lebe sofort, nicht
morgen und nicht bloß in Gedanken. Für viele Menschen
klang das banal, kannten sie es doch aus ihren Tempeln.
Taren hingegen fiel es um so schwerer, dieser Philosophie
zu folgen, je mehr er sich anstrengte. Vielleicht war das
Anstrengen das Problem, aber er konnte nicht anders.
Taren passierte die Biegung und war angenehm
überrascht: Er hatte eine dunkle, lichtlose Pfütze erwartet.
Doch er kroch in ein mildes, dunkelrotes Licht, dessen
Quelle am nahen Grund eines winzigen Sees aufleuchtete.
„Das Licht wird von unseren Zauberern bereitgestellt.
Die sorgen auch dafür, dass der See angenehm warm ist“,
erklärte Olériel. Ihr Kopf und ihre Schultern ragten vor
Taren aus dem Wasser. Nur ihre Lederschürze hatte sie
abgestreift. Das alte Kleid klebte nass auf ihrem Körper,
die Haut schien durch. Plötzlich schoss sie aus dem
Wasser, packte Tarens Kopf und riss ihn mit sich in den
See. Sie küsste ihn so leidenschaftlich, dass er kaum Zeit
zum Luftholen hatte. Auch sie schien atemlos, als sie ihm
ihren Hals an die Lippen presste und den Kopf in den
Nacken fallen ließ. Sie stöhnte: „Wieso können Männer
nicht vier Hände haben?“
Taren hätte nie zu denken gewagt, dass er Nenúriel so 243
schnell vergessen konnte. Olériel wirkte auf ihn ungleich
aufregender und so voller ansteckender Lebensfreude, dass
Nenúriel in Tarens Erinnerung wieder zu der schüchternen,
traurigen Gestalt verblasste, die er zu Anfang in ihr
gesehen hatte. Wunderschön, aber nichts sonst, nichts
hinter der Oberfläche außer Trauer und Zerbrechlichkeit.
Hätte das auf Dauer alles sein können? Hätte das eine
gute Mutter für seine Kinder ausgemacht? Er verdrängte
diese Gedanken, er wollte Nenúriel in guter Erinnerung
behalten – das hatte sie verdient, außerdem gehörte es sich
für einen Tempelkrieger, die Toten zu ehren.
Olériel und er lagen aneinandergeschmiegt auf ihrer
Kleidung, gegenüber dem Eingang am Ufer des winzigen
Sees. Erst jetzt, da die Nachtelfin frisch gebadet war, ihre
Haut makellos und rein erschien und ihr Haar frisch duftete,
erblühte ihre Schönheit in voller Pracht. Sie schmiegte ihr
Gesicht an Tarens Bart und blickte mit leuchtenden Augen
zu ihm auf. „Danke, dass Du mich so annimmst, wie ich
eben bin“, flüsterte sie. „Ich könnte Dich auffressen, aber ich
fürchte, wir müssen zum Treffpunkt.“
Nur widerwillig zog Taren seine Hand von Olériels
Hüfte zurück. „Tja, kaum sind die Sachen etwas
getrocknet, müssen wir wieder schwimmen“, grinste er.
Die beiden setzten sich an den Uferrand und kleideten
sich an.
„Hm, stimmt. Das ist wirklich ein Haken an dieser
Grotte“, überlegte Olériel scheinbar angestrengt und
legte den Kopf schief. „Die nächste Grotte sollte jemand
anlegen, der sich damit auskennt.“
244 Taren bemerkte ihre Hand in seinem Rücken nicht,
bis sie ihm plötzlich einen kräftigen Schubs gab. Noch
bevor er sich revanchieren konnte, sprang sie ihm
jauchzend hinterher.

Als die beiden tropfend aus dem Tunnel in die


Haupthöhle traten, standen viele Elfen bereits am
Sammelpunkt abmarschbereit. Olériels Rucksack lehnte
an einer Wand, und am Rucksack lehnte ihr Hammer.
Etliche grinsende Elfen sahen sie und Taren, wie sie aus
dem Tunnel eilten. Olériel wusste, dass nun der verhasste
Tratsch über sie mal wieder losging, Tratsch darüber,
dass die unelfische Steinklopferin und Ruß-Fetischistin
jetzt auch noch mit einem Nicht-Elfen anbandelte. Ihr
Volk verstand unter Kultur allzu oft, hochnäsig und
eingefahren zu sein.
Taren bemerkte Olériels angespannte Miene.
Unwillkürlich tastete ihre Hand nach Tarens und ergriff
sie fest. „Was hast Du?“, raunte er.
Olériel ließ den Blick nicht von den tuschelnden Elfen,
während sie leise erwiderte: „Die meisten Elfen mögen
mich nicht sonderlich, so wenig wie sie Fremde oder gar
Nicht-Elfen mögen. Auch nicht, wenn sie trocken sind.
Ich weiß ja nicht, wie viel Deine vorige Gefährtin Dir über
das Status-Gehabe der Elfen erzählt hat, aber ...“
Nenúriel war selbst eine Außenseiterin und eine
Stadtelfin gewesen. Sie hatte Taren fast gar nichts über
Elfen im Allgemeinen erzählen können. Doch das war
jetzt nicht mehr nötig. Auch Taren wusste die spöttisch
blitzenden Blicke zu deuten. Die Elfen versuchten, ihre
Meinung zu verbergen, manche heuchelten Höflichkeit. 245
Doch Taren war weder dumm noch unerfahren. Er
verstand es sehr gut, in den Augen von Lebewesen zu
lesen, egal ob von Menschen, Elfen oder sonst einem Volk.
Manche Dinge waren überall gleich, und bei allen Völkern,
die Taren je getroffen hatte, waren die Augen immer auf
dieselbe Weise die Fenster zur Seele gewesen. Manche
Waldläufer konnten sogar in den Augen von Tieren lesen,
wusste Taren. Unterschiede zwischen den Völkern gab es
erst, wenn es um Einzelheiten ging – die Arroganz aber,
die Taren hier entgegenschlug, war offenkundig und
gewiss keine Einzelheit.
Taren entdeckte Paaldrags riesigen Drachenschädel
in der murmelnden Menge. Kurz darauf sah er auch
Laura, dann Athónon und Brommil. Nur Srrig und Mèra
entdeckte er nicht.
Am Rande fiel Taren auf, dass immer wieder einzelne
Lichtkugeln erloschen und kurz darauf neu entstanden,
begleitet von einigem Gezeter und wütendem Streit. Der
Tempelkrieger erinnerte sich kopfschüttelnd an die Worte
des Zauberers Myándirel, über die zwiespältige Meinung
der Nachtelfen in Bezug darauf, ob man Magie benutzen
durfte oder nicht.
Olériel warf sich ihren Rucksack auf den Rücken und
packte ihren Schmiedehammer, dann folgte sie Taren zu
dessen Reisegefährten.
246 16

Da alle beisammen standen, hatte Laura endlich die


Gelegenheit, sich bei Brommil zu bedanken: Nachdem
Melek sie vor der Schlacht in einem Seitengang
zusammengeschlagen hatte, war der Zwerg hinzugeeilt
und hatte Melek vertrieben. Brommil nickte und
freute sich über die Anerkennung. Dann entdeckte
er Taren und Olériel. „Hey, Du bist doch nicht die
stärkste Frau in dieser Höhle!“, scherzte Brommil und
stupste Laura an. Sie, Athónon und Paaldrag wandten
sich darauf ebenfalls Taren und dem neuen Gesicht an
seiner Seite zu.
Olériel lächelte Tarens Begleiter an, selbst Paaldrag
schien sie ohne Vorurteile zu betrachten. „Ich heiße
Olériel“, sagte sie fröhlich, doch wohl darauf bedacht,
ihre Zähne nicht zu zeigen.
Taren stellte seine Begleiter vor, die freundlich nickten.
„Ihr seid ganz nass, was ist passiert?“, wunderte Laura
sich und sah ehrlich besorgt aus.
Taren und Olériel blickten gleichermaßen verschmitzt
drein und schwiegen, bis Laura verstand und zaghaft
grinste. „Ach so“, machte sie leise.
„Wo sind Srrig und Mèra?“, fragte Taren.
„Beim Rat“, antwortete Laura. Mit dem Kinn deutete
sie über den wuselnden Zug der Nachtelfen hinweg auf das
größte Gebäude Quirmós. „Wir warten nur noch auf die
Ratsmitglieder. Soweit ich gehört habe, starben zwei von
ihnen beim Angriff auf die Stadt, und bevor es losgeht,
wollen die verbliebenen Stadträte erst die Nachfolge 247
bestimmen.“
Olériel nickte und meinte: „Das habe ich auch gehört.
Myándirel soll Velýthoel nachfolgen, obwohl er halb blind
ist. Aber ich weiß nicht, wer Kanmárael ersetzen soll, er
war außer Konkurrenz. Ich hoffe, dass es nicht Gamáal
wird, der Mann ist verrückt und böse. Dummerweise ist
er aber der beste Krieger Quirmós, hat also gute Chancen.“
Taren staunte: „Myándirel wird ein Ratsmitglied?
Der, der nicht mal einen Lichtzauber für seine Höhle
zustande bringt?“
Olériel grinste zurück: „Ich habe ein Gerücht darüber
gehört, dass er aber sehr wohl in der Lage gewesen
ist, Deinem großen felligen Freund sein Gedächtnis
zurückzubringen. Außerdem macht Myándirel ein
ziemliches Geheimnis daraus, was er im Gedächtnis dieses
Tigerwesens gesehen hat.“
„Nun, ja ...“, brummte Taren ausweichend. Olériel
wartete vergeblich auf eine nähere Erklärung.
Sie hob sich ihre Fragen für später auf und schilderte:
„Außerdem war Myándirel Velýthoels Meisterschüler,
und wenn er nicht so kurzsichtig geworden wäre und diese
komische Einstellung zur Magie entwickelt hätte, dann
hätte er seinen alten Meister schon früher abgelöst, heißt
es. So aber ist Velýthoel ungewöhnlich lang und mit einem
zu hohen Alter auf seinem Platz geblieben. Man sagt, er
hätte keinen anderen würdigen Kandidaten als Nachfolger
gewusst, um in den verdienten Ruhestand zu gehen.“
Ein elfisches Kleinkind lief am Rand des Flüchtlingszuges
entlang und weinte. Offenbar hatte es seine Eltern im
248 Gedränge verloren. Oder in der Schlacht zuvor. Es trug
ein vornehmes Kleid und rote Bänder im Haar. Plötzlich
stiegen bunte Lichtperlen aus seinem Haar bis unter die
Höhlendecke. So fand die Mutter es rasch wieder. Sie
umarmte das Kind unter den missbilligenden Blicken
einiger Umstehender, denen der verschwenderische Einsatz
von Magie nicht gefiel.

Olériel musterte Laura, die etwas unsicher zurückblickte.


„Du bist also diese Kriegerin, die Mèra gerettet hat?“,
fragte sie neugierig.
Laura schien erst jetzt, durch die Reaktion Fremder zu
verstehen, dass sie nicht bloß träumte. Sie straffte sich mit
unverhohlenem Stolz und bejahte.
Schon war ihr Moment des Ruhmes aber wieder vorbei.
Denn Brommil, der auch Lauras Niederlage gegen Melek
kannte und sie nicht mit solch großen Augen bestaunte,
wechselte das Thema: „Wüsste ich es nicht besser, würde
ich Dich für eine Schmiedin halten, Olériel“, sagte er und
deutete auf den Hammer und die verrußte Lederschürze.
„Ich versuche es“, lächelte sie. „Stimmt es eigentlich,
dass Zwerge von Natur aus begabte Schmiede sind? Man
erzählt sich hier so etwas.“
Brommil hob ratlos die Hände und meinte: „Ja, in
meiner Heimat erzählte man mir das auch. Aber um der
Wahrheit die Ehre zu geben: Ich habe zwei linke Hände
fürs Handwerk. Ich zog als Söldner in die Weite Hevanors
hinaus.“ Sein Blick trübte sich. Leiser fügte er hinzu: „Für
Gold töten konnte ich früher ganz gut, bevor ich Sklave
der Chimärier wurde.“
Olériels Lächeln verblasste. Ihr Blick wanderte 249
unwillkürlich zu Paaldrag empor. Der grinste sie
plötzlich mit seinen messerscharfen Zähnen an und
machte laut: „Buh!“
Olériel zuckte heftig zusammen und wurde bleich,
obwohl sie sofort verstanden hatte, dass der Chimärier nur
einen derben Scherz gemacht hatte.
„Ich weiß, dass nicht alle Vertreter eines Volkes gleich
sind. Seht mich an!“, versuchte sie, fröhlich zu klingen,
doch es gelang ihr nicht richtig. „Ich war auch mal Sklavin
im Imperium, für ein paar Monde“, berichtete sie plötzlich
leise. „Sie hatten mich und ein paar andere gefangen, als
wir an der Oberfläche gewesen waren. Sie wollten mich in
der Niederenzucht in einer weit entfernten Stadt einsetzen.
Zum Glück kam das Schiff, das uns abholen sollte, wegen
eines Sturms nie an. Bevor das nächste da war, gelang
mir die Flucht aus Harkýior, hierher zurück. Ich habe als
Einzige die Folter überlebt; die wollten von mir wissen, wo
unsere Stadt liegt, wer in der Nähe lebt und derlei. Ich habe
es ihnen wegen der Schmerzen ja immer wieder gesagt,
aber sie waren mit der Antwort wohl nicht zufrieden.
Wusstet Ihr, dass das Imperium vor vielen Jahren ganz in
der Nähe Truppen stationiert hatte? Sie haben sogar die
Wege und Tunnel verbreitert, aber dann verschwanden
sie ganz plötzlich und ließen ihre Sporks zurück.“ Olériels
weit aufgerissenen Augen schweiften ins Leere. „Ich wollte
mein Volk nie verraten“, murmelte sie, „aber ich wollte
auch nicht an glühenden Eisenstäben sterben.“
„Sind daher die Brandnarben auf Deinem Rücken?“,
fragte Taren sie ins Ohr. Sie nickte.
250 „Du hattest Glück, dass es nur das war“, grollte Paaldrag.
Olériel sah kühl zu ihm auf und erwiderte: „Ich weiß.
Bist Du stolz auf die Foltermethoden Deines Volkes?“
Paaldrag schwieg und sah auf die Nachtelfin herab.
Olériel hielt dem Blick kurz stand, doch dann sah
sie weg und seufzte: „Tut mir leid, das war nicht fair.
Du wärst nicht hier, wenn Du ein loyaler Soldat dieser
Bestien wärst.“
Paaldrag nickte betont langsam.

„Wieso begleitet ihr uns alle? Ihr habt uns schon zuvor
im Kampf gerettet, warum? Was macht Ihr alle hier
überhaupt?“, sprudelten die Fragen aus Olériel heraus, da
niemand sonst redete.
„Weißt Du, was die große Gabe der Nachtelfen ist?“,
fragte Taren.
Olériel musterte ihn verständnislos und fragte frostig
zurück: „Wir können von allein an der Sonne verbrennen
und müssen nicht erst angezündet werden?“ Sie seufzte
und ließ den Kopf hängen. „Tut mir leid. Das ist ein
wunder Punkt bei uns.“
„Das ist der Preis eurer Gabe, aber nicht die Gabe selbst.
Hat sich ausgerechnet das nicht herumgesprochen?“,
wunderte sich Taren.
„Du meinst dieses Gerücht, wir könnten Dämonen
verletzen? Wesen also, die es nicht gibt?“, fragte Olériel
skeptisch zurück.
Athónon warf entschieden ein: „Es ist kein Gerücht.
Es ist der Grund, warum es das Volk der Nachtelfen
überhaupt gibt. Ihr leidet an keiner Krankheit.“
Als Olériel den Gnom zweifelnd anblickte, fügte er fest 251
hinzu: „Ganz sicher.“
Olériel betrachtete ihren Hammer.
„Leider funktioniert es ohne Übung nur unbewaffnet“,
ergänzte Athónon daraufhin.
Die Nachtelfin schnaubte verächtlich und brummte:
„Tolle Gabe. Ich soll mich beißend und kratzend auf einen
Dämon stürzen?“
„Nein“, entgegnete Athónon trocken. „Aber ich bin
sicher, Srrig und Mèra können die Nachtelfen lehren, ihre
Gabe auch auf Waffen auszudehnen. Ich habe die starke
Vermutung, dass dies einer der Gründe ist, weshalb sie
Dein Volk weiter in die Tiefe begleiten wollen, abgesehen
davon, dass dort irgendwo einer ihrer Gefährten gefangen
gehalten wird.“
„Woher weißt Du das alles?“, staunte Olériel. „Wieso
weißt Du mehr über mein Volk, als wir selbst wissen?“
Als Athónon darauf nicht antwortete, blickte die
Nachtelfin fordernd zu Taren. Der Tempelkrieger wechselte
vielsagende Blicke mit Athónon, schwieg jedoch ebenfalls.
„Hey!“, rief Olériel aufgebracht und stemmte die freie
Faust in die Hüfte. Sie fühlte sich, als sei sie in eine geheime
Verschwörung hineingeplatzt, die nun jeder leugnete.
„Das ist ein bisschen schwer zu erklären“, begann
Taren gedehnt.
Enttäuscht musterte Olériel ihn. „Du vertraust mir
nicht?“, flüsterte sie.
Athónon begann, ruhig zu sprechen. „Srrig und
Mèra sind Halbgötter. Mèra ist diejenige, die vor vielen
Jahrhunderten die Nachtelfen als Waffe gegen das Äußere
252 Volk erschuf. Wir nennen sie auch Amdovenn oder
landläufig Dämonen.“
Olériel starrte noch einen Moment nirgendwohin und
verarbeitete, was sie gerade gehört hatte. Götter waren für sie,
ebenso wie Dämonen, bloß Lagerfeuergeschichten. Langsam
drehte sie sich Athónon zu und musterte ihn ungläubig.
Von der Seite sagte Taren: „Das ist die Wahrheit. Ein
zweiter Dämonenkrieg steht bevor, nachdem der vorige
viele Jahrhunderte her ist. Damals haben die Dämonen der
Überlieferung zufolge den Krieg verloren. Doch die erste
Schlacht ihrer Revanche ist schon geschlagen worden.“
Er sah zur Ratshütte von Quirmó und dachte an Mèra.
„Dein Volk ist eine wehrlose Zielscheibe, solange es sein
Erbe nicht antritt. Die Amdovenn fürchten das, was aus
Euch werden könnte.“
„Und Srrig und Mèra erklären das gerade dem Rat?“
Olériel starrte Taren entsetzt an. Der nickte ernst.
Olériel beobachtete Laura. Die Nachtelfin kniff die
Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und meinte: „Du
scheinst das nicht zu glauben, oder?“
„Ich sage nichts dazu“, brummte Laura.
Olériel sah fragend in die Runde.
Bevor jemand anderes etwas sagen konnte, seufzte Laura
und schilderte doch selbst: „Ich denke, es ist so, wie Athónon
und Taren sagen. Was die beiden jedoch weglassen, sind
der Schmerz und die Verluste, die Dein Volk noch erleiden
wird, wenn es dem Pfad dieser rücksichtslosen Halbgötter
folgt. Insbesondere, wenn es nach Srrig geht. Versteh mich
nicht falsch, Srrig ist ein schier unbesiegbarer Krieger, und
er ist auch äußerst weise. Aber das Leben eines Sterblichen
ist für ihn nicht viel wert. Das hat er selbst angedeutet. Er 253
lehrt mich zu kämpfen und ich bin ihm dafür dankbar,
ich respektiere ihn und auch Mèra, aber keinesfalls würde
ich ihm blind vertrauen und ihm einfach so folgen.“
Olériel betrachtete die Halbelfin nachdenklich, wie sie
verloren dastand und die Arme am Körper herabhängen
ließ. Sie konnte den Schmerz und den Verlust in Laura
fast am eigenen Leib spüren. Dann sah sie zu Athónon, der
ebenfalls mit glimmenden Augen ins Nichts starrte und
in der Erinnerung leidvolle Szenen zu beobachten schien.
„Wieso seid Ihr dann hier?“, fragte Olériel. „Wenn diese
Halbgötter so viel Unglück über ihre Gefolgsleute bringen,
wieso folgt Ihr ihnen dann trotzdem?“
Athónon schwieg noch immer. Lauras Miene
jedoch füllte sich mit glühendem Zorn. „Irgendsoein
Dämonenjünger hat meine Mutter auf dem Gewissen!
Ich werde sie rächen!“, zischte die Halbelfin und hob die
geballte Faust.
Was sie verschwieg, war ihr Gefühl tiefster Leere und
Heimatlosigkeit, das Fehlen irgendeines anderen Ziels
im Leben.
„Wenige müssen leiden und Opfer bringen, damit der
Rest auf Hevanor in Frieden vor dem Äußeren Volk leben
kann. So ist der Lauf der Dinge für ruhelose Wanderer wie
uns“, raunte Athónon, ohne irgendwen anzublicken.
Taren hob abwehrend die Hände und meinte: „Moment
– war der Plan nicht, den Imperator zu stürzen?“
„Was?“, entfuhr es Olériel. „Das wird ja immer verrückter!“
„Das dürfte zusammenhängen“, knurrte Athónon, „da
der Imperator mit den Amdovenn zusammenarbeitet.“
254 Nun starrten alle den Gnom an. Bisher war niemandem
bewusst geworden, dass Mèras beinaher Tod bestens zu
Schattenwachts Plan passte.
„Ich habe es gesehen, in seinem Palast, in der
Hauptstadt Pýur“, raunte Athónon. „Wir waren dort
Sklaven, nachdem wir von einer magischen Zeitreise an
den falschen Ort zurückkehrten. Es gibt bereits einen
ersten Handelsvertrag zwischen Schattenwacht und den
Amdovenn über ein besonderes Waffenmaterial, das
sie Stahl nannten. Außerdem ist Cerýllion, der Elf, der
uns mit seiner Geistesmagie manipulieren wollte, ein
glühender Anhänger des Drachen und sein Meisterschüler
in Fragen der Zauberei. Cerýllion und Kanzler Rogáril
haben nachweislich zusammengearbeitet, das spürten wir
ja schon am eigenen Leib.“
„Zeitreise?“, keuchte Olériel. Sie hob resigniert die
Hände, starrte zur Höhlendecke und schüttelte den Kopf.
Ihre Gesichtszüge zuckten hin und her zwischen trotzigem
Unglauben und aufwogender Panik.
Paaldraag starrte Athónon zweifelnd an. „Du warst
ein Sklave in Pýur und bist entkommen?“, rief er, wohl
wissend, dass zahllose Elfenohren in der Nähe waren.
„Niemand kann dem Imperator entkommen!“, zischte
Paaldrag weiter. „Außer der Drache will das.“ Der
Chimärier verstummte, seine Augen weiteten sich noch
mehr. Sein Volk besaß keinen ausgeprägten Reflex zum
Zurückweichen. Der chimärische Reflex, wenn Angst
langsam heraufkroch, bestand im Zuschlagen. Paaldrag
ballte die Fäuste und beherrschte sich mühsam.Athónon
setzte seine Steinmiene auf und nickte. Schwer wie ein
Mühlstein hing der Vorwurf in der Luft. Dass Athónon 255
sogar einen Teil seiner Seele an den Drachen verkauft
hatte, um T’ral, den mächtigsten der Vier Könige
freizukaufen, verschwieg er lieber. Insbesondere die
Tatsache, dass der Imperator so jederzeit herausfinden
konnte, wo Athónon war und was um ihn herum
passierte, wollte er keinesfalls preisgeben.
Der Gnom wusste, dass er den Weg nicht zu Ende gehen
durfte, wenn er die Nachtelfen und die Halbgötter nicht
in tödliche Gefahr bringen wollte. Da Schattenwacht mit
Athónons Augen sehen konnte, war jegliche Überraschung
zum Scheitern verurteilt. Mèra und Srrig wussten das
ebenfalls, und auch Taffi. Alle anderen Personen, die von
dem Seelenopfer gewusst hatten, waren lange tot.
Athónon sah Laura eindringlich ins Gesicht, seine
heisere Stimme wandte sich jedoch an alle. „Ich werde
Euch darum auch vor dem Ende des Weges verlassen.“
Paaldrag und die anderen blickten unsicher zwischen
Laura und Athónon hin und her, die sich mit lodernden
Blicken durchbohrten. Fieberhaft überlegte Laura, ob sie
Athónons Opferbereitschaft vor allen zur Sprache bringen
sollte. Sie wusste, sie konnte nicht allein ein Wortgefecht
gegen ihn auskämpfen. Konnten und wollten die anderen
ihr dabei helfen?
Laura verlor das Blickduell ein weiteres Mal,
wie schon zuvor, als Athónon beim Tee düstere
Andeutungen gemacht hatte. Sie wandte sich schwer
seufzend ab. Aber sie zog auch niemand anderen in diese
Auseinandersetzung hinein.
256 Die unterschwellige Feststellung Paaldrags, Athónon
könnte ein Werkzeug des Imperators sein, schwebte
unerträglich zwischen den ungleichen Gefährten. Doch
nicht nur die schwiegen. Auch die Nachtelfen um sie
herum starrten auf Athónon, manche furchtsam, andere
unverhohlen wütend.
Laura bemerkte es als Erste. „Was glotzt ihr so?“, zischte
sie leise. Sie war jedoch wenig überzeugend, da sie den
Grund kannte, warum alle Athónon anstarrten. Außerdem
wusste sie, dass sie in einer so kritischen Situation als
Nicht-Elfin keine Autorität besaß.
„Der Rat soll darüber befinden“, tönte es unbestimmbar
aus der Menge der Nachtelfen.
„Tut mir leid“, raunte Paaldrag schuldbewusst zu
Athónon. Über die Konsequenzen seiner erhobenen
Stimme hatte er offenbar nicht nachgedacht. Er war einem
anerzogenen sozialen Reflex der Chimärier unterlegen;
Geheimniskrämerei wurde ihnen mit diversen Methoden
aberzogen. Umstehende durch Anheben der Stimme
einzubeziehen, war eine der Verhaltensweisen, die ihnen
zutiefst verinnerlicht wurde.
„Jetzt ist es raus“, murmelte der Gnom nur.

Der neue Rat von Quirmó bestand aus dem Ältesten


Pêraphèniel, aus dem Heiler Fêowyn, dem Barden
Sophéion, dem Zauberer Myándirel und einem hageren,
ausgezehrten Asketen namens Gamáal, der ein schlankes
Eisenschwert mit langem Griff an der Seite trug. Die
Lederscheide war mit rotbraunen Runen der Zearrai 257
beschrieben. Getrocknetes Blut? Sein Lehrmeister, der
Vorsteher eines Kriegerklosters der Westtiger, hatte
Gamáal die Runen persönlich gewidmet.
Unter der schwarzblauen Tunika des Ratsmitglieds trug
Gamáal ein Bronzekettenhemd mit kurzen Ärmeln. Seine
Schienbeine wurden von dicken Lederschienen geschützt,
während er an den Füßen nur dünne Schnürlederschuhe
trug. Seine Augen lagen in dunklen Höhlen und glommen
finster. Seinen schwarzen Zopf durchzogen Lederbänder,
das Haar reichte fast bis zum breiten Schwertgürtel.
Gamáal besaß keine sichtbaren Narben, wohl aber das
harte Gesicht eines Mannes, der viele Länder bereist und
oft Blut vergossen hatte.
In Quirmó war Gamáal dafür bekannt, kaum einen
Ton zu sagen und täglich wenigstens eine Stunde seine
Finger- und Fußnägel gegen Steine zu schlagen und sie
zu Krallen abzuhärten. Tatsächlich waren seine Nägel
dick und braun, besaßen deutliche Rillen und kleine
Scharten an den Kanten. Er musste sie nicht schneiden,
sie nutzten sich von selbst ab. Kanmárael war Gamáal vor
Jahren im Rat vorgezogen worden: Gamáal hatte darauf
beharrt, dass die Legenden über Nachtelfen wahr seien,
sie könnten Dämonen mit bloßen Händen verletzen.
Heute glaubte man Gamáal plötzlich, außerdem war
Kanmárael heldenhaft gefallen und brauchte einen
Nachfolger. Gamáal mit seinen braunen Krallen galt
schlagartig als größter Trumpf von Quirmó, sollte
sich den Nachtelfen ein Dämon in den Weg stellen.
Man hielt ihn zwar auch für einen unsympathischen
258 Eigenbrötler, was ihn nicht unbedingt zu einem guten
Ratsmitglied machte. Doch in Kriegszeiten gab es eben
wichtigere Kriterien als Sympathie. Wenigstens ordnete
man Gamáal, wie auch den Ältesten Pêraphèniel und
den Heiler Fêowyn, denjenigen Nachtelfen zu, die von
der Macht nicht verdorben und verführt wurden, mit der
man sie ausstattete. Jeder Nachtelf von Quirmó wusste,
dass der Rat das Volk mitunter manipulierte und durch
Floskeln und Zerstreuungen möglichst ruhig zu halten
versuchte. Doch jene Nachtelfen, welche die Quirmóer
darüber hinaus auszubeuten versucht hatten, waren
schon längst verstoßen und durch bessere Ratsmitglieder
ersetzt worden.

Die Ratsmitglieder standen im Halbkreis um den


großen Tisch der Quirmóer Ratshütte. Ihnen gegenüber
standen Srrig und Mèra. Auf Srrigs Schultern saß
außerdem Taffi. Pêraphèniel stand in der Mitte und
redete. In gleichmäßigen Intervallen breitete er dabei
diplomatisch die Arme aus.
„Der Rat von Quirmó heißt Euch offiziell willkommen,
verehrte hohe Gäste. Wir haben viele Gerüchte darüber
gehört, wer genau Ihr sein sollt, aber wir bitten Euch, uns
Eure Identität und Eure Absichten selbst zu offenbaren.“
Srrig blickte stumm zu Mèra. „Dein Volk“, sagte sein
Gesicht und forderte sie zum Reden auf.
Mèra trat vor. Noch bevor sie den Mund öffnete, sprachen
jedoch ihre Augen. Ihr Blick kündete davon, wie unsäglich
müde sie innerlich war. Zu oft hatte sie Situationen wie
diese durchlebt, Situationen, in denen sie die Führung
über Sterbliche hätte übernehmen sollen. Doch Sterbliche 259
unterlagen allzu leicht dem eigenen Ego und traten in
Opposition zu ihr, glaubten ihr nicht und setzten sich
über ihre Weisungen hinweg, weil sie Macht und Ruhm
erlangen wollten. Ganz so, wie die Prophezeiung von Theb
Nor es als ewigen Fehler herausstellte.
Mèra wurde so sehr von ihren alten Erfahrungen
gefangen gehalten, dass sie die Mitglieder des Quirmóer
Rates kaum eines offenen Blickes würdigte. Die Halbgöttin
ignorierte die Frage nach ihrer Person und berichtete
sofort von Schattenwacht. „Es steht uns großes Unheil
bevor. Der Imperator der Chimärier hat insgeheim einen
Bund mit einem sehr mächtigen Amdovenn geschmiedet,
dem Kanzler des Äußeren Volkes. Gemeinsam wollen
Schattenwacht und Kanzler Rogáril Hevanor unter sich
aufteilen. Aus Gründen, die Ihr nicht verstehen würdet,
sind wir momentan auf uns allein gestellt und dürfen
keine unmittelbare Hilfe von den Göttern erwarten.“
„Götter?“, murmelte Sophéion abfällig. Der erste Gegner
von Mèras Worten betrat also die Bühne. Sie sah den
Barden nicht an, sondern Pêraphèniel, und redete weiter.
„Auch wenn ihr nicht an sie glaubt, sie für Geschichten
haltet, mit denen einfachere Völker sich ihre Schöpfung
erklären und sich Vorschriften über ihr Zusammenleben
machen – die Götter sind da und beobachten unsere Welt.“
Mèra verschwieg ihren eigenen katastrophalen Fehler
bei Jades Wiederbelebungsversuch, der zum Schweigen der
Götter beitrug. Auch von den komplizierten Regeln, denen
das Gefüge der Welt unterlag, und der Zerstrittenheit der
Götter untereinander mussten die Sterblichen nichts wissen.
260 „Srrig und ich begleiten Euer Volk in die Tiefe, denn wir
haben denselben Weg. Wir befreien einen Verbündeten,
wenn Euer Volk in Sicherheit ist.“
T’ral ... Leb wohl, Randolph.
„Dann ziehen wir weiter, um den Imperator zu stürzen
und damit auch sein Bündnis aufzulösen, bevor Rogárils
Volk auf Hevanor einfällt.
Denn sollte das geschehen, würden die Götter wohl
endgültig das Interesse an ihrer Schöpfung verlieren und
Hevanor den Rücken kehren, anstatt einen verlustreichen
Krieg zu riskieren. Und damit würden sich auch ihre
Freunde, die Dahnrud nicht länger verpflichtet fühlen, den
Sterblichen zu helfen, denn die dahnrudische Existenzebene
ist für die Amdovenn unerreichbar. Die Dahnrud werden
immer sicher sein, solange die Amdovenn nicht gerade an der
Quelle der Magie herumpfuschen oder die Inferior aus ihrem
Exil befreien.
„Schnelligkeit ist von entscheidender Bedeutung.
Wir müssen den Invasionsplänen Rogárils zuvorkommen.
Die gemeinsame Macht des Imperiums und des
Äußeren Volkes könnte kein anderes Bündnis der
freien Völker auf halten. Auf dem Weg in die Tiefe
wird Srrig Euch dennoch lehren, Euer Erbe wider
dämonische Kreaturen einzusetzen, für den Fall, dass
erste Truppen durch die himmlischen Sphärentore
schlüpfen. Oder falls wir scheitern und die Sterblichen
doch einen verzweifelten Krieg gegen zwei so mächtige
Götterfeinde auskämpfen müssen.“
Pêraphèniel musterte Mèra ernst, wie sie verloren
und distanziert dastand. Er schwieg. Sophéion hatte
das Gehörte hingegen noch kaum verarbeitet. Er war 261
zu intensiv mit eigenen Gedanken beschäftigt, die nun
aus ihm herausplatzten. Vorlaut fragte er in die Stille:
„Was ist mit der heiligen Decke? Seid Ihr jene angebliche
mystische Königin, die sie herstellte? Hat sie wirklich
legendäre Heilkräfte?“
Mèra blickte den Barden ausdruckslos an. „Ihr redet von der
Vergangenheit, doch ansonsten stimmen Eure Annahmen.“
Ein leises Schaudern erfasste die Ratsmitglieder. Mèra
hob nur ein wenig das Kinn. Ihr Charisma erdrückte nun
jeden Zweifel und jedes Aufbegehren gegen sie ohne eine
gesprochene Silbe. Vor den geistigen Augen der Elfen
spielten sich alte Lagerfeuergeschichten in einem neuen
Licht ab. Ehrfürchtig musterten sie Mèra, die teilnahmslos
die zahlreichen Blicke an sich abprallen ließ.
Pêraphèniel fragte leise: „Dann seid Ihr also unsere
Königin?“ Er hielt den Atem an.
„Nein! Das ist lange vorbei. Ich trachte nicht danach,
den Rat von Quirmó oder gar das ganze Elfenvolk
anzuführen.“ Sophéion atmete erleichtert aus.
Pêraphèniel hingegen musterte die Elfin mit gewölbten
Brauen. „Wieso nicht?“, fragte er streng. „Wenn Ihr
wahrhaftig seid, wer Ihr vorgebt zu sein, wäret Ihr weiser
und mächtiger als wir alle zusammen. Es wäre für uns
das Beste.“
„Nein“, wiederholte Mèra. „Ich begleite Euch nur kurze
Zeit. Ich helfe Euch, wo Ihr es wünscht, aber Ihr seid
die Anführer Eures Volkes und werdet es bleiben, auch
wenn ich längst fort bin. Meine Aufgabe ist es, gegen
den Drachen Schattenwacht und seine Verbündeten zu
262 kämpfen. Eure Aufgabe ist es, die Nachtelfen zu leiten und
zu beschützen.“
Pêraphèniel nickte düster und rieb die knorrigen
Finger ineinander.
Myándirel blinzelte mit seinen verquollenen Augen.
Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, nuschelte er:
„Wieso weiß niemand sonst etwas von alledem? Versteht
mich nicht falsch, ich sah in Srrigs Gedanken, dass Ihr
die Wahrheit sagt. Und doch verstehe ich die Situation
nicht. Wie kann es sein, dass Ihr heimlich agiert, wenn
es sinnvoller wäre, die freien Völker unter einem so
mächtigen Banner zu vereinen?“ Er nahm jetzt die Pfeife
aus dem Mund und blies Rauch über den Tisch.
Mèra forschte kühl in den Gesichtszügen des
Zauberers. „Das würde viel zu lange dauern“, erklärte sie.
„Es ist schon fast zu spät, um den Imperator ohne einen
direkten Eingriff der Götter aufzuhalten – was einen
katastrophalen, offenen Krieg im Himmel zur Folge
hätte. Doch eine kleine, verborgene Truppe ist vielleicht
noch schnell genug. Wir müssen den Göttern einen
Beweis oder ein Geständnis bringen oder Schattenwacht
schlichtweg töten. Dass niemand sonst etwas von der
Gefahr weiß, liegt an der Uneinigkeit der freien Völker,
an der Verdrehung der Prophezeiung von Theb Nor.
Aber es liegt auch daran, dass das Äußere Volk ein
Meister des subtilen und geheimen Vorgehens ist, der
Unterwanderung und der Korrumpierung. Seine Absicht
ist hingegen keineswegs subtil oder geheimnisvoll:
Die Äußeren haben ihre eigene Welt in einem Krieg
verwüstet, sie letztlich sogar verloren, und jetzt wollen
sie unsere Welt, und zwar für sich allein. Sie werden 263
alles Leben töten und unsere Luft, unsere Temperatur,
unsere gesamte Natur ihren Wünschen anpassen. Nur
die Chimärier werden sie tolerieren, wenn Schattenwacht
sich durchsetzt.“
„Wenn?“, rief Sophéion. „Das ist das mächtigste Wesen
der Welt!“
Mèra entgegnete kühl: „Das mächtigste Wesen unserer
Welt Hevanor, hier unten. Vielleicht aber nicht in den
Reihen der Götter oder der Dahnrud – oder des Äußeren
Volkes. Ich weiß es nicht. Ich hoffe, Ihr irrt Euch.“
„Ihr seid also schon mal nicht allwissend“, stichelte
Sophéion und neigte angriffslustig den Kopf. Er tat
sich offenkundig schwer damit, die neu verkündete
Weltordnung der Elfen zu akzeptieren, in welcher er in der
Hierarchie der Macht abgestiegen war.
Pêraphèniel funkelte den Barden strafend an. Aber
Mèra schüttelte nur traurig den Kopf. „Nein, bin ich
nicht. Und wie die Götter reagieren werden, ob sie auch
weiterhin unser Schicksal in unsere eigenen Hände legen
oder nicht, ob sie einen offenen Krieg zwischen sich und
den Amdovenn riskieren werden oder nicht, weiß ich auch
nicht, um Eure nächste Frage vorweg zu beantworten.
Der Einfluss der Götter besteht bereits darin, dass Srrig
und ich überhaupt hier sind. Vielleicht ist das alles, was
sie tun werden.“
„Die Legende sagt, Ihr seid einst sterblich gewesen“,
kratzte Myándirels raue Stimme.
Mèra nickte knapp. „Ja, vor langer Zeit war ich nicht
anders als Ihr. Doch zwei weitere Könige sowie Srrig und
264 ich rebellierten gegen die damaligen Götter. Zwar retteten
wir so Hevanor vor dem Äußeren Volk, doch waren wir
fortan verflucht, alterslos die Welt zu durchstreifen, als
Wächter, falls die Amdovenn sich abermals zeigten. Vor
einigen Jahrhunderten wurden wir zu vorübergehender
Ruhe gebettet, dank einer Intrige des Imperators gegen
uns und die Götter. Schattenwacht hatte es geschafft, die
Götter glauben zu machen, er allein könne unsere Wächter-
Aufgabe gegenüber dem Äußeren Volk übernehmen, das
auch sein Feind sei, und uns könne die verdiente Ruhe
zuteilwerden. So konnte er im Rücken der Götter seine
Ränke schmieden. Wir Wächter waren nicht mehr da,
um einzugreifen.“ Sie senkte ihren kalten Blick für einen
Moment, um mit einem Lodern in den Augen wieder
aufzusehen. „Doch nun, da die Gefahr erneut bevorsteht,
schicken die Götter uns wieder in den Krieg.“

Von draußen rief ein Nachtelf: „Es tut mir leid zu


stören, aber es gibt wichtige Neuigkeiten!“
Pêraphèniel stützte sich seufzend auf den Tisch. „Dann
komm herein“, rief er.
Der unscheinbare Nachtelf trat ein und verneigte sich
vor dem Rat. Verschüchtert musterte er Srrig und Mèra,
während er berichtete: „Ältester, der Gnom Athónon
hat erzählt, dass er ein Sklave des Imperators war. Er hat
nicht geleugnet, dass er vermutlich nur noch lebt, weil der
Drache es so wollte! Er muss ein Spitzel oder gar ein Diener
des Drachen sein! Was sollen wir mit ihm machen? Wir
können ihn doch nicht mitnehmen! Vermutlich wurden
wir nur seinetwegen angegriffen.“
„Keine voreiligen Schlüsse!“, mahnte Pêraphèniel 265
streng. Die anderen Ratsmitglieder warfen sich
vielsagende Blicke zu und musterten auch Srrig und Mèra
düster. Doch alle schwiegen und warteten darauf, was der
Älteste sagen würde.
Pêraphèniel legte die Hände auf den Rücken und
blickte mit geschürzten Lippen zur Decke. Doch schnell
bemerkte er, dass diese gewohnheitsmäßige diplomatische
Maske nicht zum Ernst der Vorwürfe passte. Er stemmte
die Hände in die Hüfte und zog die Brauen zu einer tiefen
Sorgenfalte zusammen. Schließlich seufzte er und schlug
vor, zu Athónon zu gehen und ihn genau zu befragen.
„Dein Bericht weist zu viele Lücken auf, Lawéruel“, fügte
der Älteste hinzu.
„Wie Ihr wünscht“, nickte Lawéruel höflich und verließ
zügigen Schrittes das Haus.
„Tja dann – gehen wir!“, rief Pêraphèniel mit
ausgebreiteten Armen und eilte voraus. Myándirel ergriff
Fêowyns Schulter und ließ sich führen. „Ich sehe nicht
mehr so gut“, brummte er leise.
Srrig, Mèra und Taffi warfen sich finstere Blicke zu,
während sie den Ratsmitgliedern folgten.
266 17

Um Athónon und seine Reisegefährten hatte sich ein


schimpfender Aufruhr gebildet. Pêraphèniel bahnte sich
mit erhobenen Armen eine Gasse. Auch Olériel war von
den übrigen Nachtelfen eingeschlossen worden, da sie nicht
von Tarens Seite gewichen war. In der Luft, in den Augen
der Nachtelfen schwelte der unausgesprochene Wunsch,
Steine in die Hände zu nehmen und die Fremden damit
blutig zu schlagen und zu vertreiben. Noch hatte niemand
dem Wunsch nachgegeben.
„Schluss damit! Beruhigt Euch alle wieder!“,
beschwichtigte der Älteste und hob die Arme noch höher. Er
schob sich, weder zu sanft noch zu ruppig, durch Schultern,
Arme und Körper bis zu Athónon hindurch. Die Nachtelfen
wurden leiser. Sie wichen aber nicht zurück und funkelten
den Gnom und die anderen Fremden weiterhin feindselig an.
„Nun, Athónon!“, begann Pêraphèniel und legte die
Hände auf dem Rücken zusammen. „Was war das für eine
Geschichte mit Dir und dem Imperator der Chimärier?“
Athónon blickte reglos zum Ältesten auf. Gelassen
antwortete er: „Ich erkaufte die Hilfe des Drachen, um
einen mächtigen Zauberer zu befreien, der für das weitere
Schicksal Hevanors unerlässlich gewesen war: T’ral, einen
der legendären Vier Könige aus der Prophezeiung Theb
Nors. Der Preis war ein kleiner Teil meiner Seele. Seitdem
kann der Imperator mich überall finden und außerdem
sehen, was um mich herum vorgeht. Ich werde Euch
deshalb nicht mehr weit begleiten.“
Athónon blickte an Pêraphèniel vorbei in Mèras 267
versteinertes Gesicht. Stille. Alle schwiegen. Zornige
Spannung baute sich auf, bis zum Glühen aufgeheizt
durch Blicke, Armbewegungen, verzogene Lippen,
scharfes Einatmen.
Dann begann das Murren der Nachtelfen erneut.
Erst leise, dann immer lauter. „Lügner!“, schrien einige.
„Verräter!“, kam von anderen.
Bevor die Situation weiter eskalierte, hob der Älteste
beschwörend die Hände und rief: „So beruhigt Euch! Der
Gnom hat uns nichts getan, im Gegenteil! Ich verstehe
Eure Angst und teile sie, aber das ist kein Grund, die
Kontrolle zu verlieren. Immerhin sind wir Elfen!“
Der Aufruhr schlug nun kleinere Wellen. Doch das
unterschwellige Murmeln hielt an. Die Glut war nicht
erloschen. Feindselige Seitenblicke trafen Athónon
von überall.
Srrig trat neben den Ältesten. Laut rief er in die Menge:
„Der Gnom ist keine Gefahr für Euch. Er wird uns
begleiten, weil er gebraucht wird.“
Pêraphèniel blickte überrascht in Srrigs fremdes
Tigergesicht, um darin zu lesen. Athónon nickte
derweil mit seiner Steinmiene. Mèra wandte sich ab,
auch ihr Gesicht war versteinert. Schon viele seiner
Freunde waren vor Athónon gestorben, weil sie
„gebraucht“ wurden. Seinen Mentor Tugibenn, den er
wie einen Vater geliebt hatte, vermisste er bis heute.
Die letzte Tote war Jade gewesen. So wie Srrig das
Wort betont hatte, gab es keinen Zweifel an seiner
tödlichen Bedeutung.
268 Laura begriff das als Nächste. „Nein!“, schrie sie und
packte Athónon an den Schultern. Gehetzt starrte sie
ihn an und schüttelte den Kopf. „Nein!“, wiederholte sie
flehend. „Du musst gehen, solange Du noch kannst! Es
gibt immer eine Alternative!“
„Allerdings“, knurrte Athónons alte Stimme, „doch sie
gefällt mir nicht.“ Er streifte Lauras Arme von sich und
blickte zu Pêraphèniel auf. „Wenn Srrig es so vorhersieht,
könnt Ihr Euch gewiss auf sein Urteil verlassen“, sagte er
gepresst zum Ältesten.
Taffi hatte bisher auf Srrigs Schultern gesessen. Jetzt
sprang er hinab, flitzte zu Mèra und rannte an ihr hoch
bis auf ihre Schulter. Die Miene des Chamäleons war
nicht zu deuten. Auch Taffi vermisste Tugibenn, den
gnomischen Meisterzauberer. Kleine Krallen gruben sich
in Mèras Schultern, unsichtbar für alle anderen. Falls die
beiden telepathisch miteinander redeten, war es ihnen
nicht anzusehen.
Laura trat voll hilflosen Zornes auf der Stelle und ballte die
Fäuste. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte oder tun konnte.
Myándirel trat vor. Er zog nachdenklich an seiner
Pfeife und raunte: „Sogar ein Blinder kann sehen, dass
Ihr etwas verschweigt.“
Pêraphèniel verdrehte die Augen, gleichzeitig schwoll
der wütende Aufruhr wieder an.„Oh“, machte Myándirel
leise und wurde rot. Schlagartig wurde ihm klar, dass er
noch viel darüber lernen musste, was es hieß, Ratsmitglied
zu sein.
„Hört auf!“, schrie Laura plötzlich die Nachtelfen an.
„Was er verschweigt, ist, dass er bald sterben will, anstatt
eine bessere Lösung zu suchen! Für Euch will er sterben, 269
Ihr Dummköpfe!“
Tatsächlich verebbte der Aufruhr, bis nur noch ein
unwilliges Murren übrig blieb.
Laura fuhr fort, doch leiser und an Athónon gewandt:
„Aber das kann ich nicht akzeptieren! Du gibst zu schnell
auf! Es gibt einen besseren Weg, es muss einen geben!“
Athónon musterte sie ausdruckslos. Innerlich hatte
er längst aufgegeben. Dreißig Jahre Leid als Diener der
Götter hatten ihn zermahlen wie ein einsames Weizenkorn
zwischen gigantischen Mühlsteinen. Verzagt drehte Laura
sich weg.
Pêraphèniel wandte sich Srrig zu und sagte leise: „Ich
denke, ich habe genug gehört.“ Lauter, in die Menge
gerichtet, rief er: „Ich verfüge, dass Athónon nicht länger
behelligt wird. Diese Angelegenheit ist keine Gefahr für uns,
und alles Weitere geht uns nichts an. Wir können dankbar
sein, dass diese Fremden uns beigestanden haben. Vergesst
das niemals! Ich erwarte ab sofort, dass Ihr unseren Gästen
und Waffenbrüdern mehr Respekt entgegenbringt!“
Der Älteste kam mit dem Mund nah an Srrigs Ohr. Seine
leisen Worte klangen fast wie eine Drohung: „Ich vertraue
darauf, dass Ihr wirklich die Kontrolle über diese Sache habt
und dass ich mein Volk soeben nicht belogen habe.“
Energisch drehte der Älteste sich auf dem Absatz
herum und stapfte in die Ratshütte, so schnell sein Alter
es zuließ. Die anderen Ratsmitglieder folgten ihm. Srrig,
Mèra und Taffi blieben zurück. Insbesondere Olériel
starrte mit großen Augen die Fremden und Taren an. „Ihr
seid wohl ziemlich viel herumgekommen, wie?“, fragte sie
270 beeindruckt. Sie spürte aber auch den Schmerz, der in der
Luft lag, und wie wenig ihre Bemerkung gelungen war.

Einige Nachtelfen verließen ihr Heim nur widerwillig.


Doch die Leichen, die auf dem Schlachtfeld unmittelbar
vor der Stadt aufgereiht wurden, sprachen eine deutliche
Sprache. Die letzten magischen Lichter erloschen. Die
Kohlenbecken wurden nicht mehr aufgefüllt und glühten
nur noch schwach.
Schließlich war Quirmó geräumt und wurde zu einer
einsamen Ansammlung leerer Steinhäuser. Verstreute
Gegenstände hier und da, in einem Fenster, neben einer Tür,
auf den Wegen, spiegelten die zerstörten Träume und Wünsche
wider, das Leben, das hier gewohnt hatte: Ein Webrahmen,
eine Puppe, ein üppiger Satz bemalter Tonkrüge.
Die Ratsmitglieder gingen mit Mèra in der Mitte
des Zuges, dicht gefolgt von den großen Karren mit den
Verwundeten. Je sechs Nachtelfen zogen einen Karren mit
Hilfe eines Ledergeschirrs. Der Mittelpunkt des Zuges
wurde von bewaffneten Nachtelfen und Bogenschützen
flankiert, jenen, deren Rüstungen noch nicht oder nur leicht
beschädigt waren. Der Rest des kleinen Volkes marschierte
zu gleichen Teilen davor und dahinter, ein jeder mit einem
dicken Rucksack bepackt – nicht mehr und nicht weniger.
Um des Friedens willen wurde der Zug nur von Fackelschein
begleitet, nicht von magischen Lichtern.
Der Streit darüber, ob man die Magie zum Wirken
zwingen durfte oder stets nur darum bitten musste, heizte
sich allmählich auf. Vor der Schlacht um Quirmó hatten 271
die Nachtelfen sich mit dieser offenen Frage arrangiert.
Aber da nun eine völlig neue Situation entstand, vertraten
viele Quirmóer ihre Meinung noch einmal ganz von vorn
und versuchten, den Einfluss ihrer jeweiligen Ansicht auf
alle auszudehnen.

Srrig begleitete die Vorhut. Sie wurde ausnahmslos


von Quirmóern gebildet, allesamt mit einer magischen
Dunkelsicht verzaubert, die ihnen normales Sehen ohne
Fackelschein erlaubte. Auch Srrig hatte sich von Mèra die
Tigeraugen auf diese Weise verzaubern lassen.
Athónon, Laura, Brommil, Paaldrag, Taren und
Olériel marschierten am Schluss des Zuges, jedoch
noch vor der Nachhut; man vertraute den Fremden mit
Ausnahme von Srrig und Mèra nicht mehr genug, um
ihnen wichtige Aufgaben zuzuweisen, obwohl Athónon
ein ausgezeichneter Späher gewesen wäre. Manche
Stimmen waren selbst jetzt noch nicht zufrieden und
hatten hinter vorgehaltener Hand verlangt, man müsse
die Fremden entwaffnen, damit sie keinen Verrat
begehen konnten. Insbesondere Paaldrag und natürlich
Athónon zogen ängstliche und böse Blicke auf sich.
Während Paaldrag finster dreinstarrte, erduldete
Athónon die Ablehnung ungerührt. Taffi saß entgegen
seiner Gewohnheit außen auf Athónons Rucksack und
war sehr schweigsam.
Seit sie aufgebrochen waren, trug Athónon einen großen
Kasten aus Kiefernholz unter dem Arm. „Was hast Du da
eigentlich?“, fragte Laura und tippte auf den Kasten.
272 „Die Klappkarte“, erzählte Athónon freudlos, „ein
weiteres Artefakt meines Mentors Tugibenn. Es zeigt
Hindernisse und Lebewesen in verschiedenen Farben. Die
Farben ändern sich je nachdem, ob ein Wesen Freund oder
Feind ist, dämonisch oder natürlich. Ich verstehe die Seele
des Artefaktes leider nicht sehr gut. Aber meistens tut es,
was ich möchte. Wenn wir in unbekanntes Gebiet kommen,
wüsste ich gern, wann wir beschlichen werden, auch ohne
bei der Nachhut zu sein. Bei der Vorhut ist ja Srrig, da gibt
es keinen Grund zur Sorge. Doch die Nachhut könnte
unsere Schwachstelle sein. Die Tunnelläufer, die hinter uns
wachen, schienen nicht sonderlich erfahren zu sein.“
„Kannst Du mir sie mal vorführen, diese Klappkarte?“,
bat Laura.
„Lieber nicht hier, wo so viele Augen uns sehen. Die
Klappkarte ist ein kleiner Schatz, und ich will niemandes
Neid wecken“, murmelte Athónon. „Kleiner Schatz“ war
eine drastische Untertreibung für dieses Artefakt, für das
ein steinreicher Zauberer einmal eine vierstellige Summe
Goldmünzen angeboten hatte.
Laura nickte, während sie den Kopf zu den Seiten
drehte, aus den Augenwinkeln jedoch nach vorn
spähte. Viele verhohlene, manchmal aber auch offene
Blicke der Nachtelfen schienen jeden Schritt der
Fremden zu beobachten.
„Sie begaffen uns wie dumme Schafe“, zischte Laura
böse. „Haben die gar keine Manieren?“ Sie wusste, sie
sollte sich darüber nicht aufregen, weil es sinnlos war. „In
einsamer Wildnis hätte keiner von den Gaffern sich das
getraut!“, regte Laura sich trotzdem weiter auf.
„Wenn mir etwas zustößt, möchte ich, dass Du meine 273
Sachen bekommst“, erklärte Athónon unvermittelt, den
Blick stur geradeaus haltend.
Laura erschrak. „Sag so was nicht! Es gibt einen Ausweg!“
„Wie Du meinst“, brummte Athónon bloß. „Taffi
schläft gern auf der Elfendecke, falls er Dich begleiten
möchte. Du solltest dann im Rucksack also immer etwas
Platz unter dem Deckel lassen.“
„Hör auf!“, schrie Laura zornig. Im Gehen packte sie
Athónons Schulter. „Wir werden diese Odyssee beide
überleben! Du musst nur fest genug daran glauben, dann
wird sich uns auch ein Weg offenbaren!“
Athónon schüttelte den Kopf. „Du hast es wohl doch
noch nicht verstanden“, seufzte er.
„Was verstanden?“, murrte Laura und ließ Athónons
Schulter los.
„Dass Dein Dickkopf Dir mehr schadet als nützt. Du
musst Dich vom Denken befreien“, philosophierte Athónon
zermürbt. „Du bist in der Begleitung von Halbgöttern. Sie
lenken und benutzen Dich, ob Du es merkst oder nicht.
Deine Gedanken und Sorgen spielen keine Rolle mehr.“
„Mein angeblicher Dickkopf hat mir schon oft
geholfen!“, widersprach Laura trotzig.
Athónon seufzte abermals. Dann knurrte er sie an:
„Im sportlichen Ringen? Oder dabei, nicht auf Deine
Schwester aufpassen zu müssen? Oder nach Einbruch der
Dunkelheit noch unterwegs sein zu dürfen?“
Laura schwieg gekränkt. Schon taten Athónon seine
Worte leid, doch das änderte nichts daran, dass sie
richtig waren. Bloß weil eine Wahrheit schmerzte, wurde
274 sie nicht weniger treffend, und Athónon war – wie
Srrig – der Ansicht, dass alle anderen Abwägungen sich
unterzuordnen hatten.

„Wieso genau hast Du mich noch mal überredet, diese


zerbrechlichen Kreaturen zu begleiten?“, grollte Paaldrag
leise zu Brommil herab.
„Ich habe es auch vergessen“, knurrte der Zwerg. Die
beiden fühlten sich ebenfalls unbehaglich unter den
Blicken der Quirmóer.

Taren hatte die ungeladene Drachenarmbrust


geschultert. In der anderen Hand hielt er den Streitkolben
einer toten Schlangenblüterin. Die Waffe war aus
schwerem Eichenholz und einem dornigen Bronzering
gebaut. Auf den Rücken hatte Taren sich einen lädierten
Holzschild geschnallt, den er einer nachtelfischen Leiche
abgenommen hatte. Unter Menschen wäre dies ein
Diebstahl an den Toten gewesen, ein Sakrileg. Doch Taren
wusste von Nenúriel, dass Elfen nicht so dachten. Tarens
Unterarme und Schienbeine wurden nun von ledernen
Schienen geschützt. Bloß eine passende Körperrüstung
hatte er nicht gefunden: Elfen und Schlangenblüter waren
einfach zu schmal für seine Maße.
Er besaß keine passenden Bolzen für die Drachenarmbrust
mehr. Der letzte war nach der Schlacht, während der er
von seinem Wachposten aus die feindlichen Flanken
beschossen hatte, unauffindbar geblieben. Dennoch wollte
er die wertvolle Waffe nicht zurücklassen, sondern lieber
versuchen, selbst neue Bolzen herzustellen. Olériel könnte
die Bolzenspitzen schmieden, er müsste sich dann nur 275
noch um Schäfte und Fiederungen sorgen.
„Stimmt es, dass Athónon ein Sklave des Imperators
war, eine Zeitreise gemacht hat und all diese Dinge?“,
fragte Olériel leise in Tarens Ohr.
„Ich war nicht dabei, aber ich denke, dass alles wahr
ist“, nickte Taren. „Athónon ist ein außergewöhnliches
Wesen. Zunächst völlig unscheinbar und doch voller
Überraschungen. Ich glaube, sein Geheimnis ist, dass er
wegen seiner Größe maßlos unterschätzt wird und er seine
Gegner in Sicherheit wiegt. In Wahrheit jedoch ist er ein
ruhmreicher und gefährlicher Krieger.“
Hinter ihnen wäre beinahe ein Mundwinkel Athónons
nach oben gezuckt, obwohl Taren und Olériel ein paar
Schritte Abstand hielten und sehr leise geflüstert hatten.
Doch Athónon war durch solche Schmeicheleien jetzt
nicht aufzuheitern. Er bekam die grausamen Bilder nicht
aus seinem Kopf, Bilder, in denen Laura von Pfeilen
durchbohrt wurde und über ihm zusammenbrach, wie
schon ihre Mutter vor ihr. Laura hatte recht – es gab eine
Alternative zu seinem Tod: ihren. Doch Athónon würde
seinen Weg durchsetzen, selbst wenn er dazu gegen den
Willen von Srrig und Mèra handeln musste.
Wohin sonst sollte er auch gehen, wenn er sich nicht
an Lauras Stelle opferte? Niemand wartete auf ihn. Er
würde zudem niemals zugeben, dass sein altes Kreuz ihn
marterte und seine Knie schon jetzt schmerzten, obwohl er
gerade erst losmarschiert war. Kurzfristig würde ein heißer
Kräuterwickel oder ein erholender Zauber die Schmerzen
lindern, doch was dann? Wenn er sich zu sehr betäubte,
276 um die Schmerzen nicht wahrzunehmen, konnte er auch
niemandem mehr nützen. Das Alter war keine Wunde, die
sich mit gewöhnlicher Zauberei heilen ließ.
18 277

Melek lag seit Stunden reglos im Schatten. Seine Muskeln


waren ein einziger Schmerz. Von der Klippe aus hatte
er die Versammlung der Nachtelfen bis zum Aufbruch
verfolgt. Laura würde vermutlich zu keinem Zeitpunkt so
allein sein, dass er sie ungehindert erreichen konnte, ob
unsichtbar oder nicht.
Als die Nachhut aus der Quirmóer Haupthöhle
verschwand, schlug Melek wutschäumend die Fäuste auf
den Fels. „Ich verfluche Dich, Laura! Ich hasse Dich!“,
zischte er. „Mögest Du niemals sicher vor den wahren
Jägern sein! Mögest Du ständig auf der Flucht vor ihnen
sein! Wenn ich Dich nicht kriegen kann, wird es ein
anderer für mich tun!“
Was ihn nach wie vor marterte, war, dass Lauras
Bedeutung in der Geschichte Hevanors die seine überragen
sollte. Mit Halbgöttern zog sie fort und Melek fühlte
sich trotz all seiner Erfolge dagegen verblassen. „Dabei
unterscheiden wir uns doch kaum!“, dachte er. Indem sie
ihm entkam, besiegte sie ihn, ohne es zu wissen: Melek hatte
sich von einem Sieg über eine Begleiterin von Halbgöttern
jenes Maß von Anerkennung erhofft, das seinen Weg als
Menschenjäger hätte unsterblich werden lassen.
Er sprang auf und streckte sich. Hastig kletterte er in die
Haupthöhle zurück, wo vor Kurzem noch Laura schlafend
dagelegen hatte, beschützt von wachsamen Spähern.
Melek stampfte zwischen den leeren Häusern umher und
sah sich unwillig um, obwohl er innerlich zu getrieben von
278 seinem Hass war, um Einzelheiten zu registrieren. Seine
Geduld war aufgebraucht.
Überall lagen Tote in braun getrocknetem Blut herum,
verkrümmt und ausgestreckt, von Klingen und Pfeilen
getötet. Die Gerüche von Blut und Angst hingen wie ein
Säurehauch über der Stadt.
Sorgsam aufgereiht, lagen auf einem Platz auch die
Toten der Nachtelfen. Für ein Begräbnis war keine Zeit
gewesen. Manchen Elfenleichen waren bunt bemalte
Steine auf Stirn oder Hände gelegt worden.
Melek konnte seinen Hass nicht unter Kontrolle
bringen. Mit dem Fuß trat er eine rötlich geschuppte
Frauenleiche in Fell und Leder. Sie rollte von der Seite
auf den Rücken und offenbarte so ihre Todesart: Die
rechte Hälfte ihres Kopfes war zertrümmert worden,
vielleicht von einer Dornenkeule, vielleicht von
Paaldrags Faust. Gelangweilt trat Melek mit dem Fuß
ihre Schenkel auseinander.
Sein Blick ging auf Wanderschaft, von den Füßen bis
zum Kopf, über die Hügel und Täler dieses Körpers –
doch die Zufriedenheit des Wanderers ob einer perfekten
Landschaft stellte sich nicht ein.
An der Kehle wurden die rötlichen Schuppen von kleinen
Narben übersät. Als Melek genauer hinsah, erkannte er
Muster. „Brandrunen“, flüsterte er. Sein Großvater hatte
Schauermärchen über einen dunklen Gott erzählt, dessen
Anhänger sich mit glühendem Kupfer Runen in den Hals
brannten, um den Tod zu besiegen. „Hat wohl nicht
funktioniert“, dachte Melek. Er schauderte, weil jedes
Anzeichen eines mystischen Höheren ihn einschüchterte.
Melek wandte sich ab. „Kalt, wehrlos, langweilig“, knurrte 279
er und sah nicht mehr hin.
Die Müdigkeit hinter seiner Stirn wurde ihm wieder
bewusst, und mit ihr die lauernde Wanderin. Er taumelte
und wunderte sich im nächsten Moment darüber, wie
sehr der Schlafmangel ihn bereits geschwächt hatte. „Ich
werde wohl alt?“, flüsterte er und lachte lautlos. Er schloss
die Augen. Sofort konnte er den unmenschlichen Ruf
der Wanderin hören, die ihm immer näher kam. Melek
legte den Kopf in den Nacken und hob die Lider wieder.
„Meine Zeit ist um“, flüsterte er und wusste nicht, ob er
aus Verzweiflung lachen oder weinen sollte.
„Ich verfluche Dich, Laura!“, schrie er und ballte die
zitternden Fäuste. Melek wirbelte herum und trat die
Leiche mit den Brandrunen.
Plötzlich fröstelte er. Vor Toten hatte er ebenfalls eine
gewisse Furcht entwickelt, denn manchmal bekam er
Albträume, in denen seine Opfer sich aus den Gräbern
erhoben und ihre modrigen Finger in sein Fleisch
drückten. Er hielt inne. Etwas, das er nicht benennen
oder begreifen konnte, lähmte ihn. Kälte biss in sein
Fleisch, von den Zehenspitzen durch die weichen Knie,
die beklommene Brust und den rauschenden Schädel. Die
Höhle drehte sich, seine Sicht trübte sich wie im Fieber. Er
würgte panisch, doch nur ein schwächlicher Laut fiel ihm
aus dem Mund.
Eine Hand umschloss seinen Knöchel wie kaltes Eisen,
obwohl er unsichtbar war. Melek riss Mund und Augen
auf. Er wollte nur noch weg, taumelte auf der Stelle. Doch
die Hand – sie gehörte der getretenen Leiche – gab seinen
280 Knöchel nicht frei. Melek kippte, keuchte weinerlich und
schlug mit der Schläfe auf den Fels.
Er floh durch einen Tannenwald. Dornen stachen in seine
Fußsohlen und Nadelzweige schlugen ihm ins Gesicht. Die
Wanderin schritt ihm gemütlich nach, dennoch holte sie ihn
ein. Ihr folgte eine Kinderhorde, alle sahen gleich aus: Melek,
als er sechs Jahre alt war, bewaffnet mit einem Wurfdolch.
„Ich habe Deinen Fluch vernommen“, krächzte die
Leiche neben Melek. Sie ließ ihn los und tastete nach ihrer
zertrümmerten Gesichtshälfte.
Melek quiekte wie ein verwundetes Tier. Er strampelte
wild und sprang auf die Füße, weg von der Untoten. Dann
riss er die Gewalt über seinen Körper wieder an sich.
Melek ballte die Fäuste und zischte kampfbereit durch
die Zähne. Mit verengten Augen, stoßweise aus- und
einatmend, starrte er die Untote an, die ihn offenbar sehen
konnte. Sie setzte sich langsam auf und schien genauso
irritiert zu sein wie er.
„Ich werde Deinen Fluch in die Tat umsetzen!“,
murmelte die Untote verwirrt. „Deine unbändige Energie
scheint mich zurückgebracht zu haben. Jedenfalls habe ich
keine andere Erklärung. Dein Fluchen war das Erste, was
ich seit meinem schmerzvollen Tod wahrgenommen habe,
zunächst als unsägliche Kälte, dann als Worte.“ Plötzlich
grinste die Untote. Ihre Grabesstimme krächzte: „Aber ich
verlange einen Gefallen für meine Hilfe.“
„Wer bist Du?“, fragte Melek lauernd und blieb
kampfbereit. Seine erste Furcht hatte er niedergerungen,
denn scheinbar befand er sich in keinem seiner Albträume.
Noch hatte die Wanderin ihn nicht zur Strecke gebracht.
„Ich bin nur ein ruheloser Geist, der ebenfalls Rache 281
will, so wie Du. Jedenfalls ist Rachedurst das Gefühl, dass
ich in Dir spüre. Du willst Rache für die Niederlage durch
ein Wesen, dem Du Dich überlegen wähntest.“
Melek erschauderte, sein Atem setzte aus. „Woher weißt
Du, was ich will?“
Die Untote redete unbeirrt weiter. „Ich könnte Dich
vielleicht töten, weil Du meine Ruhe gestört hast, doch
andererseits kannst Du mir helfen: Ich erfülle Deinen
Fluch, dafür tötest Du den, der mich auf der Flucht
erschlug: einen bärtigen Menschen mit einer Dornenkeule,
der mit den Nachtelfen verschwand.“
„Du meinst Taren.“ Melek beruhigte sich allmählich.
„Den würde ich nur zu gerne umbringen. Aber ich komme
nicht an ihn heran, obwohl ich unsichtbar bin. Er ist
mitten unter Nachtelfen. Genau wie Laura, die ich suche.“
„Meine Brandrunen haben vielfältige Kräfte. Ich
habe die Macht, ihn fortzulocken. Aber jemand muss
zu ihm gelangen und die Klinge für mich führen.
Jemand, der unsichtbar und lautlos ist, wäre dafür
hervorragend geeignet.“
Meleks Herz beschleunigte wieder. Er konnte die
Angst vor der Untoten nicht vollends verbannen, da sie
nun auf ihre unheimlichen Kräfte anspielte. Zunächst
grinste er schief. Dann hörte er schlagartig damit auf und
knurrte: „Wenn Du so etwas kannst, wieso brauchst Du
einen Henker? Ein bisschen Schleichen ist doch leicht.“
„Die Brandrunen sind stark, aber nicht allmächtig.
Helfen wir uns nun gegenseitig bei unseren Racheplänen,
oder hast Du Angst?“
282 Melek schwieg. Das Schicksal der Schlangenblüterin
war ihm egal. Er wusste zu ihrer Geschichte nichts zu
sagen und er hatte auch keine Lust dazu. Seine lodernden
Augen verrieten jedoch, dass ihm der Plan der Untoten zu
gefallen begann. Er besiegte seine Angst.
„Ich kriege also meine Rache an Laura durch einen Fluch.
Auch wenn ich sie nicht persönlich töten kann. Dafür
muss ich Taren töten. Den lockst Du weg“, fasste Melek
zusammen. „Wie sieht der Fluch aus?“, fragte er vorfreudig.
Die Untote grinste mit der verbliebenen Gesichtshälfte.
„Jeder Mann wird sie schänden wollen. Der Fluch wird
seine Wirkung in dem Moment beginnen, wo mein Mörder
stirbt! Eine andere Bedingung gibt es nicht, Laura erhält
keine Möglichkeit, den Fluch aus eigener Kraft zu brechen.
Auch Du kannst es Dir nicht später anders überlegen. Mein
Geist wird weiterziehen zu dem Betrüger, der mir diese
fehlerhaften Runen eingebrannt hat. Ich werde ihm meine
Geisterhand ins Herz rammen und ihn ...“
„Also fang an!“, rief Melek dazwischen.
Die Untote lachte wild, stand auf und schlang Melek
die kalten Finger um den Kopf. „Der Meucheltod
eines Tempelkriegers wird mir unsägliche Macht
verleihen!“, kicherte sie. „Jetzt geh und opfere ihn mir,
mein treuer Diener!“
Melek wunderte sich über die letzten Worte, die er nicht
recht verstand. Doch war er viel zu besessen von seinem
Triumphgefühl, um länger darüber nachzudenken. Er
würde nie erfahren, mit wem er gerade einen Pakt
geschlossen hatte.
Cerýllion kniete in seinem Turmzimmer auf einem 283
Kissen. Ohne den Raum verlassen zu haben, hatte er
magische Trugbilder von sich selbst durch die Höhlengänge
bewegt, um die eingedrungene Chimärier-Patrouille,
die ihn fangen sollte, in das Gebiet der Schlangenblüter
zu locken. Seinen Sporks und dem Geistertroll hatte er
telepathisch befohlen, auf sein Signal zu warten. Sobald
die zahlenmäßig weit überlegenen Schlangenblüter die
Chimärier erschlagen hatten, konnten Cerýllions eigene
Krieger die Verbliebenen leichter töten. Dann würde
er das Schwert von Theb Nor an sich nehmen, eines der
mächtigsten Artefakte Hevanors. Nicht dass er die Klinge
für etwas Bestimmtes brauchte, er ging einfach seiner
Gier nach. Momentan befand das Schwert sich noch
in den Händen der Anführerin der Schlangenblüter.
Als göttliche Stimme hatte Cerýllion sie dazu gebracht,
Quirmó anzugreifen, denn eine seiner Aufgaben im
Dienste Schattenwachts war es, möglichst alle Nachtelfen
zu vernichten. Jeder Nachtelf konnte zu einer Gefahr für
Schattenwachts Verbündete, die Amdovenn, werden.
Die Schlangenblüter hatten ihre Enklave zum Teil
selbst dezimiert, als die Frauen die Macht ergriffen hatten
und nur wenige ausgesuchte Männer am Leben gelassen
hatten. Nach dem Vorbild von Tebaarshas Matriarchat,
dem Reich einer abtrünnigen Chimärierin tiefer in den
hiesigen Gängen, hatten die Schlangenblüterinnen
sich neu organisiert. Doch fehlte ihnen bei Weitem die
Weisheit von Tebaarsha.Die Schlangenblüter hatten
sich von den Nachtelfen weiter dezimieren lassen, einer
Aufwiegelung Cerýllions folgend. Sobald auch noch die
284 Chimärier von Tebaarshas Matriarchat über die Reste
dieses Volkes hergefallen waren, würden die Sporks auf
wenig Gegenwehr stoßen.
Zweifellos würden die Schlangenblüter Tebaarshas
Chimärier sofort angreifen, hatte Cerýllion doch etliche
von ihnen durch seine Magie bei lebendigem Leibe
verbrannt – in der Trugbild-Gestalt eines feuerspeienden
Chimäriers, der sie lautstark als schlachtenswerte, niedere
Tiere beschimpft hatte.
Cerýllion schmunzelte zufrieden und beobachtete
durch seine magische Sicht, wie die fünf Chimärier in die
Schlangenblüter-Enklave einfielen. Sie traten das vorderste
der Kohlenbecken um und brüllten wütend: „Ihr versteckt
den Elfenzauberer! Gebt ihn uns!“ Einer der Chimärier
hielt zwei Armbrüste vor sich.
Die Schlangenblüter sahen die Chimärier und hörten
auf zu denken. Mit wildem Kriegsgebrüll griffen sie zu den
Waffen und stürzten sich auf sie.
Zwei Frauen wurden von Armbrustbolzen von den
Füßen gerissen und stürzten tot auf die Rücken. Der
Schütze ließ die Schusswaffen fallen und zog zwei Klingen.
Die Chimärier waren in einer drastischen Unterzahl, doch
sie waren Chimärier. Jeder von ihnen wog mehr als das
Dreifache einer Gegnerin und war viel größer. Ihre Waffen
waren weitaus länger und schwerer, außerdem waren sie
viel besser gepanzert. Mit wildem Gebrüll metzelten sie
sich in einer Keilformation durch die Schlangenblüter,
deren Schlachtreihe sich binnen weniger Lidschläge in
einem blutigen Chaos auflöste. Klägliche Todesschreie und
stürzende Körper drangen durch seine Magie an Cerýllions
Ohren. Der Unsterbliche hatte zahllose Stämme, Städte 285
und Kulturen aufsteigen und fallen sehen. Er schürzte die
Lippen und genoss das blutige Schauspiel.
„Schade“, äußerte er plötzlich Bedauern. Die
Bogenschützen der Schlangenblüter rannten herbei
und gingen in der Tiefe der sich ständig verbreiternden
Schlucht in Stellung. „Oh!“, machte Cerýllion verzückt.
Einer der Chimärier besaß einen Schild. Er kauerte sich
dahinter zusammen und wartete den Pfeilhagel ab. Die
anderen Chimärier packten sich jeder eine Leiche und
hielten sie im Vorwärtsmarsch vor sich, um die Pfeile
abzufangen. Einer der Chimärier wurde in die Schulter
getroffen. Mit einem wütenden Knurren brach er den Pfeil
ab und schien kaum beeinträchtigt zu sein. Brüllend ließen
die Chimärier nach dem Pfeilhagel die gespickten Leichen
fallen und stürmten mit riesigen Schritten vorwärts. Noch
bevor die entsetzten Frauen neue Pfeile abfeuern konnten,
waren die Chimärier über sie gebrandet und schlugen ihre
Körper in Fetzen.
Auf einmal ging ein weitaus größerer Pfeilhagel
nieder. Von großen Felsen an den Rändern der Schlucht
aus, rings um die Chimärier, schossen zwei Dutzend
Schlangenblüter ihre Pfeile ab. Ein Chimärier nach dem
anderen sank brüllend in die Knie, donnerte auf den Fels
und starb. Sie waren in eine geschickte Falle gelaufen, auch
wenn einige Schlangenblüter sich hatten opfern müssen.
Cerýllion nickte anerkennend, während er seine Sporks
und den Geistertroll telepathisch über die Beschaffenheit
der Schlucht und des Hinterhalts informierte. „Fünf
Chimärier und ...“ Cerýllion zählte die Leichen. „Fünf
286 Chimärier und sechsundzwanzig Menschlein erledigt – in
so kurzer Zeit“, sagte er zufrieden zu sich.

„Ooooh! So viele Augen, alle noch warm! Und es wird


bestimmt keiner böse, wenn ich sie esse!“, schwärmte
Zeeris, den lauwarmer Schwefelgeschmack im Mund
immer hungriger machte. Über eine Stunde hatte er
die Chimärier verfolgt, und jetzt hatte sich die Geduld
endlich gelohnt.
Der letzte Chimärier krümmte sich im Inneren der
Schlucht. Zeeris griff sich am Eingang den Lockenkopf
einer Toten und schlug die Krallen in die Augenhöhle.
Er trennte den Augapfel sauber ab und hielt ihn
freudestrahlend in der Hand. „Ganz frisch!“, rief er,
schmatzte und schlang die Delikatesse hinunter. Beiläufig
bemerkte er, dass die vermeintliche Tote noch gestöhnt
und mit den Händen gezuckt hatte. Erst jetzt verebbte der
Blutstrom aus ihrer klaffenden Rippenwunde. „Oh-oh!
Das hätte Cesius gar nicht gefallen! Und Athónon auch
nicht!“, krähte Zeeris und wiegte den Kopf unschlüssig
hin und her.
Zeeris schwebte zur nächsten Leiche, deren Haut
bräunlich schillerte. Er stupste ihren kahlen Kopf
an. Die Tote blieb reglos liegen. „Haha!“, rief Zeeris
triumphierend und schlug ihr die Hand in die Augenhöhle.
Gierig verschlang er den Augapfel mit der geschlitzten
Schlangenpupille. Sein Kauen wurde plötzlich immer
langsamer. Seine drahtigen Brauen arbeiteten.
Andächtig schwebte er zur nächsten Leiche, die rosige 287
Menschenhaut, aber türkisfarbenes Haar besaß, und
stupste auch diese an. Die Leiche stöhnte leise, bewegte
einige Finger neben ihrem Gesicht und zuckte mit den
Augenlidern. „He! Du bist ja gar nicht tot!“, rief Zeeris
teils beleidigt, teils erfreut.
„Hilfe ...“, hauchte die Nicht-Tote.
Zeeris setzte sich an Ort und Stelle auf den Hintern und
dachte angestrengt nach. „Nicht-Tote ... Untote ... Cesius
hat die immer umgebracht, wenn sie vorher schon tot
waren. Aber vielleicht ist das eine von diesen Noch-nicht-
Toten, die nur tot aussehen. Dann hieße das ja heilen, weil
sie noch lebt! Wieso muss das eigentlich so schwierig zu
unterscheiden sein? Diese weichen Hautbeutel sind alle
gleich kalt im Vergleich zu Teufelchen!“
„Hilf mir“, hauchte die Nicht-Tote und schob ihre
Hand in Zeeris’ Richtung. Zeeris fixierte unwillkürlich
ihre Augäpfel, als sie Kopf und Lider hob.
„Ich kann heilen!“, krähte Zeeris und reckte den
Zeigefinger in die Luft. „Aber ich muss Deine Wunde
anfassen, die Hände da drauflegen, weißt Du? Dreh
Dich mal um.“ Zeeris stemmte die Fäuste in die Hüfte
und stellte sich vor dem Bauch der Nicht-Toten auf,
unter dem ihr Blut in einer größer werdenden Pfütze
hervorquoll. Ungeduldig sah er zu ihrem Gesicht.
„Also, ich kann Dich nicht umdrehen“, blaffte Zeeris sie
schnippisch an.
Die Schlangenblüterin wusste nicht, ob ihr der nahe Tod
Streiche spielte oder ob sie wirklich ein rotes Teufelchen
neben sich hörte, das dummes Zeug redete. Doch es hatte
288 gesagt, es könnte sie heilen, wenn sie es nur schaffte, sich
selbst umzudrehen.
Mit Hand und Knie drückte sie sich vom Fels ab. Zeeris
schob am Hüftknochen nach, und tatsächlich rollte die
Schlangenblüterin stöhnend auf die Seite und dann auf
den Rücken.
„Haha!“, rief Zeeris begeistert und starrte den quer
aufgeschlitzten Bauch an. „Sie haben Dich nur mit der
Spitze gestreift, sonst wärst Du in der Mitte durchgehackt
worden und Deine Gedärme würden raushängen!“
Obgleich man es ihm nicht zutraute, hatte Zeeris schon
viele Schlachtfelder und zahllose Leichen gesehen. Er
legte seine kleinen Hände auf das hervorquellende Blut.
Zeeris schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken
und räusperte sich. Dann rief er laut: „He, Domaore! Oh
Göttin der Veteranen und des Friedens! Ich will, dass
Du diese Nicht-Tote hier gesund machst! Sie soll nicht
weiterbluten, weil sie sonst stirbt! Machst Du das für sie?
Das wäre wirklich nett von Dir.“
Wenn auch in sicherlich anderem Ton, hatte der
Tempelkrieger Cesius dem Teufelchen so vor zwanzig Jahren
das Beten um Heilung bei schweren Wunden beigebracht.
Plötzlich erfasste Zeeris ein starker Sog, der ihn vom
Körper der Schlangenblüterin fortpurzeln ließ. Die
magische Strömung, die Zeeris durch seinen Körper
gelenkt hatte, war überraschend stark ausgefallen.
„Domaores Atem“ hatte Cesius diesen Effekt genannt.
Das Teufelchen war benommen und konnte kaum
etwas sehen vor bunt flirrenden Sternchen. Alles drehte
sich in unregelmäßigen Ellipsen. Zeeris taumelte
und fühlte sich, als sei er wenigstens eine Stunde mit 289
Höchstgeschwindigkeit geflogen.
„Das glaube ich ja nicht“, hörte Zeeris in weiter Ferne
eine Frauenstimme. Seinen breiten Teufelsschwanz als
Stütze nutzend, blieb Zeeris stehen und blinzelte in die
Richtung, aus der die fremde Stimme gekommen war.
Mehrere Frauen mit Waffen standen dort und starrten
auf ihn. Hinterrücks stupsten ihn plötzlich Finger an.
Erschreckt sprang er zur Seite. Die Nicht-Tote, die er
geheilt hatte, hob mühsam den Kopf und flüsterte: „Danke
– wer oder was immer Du bist.“
„Ich bin Zeeris!“, verkündete das Teufelchen stolz und
streckte die gepanzerte Brust raus.

Cerýllion verfolgte die Szene durch einen Zauber. Über


Zeeris schüttelte er schmunzelnd den Kopf. „Sieh mal an,
von Dir habe ich auch schon gehört. Wie nett von Dir,
Viech, Dich in meinem Refugium zu zeigen. Sicher wirst
Du zu Deinen Freunden zurück wollen, und wenn Du sie
gefunden hast, erfahre ich ebenfalls, wo sie sind. Meine
einfacheren Beobachtungszauber reichen leider nicht
beliebig weit und nicht gleichzeitig in alle Richtungen.
Mögliche magische Tarnungen durch Mèra kann ich dank
Dir auch umgehen.“
Cerýllion dachte nach. Er strich sich mit den Fingern
über das Kinn. „Die letzten Schlangenblüter werden
ganz sicher noch ein paar Rachegelüste für die verlorene
Schlacht hegen, die sie dank des Teufelchens befriedigen
290 könnten, wenn es sie hinführt. Vielleicht sollte ich den
Schlangenblütern das Schwert von Theb Nor erst abnehmen,
wenn sie die Drecksarbeit für mich erledigt und Mèra
getötet haben. Andererseits, da Mèra wiederhergestellt
wurde und Srrig an ihrer Seite steht, dürften die paar
verbliebenen Schlangenblüter kaum Erfolg haben. Nein,
ich werde sie den Sporks zum Spaß und zum Fraß gönnen.
Eine motivierte Truppe ist schließlich wichtig. Ich sollte
lieber das Teufelchen im Auge behalten.“
„Prüfungen teilen unsere Zeit ein. Sie machen uns stärker
durch den Druck. Sie entlarven unsere Blindheit für
das größere Ganze. Sie machen uns abhängig von einem
Mentor und seiner Schule.

Die letzte Prüfung ist darum der Mut zur Freiheit.“


Melgiru Szur,
Großmeister des Schwertes vom geheimen Panthervolk,
über den Wert von Prüfungen in der Ausbildung zum Krieger
19 295

Nach zwei Stunden legte der Zug der Nachtelfen die erste
Rast in einer schlauchförmigen Höhle ein. Niemand hatte
es eilig. In der vorderen Hälfte der Höhle stiegen magische
Lichter unter die Felsdecke. Bloß ein einzelnes Kochfeuer
wurde ohne Zauberei entzündet. In der hinteren Hälfte der
Höhle hingegen versammelten sich diejenigen Quirmóer,
welche jeglichen Einsatz von Magie ablehnten, so er nicht
absolut unerlässlich war. Viele kleinere Feuer prasselten
dort und füllten die Höhle und abgehende Gänge schnell
mit Rauch. Gelegentlich zauberte Myándirel deshalb
einen Windstoß von einem Gang in den anderen, sehr
zum Unwillen der magieablehnenden Fraktion. Außerdem
entbrannte während der Rast der Streit um die magischen
Lichter, wie sie nun im vorderen Höhlenteil leuchteten,
erneut. Unter Gezeter verlöschten sie von Zeit zu Zeit,
und unter noch mehr Gezeter schnellten sie wieder hoch.
Erste Gerüchte kamen unter den Magieablehnenden auf,
man müsse ohne Magie womöglich nicht nur das Wasser,
sondern auch das Feuerholz rationieren, bis man neue
Aufgänge zur Oberwelt gefunden hätte.

Die Gruppe der Fremden, mit Ausnahme von Srrig und


Mèra, hatte sich am Rand der Höhle sitzend aufgereiht.
„Ob die wissen, wie viel so ein Chimärier essen muss?“,
grollte Paaldrag leise und kramte aus seinem Rucksack
die letzten Fleischreste zusammen. Olériel lag mit dem
Kopf an Tarens Schulter. Gedankenverloren strich sie mit
296 dem Zeigefinger über seine Tunika. Athónon hatte die
Klappkarte wieder verstaut. Sie zog für seinen Geschmack
zu viele Blicke an. Srrig und Mèra standen weit abseits in
einem Tunnel und redeten ernst miteinander.

Srrig verschwand in der Dunkelheit. Nach kurzer Zeit


kam er mit einem Lederbeutel wieder. Vor Jahrhunderten
hatte er den Beutel hier deponiert, unmittelbar bevor
er schon einmal am Strand von Harkýior gegen den
unrechtmäßigen König der Elfen Cerýllion gekämpft
hatte. Srrig war damit einer vagen Vorhersehung gefolgt,
dessen Sinn er auch heute noch nicht erkannte. Doch er
vertraute den göttlichen Visionen blind. Sie waren zur
rechten Zeit stets wahr geworden. Manchmal auf sehr harte
Weise, doch allzeit richtig für das höhere Wohl Hevanors.
Er würdigte den seltenen Moment, in dem er trotz
seines Alters eine Empfindung spüren konnte, mit einem
Lächeln: Er war neugierig. Neugierig, was der wertvolle
Inhalt dieses Beutels bedeuten und welche Tragweite sein
Auffinden besitzen würde. Eine Kleinigkeit konnte es
kaum sein. Der Strand, an dem heute die imperiale Stadt
Harkýior stand, schien ohnehin eines der mystischen
Zentren Hevanors zu sein, an dem in der Vergangenheit
immer wieder Großes geschehen war – und wo sich nun
ein weiteres Mal Schicksalhaftes zutragen würde.
Srrig gesellte sich zu seinen sterblichen Begleitern. Vor
Laura blieb er stehen und bedeutete ihr, aufzustehen.
„Zeit für Dein tägliches Training.“ Er hielt eine
brennende Fackel in einer Hand und den rätselhaften
Lederbeutel in der anderen.
Strahlend erhob sich Laura und folgte Srrig in den 297
Tunnel. Sie passierten Mèra und die fragend dreinblickende
Vorhut. Durch zwei weitere kleine Tunnel gingen sie in
eine enge Höhle, die kaum mehr als eine Verbreiterung
des Ganges war. Tropfsteine wuchsen zudem in der Mitte.
Srrig warf die Fackel auf den Boden, wo sie weiterbrannte.
Er öffnete den Lederbeutel und zog ein langes weißes
Seidentuch heraus. Ernst blickte er Laura an. „Leg Dein
Schwert ab!“, verlangte er und wartete. Laura schnallte den
Schwertgürtel ab und ließ ihn an der Höhlenwand fallen.
„Bisher mussten all meine Schüler eine Aufnahmeprüfung
bestehen, um ihren unbedingten Willen und ihr Vertrauen
zu beweisen“, erklärte Srrig. Er spürte, dass seine Worte
nur ein Vorwand für eine schicksalhafte, größere Fügung
waren, die er noch nicht absah. „Ich hatte bei Dir gedacht,
das sei überflüssig. Aber ich habe den Eindruck gewonnen,
dass Du mir nicht vorbehaltlos vertraust. Bedingungsloses
Vertrauen zwischen Meister und Schüler ist jedoch eine
Grundvoraussetzung, um die traditionelle Kampfkunst
der Tigermenschen zu erlernen. Man kann sich nicht die
vermeintlichen Vorteile herauspicken und den Rest liegen
lassen. Vielmehr sind alle Aspekte der Tiger-Kampfkunst
eine untrennbare Mischung, die nur gemeinsam mehr als
die Summe ihrer Teile ergibt. Auch der blinde Gehorsam
des Schülers für den Meister gehört dazu, so unbequem
das für den Schüler zunächst erscheinen mag.“
Laura schluckte. Ihr Blick eilte nervös hin und her.
Sie kratzte sich am Arm und trat von einem Fuß auf
den anderen. Das Unwohlsein grub sich deutlich in
ihre Mundwinkel. Sie hatte zu Athónon gesagt, dass sie
298 Srrig nicht vertrauen würde, weil ihr dessen Einstellung
gegenüber Sterblichen nicht gefiel. Hatte er das
mitbekommen oder spürte er es auch so? Gewundert hätte
sie beides nicht. Sein Blick forderte sie auf, etwas zu sagen.
Sie musste jedes Wort zwingen, ihren Hals mit brüchiger
Stimme zu verlassen. „Ich bin bereit, Meister.“
Srrig nickte und sah sie undeutbar an. Er legte den
Beutel neben ihr Schwert, trat mit dem weißen Seidentuch
hinter sie und band es über ihren Augen fest. Nun war sie
blind. Srrig ließ sie hören, wie er an ihr vorbeistrich und
vor ihr stehen blieb.
„Nun, vertraust Du mir?“ Seine sanfte Stimme klang
in Lauras Ohren wie das hypnotische Zischeln einer
zweihundertfünfzig Pfund schweren Giftschlange.
Sie nickte.
„Deine Prüfung besteht darin, Dich zu verteidigen“,
sagte Srrig. „Hast Du verstanden?“
Lauras Nackenhaare stellten sich auf, ihr Magen
rumorte. „Kämpfen?“, keuchte sie. „Gegen Euch?“
„Vertraust Du mir nicht?“, zischelte Srrig belustigt.
Laura war mit ihren Gedanken schrecklich allein, in
Dunkelheit gefangen unter der Augenbinde. Belauert von
einer Situation, deren Gefährlichkeit sie nicht einschätzen
konnte. Sie spürte sich schwer schlucken, schien sich
selbst über die Schulter zu blicken. Ihre Knie drohten
einzuknicken. Ihr Blut rauschte wild in den Ohren. Wie viel
Zeit war gerade vergangen? Sie hatte noch nicht geantwortet.
Ihr Mund war staubtrocken, ihre Lippen rissig.
Lauras Stimme vibrierte und hatte kaum Kraft. „Ich
bin bereit, Meister. Ich will Eure Kampfkunst lernen.“
Erschreckend laut verkündete Srrig: „Also gut!“ Er 299
betrachtete Lauras Nase, die etwas breit geworden war von
mehreren Brüchen. Er roch ihre Angst und sah ihre nervös
geballten Fäuste.
Srrig schlug ihr die flache Hand auf die Nase. Laura fiel
betäubt auf den Rücken und schwieg mit offenem Mund.
Für einen ganz kurzen Moment wollte sie jammern und
liegen bleiben, sich die Augenbinde wütend herunterreißen.
Doch sie bekam eine seltsame Empfindung von Bedrohung.
Sie rollte sich über die Schulter nach hinten und landete
auf den Füßen. Das Kettenhemd bremste sie durch das
ständige Tragen kaum noch. Schniefend wischte sie sich
das Blut von Nase und Lippen und stand kampfbereit da.
Ihr Herz schlug bis zur Zunge und ihr Blut rauschte laut
wie ein stürzender Wasserfall, zerrte an ihrem Körper,
sodass sie zitterte. Ich kämpfe gegen einen Halbgott!
„Gut!“, knurrte Srrig und stellte seinen erhobenen
Tigerfuß wieder ab. Er hätte Laura damit getreten, hätte
sie seine Absicht nicht gespürt. Es war mehr Srrigs als
Lauras Verdienst, dass sie den Angriff geahnt hatte. Srrig
hatte ihr die Empfindung mit aller Kraft in den Geist
gesandt. Obwohl ihre Sinne hierfür noch äußerst unscharf
und ungeübt waren, hatte sie immerhin erkannt, dass es
diese Sinne gab.
„Entspann Dich. Nur wenn Du innerlich ruhig
bist, wird auch Deine Kampfweise ruhig. Eine ruhige
Kampfweise ist die erste Stufe, die es zu erklimmen gilt“,
erklärte Srrig. Dann kam er Laura lautlos näher.
Ruhig bleiben? Entspannen? Laura wollte hysterisch
lachen, schaffte es aber, die Lippen fest zu schließen.
300 Und sie schaffte noch mehr. Wieder schien Srrig ihr auf
empathische Weise zu helfen. Die Halbelfin entspannte
sich Muskel für Muskel, bis sich alle Anspannungen
lösten und sie gelassen und aufrecht dastand. Sie horchte
konzentriert. Wieder bekam sie ein Gefühl von Bedrohung
im Nacken, doch da traf sie bereits Srrigs Faust in die
Rippen. Laura knallte mit dem Rücken an die unförmige
Höhlenwand und bekam keine Luft. In ihren Lungen
stach ein Schmerz, als sei eine Rippe gebrochen und
hätte sich hineingebohrt. Dabei hatte das Kettenhemd
den Schlag noch gedämpft. Sie hustete Blut und ergriff
panisch die Augenbinde. Doch Srrig hielt ihre Hände fest.
„Wenn Du jetzt aufgibst, bestehst Du die Prüfung nicht
und ich werde Dich nicht weiter unterrichten.“
Was er wirklich meinte, war: Wenn Du jetzt aufgibst,
wird das Schicksal nicht seinen Lauf im Sinne meiner
Herren und Götter nehmen. Srrig sah noch immer nicht
ab, wohin die Situation führte, aber er war sicher, das
Richtige zu tun.
Laura brachte keinen Ton heraus, rang nur verzweifelt
nach Luft und würgte noch mehr Blut hervor. Was sollte
sie daraus lernen, zusammengeschlagen zu werden? Wie im
Kampf gegen Melek, spürte sie die dunkelsten Seiten ihres
tief vergrabenen Menschenerbes in sich aufbegehren. Hass
loderte auf, ungestüme Energie wollte sie zuschlagen lassen.
Srrig ließ ihre Hände los und trat einen Schritt zurück.
Leise sagte er: „Stell Dir stets vor, es ginge um Dein Leben.
In einem echten Kampf kannst Du nicht einfach aufgeben
oder Dich gehen lassen, bloß weil Du verwundet bist.
Eigentlich weißt Du das auch schon.“
Laura ließ die Hände vom Gesicht herabsinken und 301
umklammerte ihre Rippen. Sie schloss die zitternden
Lippen und stellte sich so gerade hin, wie sie es vermochte.
Srrig gab ihr einen Moment Zeit, dann schlug er
ihr die Faust in den Magen. Sie stieß einen kläglichen
Würgelaut aus und stürzte gekrümmt auf alle viere.
Bewegungsunfähig blieb sie genau so vor Srrig knien,
öffnete nur den Mund und kniff die Augen unter dem
Tuch zusammen. Die dunkle Seite ihrer Seele warf sich
rasend vor Wut gegen die Gefängniswände ihres Willens.
„Du musst wieder aufstehen, der Kampf ist noch nicht
vorbei“, sagte Srrig, es klang beinahe aufmunternd – er
verspottete sie.
Laura rührte sich nicht von der Stelle, nur ihre Arme
zitterten heftig. Noch immer stand ihr Mund weit auf und
ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Mit ihrer letzten Luft
stieß sie einen heiseren Schrei aus, doch einatmen konnte
sie immer noch nicht. Sie wusste, dass Srrig ihr jetzt in die
Rippen treten oder ihr auch gleich das Rückgrat brechen
konnte, doch sie schaffte es einfach nicht, sich zu rühren.
Srrig packte sie im Genick und riss sie hoch. „Willst
Du etwa aufgeben?“, knurrte er ihr ins Ohr.Ihr Kiefer
bewegte sich, ihr Gesicht verzerrte sich vor Qual, aber sie
brachte keinen Ton heraus. Sie schüttelte jedoch schwach
den Kopf.
„Wirklich tapfer“, sagte Srrig, offenkundig spöttisch.
Gerade als Laura deshalb um so mehr Angst bekam,
schlug er ihr die Faust in die Niere. Unsäglicher Schmerz
explodierte in ihrem Rücken, sie stürzte wieder und blieb
bäuchlings liegen. Ihre Finger verkrampften sich um den
302 Fels. Sie biss die Zähne zusammen, konnte sich aber nicht
bewegen. Ihre Glieder verzogen sich wie kurz vor einem
Krampf, als sie es versuchte.
Mit dem Fuß drehte Srrig sie auf den Rücken und kniete
sich neben sie. „Der Kampf ist noch nicht vorbei. Was tust
Du jetzt? Wenn ich ein Feind mit einer Klinge wäre, würde
ich Dich jetzt einfach abstechen! Oder wenn ich Melek
wäre ...“ Seine Krallen streiften ihren Innenschenkel hoch
und gruben sich hinein, bis Blut hervorquoll.
N’rracorr rief nach ihm. Doch Srrig erfüllte den Willen
der Götter, indem er sich mit Laura befasste. So beherrscht
vom Höheren, wankte Srrigs Seele kein bisschen bei den
Verlockungen des Blutdämons.
Laura wimmerte leise und fletschte gleichzeitig die
Zähne, hin- und hergerissen zwischen Wut und Panik.
Srrig packte ihre Kehle und drückte zu, seine Krallen
ritzten auch dort die Haut. Laura bäumte sich auf und
röchelte, ihre Finger zerrten vergeblich an Srrigs Faust.
„Du musst nur die Augenbinde abnehmen, dann ist
Dein Martyrium vorbei“, führte Srrig sie in Versuchung
und ließ nicht los. „Auch vor einer echten Schlacht ist es
viel leichter, rechtzeitig umzukehren und nach Hause zu
gehen, als sich ins blutige Getümmel zu stürzen. Ich sagte
es Dir schon einmal.“
Plötzlich erschien ihm seine Eingebung vom Schicksal
absurd: Wie sollte dieser sterbliche Wurm zu seinen Füßen
eine wichtige Bedeutung in den Augen der Götter haben?
Doch noch blieb sein Vertrauen unerschütterlich.
Lauras Hände ruckten zum Seidentuch, beschmierten
es mit ihrem Blut und gruben sich hinein – doch sie nahm
es nicht ab. Stattdessen schlug sie mit der flachen Hand 303
in Srrigs Gesicht und fand seine Augen. Sie drückte mit
aller Gewalt einen Finger gegen das Lid. Doch er reagierte
kaum. Er zog den Kopf nur etwas zur Seite – und biss
ihr mit mäßiger Kraft in die Hand. Sie bäumte sich noch
stärker auf, aber Srrigs Pranke um ihren Hals blieb eisern.
Er drückte nicht mal so sehr auf die Kehle, er drückte ihr
vor allem die Adern ab.
Verzweifelt strampelte Laura und schlug mit beiden
Fäusten auf seinen würgenden Arm ein, die Bisswunde
ignorierte sie. Doch sie war hilflos.
„Was würdest Du tun, wenn dies ein echter Kampf
wäre?“, raunte Srrig, während sie sich immer schwächer
wehrte und immer kläglichere Laute von sich gab. Er
schob seine freie Hand unter das Kettenhemd und schnitt
mit den Krallen über ihren Bauch.
Plötzlich ließ er sie einfach los und stand auf. Sie rollte
sich blitzschnell auf die Seite und krümmte sich so eng
zusammen wie sie nur konnte. Den Kopf vergrub sie
zwischen den Armen. Bebend blieb sie so liegen und
keuchte. Noch immer streifte sie die Augenbinde nicht ab.
Srrig hörte jemanden heraneilen. Er roch bereits, wer es
war, außerdem kannte er das Geräusch der Schritte.
Mèra bog in den Tunnel ein, dicht gefolgt von
Athónon. Sie sagte nichts und lief zu Laura, während
Athónon unschlüssig im Eingang stehen blieb. Mèra
kniete sich zu Laura und legte die Hände nur in den
Schoß. Sie betrachtete die Wunden und sagte leise: „Ist
schon gut. Du musst nichts sagen. Ich heile Dich, sobald
Du bereit bist.“ Mèra streckte Laura die Hand entgegen,
304 doch die verzog nur die Mundwinkel nach unten. „Geh
weg!“, wimmerte die Halbelfin. „Ich will nicht, dass mich
jemand so sieht!“ Weder ergriff sie Mèras Hand, noch
nahm sie das blutige weiße Seidentuch ab. Im nächsten
Moment fragte sie sich selbst, weshalb sie ständig auf
ihren falschen Stolz hereinfiel. Doch sogleich fiel ihr die
Antwort wieder ein.
Hinter Lauras Kopf wuchs ein Stalagmit in die Höhe,
sie streckte die Hand danach aus. Noch war die Prüfung
nicht vorbei. Mèra sah zu, wie Laura sich stöhnend auf
den Bauch wälzte, zu dem Tropfstein robbte und sich
Fingerbreit für Fingerbreit daran hochzog. Sie bot einen
elenden Anblick, doch mit jedem Stückchen, dass Laura
sich hocharbeitete, löste der durchschimmernde Stolz auf
ihre Kraft diesen Eindruck ab.
Schließlich kam sie auf die Füße, obgleich sie
wankte. Auch Mèra erhob sich und musterte die Halb-
elfin emotionslos.
Laura machte einen wackeligen Schritt nach
dem anderen und hob tastend die Hände. „Es kann
weitergehen“, verlangte sie mit brüchiger Stimme. „Ich
bestehe Eure Prüfung, Meister!“
Mèra blickte vorwurfsvoll zu Srrig, trat aber zur Seite
und ließ Laura vorbei. Auch Mèra spürte längst, dass dem
jungen Mädchen bald eine große Bedeutung zukommen
würde. Doch sie verstand noch weniger als Srrig, weshalb
er sie quälte.
Srrig betrachtete ausdruckslos, wie Laura auf ihn
zutappte. „Wie bitte?“, fragte er plötzlich leise und blickte
die Halbelfin verwundert an.
„Ich bestehe Eure Prüfung, Meister!“, sagte sie mit 305
bebender Stimme und wankte weiter auf die Stelle zu, wo
sie ihn vermutete.
Srrig kam ihr langsam entgegen und musterte ihre
Wunden von oben bis unten. Als sie ihn fast erreicht hatte,
ergriff er ihre Schultern und hielt sie fest. Srrig nahm ihr
die Augenbinde mit einer Hand ab und ließ sie achtlos
fallen, worauf Mèra lächelte, aber schon im nächsten
Moment verstand sie, dass die Prüfung noch nicht vorbei
war. Auch Laura lächelte nicht und stand stocksteif da.
Srrig hielt ihr die Hand vors Gesicht. Die Krallen von
Zeige- und Ringfinger schwebten vor ihren Augen. „Lass
die Augen auf“, raunte Srrig, während seine Krallen ihren
Pupillen immer näher kamen.
Laura zitterte immer stärker vor Angst, bis die Krallen
fast schon ihre Augäpfel berührten. Doch sie riss die Lider
immer wieder auf, wenn sie auch blinzelte. Sie wimmerte,
als die Krallen ihre Augäpfel antippten, aber selbst jetzt
riss sie die Lider hoch und ertrug die Panik. „Sind es Deine
Augen wert?“, flüsterte Srrig und drückte ein wenig stärker
auf die Pupillen. Lauras Kiefer bebte, Tränen liefen über
ihre Wangen. Sie hielt still. „Ich vertraue Euch, Meister!“,
flüsterte sie dieses Mal. Sie wollte nicht länger eine Prüfung
bestehen, sie wollte Srrig vertrauen – sie stellte ihr Ego und
ihren Siegeswillen zurück und ordnete sich unter.
Srrig nahm schlagartig die Hand fort und trat einen
Schritt zurück.
„Ich weiß nicht, wie ich Dich noch weiter prüfen
sollte, ohne das Gesicht zu verlieren“, erklärte Srrig
sanft. Er kam wieder näher, blickte neugierig in ihre
306 Augen und raunte: „Noch nie. Noch nie ist jemand so
weit gegangen.“ Während er Mèra ansah, behauptete er:
„Ich bin wirklich beeindruckt, dass eine Sterbliche mich
überraschen konnte.“
Mèra wusste, dass „noch nie“ gelogen war, doch sie
wusste auch, dass er Laura auf diese Weise um so mehr
Kraft für die Zukunft mit auf den Weg gab.
Laura lächelte nicht, aber sie beruhigte sich ein wenig.
Auf einmal spürte sie wieder, wie weich ihre Knie waren.
In seiner Hand hielt Srrig ein goldenes, prachtvoll
verziertes Amulett, das er Laura nun zeigte. „Sieh, das
bekommen alle, die meine Prüfung bestehen“, sagte er
leise. „Aber Du verdienst es nicht.“
Ruckartig hob Laura den Kopf und starrte den Halbgott
hasserfüllt an.
Srrig ließ das Amulett fallen, während er ihren Blick
lächelnd erwiderte. „Es ist nur ein kitschiges Stück lebloses
Gold, eine oberflächliche Trophäe, damit meine Schüler
sich stolz auf die Schultern klopfen können.“
Srrig ging zu seinem Lederbeutel, während Laura mit
brennenden Augen auf das Amulett am Boden starrte. Als
er zu Laura zurückkehrte, umklammerte seine Hand einen
anderen kleinen Gegenstand. In seiner Stimme mischte
sich ein Zwiespalt aus Geringschätzung für Sterbliche im
Allgemeinen und Respekt für Laura im Besonderen. „Ich
hätte nicht gedacht, dies hier jemals zu verschenken, erst
recht nicht an eine ... sterbliche Schülerin“, verkündete er
und sah sie streng an. Nun wusste er endlich, wieso auch
das zweite Amulett im Beutel gelegen hatte, die ganze
Zeit hatte er sich gewundert. Jetzt hatte er den Willen
seiner Götter erkannt und fügte sich, so schwer es ihm in 307
diesem Fall auch fiel. Er nahm Lauras Hand und legte ein
schlichtes Silbermedaillon an einem Lederband hinein.
„Es sieht unscheinbar aus, doch ist es viel wertvoller
als das goldene Ding. Es ist sehr alt und weise. Dieses
Amulett hat schon viele Generationen großer Meister der
Tigerkampfkunst ausgebildet. Behandele seine Seele mit
Respekt, es verdient ihn. Solch alte Artefakte verschenkt
man sonst nicht, wenn man die magische Seele erst
einmal kennt, aber ich weiß, das Amulett ist in diesem
Fall damit einverstanden.“
Laura stand zögernd da und betrachtete das Silberamulett
in ihrer Hand. Da nahm Srrig es noch einmal und hängte
es ihr um. „Das Lederband kann übrigens nicht zerreißen,
darüber brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen“, fügte
Srrig hinzu. Dann trat er einen Schritt zurück und seufzte
wehmütig, einen letzten Blick auf das Amulett werfend,
das auch ihn in jungen Jahren zum Meister ausgebildet
hatte. „Jetzt solltest Du Dich ausruhen, das hast Du Dir
ebenfalls verdient“, rief Srrig über die Schulter, während
er Fackel und Lederbeutel ergriff. Das goldene Medaillon
ließ er achtlos liegen.
Srrig war noch immer nicht vorbehaltlos zu dem
Gedanken fähig, dass die prophetische Bedeutung des
Silberamuletts etwas mit einer einfachen Sterblichen
wie Laura zu tun haben könnte, und doch schien es
exakt so zu sein. Die höhere Weisheit seiner Götter hatte
darin bestanden, Srrig mit dem unbändigen Willen
einer Sterblichen zu überraschen. Dass sie sein Amulett
bekommen sollte, erhob sie auf eine Stufe mit ihm, selbst
308 wenn sie noch jung war und viel zu lernen hatte. Doch
dies musste der Ratschluss der Götter sein. Einen anderen
Grund dafür, dass er sein Amulett vor so langer Zeit hier
hatte deponieren sollen, sah er nicht.
Laura atmete sehr flach, um den Schmerz im Brustkorb
gering zu halten. Sie versuchte, nicht das Bewusstsein zu
verlieren. Mèra trat neben sie und lächelte warm. Auch sie
kannte die Bedeutung des Silberamuletts, von dem Srrig
sich nie getrennt hatte, bis zu dem Tag, da er das Amulett
hier deponierte. Mèra reichte Laura den Schwertgürtel
und auch das blutige Seidentuch. Nachdem die Halbelfin
sich andächtig den Gürtel umgeschnallt hatte, knotete sie
das Seidentuch daran.
Auch Athónon kam nun zu ihr und beglückwünschte
sie ruhig. Allmählich konnte Laura etwas lächeln,
obwohl sie Mühe hatte, die Augen auf einen bestimmten
Punkt auszurichten.
Laura hatte zwei Dinge über sich gelernt: Dass ihr
Willen ihr größter Schatz war und dass sie bereit war,
jedwedem Monster blind zu vertrauen, wenn sie dafür nur
die Bestätigung erhielt, eine Kriegerin von Wert sein zu
können. An dieses Ziel klammerte sie sich mit aller Gewalt,
mehr als es ihr vor ihrer Prüfung bewusst gewesen war.
Das Amulett schmiegte sich warm an ihre Haut. Nun
besaß sie bereits zwei unermesslich wertvolle, lebende
Artefakte. Noch vor wenigen Tagen wäre sie deswegen
unglaublich stolz und eingebildet gewesen. Sie lächelte
dünn und streichelte über den Knauf ihrer Waffe. Noch
wusste sie keinen Namen. Laura war nicht sicher, was sie
eigentlich empfand bei dem Gedanken an diese großen
Ehren, die sie empfangen hatte. Denn auch die Schmerzen, 309
Ängste und Gefahren – und Verluste – auf dem Weg dahin
waren ungleich größer gewesen als alles, was sie je zuvor
erlebt hatte.
Sie konnte noch immer nicht richtig atmen, und je
mehr die Aufregung verflog, desto schlechter fühlte sie
sich, von den Schmerzen ganz zu schweigen, die jetzt den
Weg in ihre Gedanken fanden. Bevor Laura die lagernden
Nachtelfen erreichte, sank sie stöhnend an eine Wand und
umklammerte ihre gebrochenen Rippen. Sie schmeckte
neues Blut auf der Zunge und verdrehte vor Schwäche die
Augen. „Nicht schon wieder herumliegen ...“, raunte sie
scherzhaft und versuchte zu grinsen, was ihr allerdings
nicht gelang.
Mèra und Athónon waren gleichzeitig bei ihr, Athónon
warf ihr die magische Decke um die Schultern und Mèra
legte die Hände auf Lauras Rippen. Srrig blieb stehen
und blickte ausdruckslos zu den dreien hinter sich. Die
Empfängerin seines größten Schatzes, den nun sie um den
Hals trug, wäre ohne die exzellente Ausstattung Athónons
und ohne Mèras Hilfe schon lange tot. Offenkundig taten
die Götter alles, um Laura am Leben zu halten, doch Srrigs
Sorge um sein Amulett verflog trotzdem nur langsam.
310 20

Allmählich hatten alle Quirmóer sich an Myándirels


gelegentliche Windstöße gewöhnt, die den Rauch der Feuer
aus der Höhle bliesen. Nur jene, die mit dem maßlosen
Magiegebrauch, wie sie es nannten, nicht einverstanden
waren, murrten darüber und bezeichneten Myándirel sogar
als Verräter. In der Tat hatte er früher – vor seiner Zeit im Rat
– nicht ständig jeden minderwichtigen oder auch weltlich
erreichbaren Handschlag durch einen Zauber ersetzt.
Spähtrupps waren in verschiedene Richtungen
ausgeschickt worden, um den weiteren Weg in die
Tiefe auszukundschaften. Es war die vierte Stunde des
Aufbruchs der Nachtelfen von Quirmó, und allmählich
bildeten sich Grüppchen in der Höhle, die sich auch
räumlich in verschiedene Ecken und Winkel aufteilten.
Eine Gruppe war dagegen, dass die Fremden sie
begleiteten und auch gegen die Magie. Einer anderen
Gruppe war beides egal, eine weitere fand beides sogar
gut und wollte den Rest von ihrer Meinung überzeugen.
Eine Gruppe fand Magie schlimm, die Fremden aber
nicht, eine weitere Gruppe sah das genau umgekehrt. Die
Ratsmitglieder saßen zermürbt in der Mitte des Ganzen
und machten sorgenvolle Mienen.
„Wenn wir jeder selbst ernannten Gruppe erlauben,
eigene Wachen an ihren Tunneln aufzustellen, haben wir
die erste Schlacht in diesem Krieg verloren“, krächzte der
greise Pêraphèniel erschöpft. „Dann hätten wir nämlich
ihre Unabhängigkeit voneinander anerkannt.“
Gamáal nickte finster. Seine braunen Krallen gaben 311
dem hageren Krieger schon dann etwas Unheimliches,
wenn er sich nur an der Schulter kratzte. „Wir müssen die
Wachen weiterhin zentral an alle Tunnel verteilen, egal
welche persönliche Meinung die Einzelnen haben“, sagte
er mit leiser, tiefer Stimme. „Ich werde das durchsetzen“,
fügte er gespenstisch hinzu. Die anderen Ratsmitglieder
musterten ihn verunsichert, schwiegen jedoch. Gamáal
nickte dem Ältesten zu und verschwand.

Drei Nachtelfinnen aus einer Gruppe, die nur aus


Frauen bestand, traten an die Ratsmitglieder heran, kaum
dass Gamáal gegangen war. Ohne Gruß sagte die vorderste
Nachtelfin: „Wir sind nicht damit einverstanden, nur
von Männern geführt zu werden. Wir bestehen darauf,
dass mindestens ein Ratsmitglied durch eine Vertreterin
unserer Gruppe ausgetauscht wird. Am besten ersetzt Ihr
Sophéion, denn Frauen sind sowieso einfühlsamer und
begabter für die Musik und haben schönere Stimmen.“
Sprachlos blickte der sitzende Pêraphèniel zu der Frau
auf, während Sophéion ärgerlich durch die Nase schnaubte
und sich erhob. „Ein Ratsmitglied zeichnet sich am
wenigsten durch seine schöne Stimme aus“, konterte der
Barde. Sein Marmorgesicht verfinsterte sich. „Außerdem
haben wir wahrlich andere Sorgen. Also setzt Euch wieder
hin. Wir können darüber diskutieren, wenn wir eine neue
Heimat haben und Ruhe in unser Volk eingekehrt ist.
Seht Ihr nicht, was hier los ist?“
Pêraphèniel nickte. „Wir können jetzt keinen Zwist
innerhalb unseres Volkes gebrauchen. Wir haben
312 mit dieser Grüppchenbildung schon ein ausreichend
schwerwiegendes Problem, das schlimmstenfalls in
Spaltung und Zersplitterung endet.“
Die Nachtelfin hob angriffslustig das Kinn und
widersprach: „Nein! Irgendetwas wird immer sein, womit
Ihr uns abwimmeln könnt. Ich sage, jetzt ist der richtige
Zeitpunkt, dann haben wir es hinter uns. Es ist doch ganz
einfach: Entlasst Sophéion, ersetzt ihn durch eine von uns
und gebt die Änderung bekannt. Das dauert nicht lange.“
„Eure Forderung ist nicht akzeptabel“, sagte Pêraphèniel
mit fester Stimme. Noch immer blieb er sitzen, während
Sophéion mit verschränkten Armen dastand und die
Frauen verärgert anfunkelte.
Die Wortführerin schwieg grimmig, bis sich ein böses
Lächeln in ihre Miene schlich. „Eure Position ist auch
nicht mehr die beste, Ältester. Einige Mitglieder unseres
Volkes fanden Eure Entscheidung in Bezug auf diesen
Athónon reichlich charakterschwach. Ihr habt Euch von
Srrig einschüchtern lassen!“
Pêraphèniel hob überrascht die Brauen und starrte die
Frau an.
„Also gut!“, rief Fêowyn von der Seite. „Ich trete zurück,
um des Friedens willen.“ Er wollte schon aufstehen, aber
Sophéion hielt ihn an der Schulter fest.
„Nein“, sagte der Barde. „Wir können nicht bei jeder
kleinen Schwierigkeit sofort nachgeben, sonst gibt es bald
keinen Rat mehr. Außerdem sollst Du nicht für mich den
Kopf hinhalten. Niemand wird heute den Rat verlassen.“
Er wandte sich den drei Frauen zu und knurrte: „Und
Ihr setzt Euch jetzt wieder auf Eure Plätze und hört auf,
Ärger zu machen, sonst wird sich Gamáal Eures Anliegens 313
annehmen.“
Die vorderste Frau zuckte nur minimal mit den Brauen
und schwieg, doch die beiden Elfinnen hinter ihr blickten
empört und auch verschüchtert drein.
„Ist das eine Drohung?“, fragte die vorderste Elfin scharf.
„Natürlich!“, lachte Sophéion belustigt.
Myándirel nahm die Pfeife aus dem Mund und
brummte: „So wird das auch nichts.“ Der Zauberer
erhob sich ächzend, sah in die Runde und machte den
Frauen einen neuen Vorschlag: „Ihr könnt nicht einfach
einen Ratsposten verlangen, bloß weil Ihr Frauen seid.
Es gab schon viele Frauen im Rat, aber jedes Individuum
musste sich seinen Posten verdienen. Das gilt für Euch
genauso. Wenn Ihr also einen Posten haben wollt,
macht Euch um den Erhalt unserer traditionsreichen
Elfenkultur verdient, indem Ihr beispielsweise dafür
sorgt, dass diese Grüppchenbildung unterlassen wird,
bloß weil einige kurzsichtige Egoisten meinen, auch mal
wichtig sein zu wollen.“
Die Ratsmitglieder nickten allesamt zustimmend.
Pêraphèniel erhob sich mühselig, um der Elfin doch noch
den Respekt zu erweisen, ihr von Angesicht zu Angesicht
zu antworten: „Myándirel hat einen sehr klugen und
gerechten Vorschlag gemacht. Ich sehe keinen vernünftigen
Grund, diesen Vorschlag nicht als offiziellen Ratsschluss
im Interesse des Volkes von Quirmó zu behandeln.“
Nachdenklich ließ die Frau den Blick sinken. Sie drehte
sich zu ihren Begleiterinnen um, die drei tuschelten.
Schließlich wandte die Frau sich wieder dem Ältesten zu.
314 „Wir sind nicht einverstanden. Ihr haltet uns hin. Wenn
Ihr das Problem nicht lösen konntet, können wir es auch
nicht schneller.“
Pêraphèniel grinste. „Nun, aber wenn Ihr es auch
nicht besser könnt, wieso solltet Ihr dann besser in
den Rat passen? Es scheint mir eher, als wenn Ihr bloß
ein paar machtgierige Intrigantinnen seid, welche die
Gunst der Stunde nutzen wollen. Doch damit ist jetzt
Schluss! Geht und seid friedlich, ihr Giftschlangen!
Der Rat muss sich mit wichtigeren Angelegenheiten
befassen als Eurem Geltungsbedarf.“
Der Älteste winkte die drei abfällig von sich und wandte
sich ab. Sophéion stützte ihn, als er sich wieder setzte.
Wutschnaubend fuhr die Wortführerin auf dem Absatz
herum und stürmte davon, gefolgt von ihren etwas weniger
wütenden Begleiterinnen.

Olériel hatte vom Rand der Höhle aus die drei Elfinnen
beim Rat beobachtet. Zwar hatte sie kaum hören können,
was gesprochen worden war, doch sie kannte das Gesicht
der Wortführerin von anderen Gesprächen. Schon oft
hatte diese abfällig über die Männer gesprochen und dass
ihrer Meinung nach die Falschen im Rat säßen.
„Erzähl mir vom Anführer Deines Volkes“, bat Olériel
Taren, nachdem sie über eine möglichst unverfängliche
Formulierung dieser Frage nachgesonnen hatte.
„Mein Volk ist zersplittert und hat keinen richtigen
Anführer. Jeder Stadtstaat und jeder Dörferbund steht
für sich allein“, berichtete Taren. Voller Sorge dachte er 315
an seine Heimat Silberberg, an eine von nur drei wirklich
großen Städten der Menschen. Silberberg musste ganz
allein der Belagerung durch die Chimärier standhalten.
Laut Athónon gab es die Stadt vielleicht schon gar nicht
mehr. Der von Gerüchten und Geheimnissen umwitterte
Königskult hatte mit einem Artefakt, das die Vier
Könige ins Leben zurückrufen konnte, Schattenwacht
erpresst und damit die Chimärier vom entscheidenden
Schlag abgehalten. Doch die Erpressung war laut
Athónon hinfällig, da die Vier Könige das Totenreich
ja längst verlassen hatten.Taren räusperte sich. Mit den
Einzelheiten, wieso die Stadt überhaupt so lange gegen
solch eine Übermacht durchgehalten hatte, wollte er seine
neue Gefährtin nicht langweilen.
Olériel sah sich traurig um und raunte: „Tja, es scheint,
als wenn mein Volk bald auch in viele winzige Gruppen
zerfällt, so sehr es sich auch an seiner Kultur festzuklammern
glaubt. An irgendeiner ominösen Waldelfen-Tradition,
die hier die wenigsten wirklich kennen. Eigene Gruppen!
Wieso nur tun die so etwas Dummes? Das hilft doch
niemandem“, beschwerte sie sich. „Vielleicht hätte Mèra
doch wieder Königin werden sollen.“
„So ist die Natur des Geistes: Er kann sich wider
besseres Wissen verhalten, und prompt muss er davon
ständig Gebrauch machen“, spottete Taren. Doch seine
Augen glühten finster. Es schadete der Welt, dass nicht
alle Völker von Theb Nors Prophezeiung wider das Wissen
beschützt wurden.
„Jemand sollte ein Gesetz dagegen erlassen“, grollte Olériel.
316 Taren drehte ihr überrascht das Gesicht zu und fragte:
„Wogegen? Gegen den Geist?“ Gibt es schon. Nur erkennen
die Elfen Theb Nor nicht als Propheten an.
Olériel schwieg. Nach einer Weile erwiderte sie: „Nein,
erst einmal nur dagegen, sich dem Rat zu widersetzen.“
„Und wenn eines Tages böse Elfen den Rat beherrschen,
sollte man sich ihm dann trotzdem nicht widersetzen
dürfen? Je mächtiger und reicher der Rat gemacht wird,
desto eher werden die Falschen ihm beitreten wollen,
anstatt dass sich nur die Klugen und Weisen für diese
Aufgabe interessieren.“ Die von den Göttern geleitet werden,
ohne selbst zu viel zu denken. „Früher hatte mein Volk
Tempelkönige, denen man nicht widersprechen durfte.
Viele Tempelkönige erlagen der großen Macht jedoch oder
wurden von den Amdovenn verführt. Sie unterdrückten
das Volk, um sich zu bereichern.“
„Böse Elfen im Rat?“, lachte Olériel künstlich. Doch
ihr Blick verriet eine unterschwellige Furcht, die Taren
wachgekitzelt hatte. Sie sprach eine andere Vermutung
aus: „Ich glaube eher, dass die wirklich Klugen und
wirklich Weisen kein Interesse daran haben, sich mit
den Problemen des einfachen Volkes zu befassen.“ Voll
Bitterkeit knurrte sie: „Wer wirklich klug und weise ist,
opfert sich nicht für andere auf. Wer zu schwach ist, sich
um sich selbst zu kümmern, der stirbt eben. Sehen es so
nicht auch die Chimärier? Nun, erfolgreich sind sie wohl,
in gewisser Weise.“
Taren blickte sie aufmerksam von der Seite an. „Die
wirklich Klugen und Weisen werden von den Göttern für
solche Aufgaben bestimmt, ob sie wollen oder nicht.“
318 Sie erwiderte den Blick nicht. Der Tempelkrieger
seufzte. Er wusste, dass Olériel nichts von Göttern hielt.
Taren lächelte dünn und legte ihr den Arm um die
Schultern. Dankbar schmiegte sie sich an ihn und schloss
die Augen. Er nahm den anderen Gesprächsfaden wieder
auf: „Ein Chimärier nimmt niemals Hilfe an, das stimmt.
Sie halten sowohl Anbieten als auch Annehmen von Hilfe,
wenn es nicht einem unmittelbaren Sieg dient, für eine der
schlimmsten aller Schwächen. Sie glauben, damit ihrem
Volk erheblich zu schaden. Im Gegensatz zu den anderen
Völkern sind sie in der Erziehung extrem streng und lassen
selbst geringe Verweichlichungen ihrer Grundsätze nicht
zu. Sie haben ein Sprichwort: Auch der erste Schritt der
falschen Reise entführt das Auge in die falsche Richtung.“
Ohne eine nähere Erklärung hatte Taren doch
verstanden, dass Olériel ihre Fragen nur aus Trauer um
ihre vor langer Zeit beim Handeln getötete Familie
geäußert hatte. Er hatte schon zu viel geredet. Taren war
überrascht, wie gut er die Elfin verstand, obwohl er sie erst
wenige Stunden kannte.
„Hat Dein Volk viele Gesetze?“, fragte Olériel nach
einer Weile. Den Kopf ließ sie an Tarens Brust liegen. Er
genoss ihre knisternde Nähe und ihren Atem, der sich wie
ein Streicheln anfühlte.
Taren schilderte: „In vielen Stadtstaaten der Menschen
gibt es klare und feste Gebote, ja. Der Kulturtrieb ist
nicht nur bei den Elfen stark. Es gibt aber immer wieder
Einzelne bei uns, die sich mit ihren spitzen Zungen gegen
die Gebote wehren oder glauben, sie aufgrund ihrer
exakten Wortwahl umgehen zu können. Das wirklich
Wichtige ist deshalb für mein Volk, kluge Richter, Räte 319
oder Könige zu haben, die den Gehalt der Gebote mit
dem Herzen verstehen und ehren und sie konsequent
durchsetzen, ohne sich mit Haarspaltereien und spitzen
Zungen aufzuhalten. Denn Worte sind bekanntlich
dehnbar und manipulativ, Waffen der Amdovenn.
Sie halten im Zweifelsfall bloß auf – selbst wenn jene,
welche sie als Geisteswaffen vorschützen, das inbrünstig
bestreiten. Alle Gesetze und jeden Einzelfall in exakte
Worte fassen zu wollen, wäre wohl ein Fass ohne Boden
und niemand könnte sich das alles merken.“
„Genau wie bei uns“, murmelte Olériel. „Was macht
Dein Volk, wenn seine Anführer nichts taugen?“, fragte
sie vorsichtig.
„Meist gibt es einen besseren Kandidaten, der seinen
Vorgänger mit Hilfe unserer Götter ablöst. Schwierig
wird es nur, wenn ein König allein zu viel Macht besitzt
und gleichzeitig sein Volk nicht achtet und es schlecht
behandelt. Ich kenne solche Städte nicht selbst, hörte aber
davon. Das Volk kann meist nichts dagegen tun, außer
die offensichtlich erzürnten Götter wieder zu beruhigen,
damit diese eingreifen.“
„Tja, wir haben für solche Fälle keine Götter“, murmelte
Olériel. „Hoffen wir, dass uns Männer wie Pêraphèniel
noch lange erhalten bleiben.“
„Was ist mit den anderen Ratsmitgliedern?“, wollte
Taren wissen. Doch Olériel seufzte nur leise zur Antwort.
Plötzlich setzte sie sich gerade hin, lächelte Taren an und
rief: „Lass uns von etwas Schönem reden! Diese ganze
Politik stimmt mich nicht gut.“
320 „Von etwas Schönem? Wie Dir?“, grinste Taren zurück
und vergaß seine Neugier rasch.
„Ich dachte mehr an Deine Lippen“, raunte Olériel.
Damit setzte sie sich auf Tarens Schoß, küsste ihn und
grub ihre Finger in seine Schultern.

„Bist Du Taren?“, fragte eine grazile Nachtelfin sehr


leise. Ihr weites, schlichtes Kleid war so grau wie der
Fels ringsum. Ihr Haar war zu einem festen Knoten
aufgesteckt. Obwohl die unscheinbare Person sofort in
jeder Nachtelfen-Menge verschwunden wäre, fiel Brommil
doch auf, dass sie sehr gepflegt war. Ihr Kleid wies kein
bisschen Staub oder Schmutz auf, trotz des Marsches.
Kein noch so kleines Strähnchen wehte an ihrem Kopf, sie
saßen alle fest im Haarknoten. Ihre dünnen Finger spielten
nervös vor ihrem Bauch miteinander, ihren kleinen Kopf
und den furchtsamen Blick hielt sie gesenkt.
„Nein, der dort ist Taren, mit der Nachtelfin auf dem
Schoß“, antwortete Brommil und zeigte ein paar Schritte
weiter auf Taren.
Die Unscheinbare bedankte sich hastig und eilte
mit kleinen, schnellen Schritten weiter zu Taren und
Olériel, die Brommils Antwort gehört hatten. Die
beiden trennten ihre Lippen und Zungen voneinander
und erwarteten die Nachtelfin.
Gamáal hatte ihr bloß gesagt, Taren sei ein kleiner,
bärtiger Mensch. Woher hätte sie wissen sollen, dass es
hier gleich zwei davon gab. Von Zwergen hatte sie nur vage
Gerüchte gehört, und sie stellte sich Zwerge als höchstens 321
handgroße Wesen vor, welche die meiste Zeit unsichtbar
blieben und Elfen wegen ihrer Größe beneideten und
piesackten, wenn sie konnten.
„Bist Du Taren?“, fragte die Unscheinbare
sicherheitshalber noch einmal, als sie den Menschen
erreichte. Ihre dünne Stimme war sehr leise und scheu.
Nach wie vor spielten ihre Finger vor ihrem Bauch
miteinander, und auch den Kopf hielt sie geradezu
ehrfürchtig gesenkt.
„Ja, was gibt es?“, nickte Taren freundlich und beugte
sich vor, um ein wenig mehr vom Gesicht der Nachtelfin
zu sehen.
Hastig senkte diese daraufhin den Kopf noch weiter,
bevor sie berichtete: „Gamáal ist im Auftrag des Rates
für die Wachen zuständig. Er hat mir aufgetragen, Dir zu
sagen, dass Du und Deine Begleiter auf keine Splittergruppe
hören, sondern Euch direkt an den Rat wenden sollt, wenn
es wegen der Wachen zu Schwierigkeiten kommt. Der Rat
will nicht, dass die Splittergruppen eigene Entscheidungen
treffen. Auch wünscht der Rat nicht, dass unsere Gäste
sich zu sehr mit dem Rat gut stellen, weil das die Spaltung
unseres Volkes noch vertiefen könnte. Deswegen sprechen
sie auch nicht persönlich mit Dir und den anderen,
sondern haben mir das aufgetragen.“
„In Ordnung“, antwortete Taren ernst.
Die Unscheinbare trippelte unschlüssig um die eigene
Achse, dann hastete sie mit ihren schnellen, kleinen
Schritten davon.
Taren sah grinsend zu Olériel.
322 „Arme Famárial“, raunte Olériel, während sie ihr nachsah.
„Du kennst sie?“, hakte Taren nach.
„Sie ist Gamáals Gefährtin. Man sagt, sie ist bei ihm
geblieben, seit er sie und ein paar andere Nachtelfen vor
Jahren aus einer langen Gefangenschaft aus der Tiefenwelt
befreit hatte. Mehr weiß ich darüber zwar auch nicht, aber
wenn man Famárial so sieht, will ich mir ihr Schicksal
auch gar nicht genauer vorstellen.“
„Und was findet Gamáal dann an ihr?“, wunderte sich
Taren. Olériel zuckte mit den Schultern und blickte wieder
verliebt in Tarens Augen.
21 323

Klom, der Zweite unter Cerýllions Sporks, stand mit


verschränkten Armen vor seinen zwanzig Kriegern, die er
in einem breiten Höhlengang versammelt hatte. In Kloms
zahllosen Augen spiegelte sich der Feuerschein einer
Fackel, die neben ihm lag. Hinter ihm stand Nachtmahr,
der haarige Geistertroll, und ließ die dolchgleichen Krallen
am toten Körper herabbaumeln.
Mit seiner glitschigen Stimme knurrte Klom die Krieger
an: „Cerýllion befiehlt uns, die Enklave zu stürmen und
nichts am Leben zu lassen. Bleibt am Höhlenrand, in der
Mitte könnt Ihr zu leicht von Pfeilen getroffen werden.
Oben sind Schützen! So weit, so einfach. Ich erwarte, dass
jeder von Euch sich trotzdem erst dann mit Beutemachen
beschäftigt, wenn der Kampf gewonnen ist! Wen ich
vorher erwische, den werde ich töten. Alles verstanden?“
Die Sporks stießen ihre Speere auf den Boden und
schrien mit einer Stimme: „Ja, Zweiter!“ Sie hatten
eine oberflächliche Disziplin erlernt, die sich im
Kampfgetümmel jedoch schnell auflösen konnte.
„Dann los!“, rief Klom und streckte seinen breiten
Bronzesäbel, den er vom Buckel gezogen hatte, in die Luft.
Die Sporks brüllten und rannten um eine dunkle Ecke.
Am Ende des Gangs glommen die ersten Kohlenbecken
der Schlangenblüter-Enklave.
Nachtmahr folgte den Sporks mit trägen, doch sehr
weiten Schritten. Seine langen Arme pendelten hin und
her und seine klingengleichen Krallen zuckten aus lauter
324 Vorfreude. Das zerfetzte, verweste Gesicht des Geistertrolls
grinste böse. Sein linkes Auge funkelte mordlüstern und
seine skelettierte rechte Augenhöhle glühte in einem
blutigroten Höllenfeuer.

Zeeris wandte sich den Schlangenblütern zu, aber sie


wichen furchtsam vor ihm zurück. Auch die Verwundete
neben Zeeris robbte stöhnend von ihm fort, so schnell
sie vermochte.
„Ich tue Euch nichts“, erklärte Zeeris mit nobler
Stimme und winkte beschwichtigend ab. Stolz reckte er
die Brust raus und stemmte eine Hand in die Hüfte. Die
andere hielt er vors Gesicht und betrachtete gelassen die
kleinen Krallen.
Dann registrierte er endlich das Sporkbrüllen hinter
sich und fuhr erschrocken herum. Aus der Dunkelheit
sprengte eine wilde Horde Sporks herbei. Das Teufelchen
schrie entsetzt und wurde unsichtbar.
Mit müden Flügeln erreichte Zeeris einen Felsvorsprung
unter der Decke und fiel auf den Bauch. Schwefeldampf
stieg aus seinen Poren auf, gleichzeitig fröstelte er vor
Erschöpfung. Er war unsicher, ob er noch einmal so
schnell so hoch würde fliegen können. Auf jeden Fall
konnte er nicht unsichtbar bleiben. Die Heilung der
Schlangenblüterin hatte ihn arg gebeutelt, und hätten die
Sporks nicht so einen Lärm veranstaltet, das Teufelchen
wäre eingeschlafen.
Die Sporks stürmten rechts und links am Höhlenrand
entlang. Die Hälfte der Schlangenblüter hatte die oberen
Felsen bereits wieder verlassen und stand im Inneren der
Höhle, während das andere Dutzend über den Köpfen 325
der Sporks neue Pfeile auflegte und die Bögen spannte.
Die Schützinnen mussten sich jedoch weit über den Fels
lehnen, um auf die Sporks zielen zu können. Einige Frauen
legten sich bäuchlings hin.
„Kletterer vor!“, kommandierte Klom. Drei Sporks an
jeder Seite klemmten die Speere zwischen die Kiefer. Die
Kletterer nahmen ihre besonders langen Spinnenbeine
zu Hilfe und rannten die Schluchtwände auf allen vieren
genauso leicht hinauf, wie sie auf ebenem Boden gelaufen
waren. Die Schützinnen stierten die Sporks entsetzt an
und sprangen von den Vorsprüngen zurück.
Ein Spork war so schnell oben, dass er einer Kriegerin
den Speer durch den Rücken bohrte, bevor sie sich
aufgerichtet hatte. Sie bäumte sich auf, da schleuderte der
Spork sie bereits mit einem triumphierenden Fiepen über
den Vorsprung, um seine Waffe zu befreien.
Eine zweite Schützin holte aus, der Spork konnte den
Speer nicht mehr schnell genug herumreißen. Er stieß
jedoch den Speerschaft vor ihre Stirn und stoppte den
Ansturm. Dann wirbelte er herum und zielte mit der
Speerspitze auf ihre Kehle. Er traf aber nur die Wange
und wurde gleichzeitig von einer dritten Kriegerin auf der
anderen Seite angesprungen. Mit einem Stich in die Luft
scheuchte er diese zurück. Eins seiner langen Spinnenbeine
wischte an seinem Gürtel entlang und schleuderte ungezielt
einen Wurfdolch auf die andere Schlangenblüterin. Zwar
wurde sie nur mit der Breitseite getroffen, doch war sie
erschrocken zurückgewichen, der Spork hatte sich Zeit
verschafft. Er stieß den Speer von oben ins Bein der näher
326 stehenden Kriegerin und blockte ihren Schwerthieb,
indem er mit dem Faustrücken in ihren Unterarm schlug.
Kurz ließ er den Speer auch mit der zweiten Hand los,
packte Schopf und Kinn und brach ihr Genick. Dann
riss er seine Waffe frei, gerade als die andere Kriegerin
zuschlug. Er wurde am Arm getroffen, stach der Gegnerin
aber gleichzeitig den Speer ins Gesicht und rammte sie in
den Boden. Er lief über ihren Waffenarm, damit sie im
Sterben nicht nachsetzte. Den Speer einhändig führend,
den verwundeten Arm an den Körper gepresst, stellte er
sich der nächsten Schlangenblüterin.
Alle Schützinnen hatten kurze Waffen oder
bereitliegende Schwerter und Speere ergriffen. Doch
die Sporks überrollten die aufgescheuchten, schlecht
bewaffneten Schlangenblüter und stachen und schnitten
mit ihren Speeren wild um sich, obwohl jeder Spork zwei
Gegnerinnen vor sich hatte. Nach wenigen Lidschlägen
waren zwei Sporks, aber zwölf Kriegerinnen tot.

„Givríja!“, rief eine Frau mit schlohweißem Haar


und einem Rubin auf der faltenreichen Stirn. Sie lief
mit wehender gelber Robe der verwundeten Kämpferin
entgegen, die Zeeris geheilt hatte. Dabei löste sie sich
aus den tiefen Höhlenschatten und geriet ins Sichtfeld
der Sporks.
Givríja kroch unter Schmerzen weiter, blickte der
Weißhaarigen jedoch verzweifelt entgegen. „Bleib zurück,
Mutter!“, rief sie mit dünner Stimme. Die Sporks hatten
Givríja fast erreicht, der erste hob bereits triumphierend 327
den Speer.
„Giv hat recht, Mutter!“, rief eine Jugendliche. Die
bronzene Kettenrüstung aus Hemd, Rock und Haube war
ihr etwas zu groß. Nur an den Schienbeinen trug sie gut
sitzende Lederschienen über festen Stiefeln. Mit sanfter
Gewalt stieß sie die alte Mutter zur Seite und rannte auf
Givríja zu. In der Hand hielt sie ein eisernes Kettenbündel,
das sie über dem Kopf zu schwingen begann, als sie
gleichzeitig mit dem Spork Givríja erreichte.
Die dünne Eisenkette war drei Schritt lang, als das
Mädchen sie zu voller Länge aus der Hand entließ und
sie nur noch am Ende festhielt. An der Vorderseite zischte
eine dornige Eisenkugel, die den Spork beinahe am Kopf
getroffen hätte, wäre er nicht zischelnd zurückgewichen.
Die Kugel streifte die Höhlenwand, behielt ihre Bahn
aber bei.
„Beeil Dich, Schwester!“, rief die Kettenschwingerin.
Givríja kroch schneller, so sehr ihr das auch sichtlich
Schmerzen bereitete. Die Mutter war näher gelaufen, tief
unter die Kette geduckt, und ergriff Givríjas Hände, um
sie zu ziehen.
Unmittelbar vor den dreien bildeten die letzten
Schlangenblüter eine zornige Schlachtreihe, um die Sporks
zu empfangen. In ihrer Mitte stand die schwarzhaarige
Anführerin mit dem Runenschwert von Theb Nor.
Die vier verbliebenen Sporks bei den toten Schützinnen
sprangen in diesem Augenblick die Felsen wieder hinab,
um ihren Kameraden zu helfen. Sie landeten leise hinter
der Schlachtreihe der Schlangenblüter und erschlugen
328 jeder eine, noch bevor die Kriegerinnen die Gefahr
bemerkt hatten. Wie auf ein unausgesprochenes Signal
warfen die vorderen Sporks sich brüllend in den Kampf.
Die ungleiche Kampferfahrung beider Scharen war nicht
länger zu leugnen. Immer mehr helle Schreie erstarben.

Die Kettenschwingerin sah aus der zweiten Reihe der


Sporks einen Speer auf sich zufliegen und riss die Augen
auf. Doch da hörte sie bereits den dumpfen Knall und
wurde auf den Rücken geschleudert. Ungläubig starrte sie
auf den Speer, der so nah vor ihrem Gesicht aufragte. Die
Kette wirbelte nutzlos davon. Das Mädchen spürte noch
keinen Schmerz, aber sie konnte auch nicht atmen und
nicht aufstehen. Dennoch lächelte sie gequält, denn ihre
Schwester war inzwischen hinter ihr. Grimmig starrte sie
dem Spork entgegen, der sie getroffen hatte und nun mit
einem anderen Speer in ihr Sichtfeld trat.
Die Mutter hielt Givríja im Arm und sah gleichzeitig,
wie ihre andere Tochter hilflos am Boden lag, während
ein Spork vor ihr stand und zum Todesstoß ausholte. Die
Frauen daneben kämpften allesamt erbittert mit anderen
Sporks und konnten nicht helfen. „Tanesa!“ Die Mutter
schrie verzweifelt den Namen ihrer Tochter und sah sich
gehetzt in der Höhle um. Ihr Blick fiel auf einen spitz
zulaufenden Felsvorsprung. Sie streckte die Hand danach
aus und verzog die Miene zu einer wilden Grimasse. Der
Vorsprung knirschte und bebte. Plötzlich brach er mit
einem Knall ab. Er raste wie ein Pfeil auf den Spork zu,
der Tanesa erstechen wollte.
„Aaaah!“, kreischte Zeeris und hielt sich mit aller Kraft 329
an dem Vorsprung fest, auf den er sich vor dem Kampf
gerettet hatte – aber der jetzt wie unter einem Erdbeben
erzittert und abgebrochen war und in eine Richtung raste,
die nicht der kürzeste Weg zum Erdboden war.
Blut und Augen spritzten um Zeeris herum, als der
spitze Felsbrocken den Kopf eines Sporks zum Platzen
brachte. Zeeris landete neben einer Nicht-Toten mit einem
Speer in der Brust, die ihn überrascht anstarrte.
„Meine Sinne spielen mir Streiche“, stöhnte sie und
schloss die Augen. Als sie die Lider wieder hob und Zeeris
mit einem Sporkauge in jeder Hand schmatzend dastand
und dem Gemetzel vor seiner Nase zusah, schloss Tanesa
die Augen abermals und ließ den Hinterkopf auf den
Fels sinken. Inzwischen spürte sie die Schmerzen immer
mehr, die in ihrem Brustkorb wüteten und sie zu zerreißen
drohten. Das Bronzekettenhemd hatte den Speer zwar
gebremst, aber nicht genug, um einen tödlichen Treffer
zu verhindern.

Khassedra, die Anführerin der Schlangenblüter, schwang


das beidhändige Runenschwert mit unmenschlicher Kraft
durch die Speere und Körper der Sporks. Sie wusste, dass
die Runen ihr diese Macht gaben, und sie ahnte, dass diese
Macht einen Preis haben würde. Doch das war ihr gleich,
denn um sie herum schrien ihre Kriegerinnen verzweifelt
und stürzten tot zu Boden. Schritt um Schritt musste
Khassedra zurückweichen, immer mehr Speerspitzen
zuckten in ihre Richtung. Ihre Prophezeiung vom
eigenen Frauenreich würde sich nicht erfüllen, verstand
330 sie. Vermutlich würde nicht einmal mehr jemand übrig
bleiben, um ihr das vorzuwerfen.
Ein Speer traf sie in die Seite, weil sie nicht aufgepasst
hatte – sie schrie wütend und taumelte zurück, hinter die
schwindende Reihe ihrer Kriegerinnen.
Als ihre Anführerin und damit das heilige Schwert
sie verließ, ergriff Furcht die letzten Kriegerinnen wie
Fesseln. Kaum dass die gekrümmte Khassedra richtig
hingesehen hatte, war eine nach der anderen gefallen. Der
Schlachtenlärm verebbte.
Khassedra stand allein vor neun Sporks. Einer davon
schien der Anführer zu sein, da er als Einziger eine andere
Waffe trug, einen Bronzesäbel. Das Schwert von Theb Nor
hing schwer an Khassedras rechtem Arm, während sie den
linken auf ihre blutende Seite presste. Mühsam richtete
sie sich auf. Sie wollte dem Tod mit Würde ins hässliche
Gesicht blicken.
„Fordere den Stärksten zum Duell“, kratzte eine alte
Stimme.„Was?“, keuchte Khassedra und blickte sich um.
Außer den Sporks war allerdings niemand mehr in ihrer
Nähe. „Eine neue göttliche Stimme!“, flüsterte sie voller
Ehrfurcht zu sich. „Wieso erst jetzt, wo alle tot sind?“,
schluchzte sie wütend.
„Gehorche, sonst töten sie Dich!“, verlangte die
Stimme bloß.
„Wer bist Du?“, knurrte Khassedra. Trotz der Schmerzen
stand sie jetzt ganz aufrecht.
Die Sporks blickten sie irritiert an. Klom trat
unvermittelt vor und hob den Säbel. Khassedra schloss
die Augen, doch als Klom zuschlug, ruckte Theb Nors
Runenschwert von allein dem Säbel entgegen, Khassedras 331
Arm schien nur zufällig daran festzuhängen.

Ein Spork öffnete drohend den Spinnenkiefer und


hob den Speer. Sprungbereit schlich er auf Zeeris und
Tanesa zu. Die anderen Sporks standen im Halbkreis um
Khassedra und ignorierten die am Boden liegende Tanesa
und das winzige Teufelchen. Von der alten Mutter und
der verwundeten zweiten Tochter war nichts zu sehen.
„Sie werden sich in Sicherheit gebracht haben“, murmelte
Zeeris und schielte traurig auf Tanesa, die reglos dalag und
verblutete.
Der Spork erreichte Zeeris und hob den Speer siegessicher
noch höher, um das Teufelchen aufzuspießen. Zeeris riss
seinen Blick von Tanesa los und ballte die Fäustchen. „Du
machst mich wütend, Du Ding!“, knurrte er den Spork
an. Das riesige Ungetüm stieß fiepende Gluckslaute aus,
vermutlich ein Lachen. Als der Spork blitzschnell zustieß,
traf er nur den Boden. Überrascht blickte der Krieger zu
allen Seiten, erspähte Zeeris jedoch nirgends.
Das Teufelchen hatte sich nicht unsichtbar gemacht,
um seine Kräfte zu schonen. Es schwebte grinsend über
der einzigen Stelle am Hinterkopf des Sporks, wo kein
Auge war. Langsam ließ es sich absinken, bis seine Krallen
beinahe in Reichweite der ersten Sporkaugen waren. Der
plötzliche Start ließ es schweflig schwitzen, es war noch
immer ausgelaugt vom Zaubern. Doch die Lebensgefahr
hatte Reserven aktiviert. Langsam streckte Zeeris die
Krallen immer weiter nach den Augen aus.
332 Laura übte leise auf Wenndurs Laute die Griffe, die
Mèra ihr gezeigt hatte. Doch wirklich bei der Sache war
sie nicht. Das Grüppchen-Gezeter der Quirmóer störte
sie. Außerdem hatte sie Angst, einer der Elfen könnte
ihr unbeholfenes Herumprobieren auf dem Instrument
hören. Zu sehr erinnerte sie diese Gefahr an ihr Dasein
als Außenseiterin in ihrer Heimat. Und sie hatte sich
doch vorgenommen, ihr Dorf als ungetrübte Idylle im
Gedächtnis zu behalten, trotz des Todes ihrer Mutter. So
wollte sie Kraft für die Zukunft schöpfen, einen Grund
haben, um all die Kämpfe und Qualen durchzustehen,
die ihr bevorstanden. Um nicht eines Tages wie Athónon
zu enden.
Ihre Gedanken kreisten und wirbelten um ihre
Mutter, um Wenndur, um ihren Ziehvater und ihre
kleine Halbschwester, außerdem um das Geheimnis ihres
leiblichen Vaters. Und um das neue, magische Schwert
und ihre Prüfung, durch die sie ein unscheinbares, doch
vermutlich sehr altes und mächtiges Amulett erhalten
hatte. Srrig hatte ihr seit der seltsamen Prüfung nichts
mehr darüber erzählt. Nun war sie also eine vollwertige
Schülerin des Halbgottes. Stolz beschleunigte ihr Herz.
Wieder einmal waren ihre Wunden durch Magie
nahezu spurlos verschwunden, wieder einmal wäre sie
ohne Mèras Heilmagie gestorben. Sie hätte am liebsten
tagelang allein auf ihrem Lieblingsbaum in ihrem Dorf
gesessen, um all die Geschehnisse zu verarbeiten, die in
den letzten Stunden über ihr zusammengestürzt waren.
Stumm betete sie zur Lieblichen, zur Naturgöttin Heva,
die vor lauter Felsen hier ferner denn je zu sein schien.
Laura versteifte sich und hörte auf, die Saiten zu 333
streicheln, als Paaldrag auf sie zutrat. Sie legte den Kopf in
den Nacken und sah beherrscht zu dem schuppigen Riesen
auf. In der Rechten hielt er den Griff seines Schwertes,
das lässig über der Schulter lag. In der Linken hielt er das
blutige Seidentuch, das Srrig Laura bei der Prüfung um
die Augen gebunden hatte.
„Du hast was verloren“, sagte Paaldrag leise, beugte sich
vor und hielt Laura das Tuch hin.
Ohne den Blick von dem Chimärier zu nehmen, ergriff
Laura es langsam, nickte vorsichtig und bedankte sich.
Sein heißer Schwefelatem strich durch ihre Locken und
über die Ohrspitzen.
„In meiner Heimat war das Fallenlassen eines blutigen
Tuches eine eindeutige Aufforderung. Aber ich nehme
an, das hast Du nicht so gemeint“, behauptete Paaldrag
mit einem breiten Grinsen, noch immer vor Lauras
Gesicht gebeugt.
Laura wurde knallrot und knüllte das Tuch eilig in der
Hand zusammen. Sie verneinte, ununterbrochen Paaldrags
Drachenaugen und seine scharfen Zähne fixierend.
„Ist Deine Nase eigentlich in letzter Zeit breiter
geworden?“, feixte Paaldrag.
Nun ließ Laura den Kopf hängen und sah an
Paaldrag vorbei zu Boden. Unwillkürlich tastete sie mit
der freien Hand nach ihrer Nase und ließ die Laute auf
dem Bauch liegen.
Der Chimärier raunte ernst: „Du fühlst Dich hier
ziemlich unwohl, oder?“ Er setzte sich schwerfällig,
legte sein großes Schwert neben sich und faltete unter
334 Zuhilfenahme der Hände die sperrigen Beine zum
Schneidersitz. „Mir geht es genauso“, fügte er hinzu und
blickte Laura ruhig an.
Etwas verwundert starrte sie zurück und antwortete:
„Da sind zwei Halbgötter und ein großer Held wie
Athónon oder ein Krieger wie Du. Und ich sitze
dazwischen und wäre schon ich-weiß-nicht-wie-oft
getötet worden, hätte Mèra mich nicht jedes Mal mit
ihrer göttlichen Heilkraft gerettet.“
Paaldrag wurde so ernst, wie Laura es bisher nicht bei
ihm mitbekommen hatte. „Als ich noch Offizier war, hatte
ich viele junge Untergebene wie Dich. Lass Dich nicht
entmutigen, Du wirst eine große Kriegerin, weil Du die
besten Lehrer hast.“
„Du warst Offizier?“, wunderte sich Laura.
„Ich hatte eine große Karriere vor mir, alle Türen
standen offen. Aber ich habe wohl zu viel nachgedacht“,
brummte Paaldrag bitter.
Laura setzte zu einer weiteren Frage an, aber Paaldrag
hob abwehrend eine Hand und grollte: „Darüber will ich
nicht reden.“ Er stand auf und ging.

Gleichzeitig hörte Laura einen Streit zwischen zwei


Nachtelfen eskalieren. Ebenso alarmiert wie neugierig
sah sie hin. Ein Nachtelf mit sehr ordentlichem Kurzhaar
stand Gamáal gegenüber. Hinter ihm wartete ein Dutzend
finster dreinblickender Gefolgsleute. Der Nachtelf wedelte
mit gefalteten Händen vor der Brust, während er mit
offenkundig heuchlerischer Freundlichkeit auf Gamáal
einredete. Laura fiel insbesondere das breite, knochige
Gesicht des ansonsten hageren Mannes auf, das ihn für 335
ihre Augen brutal erscheinen ließ – wie einen Menschen.
Gamáal zischte eisig: „Ihr bleibt hier. Niemand verlässt
die Gemeinschaft, das wäre zum Nachteil aller.“ Seine
braunen Krallen hielt er gesenkt. Sein taillenlanges Haar
schlängelte sich jedoch auf seinem Rücken, beinahe wie
eine verborgene Schlange, die sich an ihre Beute anschlich.
Sein Gegenüber blickte Gamáal nicht direkt in die
Augen und gestikulierte mit den gefalteten Händen auf
und ab, als er entgegnete: „Ihr könnt uns nicht zwingen.
Wir ertragen diese ständige Zauberei nicht länger,
ebenso wenig die Anwesenheit der Nicht-Elfen und des
Drachenspions Athónon.“
Gamáals Mundwinkel verzogen sich nach unten. Auf
einmal zog er das Schwert, so schnell, dass Laura meinte,
es sei ihm von selbst in die Hand gesprungen. „Ihr bleibt
alle hier, Daráyon!“, knurrte der Krieger und hielt seinem
Gegenüber die Schwertspitze unter die Nase.
Athónon stand inzwischen neben Laura und
beobachtete die Szenerie. Seine Steinmiene verfinsterte
sich mehr und mehr.
„Sollten wir nicht irgendetwas tun? Eingreifen,
jemandem Bescheid sagen?“, fragte Laura. Athónon
schüttelte langsam den Kopf.
Daráyons falsches Lächeln blieb ungetrübt. Er ließ
lediglich die gefalteten Hände absinken. „Wenn Du mich
tötest, kann ich auch nicht mitkommen, Du kranker
Bastard“, lächelte der Nachtelf böse und blickte Gamáal
nun kalt in die Augen. Die Schlange auf Gamáals Rücken
erstarrte und lauerte.
336 Laura sprang entrüstet auf und lief auf die beiden zu.
„Hört auf damit! Beruhigt Euch!“, rief sie aufgebracht.
Immerhin war sie die Schülerin eines Halbgottes und kein
Niemand mehr, dachte sie.
„Misch Dich nicht ein“, knurrte Gamáal und sah sie
nicht mal an.
„Dein Schwert schneidet Eure Gemeinschaft doch erst
recht auseinander!“, protestierte Laura.
Daráyon wollte ihr schon beinahe recht geben, aber er
verkniff sich den Kommentar, um einer Nicht-Elfin nicht
zustimmen zu müssen.
Die Fronten blieben verhärtet. Gamáal und Daráyon
funkelten sich herausfordernd an, während Laura sich
plötzlich lächerlich vorkam.
22 337

„Ich fordere Dich zum Duell!“, knurrte Khassedra. Ihre


Schlangenzunge zuckte zwischen den Giftzähnen hervor.
Klom fiepte amüsiert und erwiderte mit seiner
glitschigen Stimme: „Wie Du meinst! Ich brauche keine
Hilfe, um ein dünnarmiges, blutendes Menschlein zu
töten!“ Er trat einen Schritt zurück und senkte den Säbel,
so als bestünde keine Gefahr.
Khassedra nahm die Hand von der Wunde und stand
scheinbar entspannt da. Doch im Stoff ihrer Beinlinge, an
ihrer Hüfte hatte sich ein triefender Blutfleck gesammelt.
„Wer bist Du und wieso hilfst Du mir?“, dachte
Khassedra und versuchte, in ihrem Kopf den Besitzer der
fremden Stimme zu finden.
„Ich war das Schwert von Theb Nor und meine Macht
ist zu groß für den Herrn der Sporks. Ich darf ihm nicht
in die Hände fallen, also sorge ich dafür, dass Du mich
behältst, obwohl Du mich nicht verdienst. Wenigstens
wirst Du nämlich keinen Schaden mit mir anrichten
können, dafür bist Du viel zu klein und unbedeutend.“
Khassedras Miene wurde bitter und ausgebrannt.
Sie war also nur ein niederes Werkzeug in der Hand
einer magischen Waffe – sie hatte sich das Gegenteil
eingebildet. Doch nun erkannte sie, dass sie bloß ein
Insekt in den Plänen der Mächte war, welche die Welt
wirklich verändern konnten.
Klom starrte sie wütend an, während sie nur reglos
dastand und blutete. „Worauf wartest Du? Los, töte mich!“,
338 schrie der Spork in seinem Kampfrausch, untermalt von
glucksenden und fiependen Geräuschen.
Khassedra wollte all ihre Wut in ihren Angriff legen.
Wut über die Sporks, die ihr Volk getötet hatten, Wut über
sich selbst und Wut über das mächtige Artefakt in ihrer
Hand, dessen Sklavin sie war, wenn sie überleben wollte.
Sie stutzte. Entweder lebte sie als Sklavin oder starb
als freie Frau, wie sie es sich immer in jugendlicher
Naivität erträumt hatte. Jetzt, wo sie wahrhaftig vor
der Entscheidung stand, dämmerte in ihr jedoch
die Erkenntnis, dass sie nur einer oberflächlichen,
parolenhaften Doktrin aufgesessen war, die sie gar nicht
ernsthaft nachfühlen konnte. Als Sklavin der Sporks
andererseits wollte sie erst recht nicht enden.
Khassedra machte einen Ausfallschritt und stach mit der
Schwertspitze zu den Augen des Sporks, wohl wissend, dass
ein erfahrener Kämpfer leicht würde ausweichen können.
Klom pendelte zur Seite und dachte: „Was für ein
lächerlicher Angriff.“ Er schlug mit seinem Säbel gegen
die Breitseite der gegnerischen Waffe und schleuderte so
Khassedras ganzen Arm nach außen. Doch die Kriegerin
nutzte den Schwung, der sie auf das rechte Bein drückte,
und hob gleichzeitig das linke Bein zum Tritt. Der Treffer
entlockte Kloms Brustkasten ein dumpfes Geräusch.
Der Spork lachte aber nur, drehte sich zur Seite und
umklammerte mit dem Spinnenbein Khassedras Bein,
noch bevor sie es wieder abgesetzt hatte. Klom wollte ihr
mit dem Säbel durch den gefangenen Schenkel schneiden,
doch Khassedra riss das Schwert mit überraschender Kraft
zurück und auf Kloms Kopf zu.
Sie selbst war genauso überrascht über die Bewegung, die 339
nicht sie selbst, sondern das Schwert für sie gemacht hatte.
Der Spork verzog den Säbel zur Seite, um aus der
Armbewegung heraus zu parieren, doch er unterschätzte
die unmenschliche Kraft, die das Schwert von Theb Nor
seiner Trägerin verlieh. Da er sich nicht mit dem ganzen
Körper gegen den Schlag gestellt und die Hüfte nicht
mitbewegt hatte, schlug die Wucht der Klinge seinen Säbel
einfach aus dem Weg und hackte sich tief in seinen Kopf.
Khassedras Bein hing noch immer fest, die Widerhaken
der Spinnenbeine erzeugten in Kloms Todeskrampf
blutige Kratzer. Khassedra schlug sie kurzerhand mit
einem einzigen Schlag von oben nach unten durch und
stand nun wieder aufrecht vor dem zuckenden Spork. „Na
schön! Wenn ich nicht sterben darf, dann nehme ich eben
Rache!“, grunzte sie tief befriedigt.
Klom sank still zu Boden und zuckte ein letztes Mal.
Khassedra stellte die Schwertspitze demonstrativ vor ihre
Füße und lehnte sich auf den Knauf. Sie erwartete nicht
wirklich, dass die verbliebenen Sporks sie nach diesem
Duell gehen lassen würden, doch was sie gar nicht erwartet
hatte, war der Geistertroll Nachtmahr.

Zeeris’ Krallen berührten beinahe die Augen des


Sporks, als dieser das Teufelchen schlichtweg vergaß,
das er eben noch hatte erstechen wollen. Er trat weiter
auf das Mädchen mit dem Speer in der Brust zu, das ihn
hergeführt hatte. Tanesa rührte sich kaum noch und hatte
340 die Lider geschlossen, atmete aber schwach. Der Spork trat
zwischen die Beine des Mädchens und starrte gierig auf
ihren Kettenrock. „So klein und jung!“, grunzte er und
warf den eigenen Speer weg.
„So dumm!“, dachte Zeeris böse bei sich und schoss
mit den Krallen vor in die Augen des Sporks. Die Kreatur
kreischte wild, während Zeeris ihm ein Auge nach dem
anderen ausriss. Als der Spork blind im Kreis wirbelte
und panisch um sich schlug, nahm Zeeris genug Abstand
für einen Sturzflug und rammte dem Spork seine Krallen
mit Höchstgeschwindigkeit in den Kopf. Das Teufelchen
hing zunächst fest, während der Spork zusammenbrach.
Mit einem wütenden Ruck befreite sich Zeeris und der
Spork wurde still. Taumelnd und vor Schwefelschweiß
am ganzen Körper dampfend, hüpfte Zeeris über den
Sporkkörper hinweg zu der Sterbenden. „Ich kann heute
keine Nicht-Toten mehr heilen!“, keuchte Zeeris erschöpft
und betrachtete voller Mitleid die Wunde.
In wenigen Schritten Entfernung grölten die
anderen Sporks gerade, scheinbar hatten sie den Kampf
gewonnen. „Aber dann werden sie sich gleich umdrehen
und mich und die Nicht-Tote sehen!“, wisperte Zeeris
aufgescheucht. „Ich kann mich auch nicht noch einmal
unsichtbar machen!“

„Du musst sie da wegholen!“, flüsterte Givríja und


wischte sich schweißnasse, türkisfarbene Strähnen aus
dem Gesicht.
Die weißhaarige Mutter berührte den Rubin auf ihrer
Stirn und schloss die Augen. „Mächte der Ahnen, bitte sagt
mir, was für ein Wesen der kleine rote Kerl ist“, murmelte 341
sie. Auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Furchen.

Zeeris fröstelte plötzlich, doch nicht vor Erschöpfung.


Hätte er Nackenhaare gehabt, sie hätten sich gesträubt. Er
blickte sich alarmiert um. Außer den Sporks, die ihn noch
nicht beachteten, fand er aber niemanden.
„He! Wer zaubert da an mir herum?“, wollte er zornig
rufen, doch er wollte die Sporks nicht auf sich aufmerksam
machen. Er fand sich zu erschöpft, um noch länger zu
fliegen oder sich unsichtbar zu machen.
„Ich muss mich verstecken!“, erkannte er und schlug sich
triumphierend mit der Faust in die andere Handfläche. Zeeris
kroch dem verwundeten Mädchen unter das Kettenhemd
und streckte sich so flach wie möglich auf ihrem weichen
Bauch aus. Den Kopf schob er zwischen ihre sanften
Brustwölbungen, bis er mit der Nase an den Speer stieß.
Den Teufelsschwanz schob er ihr unter den Rockbund, um
diesen ebenfalls zu verbergen. Ihr Blut lief an seinen Mund
und sie stöhnte schwach, doch das war ihm alles egal.
Dass er nach wenigen Lidschlägen trotzdem wieder
hervorkroch, lag daran, dass ihm eingefallen war, dass die
Sporks sich zweifellos über die Sterbende hermachen und
sie nicht ignorieren würden, und dann würden sie ihn auch
finden. Schon oft hatte er das Verhalten von Kriegern auf
Schlachtfeldern beobachtet. Er brauchte ein besseres Versteck.

„Was macht das Mistvieh da?“, knurrte Givríja böse.


„Es hat Angst und ist unbeholfen“, erklärte die Mutter
neben ihr leise. „Was mir mehr Sorgen macht, ist der
342 Zauber, von dem es berührt wird. Jemand beobachtet das
Teufelchen, glauben die Ahnen, aber sie sind sich bei der
Struktur des Zaubers nicht sicher. Er ist außergewöhnlich
komplex. Ich habe durchaus Erfahrung darin, die
Visionen der Ahnen zu deuten, doch dieses Mal hatte ich
das Gefühl, als würde ich mit einer hilflosen Babyhand
auf Stoff und Nadel patschen, um etwas zu nähen.“
„Was bedeutet das?“, wisperte Givríja erschrocken.
„Ich weiß es nicht. Jemand Mächtiges beobachtet
das Teufelchen, vielleicht ist es selbst auch mächtig. Ob
der Beobachter ihm gut oder schlecht gesinnt ist, weiß
ich ebenso wenig, aber ich denke zumindest, dass das
Teufelchen von eher harmloser Gesinnung für uns ist.
Immerhin hat es einen Spork getötet und versteckt sich vor
den anderen. Es heilte Dich. Sieh, jetzt kriecht es gerade in
einen Wandspalt.“
Givríja nickte, doch schon im nächsten Moment zischte
sie: „Wir müssen Tanesa retten, solange die Sporks noch
abgelenkt sind!“
„Aber wie? Sie haben das winzige Teufelchen nicht
bemerkt, aber Dich und mich werden sie sofort sehen! Wir
sollten Khassedra vertrauen. Sie hat das heilige Schwert
und wird die Sporks auch allein besiegen. Die Ahnen
haben mir versichert, dass dieses Schwert ihr die Macht
dazu verleihen kann.“
Ungläubig musterte Givríja ihre Mutter. „Eine einzige
Frau gegen ein knappes Dutzend kampferprobter Sporks,
und das Schwert soll das ausgleichen können?“
„Bei den Ahnen!“, keuchte die Mutter plötzlich und
starrte an ihrer Tochter vorbei zu den Feinden.
Nachtmahrs hagere Fellgestalt überragte die Sporks 343
um drei Köpfe. Ehrfürchtig, vielleicht sogar furchtsam,
bildeten sie eine Gasse und ließen den Geistertroll auf
Khassedra zuschreiten. Verwesungsgestank breitete sich
um ihn aus. Seine langen Beine federten stark, wodurch
seine Pranken und seine dolchartigen Finger an seinen
überlangen Armen sich wellenförmig über dem Boden
bewegten. Ohne dass Nachtmahr sein halb skelettiertes
Gesicht bewegte, spukte seine Stimme durch die Schlucht:
„Gib mir das Schwert, oder Deine Qualen werden ewig
und unvorstellbar sein.“ Die Worte klangen weder drohend
noch theatralisch, sondern faktisch und nüchtern.
„Keine Furcht“, hörte Khassedra in ihrem Kopf. Das
Schwert klang beinahe amüsiert. Die Anführerin reckte
stolz das Kinn und sah zu dem Geistertroll auf, der mit
seinen meterlangen Schritten auf sie zustakste und so nah
vor ihr stehen blieb, dass ihr sein stechender Modergestank
in die Nase kroch.
Khassedra spürte das Schwert plötzlich ganz leicht
werden, beinahe so, als hätte sie es gar nicht mehr in der
Hand. Während der Geistertroll ruhig dastand und eine
Hand fordernd ausstreckte, zuckte die Klinge plötzlich vor
und bohrte sich tief in seinen Bauch.
Nachtmahr blickte an sich herab und dann wieder zu
Khassedra zurück. Langsam schüttelte er den verwesten
Trollkopf. Das Schwert in seiner Wunde begann zu
brennen und sengte sein Fell an – nun knurrte er leise.
Mit seiner riesigen Klaue schlug er Khassedra durch
den knackenden Schädel und hinterließ blutspritzende
Furchen. Wie ein Sack Steine stürzte die Kriegerin auf
344 den Bauch und blieb mit gebrochenem Blick liegen.
Ihre Schlangenzunge hing aus ihrem Mundwinkel und
berührte den rot gefärbten Boden.
Das Schwert in Nachtmahrs Bauch loderte in weißem
Feuer auf. Der Gestank verbrannten Fells breitete sich
aus. Nachtmahr packte den Griff mit beiden Fäusten
und zerrte die Klinge aus der Wunde. Sein Brüllen jagte
durch die Schlucht, die Sporks zogen die Köpfe ein. Auf
einmal war das Schwert frei und der Geistertroll reckte es
mit einem geisterhaften Heulen in die Luft. Seine Wunde
schloss sich binnen weniger Lidschläge. Sein versengtes
Fell rieselte zu Boden, während neues nachwuchs.
Das heilige Schwert dachte: „So, Du bist also untot. Na
schön, dann bringst Du mich eben zu Cerýllion. Aber ich
werde ihn köpfen, sobald ich ihn sehe. Nie wird er mich
benutzen. Die Götter und die Dahnrud, die durch seine
Kriegstreiberei gefallen sind, werden gerächt werden – auf
die eine oder andere Weise. Ich trage die Macht all meiner
prophetischen Träger der letzten zweitausend Jahre in mir,
und sie alle gaben ihre Seelen für dieses eine Ziel: Rache
für den Verrat an den Sterblichen und ihren Göttern.“
„Sieg!“, schrie Nachtmahr den Sporks entgegen
und präsentierte das Runenschwert hoch über dem
Kopf. Die Sporks brüllten ebenfalls und schlugen ihre
Speerschäfte auf den Boden.„Nehmt Eure Beute, wir
haben Zeit!“, ermunterte Nachtmahr die Sporks. „Ich
übernehme die Führung, bis ich Euch in die Obhut
Eures Hauptmanns übergebe.“
Die Sporks stürzten sich auf die Toten und Verwundeten
und rafften außerdem alle Waffen und Rüstungen an sich,
die sie gebrauchen konnten. Von Tanesa lag nur noch der 345
blutige Speer am Boden.
Das Schwert von Theb Nor beruhigte sich rasch, als es
die wahren Absichten Nachtmahrs zu spüren begann.

Athónon zog Laura von den beiden Streithähnen


Daráyon und Gamáal fort. Laura folgte dem Gnom
widerwillig, blickte aber ständig über die Schulter zurück.
Sie wollte sehen, ob der düstere Krieger die Klinge vom
Hals des heuchlerischen Nachtelfs nahm. Doch als
Athónon Laura um eine Ecke und in eine abgelegene
Nische zog, standen Daráyon und Gamáal sich immer
noch eisig schweigend gegenüber.
„Ich hole Deine Sachen. Schlaf ein wenig“, riet Athónon
der Halbelfin und war verschwunden, bevor Laura
Einwände äußern konnte.
Laura blieb in der Nische sitzen, um ihre Gedanken
zu ordnen. Als sie sich gerade dazu entschlossen hatte,
den Streit zwischen den Nachtelfen weiterzubeobachten,
kehrte Athónon mit ihrem Gepäck zurück. Er drückte ihr
den Rucksack in den Arm und warf seine magische Decke
in der Nische aus. „Hinlegen“, murmelte er bloß und ließ
keinen Widerspruch zu.
Athónon blieb so vor Laura stehen, dass sie um ihn
herum hätte krabbeln müssen, um den Streit zu sehen,
und hinlegen konnte sie sich, indem sie sich einfach nach
hinten fallen ließ. Mit einem resignierten Seufzer gab sie
nach und sank auf den Rücken. Die magische Elfendecke
346 schien sie im Nacken zu streicheln und sich an ihre
Schultern zu schmiegen, aber so unscheinbar, dass es auch
Einbildung hätte sein können.
Athónon verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein,
denn sein linkes Knie schmerzte schon seit Stunden.
Er beobachtete Lauras Gesicht und ihre geschlossenen
Augen. Die Halbelfin brauchte nur wenige Lidschläge,
um in einen tiefen, verdienten Schlaf zu fallen.
Der Gnom gewann sie allmählich lieb, gerade weil
sie sich, wie er, im Umgang mit anderen schwer tat.
Auch Athónon hatte sein Dorf als junger Außenseiter
verlassen, weil ihm das dortige Leben zu klein gewesen
war und er somit all jene, die das Dorfleben mochten,
beleidigt hatte. Auch er hatte seinen eigenen Weg
gesucht und gefunden. Doch er war daran zerbrochen.
Athónon wollte Laura nicht nur vor überlegenen
Gegnern im Kampf schützen, sondern auch davor, wie
er zwischen den Mühlsteinen der Götter zermahlen zu
werden. Der alte Gnom rieb sich wieder das stechende
Knie und ließ verbittert den Kopf hängen. Wie viel
Zeit hatte er noch, um Laura beizustehen? Durfte
er zulassen, dass er ihr umgekehrt genauso ans Herz
wuchs wie sie ihm?

Laura saß im Traum mitten unter spielenden


Elfenkindern auf einer Sommerwiese. Mèras heilige Decke
bewirkte dies. Honigbienen summten an ihr vorbei und
warmer, süßer Wind strich ihr über Wangen und Haar.
Die Sonne im Himmelblau verscheuchte jeden dunklen
Gedanken, ohne Chance auf Gegenwehr.
In der Ferne lockte ein Bach mit seinem hellen Gurgeln. 347
Rauschende Birken und schützende Weiden standen an
seinen Ufern und kündeten vom nahen Wald, doch Laura
blieb liegen und genoss das milde Sonnenbrennen im Gesicht.
Sie glaubte, beinahe sehen zu können, wie die Lebenskraft aus
diesem magischen Traum in ihre Adern und Haut strömte.
Plötzlich traf sie ein Schatten und sie öffnete die Augen.
Athónon stand über ihr und hielt sein Kurzschwert in
der Faust. Das weiße Haar des Gnoms war blutverklebt,
seine Haut grau mit roten Sprenkeln. Seine Augen waren
schwarze Striche, seine Mundwinkel zog er tief hinab.
Hatte er so in der Waldhöhle ausgesehen, als er Lauras
Mutter getötet hatte?
„Du bist verflucht!“, presste der Gnom mit verzerrter
Stimme hervor, seine Lippen teilten sich kaum.
„Athónon?“ Verschüchtert erhob Laura sich. Bevor sie
gerade stand, sprang er sie an und durchbohrte sie mit der
Klinge. Wortlos riss er das Schwert zurück und musterte
Laura, wie sie ungläubig dastand, mit weit offenem Mund.
Zäh knickten ihre Beine ein. Eine Hand legte sie auf die
klaffende Wunde, die andere Hand streckte sie nach
Athónon aus. Der Gnom trat einen Schritt zurück und
sah grimmig auf die Halbelfin herab, als sie ins Leere griff
und vornüberkippte.
Wild schreiend erwachte Laura und sprang von der
Decke. Athónon war sofort bei ihr und sah ihr besorgt ins
Gesicht, doch sie wich furchtsam vor ihm zurück.
Athónons Miene regte sich nicht, als er fragte, was los sei.
Laura antwortete nicht, sondern starrte an sich herab –
sie war unversehrt.
348 Der Gnom trat auf sie zu und diesmal blieb sie stehen.
Athónon ergriff vorsichtig ihre Hand und drehte die
Handfläche zu sich – frisches Blut tropfte von dort zu Boden.
Laura schnappte nach dem nächstbesten Stück Stoff –
der heiligen Elfendecke – und wischte panisch über die
Handfläche, um das mysteriöse Blut loszuwerden.

Irgendwo im wabernden Nichts der Geisterwelt, jener


Sphäre zwischen den Lebenden und den Göttern, wo
die Magie sichtbar war, redeten zwei Persönlichkeiten
miteinander. Eine war eine riesige, gleißende Lichtkugel,
die andere ein kleiner Leuchtpunkt.
„Wieso hast Du das gemacht?“, piepste der kleine Punkt.
„Sie wurde von einem Feind verflucht. Ich habe sie
gewarnt und geweckt. Sie darf jetzt nicht schlafen. Sobald
ich weiß, wer dieser Feind ist, werde ich sie auch das
wissen lassen. Auf jeden Fall sollte sie jetzt wachsam sein“,
antwortete das Gleißen mit ruhiger Stimme, völlig vom
eigenen Handeln überzeugt.
„Aber wieso hast Du das Gesicht eines Freundes
benutzt? Jetzt spüre ich Angst vor ihm bei ihr.“
„Sie soll diesem Freund misstrauen, damit sie sich nicht
für ihn opfert. Er hat mich selbst darum gebeten. Zwei
Nachrichten in einer.“
„Du kannst spüren, was andere Wesen als Dein Träger
denken?“, staunte der kleine Leuchtpunkt. „Und andere
Wesen als Dein Träger können Dir etwas mitteilen?“ Der
kleine Punkt wurde vor Ehrfurcht noch kleiner.
„Eines Tages lernst auch Du, mit den Wesen der Anderwelt
zu sprechen, nicht nur mit Deinem Träger, kleines Schwert.
Dass aber Wesen der Anderwelt von sich aus Kontakt zu 349
Dir aufnehmen können, wird selten bleiben.“

Laura wich Schritt für Schritt von Athónon fort und


starrte ihn entsetzt an. „Was ist in der Höhle mit meiner
Mutter passiert?“, wimmerte sie und konnte die Tränen
nicht aufhalten. Ihre blutverschmierte Hand begann zu
zittern, sie warf die Elfendecke achtlos von sich.
„Was hast Du geträumt?“, fragte Athónon zurück.
In seiner Stimme schwang plötzlich eine alarmierte
Spannung. Gleichzeitig dachte er, an das intelligente,
mächtige Amulett von Srrig gerichtet: „Gut so.“
„Sie sind verflucht!“, schrie plötzlich eine hysterische
Stimme hinter den beiden. Ein Nachtelf sprengte davon
und schrie durch die ganze Höhle: „Die Fremden sind
verflucht! Verflucht! Ich habe es in einer Vision gesehen!
Wir sind verloren! Ich habe es vorhergesehen! Ein Fluch
liegt auf dem Mischling!“
Laura starrte gequält zwischen ihrer blutigen Hand und
Athónon hin und her. „Das ist alles zu viel!“, schluchzte sie
und wandte sich ab.
Auch Athónon schaute irritiert umher – sollte er sich
zuerst um Laura kümmern oder um den hysterischen Seher
und die Probleme, die er herbeischrie? Hatte der Nachtelf
das mysteriöse Blut an Lauras Hand nur überinterpretiert
oder hatte er etwas Handfestes gespürt? Athónons Blick
fiel auf das blutige Seidentuch neben Lauras Rucksack,
mit dem Srrig ihre Augen verbunden hatte. Beinahe wollte
er es triumphierend aufheben, doch das Blut im Tuch war
längst getrocknet, das an Lauras Hand jedoch frisch.
350 „Vielleicht ein wenig zu drastisch“, dachte Athónon an
Lauras Amulett gerichtet. Er hatte sich von der Seele des
Artefaktes, die er sofort nach der Prüfung um Lauras Hals
erspürt hatte, zwar tatsächlich gewünscht, dass sie Laura
gegen Athónon manipulierte. Das sollte ihr die Trennung
von ihm erleichtern. Allerdings hatte er nichts von dem
Fluch gewusst und er durchschaute noch nicht, dass
dies mitnichten die Methode war, mit der das Artefakt
Athónons Manipulationsbitte umsetzte, sondern die
Wahrheit.

Mèra und Srrig standen abseits in einem dunklen


Tunnel. Srrig redete in uralter Tigersprache, einer Sprache,
die zwar Mèra, aber garantiert kein heimlicher Lauscher
verstehen würde.
„Athónon und Taren passen auf die Nachtelfen auf.
Die Hysterie wegen des vermeintlichen Drachenspions
legt sich bereits wieder. Zum Glück ist Dein Volk nicht
gerade hartnäckig. Die Schlangenblüter sind vermutlich
auch keine Gefahr mehr, so wenige, wie sie geworden
sind. Außerdem gibt es im Zweifelsfall noch genug andere
Nachtelfen an anderen Orten, wenn ich genauer darüber
nachdenke. Wir können also los.“
„Wir sollten sie nicht allein lassen. Es gibt noch mehr
Gefahren in der Tiefenwelt, denen sie zum Opfer fallen
können“, widersprach Mèra.
„Fängst Du schon wieder damit an, die Sterblichen
überzubewerten?“, brummte Srrig.
„Wieso hast Du Laura als Schülerin angenommen, 351
wenn Du ohnehin fort wolltest?“, konterte Mèra und
wich Srrigs Frage aus. „Wir spüren beide, dass sie für ein
höheres Schicksal geboren wurde. Wir dürfen sie nicht
fallen lassen.“
„Sie ist nicht allein, sie hat das Amulett“, konterte Srrig.
„Das war der einzige Sinn dieser Prüfung. Antworte lieber
auf meine Frage.“
„Ich bewerte die Sterblichen nicht über, aber Du opferst
sie sinnlos!“
Srrig rief halblaut: „Sinnlos? Wir wissen nicht, wie viel
Zeit Randolph und T’ral in ihrer Gefangenschaft noch
bleibt, falls sie im Gegensatz zu uns ihr Gedächtnis noch
nicht zurück haben oder der Drache sich gar persönlich
einmischt! Oder falls ein weiterer Amdovenn auf den
Plan tritt.“
Mèras Blick sank zu Boden, sie schwieg. Sie versuchte,
noch nicht um Randolph zu trauern. Noch hatten sie ihn
nicht zurückgelassen. Sie musste sich ihre Gefühle gut
einteilen, sie hatte so wenige.
„Wir können nicht auf die zankenden, langsamen
Nachtelfen warten, das höhere Ziel hat Vorrang vor ihnen.
Komm jetzt“, flüsterte Srrig, packte Mèra am Arm und
zog sie mit sich.
„Wir sollten uns wenigstens verabschieden!“,
protestierte Mèra zaghaft, doch sie kannte Srrigs Antwort
auf Sentimentalitäten, wie er es bezeichnete. Die Heilerin
fügte sich dem Krieger.
352 Myándirel nahm die Pfeife aus dem Mund und
betrachtete den hysterisch gestikulierenden Nachtelfen,
der vor ihm herumwirbelte und etwas von einem Fluch
der Fremden plapperte. Der Zauberer erkannte mit seinen
schlechten Augen nichts Brauchbares von der Mimik des
jungen Sehers, doch die sich überschlagende Stimme und
die Körpersprache verrieten dem abgeklärten Ratsmitglied
genug über Gemüt und Reife des Berichtenden. Während
der junge Nachtelf weiter und weiter redete, ohne sein
enormes Tempo zu zügeln, murmelte Myándirel leise mit
sich selbst und nickte gelegentlich träge. Schließlich nahm
er die Pfeife wieder in den Mund und ließ den Nachtelfen
mitten in seinem rasenden Bericht stehen.
Myándirel trottete in die Richtung, in welcher er Laura
und Athónon vermutete. Ohne zurückzublicken, winkte er
den verdutzten Nachtelfen hinter sich her und nuschelte:
„Komm schon, sehen wir es uns an.“
Die anderen Ratsmitglieder blieben bei ihrem Feuer
und sahen den beiden nach, teils besorgt, teils ein wenig
amüsiert über den exzentrischen Zauberer.
Etliche Nachtelfen folgten Myándirel mit etwas
Abstand. Ihre Blicke waren zumeist besorgt, zornig oder
ängstlich. Immerhin waren sie darin wieder vereint, anstatt
in ihren Grüppchen voneinander getrennt zu bleiben.

Laura hielt die Augen geschlossen und presste die Fäuste


auf die Schläfen. Athónon stand schweigend vor ihr, sah
zu ihr auf und rührte sich nicht, bis Myándirel näher kam.
„Ist es wahr?“, fragte Athónon dann bloß. Mit
Ausnahme seiner Lippen hatte er nichts bewegt.
Myándirel passierte Athónon und kniff die Augen 353
zusammen. Er schob sein Gesicht so nah an Lauras, dass
die Halbelfin ihn beinahe erschrocken zurückgestoßen
hätte, als sie die Augen öffnete.
Eine Sorgenfalte zog sich über Myándirels Stirn
und wurde immer tiefer. Würziger Pfeifenrauch stieg
Laura in die Nase und ließ sie angewidert das Gesicht
verziehen. Doch sie hielt still, während der Zauberer
ihre Haut musterte und mit seinen verquollenen,
blinzelnden Augen auf seltsame Weise durch sie
hindurchzublicken schien. Plötzlich riss er die Augen
auf und atmete erschrocken ein. „Was ist das denn?“,
krächzte er, beinahe wäre ihm die Pfeife aus dem Mund
gefallen. Er tastete mit spitzen Fingern über Lauras
Brustbein und berührte durch das Kettenhemd Srrigs
Amulett. „Beeindruckend“, murmelte er und gewann
nur langsam seine Fassung zurück.
„Bin ich verflucht oder nicht?“, zischte Laura ungeduldig.
Myándirel seufzte und wiegte träge den Kopf hin
und her. Während er trübsinnig auf Lauras Brüste
schielte, nuschelte er: „Ja, allerdings, ein Totenf luch,
sehr stark. Du kannst ihn vermutlich nur brechen,
wenn Du den Urheber tötest oder denjenigen, der
den Fluch erbeten hat. Die Urheber von Flüchen sind
aber stets sehr mächtige Wesen, deren Wege man
besser nicht kreuzen sollte.“ Zu den lauschenden
Nachtelfen gedreht, rief der Zauberer: „Jemand hat
ein persönliches Problem mit Laura, doch das betrifft
keinen einzigen Nachtelfen. Geht wieder in Eure
dummen Grüppchen zurück.“
354 Laura starrte den Zauberer fassungslos an und wankte
rückwärts. Sie brachte kein richtiges Wort heraus, ihre
Stimme versagte.
„Welcher Natur ist der Fluch?“, fragte Athónon an
Lauras Stelle zerknirscht.
Myándirel musterte Laura noch immer, während er
Athónon mit kratzender Stimme antwortete: „Sagen wir
mal, sie sollte sich einen Sack und eine Kapuze anziehen,
sich nur mit Frauen als Wachen umgeben und sich
irgendwo verstecken, bis der Fluchwünscher oder notfalls
der Urheber gefunden wurde. Zumal der Fluch seine volle
Stärke gerade erst zu entfalten beginnt.“
„Ich werde Mèra holen. Sie kann sicher helfen“, sagte
Athónon und marschierte eilig los, um die Elfin zu suchen.
23 355

Mit Tarens Tod sollte Lauras Fluch beginnen, hatte die


Untote versprochen. Taren zu finden war genauso einfach
gewesen, wie das Einschleichen unter die Quirmóer. Die
Untote hatte ihr Versprechen gehalten, dass Taren sich
abseits aufhalten würde. Melek hatte sich an den Rändern
der Höhle herumgedrückt und einfach Augen und Ohren
aufgesperrt. Die größte Tugend des Jägers war Geduld.
Aus einem Seitengang hatte er Tarens Namen gehört, leise
geraunt von einer Frauenstimme.

Eine halbe Stunde zuvor. Olériel hatte sich umgezogen,


bevor sie mit Taren in den einsamen Seitengang spaziert
war. Sie trug nun ein kurzes Kleid mit tiefem Ausschnitt,
so schwarz wie ihr Haar, sonst nichts. Tarens Hand in
ihrer war warm und klamm. Unverhohlen und so ernst,
als stünde eine Schlacht bevor, schielte er immer wieder
auf die wallenden Bewegungen unter ihrem Kleid, bis
die beiden sich tief genug im Schatten des Gangs fühlten.
Ohne weitere Worte schmiegten sie sich aneinander und
küssten sich leidenschaftlich.
Olériel ließ sich bereitwillig an die Wand drücken,
räkelte sich und raunte wohlig, genoss Tarens Hände
überall an sich. Nach kurzer Zeit jedoch blickte sie
über seine Schulter hinweg und wurde leiser und
ruhiger. „Du musst Dich nicht benehmen. Ich mag
es nicht so zahm“, f lüsterte sie in Tarens Ohr, als er
gerade stutzte.
356 Taren legte den Kopf schräg und verstand nicht recht,
was sie von ihm wollte. Er dachte: „Will sie, dass ich sie
schlechter behandele, oder was meint sie? Sie soll doch
froh sein, dass ich galant bin!“
Als hätte sie seine Gedanken erraten, legte sie die Lippen
an seine Wange und flüsterte: „Die meisten Elfenmänner
sind genauso butterweich. Das wird irgendwann
langweilig. Ich will mehr Aufregung!“
Taren schürzte verlegen die Lippen und fragte leise:
„Also was erwartest Du?“
Olériel verdrehte die Augen und brummte: „Worte sind
wie dreckiges Werkzeug, kaum fasst man sie an, saut man
sich ein. Lass Dich einfach mal gehen! So was kann man
doch nicht planen!“
Taren stutzte immer noch, hilflos dastehend. „Gehen
lassen?“, dachte er irritiert. „Im Tempel hatten die
Sklavinnen manchmal auch blaue Augen und Flecken –
wie kann sie so etwas mögen?“, grübelte er. Taren hatte
sich von den Sklavinnen immer ferngehalten. Anders als
die meisten Priester, empfand er zu viel Respekt vor Frauen
und konnte sie nicht bloß benutzen.
Olériel packte ihn seufzend am Kragen und zog ihn mit
sanfter Gewalt zu Boden, wo sie sich auf ihn setzte und
seine Handgelenke niederpresste. Natürlich war Taren viel
stärker, doch er ließ es sich gefallen.
„Wehr Dich!“, zischte Olériel, halb böse, halb lustvoll.
Taren hob die Nachtelfin vorsichtig hoch, indem er
sich mühelos in die Brücke stemmte. Dann drehte er sie
behutsam um und lag nun auf ihr.
Sie seufzte resigniert.
„Was?“, fragte Taren missmutig, erhob sich jedoch noch 357
nicht, sondern packte Olériels Handgelenke nun selbst.
„Wir probieren etwas anderes“, meinte sie, rollte
den anstandslos gehorchenden Taren auf den Rücken
zurück und öffnete seinen Gürtel. Es geschah jedoch
nicht, was Taren vermutet hatte, denn die Nachtelfin
zog den Gürtel nun aus den Beinlingen, legte Tarens
Handgelenke über seinem Kopf zusammen und knotete
den Gürtel darum.
Taren versteifte sich unwillkürlich, ließ es sich aber
gefallen. Er war jetzt nicht mehr kampfbereit für den Fall
aller Fälle, und das missfiel ihm, obgleich er das nicht
in dieser Situation zugeben wollte. Anders als in Srrigs
Gegenwart, spürte er hier kein höheres Schicksal nahen.
Olériel saß auf ihm und fuhr mit den Fingernägeln
über seine Brust. „Ich habe Dich!“, raunte sie, warf den
Kopf in den Nacken und rutschte ein wenig auf seiner
Hüfte hin und her. Ihre Stimme erklang voll und lieblich.
„Mmh, das gefällt Dir scheinbar.“ Während er zusah, hob
sie ihr Kleid ein wenig höher, gerade nicht bis zur Taille.
Sie wiegte sich in einem sitzenden Tanz und raunte leise,
während sie die Augen schloss.
Taren lag einfach da und starrte sie an.
Plötzlich warf sie sich nach vorn, nah vor sein Ohr und
flüsterte: „Ja, das ist besser.“ Mit einer Hand griff sie hinter
sich und zog Tarens offene Beinlinge zurück. Während
sie sich genussvoll zurückschob, glitten ihre Lippen über
seinen Bart, dann über Mund und Hals. Fingerbreit für
Fingerbreit drückte sie sich weiter, ein wohliges Stöhnen
entfloh ihren Lippen.
358 Sie warf den Kopf zurück und richtete sich auf. „Stell
die Beine auf“, hauchte sie. Taren gehorchte stumm.
Olériel lehnte sich zurück, bis ihr Rücken an seinen
Oberschenkeln lag. Taren hob den Oberkörper und
streckte die gefesselten Hände zu ihr aus, doch Olériel stieß
ihn mit aller Kraft zurück zu Boden. Sie schloss die Augen
und fuhr sich mit den Händen durch Kleid und Haar,
während sie sich ein wenig mit den Beinen hochdrückte
und wieder sinken ließ.

Regungslos neben den beiden lag Melek. Er grinste und


beobachtete das schneller und lauter werdende Treiben.
Olériel wäre ihm eigentlich schon zu alt gewesen, doch die
Nachtelfin entbehrte nicht einer gewissen Ausstrahlung
und Schönheit, so wie auch eine reife Kirsche besser als
eine ganz junge schmeckte.
Melek hätte jedoch niemals erlaubt, dass eine Frau
Macht über ihn ausübte. Taren hielt er nun für einen
innerlich weibischen Schwächling, der sich schier alles
gefallen ließ und kein Rückgrat besaß.
„Kein Wunder, dass die Elfin sich über ihn beschwert
hat und ihn für unmännlich gehalten hat.“ So interpretierte
Melek Olériels Kommentare jedenfalls. „Solche Probleme
habe ich wahrlich nicht“, dachte er selbstzufrieden. Er
musste sich in seinem abweichenden Denken regelmäßig
selbst bestätigen, um den Glauben an seine – oder besser
gesagt Gozbads – Doktrin nicht zu verlieren.
Melek genoss das Schauspiel, sog den Duft der
Nachtelfin ein und lauschte. Er wartete, bis der gefesselte
Taren die Augen schloss und den Mund öffnete.
Blitzschnell sprang Melek vor und schnitt Taren die 359
Kehle durch. Der Nachtelfin schlug er den Dolchknauf
auf die Nase, noch bevor sie überhaupt verstanden hatte,
was gerade geschehen war.

Taren zuckte noch ein paar Mal und bäumte sich stumm
auf, dann brach sein Blick und seine Augen stierten entsetzt
an Melek vorbei. Olériel lag bewusstlos zu seinen Füßen.
Ihr Kleid war nicht zurück über die Beine gerutscht und
Melek verharrte für einen Moment wie hypnotisiert, um
sie anzustarren.
Vermutlich hatte Taren erwartet, dass die Götter
seinen Tod heldenhaft und spektakulär inszenieren
würden. Immerhin war er ein Tempelkrieger, der
Halbgötter begleitete. Er hatte in einem großen Kampf
gegen einen bedeutenden Feind fallen wollen, wenn er
schon sterben musste. Aber sein Gott und sein Schicksal
scherten sich offenkundig nicht um sentimentale
Gefühle, um Klischees oder Wunschdenken. Auch die
Dämonidin Calvraka war still und unbemerkt gefallen,
allem zurückliegenden Ruhm zum Trotz.
Die Wirklichkeit war schnörkellos, kalt und hart.
Sie ergab nicht immer eine schöne Geschichte mit
vorhersehbarer Struktur zum Mitfiebern. Sie war
unbequem und richtete sich nicht nach den Wünschen
von Zuhörern in warmen, behüteten Tavernen, die
bloß eingelullt und über ihren Alltag hinweggetröstet
werden wollten. Die Schwachen wurden von ihr
eingeschüchtert und verjagt, nur die Starken stellten
sich ihr gern.
360 Melek hatte Tarens Geschichte vom makellosen
Tempelkrieger auf den Fersen eines Mörders oftmals
gestört, weil er sich nicht hatte fangen lassen. Von den
Geschichten der zahllosen Opfer ganz zu schweigen, die
nie ein gutes Ende nahmen. Und nun hatte Melek auch
Tarens Geschichte für immer verunstaltet und vorzeitig
abgebrochen. Meleks eigene Geschichte hatte dafür einen
weiteren Höhepunkt erlangt, obgleich sie außer ihm selbst
niemand hören wollte.
Was immer es war, was sich am Strand von Harkýior
zusammenbraute und was auch Taren gespürt hatte –
Taren würde kein Teil mehr davon werden. Jedenfalls
nicht sein Körper ...

Lauras Fluch war entfesselt worden. Taren von


Silberberg wurde völlig unbemerkt getötet und das
Böse hatte eine weitere wichtige Schlacht gewonnen.
Taren blieb unbesungen von Barden in Tavernen,
denn dafür fehlte der Geschichte ein heldenhaftes
Moment, ein Trost oder sonst eine Erfüllung der
Publikumswünsche. Überdies wurden Geschichten
nur von den Siegern erzählt, und das Böse, das hier
gesiegt hatte, besaß keinen Sinn für Lieder und andere
wenig zielstrebige Aktivitäten.
Melek war sich nicht im Geringsten darüber bewusst,
wem er gerade geholfen hatte und dass er zum Untergang
seiner eigenen Welt einen Stein im Puzzle beigetragen
hatte. Er hatte den Tempelkrieger einem Dämon als
Blutopfer gebracht.
Melek kniete sich neben Olériel und schnitt andächtig 361
einen Träger ihres Kleides über der Schulter entzwei. Dabei
blieb Tarens Blut an ihrer Haut haften. „Eigentlich sollte
ich auf Laura warten“, dachte Melek bei sich und strich
mit den Fingerspitzen das aufgeschnittene Kleid zur Seite.
Ihre Brustknospe wiegte sich unter seinen Fingern wie ein
Blättchen im Wasser. „Und das werde ich auch“, entschied er.
Melek schnitt seiner Beute vorzeitig die Kehle durch
und stürmte davon. „Keine Zeugen“, dachte er noch
gewohnheitsmäßig, um den Mord vor sich selbst zu
rechtfertigen. „Kein Raubtier tötet sinnlos, außer es ist
krank“, ging ihm ganz entfernt durch den Kopf. „Wobei
das Töten von Zeugen niemals sinnlos ist“, hatte Gozbad
ihn im Alter von neun Jahren einmal getröstet.

Laura vergrub das Gesicht in den Händen und wankte.


Sie war verflucht! Immer neue Tränen wischte sie zornig
aus den Augen.
„Athónon?“ Sie schniefte und sah sich verwirrt um.
Endlich erinnerte sie sich, dass der Gnom auf der Suche
nach Mèra war. Wenn jemand einen Fluch brechen
konnte, dann sie.
In ihrem Kopf hörte Laura plötzlich eine unbekannte
Stimme: „Dein ärgster Todfeind hat Dich verflucht. Töte
ihn, und der Fluch wird gebrochen. Er sucht nach Dir, er
hat bereits einen Deiner Begleiter getötet.“
Laura wirbelte zweimal um die eigene Achse, doch
niemand war in ihrer Nähe.
362 „Ich hänge um Deinen Hals“, wies die Stimme sie
freundlich auf sich hin.
Laura riss das Amulett hervor. Sie umklammerte es und
starrte es an.
„Der Feind kommt näher! Hüte Dich! Nimm Dein
kleines Schwert in die Hand!“, drängte die Stimme.
Laura stopfte das Amulett unter das Kettenhemd
zurück und zog das Schwert. Es fühlte sich leicht und
beweglich an.
„Wer ist getötet worden?“, dachte Laura und erwartete
eine Antwort von dem Amulett. „Athónon?“, flüsterte
sie ängstlich.
Nervös wirbelte Laura Schritt für Schritt um ihre Achse,
bis sie sich komplett gedreht hatte. „Ich sehe niemanden!
Wer ist mein Todfeind?“, dachte sie hektisch.
Die Nachtelfen in ihrer Nähe wichen aufgescheucht
von der schwertschwingenden Barbarin fort.
Dann fiel ihr ein Nachtelf auf, der eine Hand hinter dem
Rücken hielt und Laura verhohlen von der Seite musterte,
während er halb hinter einem Stalagmiten verschwand.
Er sah weg, als Laura ihn bemerkt hatte, blieb allerdings
stehen, wo er war.
„Der ist es nicht“, hörte Laura das Amulett sagen. „Ein
Mensch hat Dich verflucht. Vertraue meiner Erfahrung.
Du hast schon einmal gegen ihn gekämpft. Ich kann die
Verbindung zwischen Dir und ihm fühlen. Seine Aura ist
schwarz und blutig. Finde ihn und töte ihn ohne Reue.“
„Melek!“, zischte Laura zornbebend. Sie wusste nicht,
was sie tun sollte, doch ihr Körper reagierte von ganz allein:
Sie stürmte brüllend los und hob das Schwert weit über den
Kopf. „Melek! Komm raus!“, brüllte sie irrsinnig. Sie war 363
nicht sicher, ob das Amulett oder das Schwert nachgeholfen
hatten, oder ob sich ihr finsteres Menschenerbe seine
Bahn brach. Aber sie wollte sich auch gar nicht gegen
den plötzlichen Kampfrausch wehren. „Wen hast Du jetzt
wieder getötet?“ Athónon war es jedenfalls nicht, so viel
konnte das Amulett sie spüren lassen.

Athónon hatte bereits die halbe Höhle mit seinen


Falkenaugen abgesucht, als er hinter sich einen Tumult
hörte – dort, wo er Laura für einen Moment allein gelassen
hatte. Leise seufzend drehte er um und lief zurück, so
schnell sein stechendes Knie es zuließ.
Ein Dutzend Nachtelfen stand vor der Halbelfin und
zielte mit Kurzbögen auf sie. Laura schäumte vor Hass und
hielt ihr Schwert in der Faust. Sie brüllte die Schützen an:
„Er hat mich verflucht! Ich muss ihn finden!“
Athónon rannte zu Laura und packte furchtlos ihre
Waffenhand. „Beruhige Dich“, raunte er halblaut.
Die Halbelfin stierte ihn an, als hätte er ihr gerade einen
Dolch in den Nacken gestoßen. War das die Bedeutung
ihrer Vision, fiel er ihr als Verräter in den Rücken?
Unmöglich! Sie riss ihre Hand frei und trat einen Schritt
zurück. „Es war Melek!“, schluchzte sie.
„Woher weißt Du das?“, fragte Athónon ruhig.
„Das Amulett hat es mir gesagt! Srrigs Amulett!“, rief
sie und wischte sich über die Augen, verärgert über ihre
Tränen. „Melek hat mich verflucht!“, wiederholte sie
hilflos, gestattete ihrer Stimme aber keinen weinerlichen
Ton. „Womöglich ist er immer noch unsichtbar!“, rief sie.
364 „Wie soll ich ihn bloß finden? Ich muss ihn töten, um den
Fluch zu brechen!“
Athónon blickte zu den Nachtelfen hinüber. „Ich
konnte Mèra nicht finden“, berichtete er. Athónon
wusste auch selbst ungefähr, wie er magische Muster von
bestehenden Zaubern erkennen konnte, um beispielsweise
einen Unsichtbaren aufzuspüren. Er brauchte allerdings
viel länger als ein richtiger Zauberer dafür und sah sich
nach Myándirel um.
Der Zauberer stand abseits des Trubels und redete
mit den anderen Ratsmitgliedern, nur Gamáal fehlte.
Athónon blickte Myándirel fragend an, da erklärte dieser
bereits allen Umstehenden: „Ich kann keine Spuren eines
Unsichtbaren feststellen, obschon ich zugeben muss, dass
mächtige Zauberer ihr Wirken tarnen können. Ich kann in
Lauras Gesicht jedoch Spuren von Wahnsinn und völliger
Erschöpfung erkennen, und das ganz ohne magische
Untersuchung. Sie sollte das Schwert besser abgeben und
eine Weile schlafen.“
Athónon musste Myándirel recht geben. Was immer der
Gnom sagen könnte, hätte wenig überzeugend geklungen
und keinesfalls die Worte des Ratsmitglieds entkräftet.
Außerdem würde ihm natürlich niemand glauben,
wenn er als Lauras Verbündeter – und als vermeintlicher
Spion Schattenwachts – sich ihrer schwer zu glaubenden
Meinung anschloss, dass ein Unsichtbarer in ihrer Mitte
herumschlich. Mèra und Srrig hätten die Quirmóer das
geglaubt, aber die beiden ließen sich nicht blicken.
„Steck bitte das Schwert weg“, bat Athónon Laura, noch
müder und zerknirschter als sonst.
Aber Laura war zu keiner vernünftigen Ruhe mehr 365
fähig. „Ich muss Melek finden und ihn töten, um
den Fluch zu brechen!“, schrie sie den Gnom an und
fletschte wütend die Zähne. Heiße Tränen liefen über
ihre Wangen.
„Wir sollten sie entwaffnen und fesseln!“, rief darauf
einer der Schützen.
„Ja, gute Idee“, raunte sein Nachbar, doch mit einem
lauernden Unterton und einem Grinsen im Gesicht, das
Athónon stutzig machte.
„Durchsuchen sollten wir sie auch“, lachte ein dritter
Schütze schrill. Seine Augen stachen böse aus tiefen
Höhlen. Immer mehr Schützen veränderten ihre Mienen
zu dämonischen Fratzen.
Auch Athónon spürte plötzlich eine Hitzewallung und
unvertraut aggressive Gedanken. Er wurde wütend auf das
sture Mädchen. Außerdem fand er zum ersten Mal ihre
halbelfische Figur attraktiv.
Laura wurde bleich. Schritt um Schritt wich sie zurück.
Sie blickte insbesondere auf Athónon und erinnerte sich
an den Albtraum, den sie unter der Decke erlebt hatte.
Plötzlich fühlte sie sich unsäglich verlassen.
„Das ist der Fluch“, knurrte Athónon und schüttelte
sich. Seine Mundwinkel zogen sich tief hinab. Er stellte
sich neben Laura, fixierte die Schützen und legte drohend
die Hand auf den Schwertknauf. „Verschwindet! Ich
kümmere mich um sie!“, rief er mit fester Stimme.
„Ja, klar!“, spotteten die Schützen und rührten sich
nicht. „Der verfluchte Mischling und der Spion des
Drachen bereiten ihre Pläne vor!“
366 „Wir wollen uns auch um sie kümmern!“, verlangte
einer und lachte dreckig.
„Was ist hier los?“, bellte plötzlich Gamáal mit
schneidender Stimme. Der Krieger stürmte auf den Platz,
doch als sein Blick auf Laura fiel, verpuffte seine Energie
schlagartig und er musterte sie nur mit düsterer Miene.
Eine unnatürliche Stille breitete sich in der Höhle aus.
Etliche männliche Augenpaare fixierten gierig Laura. Die
meisten Frauen blickten sich verwirrt, verschüchtert oder
wütend um, doch auch sie schwiegen und versuchten, die
seltsame Situation zu erfassen.
Wie aus dem Nichts sprang Taffi auf Athónons Schulter
und flüsterte ihm ins Ohr: „Hier riecht es plötzlich eklig
... nach einer Horde paarungswilliger, gewaltbereiter
Elfen. Außerdem sind Srrig und Mèra weg. Lass uns auch
verschwinden, solang wir noch können!“
Athónon sah sich um. Noch immer lag ein
bedrohliches Schweigen über der Szenerie. Ohne
weiteres Zögern ging der Gnom zu seinem Gepäck,
Laura zog er am Waffenarm hinter sich her. Sie wehrte
sich nicht und starrte furchtsam auf die zahllosen
Elfenaugen, die plötzlich bösartig geworden waren.
Während die beiden sich ihre Rucksäcke aufsetzten,
kamen die Männer schweigend näher, alles Elfische
wich mehr und mehr aus ihren Gesichtern, verdrängt
von Meleks Fluch über Laura. Athónon hörte eine
entfernte Frauenstimme murmeln, Myándirels
Stimme antwortete etwas, doch beide waren so leise,
dass der Gnom sie trotz seiner äußerst scharfen Sinne
nicht verstand.
„Wir gehen“, sagte Athónon laut und schob Laura vor 367
sich her, die sich das apathisch gefallen ließ.
Einige der Männer hoben ihre Bögen und zielten.
„Stehen bleiben!“, knurrte einer.
Eine Frau stellte sich nah vor den Elfen. „Was machst
Du da, Loféiyon?“, rief sie ebenso vorwurfsvoll wie nervös.
„Geh aus dem Weg!“, knurrte Loféiyon.
„Wieso?“, rief die Elfin. Loféyion trat vor und ohrfeigte
sie. Die Elfin taumelte entsetzt zur Seite und hielt sich
die Wange. Bestürztes und entrüstetes Raunen etlicher
Elfinnen drang an Athónons Ohr.
Loféyion beachtete die Elfin nicht weiter, sondern
spannte den Bogen und zielte auf Lauras Bein.
„Lauf!“, zischte Athónon und stieß Laura auf den
nächstbesten Gang zu. „Taffi, die Decke!“, zischte er,
während er dicht hinter der Halbelfin blieb.
Taffi wusste aus vielen Jahren gemeinsamer Erlebnisse,
was Athónon meinte. Das Chamäleon zerrte einen Zipfel
der Decke so weit aus dem Rucksack, dass Athónon im
Gehen mit links danach greifen konnte, ohne das Gepäck
erst von der Schulter nehmen zu müssen. Mit links deshalb,
weil er in solchen Situationen meistens das Schwert in der
Rechten hielt.
Athónon lief unmittelbar hinter Laura, um sie mit
seinem Körper zu schützen. Er würde sie nicht auch noch
überleben. Jemand musste sterben, das hatte Athónon in
seinen visionären Träumen eindeutig gespürt, aber dieser
jemand durfte einfach nicht Laura sein.
Der Nachtelf schoss über Athónon hinweg, Laura in
den Rücken. Die Halbelfin bäumte sich stöhnend auf, ihre
368 Knie gaben nach, doch bevor sie stürzte, war Athónon bei
ihr, warf ihr die Decke um die Schultern und zerrte sie
tiefer in den Gang. Nun war er jedoch nicht mehr direkt
hinter ihr.
Ein zweiter Pfeil traf Laura in die Seite, doch sie schrie
nicht mal. Sie war kaum noch bei Bewusstsein und wurde
mehr von Athónon geschleift, als dass sie selbst lief.
Ein dritter Pfeil bohrte sich in Athónons Schulter. Der
Gnom knurrte bloß. Weder wurde er langsamer, noch ließ
sein Griff um Lauras Hüfte nach. Die Decke schlang sich
eigenmächtig nun auch um Athónons Körper.
Als sie sich um eine Biegung im Gang warfen, hatten sie
jeder drei Pfeile in Rücken und Beinen. Kein Sterblicher
konnte solche Wunden überleben. Athónon fiel stöhnend
auf die Knie. Laura stürzte leblos neben ihn.
Hinter sich hörte Athónon helles Geschrei von
zahlreichen Frauenstimmen. Als ein Schmerzensschrei
und dann ein Todesschrei gellten, stellte sich abrupt
wieder unnatürliche Stille ein. Und in jener Stille hörte
Athónon einen leichten Körper zu Boden fallen. Jemand
schluchzte, dann setzten die hellen Schreie wieder ein,
diesmal teils verzweifelt, teils wütend. Athónon konnte
sich jedoch nicht mehr auf die Worte konzentrieren, die
geschrien wurden. Er lag neben Laura unter der Decke,
gespickt von Pfeilen, genau wie sie. Allmählich sanken
seine Lider herab. Er schaffte es gerade noch, die Decke
mehr zu Laura zu schieben, von sich fort. Das Artefakt
sollte seine Kräfte auf die Halbelfin konzentrieren. „Nicht
noch eine Tote in meinen Armen“, hauchte der Gnom und
hörte auf zu atmen.
24 369

Laura lag abermals auf der blühenden Sommerwiese und


schlief friedlich. In diesem Traum war sie unverletzt und
fühlte keinen Schmerz. Doch plötzlich erwachte sie mit
einem Ruck und drehte erschreckt den Kopf hin und her.
„Ist dies also das Leben nach dem Tod?“, fragte sie
andächtig und wartete auf eine Empfindung.
„Nein“, antwortete ein Elfenjunge traurig. Er saß
auf einmal neben ihr. „Ein Freund hat gesagt, Du und
der Gnom sollen beide leben. Das kann ich aber nicht.
Ich kann nur einen von Euch retten, der andere wird
sterben. Willst Du leben oder Dein Leben für den Gnom
hergeben?“
Laura schüttelte sich. „Wer hat das gesagt?“
„Ich war das“, antwortete eine alte Stimme auf ihrer
anderen Seite. Ein graufelliger Tigermensch mit sehnigen
Muskeln schlich lautlos zu ihr und setzte sich neben sie.
Nicht einmal seine dunkelgraue Robe raschelte.
Laura musterte den Tigermenschen mit offenem Mund.
Als sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte, lächelte er nur und
sagte: „Du trägst mich um den Hals.“
„Ich verstehe gar nichts mehr“, seufzte Laura.
„Du musst Dich schnell entscheiden. Wer soll leben,
Du oder der Gnom?“, fragte der Elfenjunge und blickte
Laura eindringlich ins Gesicht.
„Aber das kann ich nicht entscheiden!“, rief Laura
aufgebracht. „Ich will nicht sterben! Aber ich kann auch
nicht entscheiden, dass Athónon für mich sterben muss!“
370 „Da ist eine dritte Möglichkeit“, sagte der Tigermensch
und blickte den Elfenjungen an. Dieser senkte darauf den
Blick. „Vergiss nie, dass wir trotz unseres Alters nur Diener
sind, geschaffen für genau einen Zweck.“ Der Elfenjunge
nickte und schlich mit hängendem Kopf davon. „Ja,
Meister Terebran“, murmelte er betrübt.
Laura wollte nicht einschlafen, doch es passierte einfach.

Im Tumult der Nachtelfen hatte der unsichtbare Melek


keine Mühe gehabt, sich davonzustehlen. Eine Nachtelfin
war von ihrem Gefährten erdolcht worden. Vermutlich
hatte der Elf wegen des Fluches nicht mehr gewusst, was er
tat und war erst wieder zu sich gekommen, als die Leiche
vor seinen Füßen gelegen hatte.
Melek schlich in den Gang, in dem Athónon und Laura
verschwunden waren. Nach wenigen Schritten fand er sie.
Melek konnte vor Aufregung kaum noch ruhig atmen und
knotete bereits seine Beinlinge auf. „Hoffentlich lebt sie
noch!“, entfuhr es ihm.
„Darauf kannst Du wetten!“, zischte Taffi. Das
Chamäleon löste sich, glutrot gefärbt, von einem Felsen
mitten auf dem Weg. Seine schwarzen, untypischen
Knopfaugen glommen ebenfalls wie Kohlenglut.
„Du kannst mich sehen?“ Amüsiert blickte Melek auf
das kleine Wesen herab. „Nette Farbe, steht Dir. Und jetzt
verschwinde, bevor ich Dich zertrete.“
Taffi verschwendete keine weiteren Worte. Er holte tief
Luft, und als er mit aller Kraft ausatmete, brannte der
gesamte Gang in einem Flammeninferno. Eine Feuerwoge
traf Melek ins Gesicht.
„Was zum ...!“, schrie Melek mit den Händen vorm 371
Gesicht und prallte zurück. Die riesige Flammenzunge
loderte noch für einen Lidschlag aus dem Gang, dann
war wieder nur das rote Chamäleon auf seinem Felsen
zu sehen. Meleks Gesicht brannte wie Feuer und es stank
nach verbranntem Haar.
Mit einem Wutschrei stürzte Melek vorwärts und wollte
das magische Tier mit dem Dolch zerhacken. Er schaffte
bloß den halben Weg, da spie Taffi ein weiteres Höllenfeuer
aus. Melek warf sich entsetzt zur Seite, rollte sich ab und
rannte wutschäumend hinter einen Felsbrocken, um sich
zwangsläufig einen neuen Plan auszudenken.
Einen Augenblick später bestand sein Plan vorrangig
darin, möglichst kaltes Wasser für seinen Kopf und seine
Hände zu finden. Das Höllenfeuer hatte ohnehin zu viele
Zeugen auf den Plan gerufen.

Taffi zitterte am ganzen Körper. Seine Lunge füllte sich


bei jedem Atemzug mit Luft, aber er hatte trotzdem das
Gefühl zu ersticken. Seine Atemwege schienen lichterloh
zu brennen, außerdem hatte ein derartig starker Ausbruch
magischer Energie immer körperliche Konsequenzen.
Als Melek nicht wiederkehrte, kletterte Taffi wankend
auf Athónons ruhig atmenden Körper und kroch unter
die Decke der Elfenkönigin, deren legendären Heilkräfte
Taffis verbrannte Lunge sicherlich heilen würden. Das
Chamäleon schmiegte seinen Kopf liebevoll an Athónons
Hals und schloss die schwarzen Knopfaugen.
372 Als Laura die Lider langsam hob, hörte sie Athónons
undeutbare Stimme neben sich: „Du hattest recht. Wir
sind beide nicht gestorben, mein böser Traum ist nicht
wahr geworden.“
Laura schob sich mühsam auf die Knie. Vermoderte
Reste einer Decke lagen auf ihr, durchzogen von
dünnen Goldfäden.
Neben ihr saß Athónon im Schneidersitz. Seine
Mundwinkel waren sehr tief nach unten gezogen und in
seinen Augenschlitzen glitzerten Tränen. Er hielt beide
Hände wie eine Schale vor sich. Darin lag Taffis aschgrauer
Körper und regte sich nicht.
Laura setzte sich auf, wobei die modrigen Reste der
Elfendecke von ihr abblätterten und als Staub zu Boden
rieselten. Sie hatte keine Schmerzen, doch sie konnte sich
nicht freuen. Der Preis war ihr bewusst.
Sie hatte einen riesigen Kloß im Hals. Sie wusste
nicht, was sie tun oder sagen sollte, und sah einfach zu,
wie Athónons weißhaariger Kopf tief hinabsank und sich
seiner Kehle ein Schluchzen entrang.
Erst jetzt fiel Laura auf, dass sie mit Athónon ganz allein
in einem einsamen Gang war. Ein winziges Feuer schien
von der nahen Wand wider und spendete etwas Licht.

„Wo sind wir, wohin gehen wir?“, fragte Laura nach


einer langen Zeit, in der sie gemeinsam mit Athónon
geschwiegen hatte.
„Weiß nicht“, zischte Athónon giftig.
Laura druckste herum. „Wir ... ich meine, ich ... muss Melek
töten, damit der Fluch gebrochen wird, der auf mir liegt.“
„Ich weiß“, raunte Athónon. Er vermied es, ihren 373
Körper anzusehen, denn er wusste nicht, ob er in seiner
jetzigen Verfassung der Wirkung des Fluches wie zuvor
widerstehen konnte.

Aus dem Wandspalt heraus, in den Zeeris sich gezwängt


hatte, verfolgte er angewidert das Treiben der Sporks.
„Wenigstens hat die alte Frau die Verwundete weggetragen.
Die war ganz schön stark, so schnell und leicht, wie sie das
gemacht hat“, dachte das Teufelchen. „Vielleicht hat sie
sich verzaubert.“
Zeeris’ unzähmbare Neugier war geweckt. Sie hatte ihn
schon früher in zahllose Schwierigkeiten gebracht. Doch
noch traute er sich nicht aus dem Versteck.
Tanesa schlug die Augen auf. Sie lag im Dunkeln, mehr
konnte sie nicht wahrnehmen.
„Ruhig. Wir sind in Sicherheit. Mutter kommt auch
gleich wieder“, flüsterte Givríja ihrer Schwester zu. Sie
kniete neben Tanesa und rieb unbewusst an ihrer frisch
verheilten Bauchwunde; verheilt, weil das seltsame
Teufelchen einen gutartigen Zauber auf Givríja gewirkt
hatte. Ihr türkisfarbenes Haar hing ihr ins Gesicht, aber
sie strich es nicht hinter die Ohren.
„Was ist passiert?“, flüsterte Tanesa.
„Mutter hat die Ahnen um Kraft für ihre Arme gebeten
und Dich in Sicherheit getragen, bevor die Sporks Dich
in die Klauen bekamen. Dann hat sie Deine Wunde
mit ihrer Zauberkraft geschlossen“, berichtete Givríja.
374 Niedergeschlagen fügte sie hinzu: „Alle anderen sind tot.
Das heilige Schwert hat jetzt dieser unheimliche Riese.“
Tanesa schwieg betroffen und brauchte einen
Augenblick, bis sie Zuversicht vorspielen konnte. „Mutter
wird wissen, wie es weitergeht. Wie immer.“

„Auf Dir liegt ein Suchzauber, weißt Du das?“, flüsterte


die alte Frau aus dem Schatten heraus in den Wandspalt,
in dem Zeeris sich versteckt hielt.
„Waaah! Von wem? Wer spricht da?“, krähte Zeeris
aufgescheucht und drückte sich noch enger an den Boden.
„Ich heiße Norihl. Du hast meinen Töchtern das Leben
gerettet, jetzt will ich mich revanchieren. Ein mächtiger
Zauberer beobachtet Dich, das solltest Du wissen.
Ich weiß nicht, wer es ist oder was er im Schilde führt,
doch die Ahnen zeigen mir eine geheime, sehr starke
Verbindung von einem unbekannten Ort zu Dir. Nur ein
außergewöhnlich mächtiger Zauberer könnte so etwas
bewirken und sich dabei auch noch verbergen.“
„Ich weiß nicht, wer mich heimlich beobachten
könnte!“, rief Zeeris, lauter als er gewollt hatte. Ihm kam
die Idee, seine Fähigkeit zu benutzen, sich vor magischen
Zugriffen zu verstecken, so wie er sich auch körperlich
unsichtbar machen konnte. Doch diese Gabe war noch
anstrengender, und Zeeris war schon jetzt über die
Maßen ausgelaugt.
Norihl flüsterte: „Ich könnte meine Ahnen bitten, den
Zauber von Dir zu nehmen, um meine Schuld bei Dir zu
begleichen. Doch das wird den Beobachter nicht davon
abhalten, den Suchzauber neu zu wirken. Du hättest
lediglich einen Augenblick Zeit, so schnell wie möglich 375
zu verschwinden – vielleicht findet der Zauberer dann
kein Ziel mehr für seine Magie. Du musst wissen, Zauber
dieser Art müssen ein Ziel haben und können nicht blind
gewirkt werden, und sei das Ziel auch nur ein gewisses
Gebiet und keine Person. Wenn der Zauberer aber das
gesamte Höhlensystem gleichzeitig einsehen könnte, hätte
er keinen solchen Suchzauber auf Dich gewirkt. Er ist also
nicht allmächtig.“
„Ich will zurück zu meinen Freunden und sie vor
dem Zauberer warnen! Und vor dem Geistertroll. Meine
Freunde haben sich schon mit Göttern und Dämonen
angelegt und könnten durchaus interessant für so
einen Zauberer sein. Was die alles allein an magischen
Gegenständen dabeihaben!“, überlegte Zeeris laut. „Ja,
sicher will der böse Zauberer sie ausrauben, aber er weiß
nicht, wo sie sind. Vielleicht sind sie auch von Mèra getarnt
worden. Die kann so was! Jetzt will er bestimmt, dass ich
ihn hinführe!“ Endlich dämmerte die Erkenntnis. „Ob
das Cerýllion ist? Waaah! Dem kratze ich die Augen aus!“
Wütend richtete Zeeris sich auf und stemmte die Fäuste
in die Hüfte.
„Also soll ich meine Ahnen bitten, den Zauber von Dir
zu nehmen?“, fragte Norihl leise.
„Ja, damit ich schnell zurückkehren kann. Dann sehen
meine Freunde und ich weiter“, entschied Zeeris.
Für einen Moment fragte Norihl sich, was das
Teufelchen wohl für Freunde haben könnte und ob
diese Freunde etwas mit den feindlichen Nachtelfen von
Quirmó zu tun haben mochten. Doch sie verwarf und
376 verdrängte diesen Gedanken. Das Teufelchen hatte ihre
Töchter gerettet. Nun stand sie in seiner Schuld und
musste sich revanchieren, um ihren Ahnen, die Norihl
ihre Zauberkräfte liehen, weiterhin in die Augen blicken
zu können.

„Denkt daran: Wasser, Nahrung und Sicherheit


sind die drei Dinge, die wir finden müssen“, flüsterte
ein Nachtelf. Sein schwarzes Haar war genauso kurz
wie das steingraue Fell, das er als Kleidung trug. Auch
seine Füße waren damit umwickelt wie mit Fellsocken,
gehalten von Lederbändern.
„Wasser, Nahrung, Sicherheit, und am besten alles am
selben Fleck“, brummte sein stämmiger Nebenmann.
„Richtig. Diese Höhle hier hat zu viele, zu breite
Zugänge, um sicher zu sein. Außerdem gibt es weit und
breit kein Wasser – genauso wie die Höhle, in der unser
Volk momentan lagert. Also weiter in den nächsten Gang.“
Hinter den beiden schlichen noch zwei Nachtelfen, ein
Mann und eine Frau, die beide ebenfalls graue Kleidung
trugen, wenn auch kein Fell.
Die Augen der vier Späher waren vor ihrem Aufbruch
verzaubert worden, um in fast völliger Dunkelheit zu
sehen. Ihre einzigen, minimalen Lichtquellen waren
phosphoreszierende Steine, von denen jeder Elf einen
in der Hand hielt. Sie trugen Dolche aus scharfen
Schieferscherben an den Gürteln, umwickelt mit Leder als
Griff, waren ansonsten aber unbewaffnet und ungerüstet.
Sie schlichen so schnell vorwärts, wie sie es vermochten, 377
ohne zu viele Geräusche zu machen. Als Elfen waren sie
zwar sehr geschickt im lautlosen Bewegen, hatten aber
auch einen hohen Anspruch an den Begriff „lautlos“.
Der unförmige Höhlengang, dem die vier folgten,
machte oft kleinere Biegungen und führte stetig abwärts.
Die Späher sagten kein Wort und atmeten tief, aber
unhörbar. Allmählich wandelte sich der Gang zu einer
immer unförmigeren, ständig enger werdenden Röhre, die
zunehmend mehr von Tropfsteinen durchzogen wurde.
Schließlich hielt der Anführer inne.
„Ab hier müssten wir kriechen und sollten den Weg
deshalb eigentlich vergessen. Aber es könnte sein, dass
er sich dennoch lohnt. Die Zapfen werden immer mehr,
also gibt es hier mehr Wasser. Wenn dieser Gang zu einer
brauchbaren Höhle führt, müssten wir nur noch einen
besseren Zugang finden oder diesen verbreitern. Ehliun,
Du bist die zierlichste von uns, Du kriechst weiter und
schaust, ob dieser Gang ein Ziel hat. Wenn aber nach
zweihundert Schritten nichts kommt, vergessen wir meine
Intuition und suchen woanders weiter.“
Die kleine, höchstens neunzig Pfund wiegende
Nachtelfin nickte, sagte jedoch nichts. Sie ließ sich auf alle
viere hinab und kroch leise weiter.
Der Gang wurde schließlich so eng, dass sie die
Ellbogen nah am Körper behalten musste und mit Bauch
und Brust über den Boden scharrte. Doch sie roch Wasser.
Nach geschätzten zweihundert Schritten war sie kurz
davor, im Gang steckenzubleiben, aber der Wassergeruch
war stärker geworden und kam eindeutig von vorn. Sie
378 streckte die Arme vor und zog sich nur mit Zehenspitzen
und Fingern weiter, Stückchen für Stückchen. Ihren
phosphoreszierenden Felsbrocken schubste sie mit den
Fingerspitzen vor sich her.
Als sie so eng im Felsen steckte, dass ihr ein tieferes
Einatmen schwerfiel, ragten ihre Fingerspitzen aus dem
Gang ins Schwarze. Vermutlich war dort eine größere
Höhle. Der Gang war so schmal geworden, dass ihre
Kameraden nicht einmal ihre Füße würden erreichen
können, sollte sie gleich feststecken. Sie schätzte, dass sie
mit der Hüfte gerade so nicht durch die Öffnung passen
würde, sie aber ihre Arme zum Ziehen zu Hilfe nehmen
könnte, sobald sie am engsten Punkt angelangt wäre.
Sie schloss die Augen und schob sich Fingerbreit für
Fingerbreit weiter der Schwärze entgegen. Tatsächlich
blieben ihre Hüftknochen schmerzhaft stecken. Aber als
sie sich etwas zur Seite verbog, konnte sie einen Ellbogen
an den Rand des Lochs vorstrecken. Dadurch konnte sie
den Unterarm außen an die Felswand legen, um sich mit
Gewalt weiter in die Höhle zu ziehen, in die der Gang
mündete. Sie riss sich ihre grauen Beinlinge auf und
schrammte sich die Haut über den Hüftknochen blutig,
doch dafür ragte jetzt ihr Oberkörper in die dunkle
Höhle hinein.
Ehliun hielt ihren Phosphorstein vor und über sich
und blinzelte angestrengt, um in der Schwärze etwas zu
erkennen. Tief unter ihr wurde der schwache Schein von
Wasser reflektiert. Sie lächelte dünn, ein wenig stolz auf
ihren Mut, der zum Wasserfund geführt hatte. Dann
wurde sie von starken Händen am Arm gepackt und aus
dem Gang gerissen. Schreiend stürzte sie in die Tiefe und 379
klatschte ins Wasser.

Ehliun strampelte panisch und schoss wie ein Pfeil


mit dem Kopf aus dem kalten See. Mit einer Faust
umklammerte sie noch immer den Phosphorstein, den
sie nun ebenfalls aus dem Wasser in die Höhe streckte,
um zu sehen, wer oder was sie gepackt und in die Tiefe
geschleudert hatte. Sie erahnte den engen Gang drei
Elfenlängen über sich. Die Felswand war rau und leicht zu
erklettern, doch irgendetwas hatte sie angegriffen und sie
sah es nicht – sie wagte es nicht, die Wand zu erklettern,
wenn ein unsichtbarer Feind vielleicht nur darauf wartete,
dass sie hilflos am Fels hing.
Sie drehte sich zweimal um die eigene Achse, doch
außer der Felswand mit dem Gang, aus dem sie gefallen
war, konnte sie nur Schwärze sehen. Sie fand keine anderen
Gänge oder Wände und keine böswilligen Kreaturen.
Vorsichtig und elfisch leise schwamm sie zur Wand. Einem
Krokodil ähnlich, ragten nur ihre Augen über das Wasser,
und gelegentlich ihre Nase zum Luftholen. Den Lichtstein
behielt sie unter sich; falls sich ihr etwas von dort näherte,
wollte sie es sehen.
Ganz langsam zog sie sich in die Höhe, ständig in
alle Richtungen blickend. Sie bewegte immer nur eine
Gliedmaße auf einmal und tastete jedes Mal nach
sicherem Halt, bevor sie eine Hand oder einen Fuß
fest absetzte. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie das
leise Platschen und Tropfen hinter sich hörte, doch ihre
scharfen Ohren konnten das Geräusch genau anpeilen.
380 Als plötzlich ein lauteres Platschen ertönte, warf Ehliun
sich mit dem Rücken an den Fels, wie eine sich öffnende
Tür, eine Hand und ein Fuß waren die Scharniere. Ein
faustgroßer Stein, an dem ein vielblättriges Algenseil
hing, schlug genau an der Stelle gegen die Wand, wo
eben noch ihr Hinterkopf gewesen wäre. Aus dem
Wasser ragte ein graues, hässliches Geschöpf, das
leise Kreischgeräusche von sich gab und dann eilig
untertauchte. Der Stein am Algenseil fiel ins Wasser
zurück und verschwand mit dem Wesen.
Ehliuns Herz raste schmerzhaft, sie starrte noch immer
auf die Stelle, an der das feindselige Wesen abgetaucht
war. Ihr Nacken begann auf einmal zu kribbeln, doch zu
spät – ein mörderischer Schlag traf von oben ihren Kopf
und raubte ihr das Bewusstsein.

„Sie ist überfällig“, meinte der stämmige Nachtelf zum


Anführer. Der nickte mit besorgtem Gesicht und zupfte
seine Felle hin und her. Er schwitzte, jedoch nicht so sehr
wegen des Fells, sondern wegen der Verantwortung, die
er für die Nachtelfin trug. Er und niemand sonst hatte
sie in den unerforschten Gang geschickt, nun war sie
verschollen. Vielleicht war sie verunglückt, aber vielleicht
gab es am Ende des Gangs auch etwas, von dem die Späher
wissen sollten.
„Wir suchen einen anderen Weg, der an derselben
Stelle herauskommt wie dieser enge Gang. Wir bleiben
zusammen, auch wenn wir dann länger brauchen. Falls
Ehliun auf Feinde gestoßen ist, sollten wir besser nicht
genauso allein auf welche stoßen.“
Der Anführer schlich voran, ein Stück den Gang 381
zurück und dann in die nächste Biegung. Der stämmige
Nachtelf sah ihm finster nach. Einen weiteren Augenblick
lang musterte er den dritten Mann ebenso finster, dann
erst folgte er dem Anführer. Der dritte Nachtelf verzog
keine Miene dabei, aber sein Gesicht war schon vorher
zum Bersten gespannt gewesen.

Der Anführer brauchte all seinen Willen, um sich auf


die Umgebung zu konzentrieren, anstatt immer wieder an
Ehliun zu denken. Noch am Tag vor der Schlacht hatte sie
sich ihm hingegeben, nachdem er ihr ein paar besondere
Rauschpilze vorgestellt hatte. Das alles wäre unter Elfen
nicht besonders schlimm gewesen, wäre Ehliun nicht die
feste Frau des besten Tauschers, eines heißblütigen, stolzen
Mannes, der nichts von seinem Besitz freiwillig teilte – und
er hielt auch Ehliun für seinen Besitz. „Dummerweise hat
er die Schlacht überlebt“, fluchte der Anführer innerlich.
Zwar war es unelfisch, jemandem den Tod für den eigenen
Vorteil zu wünschen. Doch nicht alle Elfen waren unter
der streng genormten Oberfläche gleich elfisch – der
Späher so wenig wie der Tauscher. Sollte Ehliuns Mann
etwas von jener verbotenen Liebesnacht erfahren, er würde
all seine Mittel einsetzen, um Raiánu, den Anführer des
Spähtrupps, zu zerstören. Raiánu würde ganz sicher nie
wieder Späher anführen, und das war das Mindeste, was
Ehliuns Mann bewirken konnte. Raiánus Status beim
restlichen Volk von Quirmó wäre auf Jahre dahin, und das
war unter den harmoniebedürftigen Elfen eine durchaus
harte Strafe. Zwar gab es derzeit andere Sorgen, aber die
382 würden sich legen. Der Rachedurst von Ehliuns Gemahl
würde das nicht.

Lanváoel, der vierte Nachtelf, starrte immer wieder


grimmig auf seinen Vorgesetzten, den berühmten
Tunnelläufer Raiánu. Trotz aller Heldentaten, die ihm
nachgesagt wurden – vermutlich waren die meisten wahr
– hatte er nun sehenden Auges eine Unschuldige in den
Tod geschickt. Jedenfalls kam es Lanváoel so vor. Er
gestand sich ein, voreingenommen, sogar besessen zu sein.
Er war schon lange in Ehliun verliebt. Die zurückliegende
Schlacht war ihm vergleichsweise egal, seine Gedanken
kreisten fast ausschließlich um diese Frau.
Doch Ehliun war aus ihm unverständlichen Gründen
die feste Frau eines reichen Ekels von Tauscher und
unerreichbar für einen einfachen Elfen. Lanváoel hatte
viele Pläne gehabt, wie er Ehliun vielleicht doch hätte
gewinnen können. Aber nun war sie möglicherweise tot,
und Raiánu trug die Schuld.

Der stämmige Nîmio wendete höchstens die Hälfte


seiner Aufmerksamkeit für die Umgebung auf, den Rest
verteilte er gleichmäßig auf Raiánu und Lanváoel. Nîmio
galt als stark, was unter Elfen jedoch nicht viel wert war.
Ansonsten hielt man ihn für langsam und schwerfällig
mit Geist und Körper. Er genoss es, unterschätzt zu
werden. Seine Wahrnehmungskraft lag weit über dem
Durchschnitt der meisten Tunnelläufer, vielleicht
sogar über der von Raiánu. Nîmio wusste von Raiánus
erschlichener Liebesnacht mit Ehliun, er hatte heimlich
zugesehen. Er wusste auch, mit welch bohrenden Blicken 383
Lanváoel die Nachtelfin stets angestiert hatte und wie
aufgeregt er plötzlich gewesen war, als sie demselben
Spähtrupp zugeteilt worden war wie er. Und nun
war das hübsche, doch charakterlich blasse Mädchen
verschollen, und weder Raiánu noch Lanváoel waren in
der Lage, ihre Aufgabe mit angemessener Konzentration
zu erfüllen. Nîmio hätte sich einreden können, dass dies
an der zurückliegenden Schlacht lag, doch er wusste es
besser. Möglicherweise war es überhaupt nur zu Raiánus
fataler Entscheidung gekommen, weil er sich nicht hatte
konzentrieren können. Oder hatte Raiánu die Elfin gar
loswerden wollen, um seinen durchaus hohen Status nicht
zu gefährden?
„Was starrst Du denn plötzlich so?“, flüsterte Lanváoel
und legte Nîmio eine Hand auf die Schulter.
Nîmio seufzte verlegen und schüttelte den Kopf.
„Nichts, ich war abgelenkt.“
Raiánu blickte vorwurfsvoll zurück und zischte:
„Abgelenkte Späher sind tote Späher! Reiß Dich zusammen!“
Nîmio nickte nur und dachte sich seinen Teil. Irgendwie
mussten es wohl solche Situationen sein, die zu seinem Ruf
als schwerfälliger Denker geführt hatten.

Ehliun erwachte – in einer einsamen, hohen Höhle


hängend. Ihre Hände und Füße waren mit geflochtenen
Algenseilen gefesselt und an Decke und Boden festgeknotet
worden. Ihre Finger und Zehen waren bereits taub, weil
die Fesseln zu eng waren. Ehliun zerrte halbherzig an
den Seilen, doch die geflochtenen Algen waren zweifellos
384 stärker als sie, außerdem schmerzte jede Bewegung an den
wund gescheuerten Gelenken.
Sie blinzelte. Erst jetzt erkannte sie, dass sie doch nicht
allein war. An den Wänden hing mindestens ein Dutzend
der hässlichen grauen Kreaturen, von denen sie bereits
im Wasser attackiert worden war. Sie regten sich nicht,
doch ihre schwarzen Augen belauerten Ehliun. Aus den
Kopfmitten wuchs jeweils ein kleiner Dorn, der sich wie
eine Insektenantenne bewegte.

Die Tunnelläufer näherten sich wie lautlose Schatten


einem Durchgang. Eine gigantische Höhle lag dahinter.
Sie führte in die Richtung, in der die Späher Ehliun
vermuteten. Obwohl der Weg frei zu sein schien, hielt
Raiánu an und kauerte sich mit tief zerfurchter Stirn
hinter einen Felsvorsprung.
Nîmio hockte sich neben ihn und blickte fragend, worauf
Raiánu mit dem Kopf auf den Eingangsbereich deutete.
Nîmio entdeckte dort Knochen und Schädel sowie
Waffenreste aus Kupfer, überzogen von einer dicken
Schicht Grünspan. Als er nun wusste, worauf er zu achten
hatte, fanden seine Augen noch mehr Zeichen einer vor
langer Zeit geschlagenen Schlacht.
Was Raiánu jedoch am meisten zögern ließ, waren die
Runen und Bilder, die in die Wände gekratzt worden
waren. Soweit er sie in die Dunkelheit der Höhle hinein
verfolgen konnte, erzählten diese Kritzeleien die tragische
Geschichte eines vernichteten Volkes.
Wesen mit einem Dorn auf dem Kopf beteten die
Sonne an, doch die Sonne verschwand und die Wesen
verloren ihre Werkzeuge, bis sie sich mit bloßen Zähnen 385
und Klauen zerfleischten und kein Zeichen von Kultur
mehr aufwiesen.
„Wie lange haben wir noch, bis der Zauber auf unseren
Augen nachlässt?“, flüsterte Lanváoel hinter ihm.
„Wir lassen Ehliun nicht zurück. Notfalls müssen wir
magische Lichtkugeln herbeirufen“, flüsterte Raiánu.
386 25

Meleks Fluch wirkte mit entsetzlicher Macht in Athónons


Geist. Wäre Laura von seinem eigenen Volk und wäre er nur
zehn Jahre jünger, seine Willenskraft hätte nicht gereicht,
dem Fluch zu widerstehen. Jedes Mal, wenn der Gnom
Laura ansah, überfiel ihn eine primitive Gefühlswallung,
die ihm unangenehm und fremd war. Das Lagerfeuer war
winzig und der Tunnel kühl, dennoch schwitzte er. Seine
stoische Ruhe war dahin, er knirschte mit den Zähnen
und rieb sich die feuchten Hände an den Knien.
Wenn die Halbelfin etwas sagte, musste Athónon sich
zwingen, ihr ins Gesicht und nicht auf die Wölbungen
unter dem Kettenhemd zu starren. Wenn er dies schaffte,
musste er den Gedanken niederringen, dass er etwas
verpasste. Wenn sie sich ihm abwandte, versuchte er, das
sanfte Wallen ihres Hinterteils zu ignorieren, das nicht
völlig von Kettenhemd und Lederbeinlingen verborgen
wurde. Wenn er die Augen schloss, sah er seine Finger
in ihre zarte Haut sinken. Wie leicht es für ihn wäre,
sie niederzuschlagen! Wie sehr ihre Hüfte ihm genau
das befahl und seine Hände zu sich rief! Sein magisches
Schwert betäubte den Willen manchen Gegners schon
beim Ziehen ... Athónon zog die Beine an und legte die
Stirn auf die Knie.

Laura konnte Athónons stechende Blicke körperlich


spüren. Ihr Nacken kribbelte bei jeder plötzlichen
Bewegung des Gnoms. Sie wusste nicht, wie sie stehen
oder sitzen sollte. Zum ersten Mal fand sie ihre Beinlinge 387
zu eng und hasste das Zwicken des Leders zwischen den
Schenkeln. Sie spürte Schweiß als klammen Film am
ganzen Körper, trotz der Kälte im Tunnel. Mit jedem
Lidschlag bekam sie mehr Angst und wurde verzweifelter.
„Ich gehe zurück und töte Melek“, verkündete sie
schließlich mit angstbebender Stimme. Hastig stand sie
von dem kleinen Feuer auf. Sie schulterte den Rucksack
und marschierte los.
Athónon blieb sitzen und sah ihr nicht nach. Für einen
Moment. Dann sprang er auf und rief: „Du kannst nicht
allein gehen. Dein ungebrochener Wille, ihn zu richten,
besiegt ihn nicht von selbst. Außerdem könnten etliche
andere Männer sich auf seine Seite stellen.“
Lauras stummer Blick zurück in Athónons Gesicht
klagte: „So wie Du auch in einem schwachen Moment!“
„Der Fluch kann mich nicht bezwingen“, behauptete
Athónon auf diesen Blick. Natürlich wusste er, was Laura
denken musste. „Ich gehe vor, ich bin sowieso der bessere
Späher. Wenn ich Melek gefunden habe, töten wir ihn
gemeinsam, das ist das Sicherste.“ Mit diesen Worten
trat Athónon an Laura vorbei und stapfte ins Dunkel des
Gangs. „Mach das Feuer hinter Dir aus“, brummte er über
die Schulter, während er mit einem winzigen Zauber eine
seiner Fackeln entzündete.
Es kostete ihn alle Kraft, sich von Laura zu entfernen
und den verfluchten Gedanken niederzuringen, dass
er einen kostbaren Schatz, den er schon beinahe in den
Händen gehalten hatte, einfach liegen ließ. Doch wenn
er durch sein eigenes und Lauras Überleben eines gelernt
388 hatte, dann, dass das Schicksal mitnichten festgeschrieben
war. Sein prophetischer Traum war ein Irrtum gewesen.
Keiner von ihnen war gestorben. Das Opfer, das nötig
geworden war, hatten Taffi und die heilige Decke erbracht.
„Gedanken sind biegsame Gräser, einzig unsere Taten
zählen etwas und sind endgültig“, rezitierte Athónon im
Geiste, um seine eigenen Schritte ständig neu anzutreiben,
damit sie nicht stehen blieben oder gar umkehrten.
Sein Knie schmerzte nach wie vor und verlockte
ihn, dies als Vorwand zu nehmen, doch umzudrehen.
Aber Athónon ließ nicht zu, dass der Fluch ihn mit
seinen Gebrechen erpresste. Außerdem war er viel zu
erfahren, um auf vorgeschobene Entschuldigungen oder
Selbsttäuschungen hereinzufallen.
Laura trat das Feuer aus, während das Fackellicht sich
rasch entfernte. Taffis kleiner Grabhügel, ein Steinhaufen
mit einer vermoderten, von Goldfäden durchzogenen
Elfendecke darauf, verschwand in der Dunkelheit eines
unbedeutenden Gangs in irgendeinem Höhlensystem. Die
verfluchte Halbelfin gab sich einen Ruck und folgte dem
letzten Fackelschein.

Eins der bleichgrauen Wesen kletterte vom Boden an


Ehliuns Algenfessel empor, bis es die dicken Fellsocken
an ihren Füßen erreichte. Es schnupperte hektisch und
kroch dann allmählich an Ehliuns Bein zurück. Von
ihrem Wimmern und Zittern ließ das Wesen sich nicht
ablenken. An Ehliuns Knie zupfte es neugierig den
Bauschstoff hoch und entblößte eine Wade. Der Dorn auf 389
seinem Kopf beschleunigte zu einem Vibrieren. Mit fahlen
Augen sah das Wesen in Ehliuns Gesicht und schnupperte
angespannt. Plötzlich sprang es zwischen die anderen
Wesen und alle kreischten.
Ein anderes Wesen raste an Ehliuns Fesseln empor und
rücksichtslos über sie hinweg, jedoch ohne sie zu verletzen. Es
biss die Fesseln über den Handgelenken durch und Ehliun
stürzte schreiend dem Boden entgegen, gemeinsam mit
dem freudig kreischenden Wesen. Kurz vor dem Aufprall
landeten beide weich auf zahllosen grauen Händen. Während
das Wesen, das Ehliuns Fesseln durchgebissen hatte, sich
geschmeidig über die Köpfe der Träger hinfortrollte, wurde
die verdutzte Ehliun zu einem breiten Ausgang getragen, der
von Steinzeichnungen verziert wurde.

Melek schäumte vor Wut in einer abgelegenen Felsröhre.


Nicht nur, dass ihm Laura abermals entwischt war, nicht
nur, dass sein Haar weggebrannt und sein Gesicht von
wässrigen Brandblasen übersät war – gerade hatten auch
zwei Nachtelfinnen über ihn gelacht. Er verstand zwar die
Sprache nicht und sie konnten ihn gar nicht sehen. Aber
als sie an ihm vorbeigegangen waren, hatten sie eindeutige
Gesten gemacht, bildete er sich ein. „Natürlich erst, als ihr
zwei, drei Schritte an mir vorbeigewesen wart! Denkt ihr
wirklich, ein halbwegs aufmerksamer Geist würde es dann
nicht bemerken?“, zischte er. In seiner Phantasie packte er
ihre leichten Körper, schlug sie gegen die Wände, brach
390 ihnen die dünnen Arme, biss ihre Brustknospen ab, trat
wild auf sie ein und verstümmelte sie mit dem Dolch.
Immer wilder steigerte Melek sich in seinen Hass. Die
Brandwunden machten ihn rasend. „Ihr traut Euch ja
nicht, das Maul direkt vor mir aufzureißen!“, zischte er und
merkte erst im zweiten Moment, dass er laut gesprochen
und nicht bloß gedacht hatte.
„Ich sollte den beiden Manieren beibringen, aber hier
sind einfach zu viele Augen“, haderte er mit sich. „Ihr habt
keinen Respekt vor der Ordnung der Natur, ihr glaubt
Euch in falscher Sicherheit!“ Er schüttelte wütend den
Kopf. „Wozu bin ich eigentlich unsichtbar, ich Idiot?“,
schrie er halblaut.
Mit der Faust schlug er gegen die Wand und sprang
auf, sprengte den beiden Nachtelfinnen nach. Sie waren
noch nicht weit gekommen. Erschreckt wirbelten sie
herum, als sie sein Poltern hörten. Genau in dem Moment
spazierten zwei weitere Nachtelfen um die Ecke, um ihre
Gefährtinnen zu begrüßen.
Melek sprengte fluchend davon in einen Seitengang.
„Halt!“, befahl er sich selbst nach ein paar Biegungen.
„Denk nach, Dummkopf!“, scholt er sich. „Wenn Laura
den Fluch brechen will, muss sie mich töten. Sie wird also
zurückkommen und mich suchen. Ich muss nur in der
Nähe warten und keine weiteren Fehler machen, wenn ich
sie erwischen will.“
Zitternd ritzte er sich wieder die Arme, setzte weitere
Kerben neben die frisch verheilten. „Verdammter Idiot!“,
beschimpfte er sich.
Ehliun wagte es nicht, sich zu rühren, während sie in 391
den Gang getragen wurde. Die Kreaturen transportierten
sie zu einem krakeligen Bild am toten Ende des Gangs.
Das Bild zeigte eine bekleidete Kreatur, die den grauen
Wesen unter Ehliun sehr ähnelte, jedoch weniger tierhafte
Züge und eine aufrechte Körperhaltung besaß.
Vorsichtig setzten die Wesen Ehliun auf die Füße und
wichen vor ihr und der Kritzelei zurück. Ihre Dornen
wiegten gleichmäßig hin und her und ihre Kehlen
erzeugten ein gurrendes Geräusch. Sie wälzten sich auf
den Rücken und streckten dabei alle viere von sich.
Ehliun stand mit rasendem Herzschlag vor ihnen
und schielte von der Seite auf das Wandbild. Sie wagte
es nicht, den Wesen den Rücken zuzukehren. Am ganzen
Körper zitterte sie, hatte butterweiche Knie und fragte sich
verzweifelt, ob sie ihren Mann, ihren Liebhaber oder ihren
heimlichen Verehrer je wiedersehen würde. Alle drei hatte
sie sich nur zu gern gefallen lassen und die schmeichelnde
Aufmerksamkeit genossen. Ihre Freundinnen meinten, sie
sollte lieber nicht zu sehr mit den Männern spielen, aber
was sollte schon Schlimmes passieren?
Sie fühlte unter dem beträchtlichen Kloß in ihrem Hals,
wie Übelkeit aufstieg. Am liebsten hätte sie sich einfach in
eine Ecke gekauert und losgeheult, doch hierher wäre wohl
kaum jemand gekommen, um sie zu retten.
Bis vor einem Tag war Ehliuns größte Sorge gewesen,
ob ihre drei Männer etwas voneinander erfuhren, oder
von Ehliuns wahren Gefühlen. Raiánus Pilze hatten
Ehliuns Willen mitnichten ausgeschaltet, aber das durfte
er gern weiterhin glauben. Und jetzt war ihre Stadt
392 vernichtet und verlassen. Sie stand in einer steinernen
Sackgasse, gefangen zwischen seltsamen Kreaturen und
einer hässlichen Kritzelei.
Sie wurde sich der Wassergeräusche unter sich bewusst,
so als erhebe sich etwas Großes aus der Tiefe. Allerdings
sah sie nirgends Wasser. Möglicherweise befand sie sich
über dem See, in den sie zuvor gestürzt war.
Die blinden Kreaturen wirbelten mit ihren Kopfdornen
und keckerten hysterisch. Der Boden bebte. Aber sie flohen
nicht, sondern blieben tapfer an Ort und Stelle hocken.
Plötzlich krachte das Bodeninnere markerschütternd.
Dumpfes Brüllen drang von unten herauf.
Der Fels krachte noch einmal ohrenbetäubend und
diesmal riss er auf. Eine riesige Kreatur hielt ein Auge,
das so groß wie Ehliuns ganzer Kopf war an den Spalt.
Leichenblass wich die Späherin an die Wand zurück. Das
Auge verschwand, dafür donnerte es ein drittes Mal im
Felsboden und er brach in Trümmer. Die Fläche stürzte
mitsamt den Kreaturen, die darauf gehockt hatten in die
Tiefe. Ehliun und wenige andere Kreaturen hatten Glück
gehabt, da sie auf den Resten des Felsbodens standen, der
am Rand des ehemaligen Gangs stehen geblieben war.
Die Kreatur unter ihnen trug auf dem dunklen
Schädel eine mächtige Knochenplatte, mit der sie den Fels
zerschlagen hatte. Darunter fixierten zwei Augen Ehliun.
Das Wesen besaß flache Nüstern und ein Maul voller
Reißzähne. Viel mehr sah Ehliun von der Kreatur nicht,
denn der Rest verschwand im Dunkeln. Jedenfalls, bis eine
fleischige Hand mit drei dicken Fingern auf sie zuraste.
Breite Krallen wuchsen wie Schwerter an den Fingern.
Ehliun versuchte auszuweichen, doch der Daumen 393
der Riesenhand erwischte sie und stupste sie leicht an –
sie wurde mit dem Rücken gegen den Felsen geschlagen
und konnte nicht mehr atmen, so verzweifelt sie es
auch versuchte.
Die verbliebenen Kreaturen warfen sich wieder auf
die Rücken, wälzten sich auf den Felsresten und stießen
schrille Heullaute aus.
Die Hand packte die hilflose Nachtelfin und zerdrückte
sie ein wenig, bevor die Reißzähne sie weiter zerkleinerten.
Doch der Gott dieser Kreaturen war noch nicht satt,
sondern fraß die Hälfte jener grauen Wesen, die sich nicht
rechtzeitig in Sicherheit brachten.
In der Sprache der Grauen grollte ihr Gott: „Das rosige
Spitzohr war sehr lecker! Bringt mir mehr davon!“
„Aber es trug Kleidung! Es war ein Höheres!“,
protestierten die überlebenden Grauen.
Als Antwort fraß ihr Gott noch ein paar mehr von
ihnen, spie das Meiste aber missmutig wieder aus. „Bringt
mir mehr rosige Spitzohren!“, brüllte er.

„Diese Wandbilder erinnern mich an elfische


Philosophie“, murmelte Nîmio. Schritt für Schritt erkundete
der Spähtrupp das ehemalige Höhlenschlachtfeld.
„Wie bitte? Elfen leben sonst wohl kaum in Höhlen“,
spottete Lanváoel. „Nur wenn sie die Krankheit haben
und keine Sonne mehr vertragen.“
Nîmio erklärte: „Aber diese Bilder scheinen Tiere über
394 die zweibeinigen Kreaturen zu stellen, so als würden sie
Tiere für mehr wert halten als sich selbst. So wie es vor
langer Zeit auch mal bei den Waldelfen gedacht wurde,
weil Tiere frei von lästigem Denken und Zweifeln sind.“
„Vielleicht sind das aber auch bloß Götterdarstellungen
wie bei den Menschen“, entgegnete Lanváoel. „Manche
Menschengötter haben die Gestalt von Tieren.“
Raiánu mischte sich ein: „Schluss damit! Wir wissen
alle nicht, was diese Bilder darstellen, und es ist auch nicht
wichtig. Das einzig Wichtige ist, Ehliun zu finden, bevor
ihr etwas zustößt.“

„Jemand wie Melek könnte mein Vater sein“, dachte


Laura wieder einmal und kochte vor sich hin. Sie folgte
Athónons Fackelschein mit einigem Abstand. Auch
in ihr, nicht nur in Athónon, regten sich fremde und
unerwünschte Gefühle. Sie verunsicherten Laura und
füllten sie mit einer unbändigen Wut, die nicht ihrer
eigenen Seele zu entstammen schien. Doch die unbequeme
Wahrheit über ihre Herkunft blieb, ebenso wie die
Ähnlichkeiten zwischen Melek und ihr: Beide beschritten
ihre Lebenswege nach eigenen Regeln und sehnten sich
nach einer größeren Bedeutung, als sie derzeit besaßen.
Hatten ihre Wege sich unweigerlich kreuzen müssen oder
war das bloß Zufall?
„Dieser Gedanke ist sinnlos, steigere Dich nicht
hinein“, hatte Athónon ihr achselzuckend geraten, als sie
ihm davon erzählt hatte. Doch das half ihr nicht weiter.
„Melek hat es irgendwie geschafft, mich zu verfluchen!“ 395
Sie tobte innerlich vor Wut und ballte die Fäuste so fest,
dass ihre Fingernägel tiefe Kerben in die Handflächen
stanzten. Aber sie ließ nicht locker, denn dieser Schmerz
lenkte sie von dem viel schlimmeren seelischen Schmerz ab.
Sie überlegte, ob ihr leiblicher Vater möglicherweise kein
reinblütiger Mensch gewesen war. Er war möglicherweise
noch schlimmer als Melek gewesen. Menschliche
Unbeugsamkeit, zusammen mit ihrer Vergangenheit und
Gegenwart, durfte es eigentlich nicht allein bewirken, dass
ihr Inneres so wütete. Die düstere Vorahnung wuchs.
Außerdem hatte sie plötzlich wieder jenes Brandmal aus
dem Menschendorf im Hinterkopf, das sie abgezeichnet
hatte. Es hatte auf der Brust des toten Krämers geprangt,
der einem Dämonenjünger als Opfer zum Kraftsammeln
gedient hatte. Konnte solch ein unheiliges Symbol auch
dann eine Wirkung erzeugen, wenn es bloß von einer
Unwissenden gezeichnet wurde? Rüttelte das Brandmal
einen Teil ihres Menschenerbes wach, von dem sie bisher
nur einen winzigen Bruchteil beim ersten Kampf mit
Melek gekostet hatte? Athónon hatte Laura gegenüber
schon zweimal überdeutlich betont, dass er nichts Böses
und Dämonisches in ihr spürte. Vielleicht behauptete er
dies aber nur so vehement, weil er sie beruhigen wollte.
Weil das Gegenteil der Fall war.
Der Krieg, in dem Lauras Mutter gekämpft hatte,
war nicht nur gegen gewöhnliche Menschensoldaten
geführt worden. Auch Tiefenweltler und die
Schlangenmenschen eines untoten Magierkönigs hatten
Jades Heimat überfallen.
396 Laura hatte schon immer verdrängte Aggressionen
und Wutanfälle in sich brodeln gefühlt. Bisher hatte sie
gedacht, dies läge allein an ihrer halbelfischen Natur und
ihren Schwierigkeiten im Elfendorf. Nun aber erkannte sie
allmählich, dass dieser lauernde Hass eine dritte Quelle hatte.
Sie war Melek in noch einer Sache ähnlicher, als sie
je offen zugeben konnte. Der Hass gab ihr Kraft. Seine
Flammen verzehrten sie, wenn sie aufloderten, und setzten
dadurch Energie frei. Der Hass fachte die Kräfte ihres
dunklen Erbes an. Bisher hatte Laura nicht zugelassen,
dass dieses Erbe zu hell brannte, doch sie wusste, dass sie
noch viel mehr Reserven würde freisetzen können, wenn sie
zuließ, dass sie dabei mehr und mehr wie ihr unbekannter
Vater wurde. Jetzt verstand Laura das ganze Ausmaß der
Sorgen ihrer Mutter und warum sie nicht gewollt hatte,
dass ihre Tochter überhaupt in ein sogenanntes Abenteuer
geriet, in dem ständige Gefahren das schlafende Erbe in
Laura wachkitzeln konnten. Das Erbe eines Tiefenweltlers,
der einem untoten Magierkönig der Schlangenmenschen
gedient hatte.
Nur am Rande ihrer Gedanken tauchte die Frage auf,
warum Srrig und Mèra so plötzlich und ohne jeden Abschied
verschwunden waren. Hatten deren übermenschliche,
prophetische Sinne etwas wahrgenommen, das sie so
dringend weggerufen hatte, dass sie nicht einmal mehr
Lebewohl sagen konnten? Ob sie die beiden wiedersehen
würde? War Lauras Anteil am Kreuzzug gegen den
Imperator damit schon vorbei?
Von dem weisen Amulett nahm sie im Moment so
wenig wahr, wie von den äußerst schwachen Versuchen
ihres Kurzschwertes, mit ihr zu kommunizieren. Ihr Kopf 397
war nicht frei genug für derartig subtile Veränderungen
des Bewusstseins, sondern wurde beherrscht von
Rachegelüsten und dem Durst auf Meleks Blut. Wenn
sie ihn tötete, würde sie auch ein bisschen die Qualen
ihrer Mutter rächen, obgleich sie in gewisser Weise damit
gegen sich selbst kämpfte. Dies war jedoch ein so seltsames
Gefühl, dass sie es kurzerhand verdrängte, anstatt sich
damit auseinanderzusetzen.
Was aus den Nachtelfen wurde, die es angeblich zu
beschützen galt, interessierte sie im Moment nicht mehr.
Welcher der tote Gefährte war, von dem das Amulett
gesprochen hatte, wollte sie auch lieber nicht wissen.
Ihr Vorrat an Tränen war aufgebraucht. Nun loderte an
deren Stelle nur noch Hass, der sie zu verbrennen drohte.
Sie hatte zuvor nicht verstanden, was es bedeutete, keine
Tränen mehr zu haben, auch wenn sie den Ausdruck aus
dunklen Lagerfeuergeschichten kannte.
398 26

Nachlassender Schmerz war etwas Herrliches. Je länger


Athónon der Wirkung des Fluches ausgesetzt gewesen
war, desto weniger hatte der Fluch seinen Geist verwirrt.
Inzwischen konnte der Gnom gefahrlos zurück zu
Laura blicken, ohne eine dämonische Gefühlswallung
zu erleiden. Der Gesichtsausdruck der Halbelfin schien
Athónons negative Gefühle jedoch zu absorbieren, denn
je besser er sich wieder fühlte, desto finsterer blickte das
junge Mädchen drein.
Athónon hatte es sich abgewöhnt, über die Winkelzüge des
Schicksals lange nachzusinnen, denn er hatte oft genug die
Erfahrung gemacht, dass die Dinge sowieso immer anders
lagen, als er es sich zusammenreimte. Deshalb fragte er sich
nicht allzu bohrend, wohin Srrig und Mèra verschwunden
waren. Ebenso wenig machte er sich um die Nachtelfen
Sorgen, die nun vergleichsweise schutzlos waren. Wohl aber
galt seine Sorge Laura, denn er hatte auch die Erfahrung
gemacht, dass die Götter und das Schicksal meist zu sehr mit
sich selbst und der ganzen Welt beschäftigt waren, um auf
ein einzelnes, unbedeutendes Wesen Rücksicht zu nehmen,
so liebenswert und unschuldig es auch sein mochte.
Vielleicht waren sogar gerade Eigenschaften wie
„liebenswürdig“ und „unschuldig“ Magnete für
Schicksalsschläge und Qualen. Und was diese Magnete
ebenfalls anzogen, war Abschaum wie Melek.
Laura hatte Athónon bewiesen, dass das Schicksal nicht
festgeschrieben war. Jedenfalls nicht mit jeder Einzelheit.
Weder Athónon noch Jades Tochter waren gestorben, aber 399
dafür hatte Athónon ein weiteres Mal einen langjährigen,
treuen Freund verloren: Taffi. Und auch die heilige,
unvorstellbar wertvolle Elfendecke war zerstört worden,
hatte sich geopfert, um zwei Sterbende gleichzeitig retten
zu können.
Er verschob seine Trauer und seine Bitterkeit auf
später, denn er näherte sich den Gängen, die an die
vorübergehende Wohnhöhle der Quirmóer grenzten.
Wie würden die Nachtelfen auf Athónons Rückkehr
reagieren, auf den vermeintlichen Spion des Drachen?
Der Fluch könnte nachgelassen haben, aber was, wenn
nicht? Auf jeden Fall durfte Laura nicht in die Nähe der
Nachtelfen kommen.
Athónons scharfe Sinne orteten hinter sich, kurz hinter
Laura, leise schleichende Schritte. Der Gnom sah zurück
und erschrak vor Lauras hassglühender Grimasse, doch sie
schien sich keines Verfolgers bewusst zu sein.
„Hinter Dir“, zischte Athónon und rannte auf Laura zu.
Die Halbelfin zog ihr Schwert und hielt es dem Gnom
halb ängstlich, halb wütend entgegen. Sie war sich völlig
sicher, dass der Fluch ihn nun übermannt hatte.
Athónon blieb abrupt stehen und starrte Laura
verstehend an. „Hinter Dir!“, rief er eindringlich und trat
gleichzeitig einen Schritt zurück.
Unsicher blickte Laura mit einem Auge zur Seite,
während sie Athónon im Visier behielt. Sie sah nichts als
Schwärze. Ihr Herz beschleunigte, ihre verschwitzte Hand
hielt wieder Athónon die Waffe entgegen, dem vermeintlich
verhexten Freund, dem unsäglich erfahreneren Helden
400 zahlloser Kämpfe. Lauras Schwert erzitterte. „Tu es nicht!“,
wisperte sie ganz leise.
Athónon machte einen weiteren Schritt zurück, dann
warf er die Fackel an Laura vorbei. Sie zuckte heftig
zusammen, auch wenn sie nicht getroffen wurde. Mit
einem gespenstischen Flackern erhellte sich der Gang.
Mehrere Bewegungen huschten hinter die Felsen.
„Ich habe es gesehen“, flüsterte Laura beschämt und
senkte das Schwert.
„Kommt raus!“, rief Athónon in Richtung der
sich Anschleichenden.
Sie kamen tatsächlich heraus, lautlos und lauernd, auf
allen vieren. Doch sie griffen nicht an. Eher schien ihre
drohende Körpersprache und ihr vorgeneigter Kopfdorn
Laura und Athónon weiter in den Gang treiben zu
wollen. Sie unterbrachen ihr Drohen immer wieder kurz
zum Schnüffeln.
Athónon flüsterte: „Ich fürchte, diese Kreaturen haben
die Nachtelfen gewittert. Wir würden sie hinführen, wenn
wir zurückkehren. Wir müssen diese Wesen weglocken.
Sicher sind sie auf irgendeine Weise auch Diener
Schattenwachts beziehungsweise Cerýllions.“
„Aber ich muss Melek töten, um den Fluch zu brechen!“,
zischte Laura verzagt. „Wo finden wir ihn, wenn nicht bei
den Quirmóern? Er wird dort sicher auf mich warten!“
Athónon schüttelte grimmig den Kopf. „Hier lang“,
knurrte er und zog Laura in eine neue Richtung.
„Die Gefahr durch den Fluch ist mitten unter den
Nachtelfen ohnehin zu groß für Dich. Wir halten uns
in der Nähe.“
Er wollte natürlich nicht, dass Laura verflucht blieb, 401
aber er wollte die Nachtelfen auch nicht in zusätzliche
Gefahr bringen. Er war sich zudem immer noch darüber
bewusst, dass der Imperator jederzeit durch Athónons
Augen blicken konnte. Wenn er nur Laura sah, würde den
Drachen das nicht weiter interessieren. Informationen über
die Nachtelfen durfte er jedoch nicht mehr bekommen,
befand Athónon vorerst.
„Alter Narr!“, scholt Athónon sich plötzlich.
„Schattenwacht dürfte durch Cerýllion längst über alles
informiert sein.“ Sollte er das die Nachtelfen als Warnung
wissen lassen? Sie würden womöglich glauben, Athónon
wollte bloß seine prekäre Rolle herunterspielen. Der Gnom
entschied sich wie so oft für stures Schweigen.

Als Laura dagegen protestieren wollte, mitgezerrt zu


werden, sagte Athónon im Gehen: „Willst Du für Dein
alleiniges Wohlergehen eine ganze Stadtbevölkerung opfern?“
Laura seufzte leise und lief nun bereitwillig mit.
„Willkommen in Deinem zweiten echten Abenteuer“,
knurrte Athónon sarkastisch. Er blickte hinter sich –
die Kreaturen folgten ihm nicht, sondern blieben an der
Kreuzung hocken und schnupperten.
„Verdammt“, murmelte Athónon und blieb stehen, um
sich das Knie zu reiben.
„Wenn sie uns nicht folgen, können wir auch zurück
und Melek töten!“, platzte es aus Laura heraus.
„Nein. Die Wesen wissen augenscheinlich nicht, wohin
sie müssen. Es besteht weiterhin die Gefahr, dass wir sie
führen. Wir müssen warten. Setz Dich.“
402 Ohne weitere Worte rutschte Athónon an der
Gangwand herab, streckte seine müden Beine aus
und kramte Stöckchen, Zunder und Feuersteine aus
seinem Rucksack. Darunter hatten ein paar Holzscheite
gebaumelt, eingewickelt in eine dünne Decke, um sie
abzupolstern, wenn sie im Gehen gegen seinen Hintern
pendelten. Als die ersten Flammen hochzüngelten, nahm
Athónon einen der Holzscheite und legte ihn ins Feuer.
„Wie kannst Du nur immer so ruhig bleiben?“, rief Laura
zornig. „Aber Du bist ja auch nicht verflucht, nicht wahr?“,
schrie sie, stampfte mit dem Fuß auf und drehte sich weg.
Mit energischen Handbewegungen fuhr sie sich durch die
Locken.Athónon sah sie bloß mit seiner Steinmiene an
und schwieg. Er fühlte sich durchaus mitverflucht, denn
es kam für ihn überhaupt nicht in Frage, Laura in ihrer
Not allein zu lassen.
„Ich möchte Dich bitten, mich nicht anzuschreien“,
sagte er mit knirschender Stimme, „denn sonst wird es viel
schwerer für mich, der Fluchwirkung zu widerstehen.“
Während Laura den Gnom entgeistert anstarrte,
verpuffte die unnatürliche Zorneswallung in seinem
Bewusstsein allmählich.
Laura seufzte enttäuscht und kniete sich mit fest
geschlossenen Beinen ans Feuer. Plötzlich hörten beide
aus der Dunkelheit ein freudiges Quietschen. Bevor sie
reagieren konnten, klatschte Zeeris vor Lauras Brust und
schlang die kleinen Arme um ihren Hals. „Du riechst
heute aber gut!“, quietschte das Teufelchen. Dann fiel
Zeeris auch Athónon um den Hals und krähte: „Gut,
dass ich Euch endlich wiedergefunden habe! Ihr werdet
ja gar nicht glauben, was ich inzwischen alles erlebt habe! 403
Zeerisrisrisrisris!“

„Wir können nicht zurück, solange diese Biester


uns folgen!“, stellte Nîmio überflüssigerweise fest. Er
umklammerte seinen Phosphorstein so sehr, dass seine
Hand nass vor Schweiß war.
„Ob Ehliun auch auf sie gestoßen ist?“, murmelte
Lanváoel vorwurfsvoll in Raiánus Richtung. Hinter
sich blickend, stellte er fest, dass die grauen Kreaturen
ihren Abstand stark vergrößert hatten. „Sie haben wohl
durchschaut, dass wir sie im Kreis geführt haben“,
murmelte er.
„Still! Da ist ein Feuerschein!“, flüsterte Raiánu, als er
um eine Ecke bog. Er legte sich lautlos nieder. Auch die
beiden anderen Tunnelläufer verschmolzen augenblicklich
mit der felsigen Umgebung und wurden förmlich
unsichtbar. Ihre Phosphorsteine legten sie unter sich,
damit der Lichtschein verschwand.
„Das sind dieser Gnom und die Halbelfin“, flüsterte
Raiánu erleichtert. „Ein kleines Flügelding ist auch bei
ihnen.“ Die Kreaturen hinter den Tunnelläufern waren
nicht mehr zu sehen, überzeugte der Anführer sich.
„Ein winziger Drache tuschelt mit dem Drachenspion?“,
wunderte sich Raiánu. Er erhob sich und marschierte auf
das kleine Feuer zu. Den Phosphorstein hielt er deutlich
sichtbar über sich, außerdem trat er recht laut auf und
räusperte sich. Die anderen beiden folgten seinem Beispiel.
404 Laura erschrak, als sie plötzlich den Nachtelfen
bemerkte, der nur noch wenige Schritte entfernt war.
Athónon hingegen sah gelassen auf und begrüßte ihn in
elfischer Sprache.
Abwesend und Laura anstarrend, erwiderte Raiánu
den Gruß. Nîmio neben ihm schaffte es immerhin,
seinen Blick kurz von der Halbelfin zu reißen und dem
Gnom zuzuwenden. Lanváoel hatte von den dreien den
schwächsten Willen, denn in seinem Gesicht stellte
sich jetzt schon jenes bösartige Grinsen ein, welches die
Schützen gehabt hatten, bevor sie auf Laura und Athónon
geschossen hatten.
„Die gucken so komisch!“, flüsterte Zeeris in
Athónons Ohr. Der Gnom ließ den Kopf hängen, seine
Mundwinkel zuckten nach unten.
Laura schluckte schwer und erhob sich. Langsam
wich sie rückwärts in den Schatten der Höhle zurück,
bis sie verschwunden war.
Raiánu schüttelte sich unmerklich und blickte
nun verwundert drein, während Nîmio Athónon
fragend musterte.
Lanváoel jedoch machte Anstalten, Laura zu folgen.
Als er Nîmio passierte, packte dieser ihn am Ärmel
und schüttelte den Kopf.
Wütend riss Lanváoel sich frei, aber im nächsten
Moment bekam auch er einen verwirrten Gesichtsausdruck
und stutzte. „Was ...?“, keuchte er und musterte Athónon
und Zeeris.
„Sie ist verflucht“, erklärte Athónon schnörkellos, ohne
vom Feuer aufzusehen.
„Waaaas?“, rief Zeeris als Erster und sprang von 405
Athónon fort.
„Es betrifft nur sie allein, Ihr braucht Euch keine
Sorgen zu machen“, fügte Athónon hinzu, weiter ins Feuer
starrend und keine Miene verziehend.
Nach einem Moment des Schweigens antwortete
Raiánu mit belegter Stimme: „Trotzdem solltet Ihr fortan
unser Volk meiden.“
„Sicher“, erwiderte Athónon, wohl wissend, dass das
eventuell nicht möglich war, wenn sie Melek töten und
den Fluch brechen wollten.
Raiánu nickte vor sich hin, während er sich rückwärts
gehend wieder in den Schatten begab, gefolgt von den
zwei anderen Tunnelläufern.
Athónon seufzte. Nach der Aufforderung des
Tunnelläufers, nicht zurückzukehren, war es nun noch
schwieriger, genau dies zu tun und Melek zu finden – falls
er noch dort war. Denn nun würden Athónon und Laura
zweifellos sofort am Eingang zur Höhle gestoppt werden.
Auf einmal sprang Athónon auf und rief den
Tunnelläufern nach: „Tut ihr und mir einen Gefallen
und lasst viele Nachtelfen beiläufig wissen, wo Ihr uns
getroffen habt! Unser Verfolger wird uns hoffentlich suchen
kommen. Wir müssen ihn töten, um den Fluch zu brechen.
Es handelt sich um einen unsichtbaren Menschen.“
Raiánu antwortete nicht sofort. Schließlich erwiderte er
halbherzig: „Wir werden sehen.“
Athónon ließ sich resigniert wieder am Feuer nieder
und rieb sich das Knie.
406 Melek hatte aus seinem Gang heraus eine Gruppe
Nachtelfen auf sich zukommen gesehen, angeführt von
jenem Zauberer namens Myándirel. Zweifellos hatte der
diesmal einen besseren Aufspürzauber gewirkt und würde
Melek entdecken.
Fluchend sprang er auf und rannte wahllos um einige
Biegungen. Er wusste immer noch, wo Norden war, sein
Orientierungssinn war exzellent trainiert. Aber das half
ihm nicht bei der Entscheidung, wohin er sich wenden
sollte. Er konnte nicht zurück in die Nachtelfenhöhle,
aber wenn sein Instinkt ihn nicht trog, konnten Laura
und Athónon es auch nicht. Sie mussten sich ebenfalls
irgendwo in den Gängen herumtreiben. Oder waren sie
Srrig und Mèra gefolgt? Wohin? Wussten Laura und der
Gnom überhaupt, dass sie den Fluch nur durch Meleks
Tod brechen konnten? „Jemand wie Athónon kennt sich
vermutlich mit Flüchen aus“, murmelte Melek. „Auf jeden
Fall wissen sie irgendwoher, dass ich es war.“
Melek fluchte wütend und ratlos vor sich hin.
Die entgangene Beute marterte seine Seele, wie die
Brandwunden seine Kopfhaut quälten. Ihm war, als briete
Laura ihn über einem Freudenfeuer. Er trat Steine, und
wenn er sich den Kampf mit Laura wieder und wieder
vorstellte, hatte er Mühe, seine unkontrolliert zuckenden
Fäuste nicht zu hart gegen den Fels zu schlagen.
Endlich gab er auf. Die Anspannung, die ihn beinahe
hatte bersten lassen, ließ nach und wich bleierner
Müdigkeit. Er beschloss, sich östlich zu halten. Sollte er
auf keinerlei Spuren von Athónon oder Laura stoßen, so
würde er dort notgedrungen seinem alten Weg bis zurück
an die Oberfläche folgen, endlich schlafen und auf Laura 407
verzichten, so schwer ihm das auch fiel. Immerhin würde
sie dann niemals den Fluch brechen und Laura wäre
zeitlebens dazu verdammt, vor Meleks Lebensweise zu
fliehen. Vorher aber wollte er sich ein letztes Mal in die Nähe
der Quirmóer wagen, um zu versuchen, Neuigkeiten über
Laura und Athónon zu erfahren. Myándirel würde nicht
ewig umherlaufen, um den Verwandelten aufzuspüren.
Meleks Lider flatterten vor Müdigkeit, er taumelte an den
Wänden entlang, kaum mehr zum Schleichen fähig.

„Wohin sind Srrig und Mèra wohl gegangen?“,


fragte Laura leise, nachdem sie sich wieder zu Athónon
gekniet hatte.
Der Gnom zuckte mit den Schultern und sah nicht hoch.
„Jemand aus unserer Gruppe ist getötet worden, hat mir
das Amulett gesagt“, berichtete Laura niedergeschlagen.
„Waaaas, wer denn?“, rief Zeeris aufgescheucht.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Laura, während sie zu
Athónon sah. Doch der Gnom reagierte nicht.
„Taffi und die Decke sind tot“, sagte er plötzlich leise.
Sein Gesicht bewegte sich unmerklich in Zeeris’ Richtung.
„Keine Ahnung, wen es sonst noch erwischt hat.“
Zeeris’ Gesicht nahm verschiedene Ausdrücke an, bevor
das Teufelchen betroffen ein „Oh!“ von sich gab und sich
verlegen am Kopf kratzte.
Leise erzählte es nach einer Weile: „Irgendein mächtiger
Zauberer hatte einen Suchzauber auf mich gelegt, aber die
408 Mutter der Schlangenblüter, denen ich geholfen hatte,
konnte ihn vorübergehend wegmachen. Jetzt frag’ ich
mich aber, wer mich da beobachten wollte und warum!“
Athónon und Laura reagierten nicht mehr auf das
zusätzliche Problem, jedenfalls nicht mehr äußerlich.
„Du riechst wirklich viel besser als sonst!“, staunte
Zeeris und hüpfte schnuppernd auf Lauras Schoß.
„Verschwinde!“, schrie die Halbelfin, sprang
wutentbrannt hoch und ohrfeigte Zeeris mit voller Kraft.
Das Teufelchen klatschte einige Schritte weiter zu Boden
und blieb benommen liegen.
Laura rannte sofort zu ihm und rief reumütig: „Es tut
mir so leid!“
„Je mächtiger ein Wesen ist, desto größer werden seine
Interessen. Was wagen es die jungen Goldfische zu
glauben, dass ihre Interessen sogleich einem Gott in den
Augenwinkel fallen könnten?“
T’ral, auch Feuerbringer genannt,
ältester Dämonid Hevanors, einer der mythischen Vier Könige,
über den Willen der Götter
27 413

General Veydrag war inzwischen von seiner Privatbarke


nach Harkýior gebracht worden und hatte sich in der
Arena berichten lassen, was geschehen war. Schon von
Weitem waren die Betreiber der Arena zusammengezuckt,
als sie Veydrags braunschwarze Schuppen und das blutrote
imperiale Wappen auf seinem Eisenpanzer erkannt hatten.
Doch zu ihrer Erleichterung interessierte der berüchtigte
General sich nicht im Geringsten für das Versagen der
Kerkermeister des Tigermannes. Deren Bestrafung
würden andere erledigen.
Veydrag war der vielleicht einzige Chimärier, der
stets allein operierte, nicht in einem obligatorischen
Fünfertrupp. Er folgte den Spuren des Tigermannes und
seines menschlichen Begleiters durch den Höhlenspalt,
in das lichtlose Felsenlabyrinth. Er brauchte keine Fackel,
er nahm genug andere Dinge außer Licht wahr. Ohnehin
flüsterten ihm die Stimmen der Inferior den rechten
Weg zu. Ebenso würde er lange vor jedem betroffenen
Feind wissen, wann es zu einem Kampf kam. Daher sah
Veydrag auch keine Notwendigkeit, sein Schwert vom
Rücken zu schnallen.
Veydrag folgte der Wärme, dem Geruch und der
magischen Strömung. Er würde nicht lange brauchen, um
die Enklave der Nachtelfen zu finden. Durch ständiges
Zaubern über so lange Zeit war die magische Strömung
dort nachhaltig verändert worden, und dies war leicht
aufzuspüren. Auch die Aura des Tigermannes kam
414 Veydrag offensichtlich, geradezu penetrant vor. Jenes
Wesen musste mächtiger sein, als das Imperium bisher
angenommen hatte, folgerte Veydrag. Auch die Stimmen
der Inferior warnten den General leise vor dem Tigermann.
Doch Veydrag hatte in seinem ganzen Leben noch nie die
Erfahrung gemacht, jemandem unterlegen zu sein.
Die Drachenrunen zwischen seinen Flügeln brannten
innerlich vor Aufregung. Er fühlte deutlich, dass eine
große Chance auf ihn wartete, sich vor dem Imperator
zu beweisen und einen Platz in dessen direkter Nähe
einzunehmen. Die Stimmen der Inferior in Veydrags Kopf
raunten es ihm zu. Der Sohn des Drachen näherte sich der
Erfüllung seiner Bestimmung.
Manche Gänge waren zu eng für ihn, doch anstatt
sich würdelos hindurchzuzwängen, schloss er für einen
Moment die Augen, sprach die unheiligen Worte nach,
welche die Inferior in seinem Kopf zischelten, und der
Fels wich vor Veydrag zurück. Er machte dem General
ehrfürchtig Platz und wurde erst wieder leblos, wenn
Veydrag ihn hinter sich gelassen hatte.

Cerýllion wanderte durch die ockern verputzten


Kellergewölbe seiner neu akquirierten Festung. Der
Eingangsbereich spaltete sich unmittelbar hinter der
Treppe in fünf strahlenförmig verlaufende Gänge,
die untereinander regelmäßig durch Quertunnel
verbunden waren. Das ganze Gewölbe war für die Größe
von Chimäriern ausgelegt, die hier früher magische
Geheimforschungen betrieben hatten. Ihr Ziel war, die 415
Gabe schneller Wundregeneration von seltenen Lebewesen
für die eigenen Soldaten zu gewinnen.
Der Albino legte die Hände auf dem Rücken zusammen
und ließ beiläufig eine Lichtkugel hinter seiner Schulter
entstehen, die ihm folgte. Cerýllion schlenderte durch
den Gang ganz links. Er betrachtete die leeren, von
innen aufgebrochenen Käfige, die groß genug für je zwei
Chimärier gewesen wären. Vor langer Zeit getrocknete,
gelbe Blutreste verliehen dem Boden ein unregelmäßiges
Sprenkelmuster. Die Experimente der Chimärier waren
augenscheinlich außer Kontrolle geraten. Den herben
Geruch, der nach all der Zeit immer noch im Gewölbe
hing, konnte Cerýllion nicht identifizieren.
Einer der Gefangenen von jenen Menschen, die
lange nach den Chimäriern hergekommen waren, hatte
Cerýllion verraten, dass es noch lebende Bestien im Keller
gab. Diese waren regelmäßig gefüttert und als Wachen
umerzogen worden. Die Wesen waren fortpflanzungsfähig
gewesen, inzwischen lebten hier längst die Enkel und
Urenkel der ursprünglichen Experimente. Nur eine einzige
der überlebenden Kreaturen soll die Chimärier noch selbst
miterlebt und einige von ihnen getötet haben. Welche, das
hatte der Gefangene nicht mehr sagen können. Die Folter
hatte seiner Gesundheit zu viel abgefordert.
Cerýllion wanderte die leeren Käfige des ersten Gangs
ab und folgte dann dem letzten Quertunnel in den
zweiten Gang. Er war nicht wirklich neugierig auf die
verqueren Geschöpfe und Missgeburten der Chimärier,
aber was in seinem neuen Keller vorging, wollte er schon
416 wissen. Und da seine magische Sicht anderweitig in den
Höhlen unterwegs war, musste er dazu wohl oder übel
seine Füße bemühen. Selbst seiner Zauberkraft waren
Grenzen gesetzt.
Der letzte Augenzeuge der geheimen Experimente
war also ein Geschöpf, das mehrere Chimärier getötet
hatte und nun seit vielen Jahren wieder eingesperrt
gewesen sein sollte – ohne sich erneut zu befreien. Das
war ein interessantes Rätsel, das Cerýllion zu ergründen
gedachte. Er wusste von einem anderen Gefangenen, dass
jenes Wesen in der Anfangszeit stets von Rache an allen
Zauberern geredet hatte – immerhin waren magische
Experimente an seiner Misere schuld gewesen. Aber dieses
Gerede sollte mit der Zeit aufgehört haben. Cerýllion war
ein wenig gespannt darauf, wie jenes Wesen wohl auf ihn,
einen durchaus mächtigen Zauberer reagieren würde,
der selbst schon die eine oder andere künstliche Kreatur
erschaffen hatte.
Im zweiten Gang gab es zerbrochene und intakte
Kristallscheiben anstelle von Gittern. Hinter den leidlich
durchsichtigen Scheiben bewegten sich schleimige
Klumpen auf der linken und schlangenartige Geschöpfe
auf der rechten Seite. Mit Balken verriegelte Bronzeluken
dienten vermutlich zur Futterversorgung.
Wie solche Geschöpfe als Wachen trainiert sein sollten,
entzog sich Cerýllions Phantasie, aber zum Ausprobieren
hatte er jetzt keine Muße. Beiläufig sah er sich mit
einem einfachen Zauber die magischen Ströme an, die
jene Wesen durchzogen, und fand nichts, was ihm hätte
Sorgen bereiten müssen. Ihre Lebensauren waren grässlich
entstellt und von verdorrter Magie zerfressen, sie waren 417
kaum wirklich lebendig. Zudem beherrschten sie selbst
keine Zauberei und waren nicht sonderlich intelligent, also
interessierten sie Cerýllion nicht.
Plötzlich riss die Verbindung ab, die der Elf zu dem kleinen
Teufelchen aufrechterhalten hatte, das ihn zu Srrig und Mèra
hätte führen sollen. Der Zauberer blieb mit wütender Miene
stehen und wunderte sich, wie das unscheinbare Teufelchen
Cerýllions Zauber hatte brechen können. Er rieb sich
verärgert die Hände und schloss die Augen, tief durch die
Nase atmend. Als er den Suchzauber kurz darauf erneuert
hatte, fand er das Teufelchen in der näheren Umgebung
nicht wieder. Laut fluchend stürmte er durch den Gang
zurück zur Treppe und hinauf in die Festung.

Mèra nahm alles von ihrer Umgebung wahr,


gleichzeitig war sie in Gedanken jedoch ganz woanders.
Sie fühlte nichts, doch sie wusste, es müsste ihr leidtun,
die Sterblichen so kommentarlos zurückgelassen zu haben.
Insbesondere Athónon hatte das nicht verdient. Was ihr
jedoch noch mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass
sie etwas anderes fühlte, etwas lange Vergessenes.
Srrig riss sie aus ihren Gedanken: „Wie gehen wir vor?“
Natürlich wusste Mèra, dass er Cerýllions Tod damit
meinte. Danach erst würden sie T’ral befreien, denn der
war noch weit entfernt und Cerýllion befand sich in ihrer
unmittelbaren Nähe, wie sie inzwischen beide spürten. Zu
zweit hätten sie eine gute Chance, ihn zu besiegen, wenn
418 er nicht vorgewarnt wurde. Mèras Tarnzauber, den sie
noch einmal erneuert hatte, sollte dafür sorgen.
Natürlich wusste Mèra außerdem, dass sie Srrig
nicht verheimlichen konnte, wie sehr ihre Gedanken
bei Cerýllion weilten, auf eine Weise, die ihn mangels
Gefühlen zwar nicht kränken konnte, die jedoch den
Plan, den Elfenzauberer zu töten, erschweren konnte.
„Er ist eitel und arrogant“, antwortete Mèra schließlich
auf Srrigs Frage. „Und insgeheim will er mich zurückhaben.
Ich spiele ihm etwas vor, besänftige seine alte Wut auf
mich, und Du tötest ihn, sobald ich Dir ein Zeichen gebe,
dass er abgelenkt genug ist oder schläft.“
„Du willst mit ihm schlafen?“, fragte Srrig ohne
Emotion, nachdem er die subtilen Untertöne in Mèras
Stimme interpretiert hatte.
„Wieso nicht?“, fragte Mèra achselzuckend zurück. „Er
fühlt genug für mich, das habe ich eindeutig gespürt, als
er geistigen Kontakt mit mir hatte. Seine Wut auf mich ist
nichts als ein Zeichen seiner Enttäuschung, seiner wahren
Gefühle für mich und der Stärke dieser Gefühle.“
„Und fühlst Du etwas dabei?“ Srrig blieb skeptisch.
Mèra nickte. Sie wusste, dass sie Srrig nicht belügen
konnte. Der Gedanke erregte sie tatsächlich ein wenig.
Doch sie wussten auch beide, dass das keine Rolle spielte,
denn der Plan würde funktionieren. Außerdem gönnte ihr
Srrig durchaus, einen jener seltenen Momente auszukosten,
in denen jahrtausendealte Wesen wie sie doch noch einmal
fühlen konnten.
Das Einzige, was Srrig ein wenig beunruhigte,
war die Tatsache, dass ausgerechnet der wahnsinnige
Elfenzauberer, der Hevanor, die Götter und auch Mèra 419
verraten hatte, der Grund für Mèras neuen Anflug von
Sehnsucht zu einem ehemaligen Gefährten war.
Mèra dachte an den katastrophalen Fehler, den ihr das
Nachgeben von Gefühlen eingebrockt hatte, als Athónon
sie überredet hatte, eine Wiederbelebung mit Jade zu
versuchen. Welche Katastrophe beschwor sie diesmal
herauf, da sie auch wieder auf ein Gefühl hörte, ein Gefühl
für Cerýllion, auf dem ihr Plan gegen ihn aufbaute?
Sie wusste, dass Srrig dasselbe über Gefühle im
Allgemeinen und Mèras Gefühle im Speziellen dachte, es
aber nicht aussprach. Einen anderen Plan hatten sie nicht.
Keiner ihrer Kämpfe war je leicht gewesen.

Zeeris hatte sich von Lauras Ohrfeige erholt, und


nachdem Athónon ihm die genaue Wirkung des
Fluches erklärt hatte, schmollte das Teufelchen auch
gar nicht mehr so sehr. Zu dritt saßen sie am Feuer,
ratlos wie zuvor.
Nicht nur Laura, auch Athónon schien mit Gängen und
Flüchen unliebsame Erinnerungen zu verbinden. Sein so
typisch verzogener Mund und seine reglosen Augenschlitze
verrieten, dass er in Gedanken woanders war.

Cesius, Xelos und Athónon standen in einem engen


Gang, Fackeln an den Wänden sorgten für Licht.
„Ich kann keine Feuerbälle auf den Untoten werfen! Ich
habe gerade ein antimagisches Feld vor uns ausgebreitet,
420 damit seine Zauber uns nicht treffen können! Es würde die
Feuerbälle genauso auflösen!“, schrie Xelos.
Xelos, der lange verstorbene Zauberer, war Jahre später
ebenfalls von einem Fluch getroffen und wahnsinnig
geworden. Athónon hatte ihn hinterrücks töten müssen, bevor
es umgekehrt geschehen wäre.
„Ich werde die wandelnden Rüstungen mit Galbrint
aufhalten!“, rief Cesius inbrünstig. Galbrint, das uralte
Schwert, dessen Seele an einen tollwütigen Kampfhund
erinnerte, flammte in Cesius’ Faust. Der Tempelkrieger
stürmte auf eine Schlachtreihe beseelter Rüstungen zu, die
ohne sichtbaren Träger auf die Gruppe zumarschierten,
schwere Schwerter und Schilde haltend. Cesius’ zerdellter
Wappenschild verblasste dagegen.
Während Xelos sich schweißüberströmt an eine Wand
lehnte, um sich von seinem Schutzzauber zu erholen, zielte
Athónon seelenruhig mit einem geweihten Pfeil auf den Kopf
des Untoten, der die Rüstungen zu ihrem unheiligen Leben
erweckt hatte. Der Gegner trug eine Plattenrüstung und
einen Helm mit heruntergeklapptem Visier.
„Ich wusste, das Antimagie-Feld würde den Rüstungen
nichts anhaben können. Der Kerl ist zu stark!“, fluchte Xelos
atemlos von der Seite.Athónon ignorierte ihn und schoss.
Der Pfeil raste genau auf das Gesicht des Gegners unter dem
Visier zu – und zerfiel kurz davor zu Staub. Der mächtige
Untote lachte mit hohler Stimme. Aus seiner Hand wuchs
eine mächtige Axt – jene verfluchte Waffe, welche die Gruppe
in diese vergessene Gruft geführt hatte.
Zahllose Skelette und Zombies waren des Nachts an die
Oberfläche gekrochen, um die Stadt Norhus zu terrorisieren,
weil zwei ahnungslose, ebenso einfältige wie gierige Zwerge 421
die Axt aus einem Heiligtum gestohlen und damit den Fluch
ausgelöst hatten.
Xelos schlug vor: „Ich könnte den heiligen Dolch von
Bruder Mond auf ihn schießen, indem ich die Klinge magisch
beschleunige. Dann treffe ich auf jeden Fall, und eine Waffe
desjenigen Gottes, der die Untoten am meisten hasst, sollte für
den Kerl nicht so leicht aufzulösen sein.“
Athónon nickte und reichte Xelos einen unscheinbaren
Dolch mit sichelförmiger Klinge.
Xelos kniete sich hin. Verschmitzt kommentierte er: „So
falle ich gleich nicht ganz so schmerzhaft um! Der Zauber
wird mir die letzten Reserven aussaugen.“
Athónon nickte und starrte ernst auf Cesius, der wie drei
Männer gegen die beseelten Rüstungen kämpfte. Der Gnom
wusste, er selbst mit seiner geringen Armreichweite und
seinem Kurzschwert war in diesem Gemetzel keine Hilfe.
Dass sein Bogen ebenfalls nichts ausrichtete, ließ ihn sich
zutiefst schuldig fühlen, so dumm diese Empfindung auch
sein mochte.
Xelos brauchte kaum Zeit, um den Dolch zum
Schweben zu bringen. „Ich muss jetzt das antimagische
Feld wieder auflösen, um den Dolch zu verschießen.
Wenn er nicht trifft oder nicht wirkt, kann der Kerl Euch
wieder verzaubern. Ich werde so oder so das Bewusstsein
verlieren, wenn ich die Magie jetzt fließen lasse“, erklärte
Xelos. Er druckste noch einen Moment herum, sagte
schließlich: „Also, viel Glück!“, und schloss die Augen.
Als der Dolch losschoss, kippte Xelos mit zuckenden
Gesichtsmuskeln in Athónons Arme.
422 Der Dolch traf den Untoten in den Helm und entlockte
ihm ein wütendes Brüllen. Rauchschwaden stiegen aus seiner
Rüstung auf. Doch dann packte der Untote den Dolch mit
der freien Hand und riss ihn aus dem Kopf. Er ließ ihn sofort
fallen, seine Hand dampfte, doch der Untote fiel nicht etwa
auseinander oder blieb gelähmt stehen, wie Athónon gehofft
hatte. Im Gegenteil.
Cesius stand schwer atmend zwischen den zerhackten
Rüstungen. Belebt oder nicht, sie lagen ihm in Einzelteilen
zu Füßen. Doch nun stand der Untote vor ihm und hob
siegessicher die verfluchte Axt. Selbst wenn er einen genauso
harten Kampf wie Cesius hinter sich gehabt hätte, wäre er
als Untoter dennoch nicht erschöpft gewesen. Cesius hingegen
hatte bereits Mühe, das Schwert zum Schlag zu heben, und
seine Rüstung hatte durch den Kampf etliche Löcher und
Kerben erlitten. Für einen kurzen Moment loderten seine
Augen in Galbrints Feuer.
Der erste Axthieb des Untoten traf Cesius vor die Brustplatte
und hinterließ eine weitere blutige Kerbe im Eisen. Hustend
taumelte der Tempelkrieger rückwärts und verschanzte sich hinter
seinem Wappenschild. Der zweite Schlag des Gegners spaltete
den Schild und hackte sich in Cesius’ Unterarm. Er schrie nicht,
zuckte bloß heftig zusammen. Für einen Moment war die Axt
verkantet, und Cesius nutzte die Chance, um mit Galbrint weit
auszuholen und dem Untoten den Schädel einzuschlagen. In der
Tat traf Cesius den Helm, doch wider Erwarten durchdrang er
ihn nicht, sondern hinterließ nur eine große Delle.
Mit seinem hohlen Lachen trat der Untote Cesius vor die
Brust, um seine Waffe zu befreien. Der Tempelkrieger stöhnte
und krümmte sich. Sein Gegner reckte die unheilige Axt in
die Luft. 423
Erst jetzt bemerkte Cesius die Kälte, die sich in seiner
Brustwunde auszubreiten begann. „Er entzieht mir
Lebenskraft!“, schrie er, halb panisch, halb wütend. Ein
weiteres Mal stürmte er vor, und als der Untote auf das
erhobene Schwert mit einer Parade reagieren wollte, wischte
Cesius das Axtblatt mit Galbrint weg. Schulter voran
rammte er den Untoten. Der prallte kaum zurück, doch das
überraschte Cesius nicht. Der Tempelkrieger ging sofort in die
Hocke und riss das Schwert herum – ins Bein des Gegners.
Galbrint blieb stecken, Cesius sah entsetzt hoch, sah die Axt
auf sein Gesicht zurasen. Doch da war Athónon mit einem
Wutschrei über ihm.
Der Gnom hatte den heiligen Dolch von Bruder Mond
aufgehoben und stürzte sich damit auf den Untoten. Athónon
balancierte auf Cesius’ Schultern und stach wild auf den
Gegner ein. Der brüllte und holte gegen Athónon aus. Doch
erlitt der Untote vor seinem eigenen Schlag so viele dampfende
Stichwunden durch die heilige Waffe Bruder Monds, dass er
zurückwankte und seine Stimme zu einem heiseren Keuchen
verklang. Mit hasserfülltem Röcheln stürzte er über Cesius
und Athónon zusammen. Der Gnom rollte sich gerade noch
zur Seite – die verfluchte Axt schlug neben seinem Kopf in
den Fels und blieb dort stecken. Eine Haarlocke Athónons
rieselte auf der anderen Seite des Axtblattes zu Boden,
während die großen Augen des Gnoms die bösen Runen der
Axt aus allernächster Nähe betrachten konnten. Der Fluch,
der auf der Stadt Norhus gelegen hatte, der größten der drei
Metropolen der Menschen, war gebrochen worden.
424 Cerýllion vergaß Zeeris schlagartig, noch bevor er das
Ende der Kellertreppe erreichte. Vor ihm stand Nachtmahr
mit dem Schwert von Theb Nor und fletschte faule Zähne.
„Ich spüre schon seit Tagen, dass etwas Großes
bevorsteht, aber dass es sich dabei um einen Geistertroll
handelt ...“, scherzte Cerýllion angespannt.
„Keine Worte mehr, Zauberer! Ich habe, was ich
wollte!“, grollte Nachtmahr und holte mit dem Schwert
aus, um Cerýllion zu köpfen.
Mitten in der Bewegung wirbelte er um die eigene Achse
und parierte den Schlag von Gaal, dem eisengepanzerten
Hauptmann der Sporks, der Nachtmahr anderenfalls mit
seinem gezackten Eisenschwert die Beine abgetrennt hätte.
Die zahllosen Augen des riesigen Sporks glühten dem
Untoten entgegen. Gaal hielt den Schild vor sich und die
gezackte Klinge drohend darüber, die Spitze zeigte genau
auf Nachtmahrs Kehle.
Nachtmahr hasste alle Zauberer, denn es waren Zauberer,
die ihn erschaffen und zu seiner untoten Existenz verurteilt
hatten, einer Existenz, in der er sich jeden einzelnen
Lidschlag darüber bewusst war, dass er eigentlich lange
tot sein sollte. Er spürte seinen Körper faulen und seinen
Geist vergeblich in ständiger Flucht kreisen, ohne je das
Totenreich zu erreichen. Seine Schöpfer waren Chimärier
gewesen, Cerýllion war ein Elf, doch das spielte keine
Rolle. Zauberer waren bei allen Völkern gleich. Sie scherten
sich nicht um ihre Verantwortung oder um die Gesetze
der Natur, die sie ständig brachen. Sie taten alles, was
sie irgendwie in der Lage waren zu tun. Genau wie jeder
andere Verbrecher auch. Genau wie die Verblendeten und
Maßlosen im Glorreichen Zeitalter, die beinahe Hevanor an 425
das Äußere Volk verloren hätten, an Piraten und anderen
Abschaum. Nachtmahr würde alle Zauberer auf Hevanor
vernichten, und das heilige Schwert in seiner Faust war für
ihn der göttliche Beweis für die Richtigkeit seiner Mission.
Der Geistertroll stand seitlich auf der Treppe, mit
dem Rücken an der Wand, um beide Gegner im Auge zu
behalten. Er wusste, dass er jetzt unter Zeitdruck stand,
denn auch wenn Cerýllion sich äußerlich nicht zu rühren
schien, bereitete er zweifellos einen Zauber vor.
Nachtmahr brüllte und sprang Cerýllion an, das
Schwert weit über den Kopf geschwungen. Gaal reagierte
fast gleichzeitig. Er machte einen ebenso weiten Satz
die Treppe hinab und schickte das eigene Schwert
am ausgestreckten Arm voraus. Es bohrte sich tief in
Nachtmahrs Rücken. Doch der Geistertroll ließ sich nicht
stoppen und riss das Schwert von Theb Nor mit aller
Gewalt auf Cerýllion nieder.
Es sprengte eine Kante aus der Steinstufe. Wo eben
noch Cerýllion gestanden hatte, war nur noch der Luftzug
seiner Bewegung gespalten worden. Der Elf stand direkt
neben Nachtmahr und blickte kalt zu ihm auf.
„Weißt Du eigentlich, wen Du vor Dir hast?“, zischte
Cerýllion und blieb ganz ruhig vor Nachtmahr stehen.
Gaal riss sein Schwert aus der Rückenwunde frei, doch
Nachtmahr ignorierte ihn immer noch.
Achselzuckend holte der Spork-Hauptmann erneut aus
und schlug die Klinge tief in den Schädel.
Nachtmahr wirbelte jetzt knurrend herum und entriss
dem Spork dadurch die Klinge, die immer noch in seinem
426 Kopf steckte. Zwischen Nachtmahrs unheimlichen Augen
blickte Gaal nun zudem die Spitze seines eigenen Schwerts
an. Instinktiv hob der Spork den Schild etwas höher.
Cerýllion legte Nachtmahr die Hände aufs modrige
Fell und grinste böse. Der Geistertroll heulte vor Schmerz,
seine Stimme spukte durch das ganze Gemäuer.
Das Schwert von Theb Nor hob Nachtmahrs Arm
und ließ den zuckenden Geistertroll sich zu Cerýllion
umdrehen.
Etwas konsterniert wich der Elf eine Stufe zurück und
blickte fordernd zu Gaal.
Der Spork zögerte nicht und packte sein Schwert,
dessen Griff nun wieder ihm zugedreht war. Er riss die
Waffe aus dem knackenden Trollschädel und schlug
Nachtmahr quer durch den Rücken. Stinkendes untotes
Blut spritzte an die Wände, die klaffende Wunde entblößte
Nachtmahrs Wirbelsäule, doch die Klinge von Theb Nor
in seiner Faust stieg höher und höher, bis sie fast mit der
Spitze an die Decke reichte.
Cerýllion wich eine weitere Stufe zurück und verschoss
einen gleißenden Blitz aus den Augen in Nachtmahrs
Brust. Es stank nach brennendem Fleisch und versengtem
Fell, doch gleichzeitig ruckte das heilige Schwert nieder
wie ein Henkersbeil.
Cerýllion hielt der Klinge beide Hände entgegen und
ließ Unmengen magischer Energie hindurchströmen, um
sie aufzuhalten. Seine Nase blutete, seine Unterarme und
Schultern verkrampften sich, doch die unbändige Kraft,
die er dem heiligen Schwert entgegensetzte, bremste es
tatsächlich kurz vor seiner Stirn. Diese Zeit reichte Gaal,
dem Geistertroll den Waffenarm abzuschlagen. Das 427
Schwert von Theb Nor fiel mit einem unnatürlich leisen
Klang auf die Treppe. Nachtmahr war noch immer nicht
vernichtet, sondern taumelte von einem Fuß auf den
anderen. Seine Wunden schlossen sich teilweise, aber
schief und verwachsen.
Cerýllion tupfte sich das Blut von der Oberlippe und
sah auf seine zitternden Hände. Sein Gesicht verzog sich
wütend. Trotz aller Erschöpfung jagte er einen weiteren
Blitz in den untoten Körper, worauf dieser völlig zu
verwachsen und zu zerfallen begann. Bald war nur noch
ein bestialisch stinkender Fellklumpen von Nachtmahr
übrig, aus dem einige schiefe Knochen und ein geborstener
Schädel ragten.
„Gehen wir“, seufzte Cerýllion, wischte sich den
Schweißstrom von der Stirn und wankte langsam die Stufen
empor. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung,
sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Gegenwehr
Nachtmahrs ihn in seinem Ego gekränkt hatte, ihn, den
nahezu allmächtigen Zauberer, für den er sich hielt.
Gaal stützte ihn nicht, denn der Spork wusste, dass
Cerýllion sich auf keinen Fall würde helfen lassen. In
diesem Punkt hatte der Elf das Wesen der Chimärier
angenommen: Wer nicht auf eigenen Beinen stehen
konnte, war nicht mehr würdig, frei zu leben.
„Nimm das Schwert des Trolls mit“, befahl Cerýllion.
„Und die Sporks sollen hier putzen.“
428 28

„Ich kann uns beide für eine Weile unsichtbar machen,


doch das würde mich erschöpfen“, raunte Mèra, während
sie und Srrig sich einer großen Höhle mit einer von Sporks
bewachten Festung näherten.
„Es wäre aber der einfachste Weg, hineinzugelangen.
Alle anderen Methoden wären auch erschöpfend“,
erwiderte Srrig. „Und mit einem offenen Kampf gegen die
Sporks würden wir Cerýllion warnen, selbst wenn es ein
leichter Kampf sein sollte.“
Mèra musste nicht einmal nicken, um zuzustimmen.
Sie legte dem Tigermann die Hand auf die Schulter.
Beide blieben reglos stehen und verschwanden im
nächsten Augenblick.

Cerýllion warf sich mit einem Seufzer auf sein


weiches Bett und wischte sich mit den Ärmeln über das
Gesicht. Er breitete die Arme und Beine weit aus und
schloss die Augen.
Im nächsten Moment öffnete er sie wieder. Neben der
Tür lehnte Mèra, gehüllt in ein hauchdünnes Seidenkleid,
weiß wie Schnee. Der Ausschnitt schlängelte sich über
ihre zarten Brüste bis zum Bauchnabel herab.
„Gefällt es Dir?“, raunte sie lasziv und schwebte
leichtfüßig auf sein Bett zu. „Extra für Dich hergezaubert.“
Sprachlos setzte Cerýllion sich auf und starrte seine
ehemalige Gefährtin an, die er über Jahrhunderte hinweg
zu hassen beschlossen hatte.
Mèra spreizte ein Knie weit ab und setzte es auf das 429
Bett, bevor sie langsam auf allen vieren zu Cerýllion
kroch. Er hatte sie verraten, betrogen und mehrmals zu
töten versucht. Aber sie konnte an den Gefühlen, die sie
noch hatte, einfach nichts ändern, und ersticken wollte
Mèra sie auch nicht, egal wie sehr ihr die Vernunft dazu
riet. Denn diese Reste ihrer Seele aktivierten wohltuende
Kraftreserven und erinnerten sie somit an eine verdrängte
Gewissheit: Ohne Gefühl kein Leben. Und sie musste
alles tun, um zu überleben, das war ihre Pflicht als
Dienerin der Götter.
„Wieso ...“, begann Cerýllion mit brechender Stimme,
aber Mèra legte ihm einen Finger auf den Mund. Ihre
knisternde Nähe, ihr frischer Duft und die Wärme ihrer
Haut zerbrachen Cerýllions Willen. Beinahe.
Er wollte sich nicht so leicht überwältigen lassen, obschon
er die ehemalige Liebe seines Lebens vor sich hatte.
„Ich töte Dich“, keuchte er und legte die Hand auf ihr
Herz – es raste. Kein tödlicher Zauber begann, Cerýllion
ließ die Hand einfach liegen, erneut überrascht.
Sie grinste wissend und schmiegte ihre Brust in seine
schlanke Hand. Er sah in ihre Augen, in die Fenster zu
ihrer Seele. Leidenschaft und Verlangen brannten dort.
Nun ließ er sich bereitwillig von ihr ins Kissen drücken.
„Ich wusste, dass Du eines Tages wieder klarsiehst“,
raunte er, von Jahrhunderten des krampfhaften Hasses
schlagartig befreit.
Auch er klammerte sich an seine wenigen Gefühle,
wie ein Ertrinkender an eine treibende Holzplanke. Der
Hass war mit Mèras Erscheinen abrupt ins Gegenteil
430 verkehrt worden, denn nun, da er sie leibhaftig vor sich
sah, sie riechen und berühren konnte, versank er im
Chaos seiner verkümmerten Gefühle und ließ sich ohne
Gegenwehr mitreißen. Der Damm seiner Verdrängung
war gesprengt worden.
Cerýllions scharfer Verstand dahinter schrie: „Das ist
eine Falle!“ Doch die Illusion, dass alles wieder wie früher
zwischen ihm und Mèra sein konnte, war zu stark für seine
zerrüttete Seele. Die übermächtigen Wogen, vom Damm
befreit, rissen ihn einfach mit.
„Du hast mich verraten!“, hauchte Cerýllion gequält im
Liegen und schloss die Augen.
Mèra ließ sich nicht mal ein kleines Stutzen ob dieser
völligen Verdrehung anmerken, sondern stützte sich mit
den Händen neben seinen Ohren ab und rieb ihre Hüfte
an seiner. „Aber Du hast unseren Jahrestag vergessen, oder
wo ist mein Geschenk?“, säuselte sie dabei und stupste
seine Nase mit ihrer an.
Fassungslos schaute Cerýllion ihr in die uralten Augen.
Bevor er etwas sagen konnte, berührte sie seine Lippen mit
ihren, so vorsichtig, als fürchtete sie sich davor.
Für einen Lidschlag hielt die Zeit an. Dann explodierte
die Lust in ihnen. Flirrende Lichterscheinungen und
schwebende Gesänge geisterten durch den Raum und
verschwanden wieder.

Noch immer unsichtbar, stand Srrig in einer Ecke des


Schlafzimmers und ließ die beiden nicht aus den Augen.
Sein Herz schlug ruhig, seine Miene war entspannt.
Er fühlte nichts und wartete auf Mèras Zeichen. Sie
würde mit eindeutiger Miene in seine Richtung blicken, 431
spätestens wenn Cerýllion eingeschlafen war. Er ließ sie
den Zeitpunkt bestimmen, damit sie in Ruhe Abschied
nehmen konnte.
Srrig dachte bei sich: „Zweitausend Jahre, und Cerýllion
ist tatsächlich noch genauso eitel und arrogant wie früher.
Von wegen, man kann sich ändern.“
So wie mit Cerýllion hatte er Mèra nie erlebt, als sie und
Srrig noch ein Paar gewesen waren. Vielleicht lag es an
der ungeheuren Zeitspanne, die Mèra keinen Gefährten
mehr gehabt hatte, vielleicht lag es aber auch an Cerýllion.
Auf jeden Fall spürte Srrig plötzlich eine gewisse Regung,
während er Mèras Stöhnen zuhörte und ihre katzenhaften
Bewegungen beobachtete: Neid.
Lautlos schlich er ans knarzende Bett und hob seine
unsichtbare Klinge, auch ohne Mèras Zeichen. Da sah er
das heilige Schwert von Theb Nor auf einem Schränkchen
ruhen. Es war zwar nicht unsichtbar, aber Srrig fühlte, dass
es nach Cerýllions Blut gierte und ihm so gut es konnte
helfen würde. Es wollte ebenfalls Rache, eine Emotion,
die Srrig gut verstand. Zweifellos konnte eine Klinge
dieser Macht ihre Aura tarnen, sodass Cerýllion es nicht
einmal dann magisch würde wahrnehmen können, wenn
er aktiv nach magischen Strömungen suchte. Und jetzt
war der Elf abgelenkt und suchte ganz sicher nicht nach
magischen Strömen und Mustern, außer nach denen, die
Mèra für ihn wob, mit denen sie ihn umgarnte, einlullte,
wohlig betäubte.
Ohne ein Geräusch legte Srrig die alte Klinge weg und
schmiegte die Finger um den Griff des heiligen Schwertes,
432 des neuen Verbündeten. Es wurde in Srrigs Unsichtbarkeit
einbezogen, verschwand scheinbar vom Schränkchen,
aber Cerýllion bemerkte es nicht. Die Rache an Cerýllion
vereinte die mächtige Klinge mit Srrig.
Mèras Stöhnen wurde lauter und wilder, und auch von
Cerýllion drangen nun Geräusche an Srrigs Ohren. Sie
erfüllten ihn mit einer weiteren Emotion: Wut. N’rracorr
regte sich.
„Wir werden gemeinsam Hevanor beherrschen!“,
stöhnte Cerýllion und rieb seine Finger um Mèras Taille.
Das heilige Schwert wurde von neuem Glanz umspielt.
Endlich kann ich den Sinn meiner Existenz erfüllen! Ich
verurteile Dich im Namen der Götter zum Tode, Cerýllion!
Für den Verrat an den Sterblichen, für den Verrat an der
Königin der Elfen und für die Kollaboration mit dem Äußeren
Volk, für die Unterstützung des Drachen Schattenwacht bei
der Verbannung der Vier Könige und für zahllose Morde an
Nachtelfen und anderen Wesen sollst Du nun den Tod finden!
Cerýllion riss die Augen auf und hielt Mèras Hände
fest. Mèra wurde ruhig und blickte hart zu ihm herab.
Plötzlich lag eine drückende Stille im Raum. Cerýllion
hörte ein Geräusch über sich – sein Kopf wurde sauber
abgetrennt. Binnen weniger Lidschläge war das halbe Bett
voller Elfenblut.
Der Meisterschüler des Drachen war auf einen der
ältesten Tricks überhaupt hereingefallen – aber nicht
aus Dummheit, sondern aus innerer Zerrissenheit. Aus
unsäglicher Einsamkeit.
Mèra saß einfach da und hielt die Augen geschlossen.
Eine einzelne Träne auf ihrer Wange verriet sie.
„Tag und Nacht, Wärme und Stärke, Du und ich ...“, 433
hatte er ihr vor langer Zeit ins Ohr geflüstert. „Gut und
böse“, hatte sie gedacht und geschwiegen.
Sie sah N’rracorr in Srrigs Augen blitzen, während
er auf die blutige Klinge stierte und bebte. Das heilige
Schwert hatte dem Tigermann seine Wut erlaubt. Damit
hatte es unwissentlich N’rracorr ein Schlupfloch in Srrigs
Geist angeboten.

General Veydrag stand in der ehemaligen Höhle von


Quirmó und ließ den Blick über die Leichen schweifen.
Eine plötzliche Erschütterung in den magischen Strömen
ließ ihn zusammenzucken. Ein mächtiges Wesen war
gestorben, verstand er, ein Wesen, das dem Imperator
wichtig gewesen war. Die Inferior flüsterten es Veydrag
zu, und aus allen Stimmen in seinem Kopf ragte eine
besonders bedrohlich heraus: Schattenwacht, der letzte
Inferior in dieser Welt, war wütend.
Nachdem das Brüllen in seinem Kopf sich besänftigt
hatte, erhielt Veydrag neue Befehle vom Imperator
persönlich. Veydrag würde sich an diesem Ort mit einem
weiteren Verbündeten des Drachen treffen, so gern der
General auch allein operierte. Doch jener Verbündete, ein
Angehöriger des Äußeren Volkes, würde notwenig sein,
um die Halbgötter zu stoppen, so hatte es der Imperator
vorhergesehen. Der General wagte es nicht, dem Imperator
zu widersprechen, Veydrag sei allein nicht mächtig genug.
Immerhin, jener Verbündete hatte bereits eine sterbliche
434 Dienerin der Halbgötter verflucht und gleichzeitig einen
Tempelkrieger als Blutopfer erhalten. Für solch gekonnte
Winkelzüge hatte Veydrag stets etwas Respekt übrig.

Athónon erinnerte sich nur undeutlich an einen Strand,


auf dem ein toter schwarzer Drache lag. „Wunschträume“,
scholt er sich und rieb sich die Augen.
„Du hast doch kaum geschlafen!“, wunderte sich Laura
und blickte Athónon vorwurfsvoll an, als er sich erhob. Die
Halbelfin saß am kleinen Feuer und stocherte mit einem
der letzten Äste aus Athónons Rucksack darin herum.
„Ich brauche nicht viel Schlaf“, brummte der Gnom und
streckte seinen knackenden Rücken durch. „Leg Dich hin.
Du bist jung und brauchst durchaus noch Schlaf“, befahl er.
In dem Moment kam Zeeris aus der Dunkelheit
zurückgeflogen und rief freudig: „Die grauen Viecher
haben sich verzogen! Wir können los zu den Nachtelfen!“
Athónons prüfender Blick ruhte auf Laura, dann meinte
er: „Erst rasten wir noch ein paar Stunden.“
„Nein! Wir müssen Melek töten und den Fluch
brechen!“, rief sie entschieden, sprang auf und schulterte
ihren Rucksack. „Wer weiß, wie lange er noch in der Nähe
ist! Ich könnte jetzt unmöglich einschlafen!“

Ein grau geschuppter Pýucaan, wie die Chimärier


sich selbst nannten, stampfte schwerfällig die weißen
Marmorstufen des Drachenturms empor. Kleine 435
Rußwolken stoben aus seinen Nasenlöchern, begleitet von
einem rasselnden Schnaufen. Der alte Pýucaan hatte ein
so breites Kreuz, dass seine Schultern die Marmorwände
streiften und kratzten. Seine verkümmerten Drachenflügel
wirkten lächerlich klein auf seinem Rücken und waren
völlig erstarrt. An seinem schwarzen Eisenpanzer glänzte
ein goldener Rand und auf der mächtigen Brust die
goldene Wappenfaust des Imperators. In seiner linken
Faust, welche die Größe eines Menschenkopfes hatte,
ruhte ein dunkler Streitkolben. Dessen breite Dornen
hatten die Größe von Menschenfingern. Die Krallen und
Gesichtsdornen des Pýucaan waren ähnlich dick, viel
dicker als bei anderen seiner Art. Dass sie abgesägt worden
waren auf die normale Länge, war leicht an der breiten
Schräge zu erkennen, mit der sie endeten.
Das rechte Auge des Pýucaan verdeckte ein abgewetzter
Lederstreifen. Auf der zernarbten Bronzehaut dieser
Gesichtsseite waren die zersplitterten Schuppen nicht
nachgewachsen. Das gesunde Auge strahlte hingegen
stark und jung wie eine goldgelbe Morgensonne in der
eingefallenen Höhle – ein überraschender Kontrast, von
dem angenommen wurde, dass er auf die überragenden
Zauberkräfte dieses Pýucaan zurückging, des obersten
Magiergenerals des Imperiums.
Hinter ihm trug ein jüngerer und weitaus kleinerer
Pýucaan eine unterernährte, nackte Elfin über der Schulter.
Ihre Haut war totenbleich. Schwarzer Flaum bedeckte
leidlich ihren Schädel. Sie war nicht gefesselt, doch ihr
apathischer Blick auf die Füße ihres Trägers verriet, dass
436 sie nicht fliehen würde. Vermutlich hätte ihr dazu ohnehin
die Kraft gefehlt. Ihre fahle Haut lag schlaff über den
Knochen. Blasse Runen liefen über ihre Arme und Beine.
Die beiden Pýucaani traten ins Freie. Kalter Wind
toste in dieser Höhe mit unermüdlicher Kraft und ließ
die roten Flaggen wild über den Zinnen flattern. Vom
höchsten Punkt der Hauptstadt Pýur aus, von den
Zinnen des verwaisten Drachenturms, waren die beiden
Soldaten fast auf Augenhöhe mit den zahlreichen Gipfeln
ihres Landes, welche die riesige Stadt im Westen und
Süden einschlossen.
Der marmorne Drachenturm war so groß, dass eine
ganze Kompanie darauf hätte antreten können. In der
Mitte befand sich nichts, nicht ein einziger Kratzer.
Der Imperator ließ jegliche Spuren seines Landens und
Abhebens regelmäßig durch Zauberei verschwinden.
„Leg sie ab und nimm Haltung an“, murmelte der
Magiergeneral mit einem Ton, der zwischen müder Unlust
und Wachsamkeit hin- und hergerissen war. Auch der
General straffte sich ein wenig, während der andere Soldat
eilig den Befehl ausführte.
Zunächst einer Statue gleich, blieb die Elfin am
Boden liegen, wie sie abgelegt worden war. Nur der
kalte Höhenwind sorgte in den Flaggen für Lärm und
Bewegung. Langsam erschlaffte die Elfin, mit dem Gesicht
in der Armbeuge endete ihre Bewegung. Sie schien bloß
noch ein weicher Klecks auf dem Marmor zu sein.

Der schwarze Drache schoss durch die Welt der Geister.


Hier war er hundertmal schneller als in der stofflichen
Wirklichkeit. Die feindseligen Geister, die magischen 437
Strudel und anderen Gefahren dieser Ebene konnten
ihm nichts anhaben. Auch die Orientierung fiel ihm
leicht: Sein Drachenturm glich in der Geisterwelt einem
Leuchtfeuer, das bis in größte Ferne sichtbar blieb, wenn
man es verstand, hier zu sehen.
In einem fernen Land eines anderen Kontinents, den
weder Pýucaani noch Niedere kannten, hatte der Drache
seinen Fleischhunger gestillt. Nicht, weil er keine näheren
Fleischvorräte gehabt hätte, nicht, weil seine Untertanen
ihn nicht dabei hätten beobachten dürfen, nein, aus Spaß.
Weil er es konnte. Und weil die Geschöpfe jenes fernen
Landes von keiner höheren Macht beschützt wurden.
Schattenwacht, in der Sprache der Pýucaani Rashkýnwor
genannt, liebte seine Auftritte, egal wo und in welcher
Funktion. In der Fremde trat er als feuerspeiende Bestie
auf, setzte Hütten in Brand, zerfetzte die Fliehenden im
Flug und fraß dann ein paar. Vor seinem Volk gefiel er
sich in der Rolle als ebenso weiser wie brutaler Drache,
als ebenso gerechter wie erbarmungsloser Imperator. Er
verkörperte auf perfekte Weise kaltes effizientes Handeln,
was die Pýucaani als edelsten aller Wesenszüge ehrten.
Gegenüber den Göttern musste er die Rolle eines
Sphärenhüters spielen, der in der Geisterwelt darüber
wachte, dass weder Inferior noch Angehörige des Äußeren
Volkes in die Welt der Sterblichen eindrangen. Diese Rolle
hasste er am meisten. Doch beherrschte er sie meisterlich.
Die Götter ahnten nichts von seinem doppelten Spiel. Sie
tolerierten sogar die Eroberungen der Pýucaani, nicht
zuletzt, um zu sehen, wie ihre eigenen Geschöpfe dabei
438 abschnitten. Sie hatten Schattenwacht zwar verboten, sich
wie früher persönlich in Kämpfe einzumischen, doch dieses
Scheinzugeständnis war dem Drachen leicht gefallen:
Sterbliche abzuschlachten war ohnehin ein Hobby, das
schnell langweilig wurde. Die winzigen Wesen konnten
sich ja nicht wehren. Zudem hatten sie gegen seine Soldaten
keine Chance im offenen Kampf und sein Eingreifen war
überflüssig, seit die Dämoniden besiegt waren.
Die heutigen Götter wussten noch, dass Schattenwacht
einst einer von ihnen gewesen war. Als die echten Inferior
in einer vergessenen Epoche auf Hevanor gewütet und die
Dahnrud beinahe aus der Wirklichkeit vertrieben hatten,
war einer der neugierigsten und ehrgeizigsten Götter
durch eine magische Seelenwanderung in den Körper
eines Jungdrachen geschlüpft. Viele alte Götter hatten
dem verwüsteten Hevanor da bereits den Rücken gekehrt.
Schattenwacht hatte seine Dracheneltern heimtückisch
ermordet und unerkannt unter den anderen Inferior gelebt,
bis zu deren Verbannung vor über siebentausend Jahren.
Seine Rechte als ursprüngliches Mitglied der Götter
geltend machend, war Schattenwacht als einziger Drache
auf Hevanor zurückgeblieben, doch glich dies einem
Exil. Nun schien die Zeit zu kommen, da die Inferior
zurückkehren sollten. Längst fühlte Schattenwacht sich
ihnen mehr als den Göttern zugehörig. Sie strebten nach
Stärke und waren keine verweichlichten Forscher.
Doch würden die Inferior seine wahre Geschichte
kennen, sie würden Schattenwacht bei ihrer Rückkehr
töten. Ein wenig musste er also auf den Willen der
Götter achten. Denn auch wenn die Inferior ihnen
440 nicht leichtfertig glauben würden, könnten die heutigen
Götter zweifellos auf die eine oder andere Art beweisen,
wer Schattenwacht wirklich war. Die wenigen alten und
mächtigen Götter, die noch immer hier waren, konnten
Schattenwacht zudem persönlich gefährlich werden.
Auch die Vier Könige kannten sein Geheimnis. Darum
mussten sie sterben, bevor er die Inferior zurückholte.
Ihr Tod durfte jedoch nicht direkt mit Schattenwacht in
Verbindung zu bringen sein.
Gemeinsam mit dem Äußeren Volk würden die Inferior
und Schattenwacht die letzten Götter fortjagen und
Hevanor unter sich aufteilen. Auch die Dahnrud würden
sich heraushalten, wussten sie doch, dass die Inferior die
älteren Rechte auf diese Welt besaßen und ihr Brudervolk
ohne die Hilfe der Götter vernichtet hätten.
Solange an den Urströmen der Magie nichts verändert
wurde, gab es für die trägen und willensschwachen Dahnrud
auch keinen Grund, sich einzumischen. Mit der Magie lebten
sie in Symbiose, auf deren Existenz waren sie angewiesen.
Zauberei störte sie jedoch nicht, denn selbst die größten
Zauber von Sterblichen waren bloß winzige Schwankungen
in den Magieströmen, welche die Welt umspannten. Jene
Ströme waren einzigartig in allen Welten und hatten die
Götter überhaupt erst vor neun Jahrtausenden hergeführt,
ebenso wie die Amdovenn später. Doch die Götter besaßen
viele Welten, um die sie sich kümmern konnten, und die
Magie war ein Phänomen, das sie inzwischen zur Genüge
erforscht hatten. Entsprechend war ihr Interesse an den
primitiven Lebensformen verebbt, die nun von den
heimatsuchenden Amdovenn bedroht wurden.
Der Drache näherte sich seinem Turm und damit der 441
Tagespolitik, die ihn erst kürzlich zu ärgern begonnen
hatte. Die große, aber primitive Menschenstadt Silberberg
könnte unter einem einzigen Ansturm der Pýucaani fallen,
doch Schattenwacht hatte bisher nicht angreifen dürfen.
In der Stadt, die sich unter der inoffiziellen Kontrolle des
lästigen Königskultes, Anbetern der Vier Könige, befand,
lagerte ein gefährliches Artefakt. Einmal ausgelöst, hätte
es die Fähigkeit, die Vier Könige in alter Stärke zu befreien
und zur Stadt zu beschwören. Zwei Könige waren längst
befreit. Ginge es nur um sie, wäre die Erpressung hinfällig.
Doch der König, den Schattenwacht wirklich fürchtete,
war T’ral. Der gottgleiche Feuerbringer. Srrig und Mèra
durften ihn auf keinen Fall erreichen.
„Kleine Narren! Bis zum Ende des Jahres habe ich das
Artefakt an mich gebracht und Euer Silberberg zertreten!“,
dachte Schattenwacht wütend.
Jegliche Operation gegen den Königskult war riskant.
Ein einziger Augenblick würde einem Zauberer reichen,
das Artefakt auszulösen, und dann würde es seinen Zweck
erfüllen. Möglicherweise würde das Aktivieren eines solch
bedeutsamen Gegenstands zudem das gequälte Stillhalten
der Götter beenden, würde sie zum genaueren Hinsehen
bewegen und an ihr Gewissen appellieren. Einige
weichherzige Narren unter ihnen suchten nur nach einem
Vorwand, ihresgleichen endlich umzustimmen und in
Schattenwachts Eroberungsfeldzug einzugreifen, ihn gar
seiner Position als Sphärenwächter zu entheben. Aus ihrer
Sicht wäre es eine Präventivmaßnahme, noch lagen keine
Beweise gegen Schattenwachts Intrigen vor.
442 Und dann war da noch das Runenexperiment. Es
dauerte viel zu lang. Schattenwacht wollte es längst
abgeschlossen sehen. Die Pýucaani experimentierten seit
vielen Jahren mit den Runen der Inferior. Sie zwangen
die Runen auf die Haut von Niederen, insbesondere
Nachtelfen, um keine eigenen Leute zu verlieren. Doch nur
auf der Haut von Lebewesen zeigten die Runen überhaupt
Reaktionen. Normalerweise wurden die Träger von
künstlich geschaffenen Inferior-Runen früher oder später
wahnsinnig. Jetzt war ein Wurf von Nachtelfen mit den
Runen auf die Welt gekommen, der länger als jeder andere
durchgehalten hatte. Überhaupt eigneten sich Nachtelfen
von allen Völkern am besten für magische Experimente,
vielleicht aufgrund ihrer magischen Herkunft. Mèra sei
Dank.
Nur noch wenige lebend geborene Mädchen waren im
ersten Monat mit irrem Kreischen gestorben. Die Magier
sorgten dafür, dass nur Mädchen geboren wurden, denn
ihnen schrieben sie weniger aufsässiges Verhalten zu.
Von den Überlebenden war bloß ein Drittel tot nach
einem ganzen Monat, das war imperialer Rekord. Einige
waren im ersten Jahr verendet, ein paar an den für die
Experimente üblichen Missbildungen, ein Mädchen
durch unkontrollierbare Zauberkraft und eins durch
schwindenden Geist. Doch einige waren nun, anderthalb
Jahrzehnte später, schon beinahe ausgewachsen, und die
Runen ließen sich immer noch nicht aktivieren.
Durch das Runenexperiment sollte den verbannten
Inferior ein Tor geöffnet werden. Schattenwacht erwartete
seinen Magiergeneral Tholark, der ihm ein Probeexemplar
eines der aktuellen Würfe präsentieren sollte, damit der 443
Imperator die Qualität der Runenkraft überprüfen konnte.
Nur wenn die Runen stark genug waren, konnte er Phase
zwei des Experiments einläuten, die Errichtung des Tores.
Erneut dachte er an Silberberg. Dass ein Haufen
Niederer es wagte, ihn, Schattenwacht, so zu ärgern, das
mächtigste Wesen der Welt! Er brüllte im Flug, noch
immer auf der surrealen Geisterebene. Viel zu schnell
schoss er auf seinen Turm zu.
In einem dunklen Traum hatte er zudem vorhergesehen,
dass die Niederen ihn mit einer jener Nachtelfinnen
erpressen würden, die seine Runen trugen. Sich dieses
Maß an Dreistigkeit auch nur vorzustellen, eine zweite
Erpressung, trieb ihn umso mehr dazu, Hevanor so schnell
wie möglich unterjochen zu wollen.

Der harsche Wind hatte auf einmal etwas Wehmütiges.


Das Marmorweiß schien bloß noch bleich und die
schwarzen Adern im Stein wurden zum Symbol für
eine unnatürliche Krankheit. Was es auch sein mochte,
was plötzlich im Wind lag – ferne Geisterstimmen, ein
böser Atem, eine dunkle Seele – das Etwas schnürte die
Kehlen der Pýucaani zu und ließ ihre Herzen angstvoll
beschleunigen. Nicht, dass sie je Angst gezeigt hätten,
doch ihre Körper reagierten.
Eine unsichtbare Kraft schoss plötzlich gegen sie. Für
einen Moment fühlten sie ihre Körper nicht, sahen sich
nur stumm zu, wie sie einen Schritt zurücktaumelten. Es
gab keine Farben mehr, bloß graue Schemen auf einem
unwirklichen Drachenturm mit schwarzen Pulsadern. Der
444 Wind wurde zu einem infernalischen Heulen. Plötzlich
stand alles still.
Dann riss der Himmel mit einem qualvollen Schrei
auf, Blut zuckte aus der Sphärenwunde und verschwand
wie Atemwölkchen im Winter. Aus der Wunde brach
der schwarze Drache wie ein Speer heraus, der Fleisch
durchstieß. Er riss Sphärenblut und Hautfetzen des
Himmels mit sich, die binnen eines Lidschlags auf seinen
Schuppen verdampften. Der Himmel schien eine Narbe
zu behalten, eine unnatürliche Wolkenformation, in der
lautlos braune Lichter blitzten.
Mit einem Schlag seiner mächtigen Flügel kehrte der
Wind zurück. Schattenwacht ließ sich den letzten Meter
zum Turmboden fallen. Der Marmor donnerte dumpf und
vibrierte unter den Füßen der beiden Pýucaani. Wie der
Drache die Flügel einfaltete und sich aufrecht hinsetzte,
sahen sie nicht bewusst, denn sie waren augenblicklich
gefangen von den glutroten Augen ihres Imperators, die
auf sie herabstachen. Auch den Hauch edlen Goldglanzes,
den die schwarzen Schuppen im Sonnenlicht besaßen,
nahmen sie nicht wahr. Aus dem Nasenloch des jüngeren
Soldaten quoll ein dicker Tropfen gelben Blutes, ohne dass
er es bemerkte.

Schattenwacht sprach ohne Gruß in den Köpfen seiner


Geschöpfe. „Was ist mit der Laborelfin? Wieso liegt sie
am Boden?“
General Tholark meldete: „Mein Imperator! Sie
stirbt, wie alle Mädchen, die sich dem Erwachsenenalter
nähern. Aber die Runen sind stark in ihr.“ Seiner
alten Stimme war keine Gefühlsregung in irgendeine 445
Richtung zu entnehmen.
„Die Runen sind blass und schwach!“, knurrte der
Imperator. Er betrachtete die Nachtelfin eingehend.
Tholark ließ seinem Herrn einen Moment Zeit dafür,
bevor er antwortete: „Herr, die Experimente belegen, dass
wir kurz vor einer stabilen Verzauberung stehen. Auch die
zerstörerische Wirkung auf die Gesundheit der Probanden
ist dann irrelevant. Sie müssen ja nicht lange überleben.
In einem anderen Labor wird außerdem mit einem noch
erfolgreicheren Wurf experimentiert, der über bessere
Gesundheit und deutlichere Runen verfügt. Dort gehen
ihnen jedoch die Exemplare aus, sodass ich von dort keins
mitbringen wollte.“
Für einen Moment erstarrte der Imperator. Nur seine
Augen loderten auf den General herab.
Brüllend und einen Flammenstoß in die Luft jagend,
holte Schattenwacht mit der gigantischen Pranke aus
und donnerte sie mit aller Macht auf die Elfin. Der
Marmor platzte, der Turm bebte. Unmittelbar vor den
Pýucaani stanzten die goldenen Krallen des Drachen
Löcher in den Stein. Unter seiner Pranke quoll das Blut
der Nachtelfin hervor, von ihrem Körper waren nur
noch die Beine zu sehen.
„Meine Geduld ist verbraucht!“, zischte die Drachen-
stimme in Tholarks Kopf, während die wütenden Augen
Schattenwachts auf ihn herabbrannten. Der Drache
schob den riesigen Kopf nah zu Tholark herab, sodass
der General die flirrende Hitze aus den Nasenlöchern
spürte. Schattenwachts Kralle näherte sich ihm wie ein
446 Schwert. „Diese Qualität reicht noch nicht. Ziehe eine
weitere Kompanie zur Forschung ab. Die Zeit drängt!
Wegtreten!“ Schattenwacht schnaubte voller Verachtung
durch die Nase. Heiße Asche und Glutkörnchen stoben
dem General ins Gesicht.
„Und nimm die Reste mit“, fügte der Drache hinzu.
Er hob demonstrativ die bluttriefende Pranke und leckte
sie sauber, während er die Pýucaani keines weiteren
Blickes würdigte.
29 447

Athónon hatte Laura mehr von seinen Visionen erzählt,


und immerhin befand sie sich in der Begleitung von
Halbgöttern. Doch Laura selbst war zu unbedeutend, um
als Hauptfigur in einem göttlichen Plan aufzutauchen –
hatte sie bis eben geglaubt. Jetzt aber hatte sie Mèra im
Traum gesehen und den Tod des Widersachers Cerýllion.
Vielleicht hatte Mèra ihr diesen Traum geschickt, das
wusste sie nicht. Doch sie hatte erfahren, dass Melek
wieder sichtbar war, da Cerýllion den Zauber nicht mehr
aufrechterhalten konnte. Und sie wusste, wo sie ihn
finden würde.
Ruckartig öffnete sie die Augen und setzte sich auf.
Schweiß benetzte ihre Stirn. Sie schnaufte durch die Nase
und strich ihre Locken hinter die kurzen Spitzohren.
Neben ihr glomm der winzige Rest des Lagerfeuers und
spendete kaum noch Licht oder Wärme. Laura inhalierte
die kühle Höhlenluft und lächelte grimmig.
Athónon, der auf einer Rast für Laura bestanden und
selbst angeblich keinen Schlaf mehr gebraucht hatte,
saß an die Wand gelehnt und schnarchte. „Du wirst
alt, mein Freund“, flüsterte Laura. Auch Zeeris schlief.
„Zu viele Flugstunden?“ Ihre Augen blitzten spöttisch.
Ihre Miene wurde traurig, denn sie mochte die beiden.
„Doch Du hast selbst gesagt, dass Schattenwacht durch
Deine Augen sehen kann, Athónon. Er kann mich
sehen! Wir gehen nun getrennte Wege. Ich töte Melek
und folge Mèra.“
448 Das magische Amulett um ihren Hals versuchte, sich in
ihre Gedanken zu drängen. Doch sie vertraute der Seele
dieses Dings so wenig, wie sie Srrig noch länger traute.
Das Amulett hatte sie und Athónon zu entzweien versucht.
Dass dies auf Drängen des Gnoms geschehen war, als er
noch dachte, er müsse sich opfern, ahnte sie nicht. Und
Srrig war ohne Abschied verschwunden, direkt nachdem
er sie als seine Schülerin bezeichnet hatte.
Laura riss das Artefakt ab und warf es in den Gang.
Nur auf Mèra wollte sie fortan hören, die gütige falsche
Göttin. Sie schnallte sich das Schwert um und angelte leise
eine Fackel aus Athónons Rucksack. Dann erhob sie sich,
vorsichtig, um Gnom und Teufelchen nicht zu wecken,
und wich einige Schritte von ihnen fort. Sie wandte sich
ab und ging allein in die Dunkelheit.
Athónon schlief schon lange nicht mehr und sah ihr nach,
regte sich aber nicht. Er hatte alles gesagt, was er zu sagen
gehabt hatte, und würde Laura nicht nachlaufen. Sie musste
ihren Weg finden und aus eigener Kraft daran wachsen.
Wenn ihr Weg heute endete, so musste Athónon den
Ratschluss der Götter hinnehmen. Doch die dickköpfige
Jugendliche würde nicht auf ihn hören, wenn er ihr zu
bleiben befahl, da sie sich längst anders entschieden hatte.
Als sie etliche Schritte zwischen sich und Athónon
gebracht hatte, zog Laura das Schwert und kreuzte es
mit der Fackel. „Mein Stolz wird immer schwelen. Und
obwohl er mich nicht verbrennen darf, soll er doch diese
Klinge wie Feuer führen und mir nützen!“
Laura spürte einen Widerhall ihrer Seele in der
Klinge, Wärme ging vom Eisen aus. Plötzlich schoss eine
Stichflamme aus der Spitze zu Boden und auch die Fackel 449
loderte hell. Die Flammen umtanzten das Eisen, bis Laura
weiterging. Der Griff brannte heiß, aber sie hielt ihn ganz
fest. Mit erhobener Fackel ging sie auf ihre Bestimmung
zu und freute sich, dass ihr erstes magisches Experiment
tatsächlich gelungen war.
„Nur allein wird Melek sich mir stellen“, flüsterte
sie. Und sie wollte ihn auch unbedingt allein besiegen,
wollte ohne Zweifel beweisen, dass seine Lebensweise
der ihren mitnichten überlegen blieb. „Rache für
Taffi!“, zischte sie und fühlte doch nur Rachedurst für
ihre eigenen Schmerzen. Srrigs Forderung nach mehr
Ehrlichkeit ihr selbst gegenüber schien über Mèras
Traumsendung vergessen.
In einer Höhle voller tropfender Stalaktiten blieb sie
stehen. Melek stand einfach da und war nicht überrascht,
dass sie ihn sehen konnte. Vor Müdigkeit hielt er sich
kaum noch auf den Beinen. Tiefbraune Augenringe,
Brandblasen und versengtes Haar entstellten sein
Gesicht. Die Kraft seines Hasses war erloschen. Laura
warf ihm die Fackel vor die Füße und knurrte: „Bringen
wir es zu Ende!“
Melek nickte, rührte sich aber nicht. „Du hast noch
eine Chance“, sagte er leise. „Lass uns gemeinsam ein
Kind aufziehen, was sagst Du dazu? Wir sind doch beide
verstoßene Waisen. Wir sind uns so ähnlich!“ So scharf sein
Verstand auch arbeitete, im Reden war Melek unsicher.
„Wir uns ähnlich?“ Laura unterdrückte ein verächtliches
Lachen. Sie schnaubte durch die Nase und schüttelte
langsam den Kopf. „Ich töte Dich.“
450 „Wir haben doch nur falsch angefangen. Lass uns
den Streit vergessen. Reden wir.“ Der schattenreiche
Fackelschein gab seinen Brandwunden etwas
Albtraumhaftes und seine Züge blieben die eines
verkniffenen Jungen, der kaltblütig mordete.
Lauras Mund öffnete sich unwillkürlich vor Staunen.
„Wie kannst Du es wagen, nach allem, was Du ...“
Er trat einen Schritt auf sie zu und warf seinen
Dolch weit von sich ins Dunkel der Höhle. „Ich meine
es ernst.“ Unbeholfen zuckte er mit den Schultern und
drehte die Hände hin und her beim Sprechen. „Ich habe
lange nachgedacht, wie es sein würde, Dich zu treffen.
Ich mag Dich sehr.“ Seine Miene blieb selbstgefällig,
seine Augen kalt.
„Du hast mich verflucht!“, schrie Laura ihn an und hob
das Schwert zum Schlag, stand aber noch außer Reichweite.
Meleks Schultern sackten zusammen und er ließ den
Kopf hängen. Wenn er sie mit Worten bloß narren wollte,
spielte er jetzt sehr überzeugend. „Alles tut mir so leid“,
raunte er und biss sich auf die Lippe. Sein Gesicht wurde
trauriger. „Ich hab nichts Gutes gelernt, so wie Du. Wir
sind uns trotzdem sehr ähnlich.“
„Wie kannst Du es wagen, mich derart zu beleidigen?“,
schrie Laura ihn an. „Wir haben gar nichts gemeinsam!“
Sie bebte.
Melek grinste dünn, denn er sah in ihren Augen,
wie klar ihr war, dass er recht hatte und sie es nur nicht
wahrhaben wollte. „Ich will Dich nicht beleidigen“,
erklärte er. „Wir sind wie Tag und Nacht, aber manche
Dinge haben wir doch gemeinsam. Unseren festen Willen,
eigene Wege im Leben zu finden, beispielsweise. Niemand 451
hat uns Vorschriften zu machen. Wir genießen das Gefühl
von Macht. Wir sind Außenseiter und Waisen.“
Lauras Schwert sank herab. „Du hast mich verflucht!“,
wiederholte sie hasserfüllt. Melek trat so nah an sie heran,
dass er einen Arm ausstrecken und ihre Schulter berühren
konnte. Sie zuckte jedoch zurück, als seine Fingerspitzen
ihr Kettenhemd streiften. Sofort hob sie das Schwert
wieder und funkelte ihn böse an. „Ich muss Dich töten,
um den Fluch zu brechen! Verdient hast Du es sowieso!“
Für einen Augenblick blitzten Meleks Augen böse
und er grinste angriffslustig. Doch schnell zwang er sich
wieder zur Ruhe und blieb gelassen stehen. „Ja, ich habe
viel Böses getan“, raunte er. „Und doch sind so starke
Seelen wie unsere äußerst selten. Kannst Du nicht jeden
Verbündeten gebrauchen?“
Schritt um Schritt wich Laura zurück. „Das meinst
Du nicht ernst!“, zischte sie und schüttelte ungläubig den
Kopf, das Schwert schützend vor sich.
Melek blieb reglos stehen. „Doch“, antwortete er
trocken. Seine Miene wurde immer verkniffener, presste
selbst das letzte feine Grinsen aus seinen Mundwinkeln.
„Es tut mir wirklich leid! Ich möchte nicht mehr so leben
wie bisher. Ein böser Geist brachte mich als kleines Kind
dazu. Seine Besessenheit wirkt bis heute nach, aber sie wird
schwächer. Wir brechen Deinen Fluch irgendwie und Du
verhängst eine Strafe über mich. Aber lass uns nicht mehr
gegeneinander kämpfen.“
„Irgendwie den Fluch brechen, was?“, zischte Laura.
„Die einzige Lösung ist Dein Tod.“ Sie biss die Zähne
452 zusammen, doch konnte sie sich nicht dagegen wehren,
dass Srrigs Lektion über das Töten ihr durch den Kopf
schoss. Melek stand unbewaffnet und verbrannt vor
ihr und behauptete, als Kind von einem Geist zu dem
gemacht worden zu sein, was er war. Angeblich wollte
er sich ändern. Wenn sie ihn jetzt erschlug, wäre sie eine
kaltblütige Mörderin und nicht besser als er.
Ihr dunkles Erbe wogte auf. Rachedurst ließ ihre
Schwertfaust zucken. Aber ihr Willen war stärker und
klammerte sich an Srrigs Mahnung. Sie wollte nicht kalt
wie Stein werden, nur um eine Kriegerin zu sein. Lieber
wollte sie Großmut beweisen und einem Gefallenen die
Hand reichen, um ihm eine zweite Chance zu geben.
Melek schien ihr aufrichtige Reue zu zeigen.
Sie nahm die Rolle der Überlegenen an, die Meleks
Leben in der Hand hielt. „Wie brechen wir den Fluch?“,
fragte sie streng und hob das Kinn, um auf den
Unterlegenen herabzublicken.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Melek ehrlich und näherte
sich um einen weiteren Schritt. Sofort versteifte Laura
sich, ihre Augen blitzten warnend auf. Er unterschritt
dennoch ihre gewünschte Distanz und berührte sie
erneut an der Schulter. Diesmal hielt sie still und starrte
auf seine Hand. Ihre Klinge schwebte zwischen seinen
Beinen. Trotzdem kam er noch näher und schaute ihr
ernst ins Gesicht. Seine Arroganz war einem stummen
Flehen gewichen. Seine zweite Hand berührte ihre andere
Schulter. „Gib mir diese Chance, bitte!“, flüsterte er. Sein
Atem stank und seine Mundwinkel zuckten unmerklich
nach oben.
Laura glaubte, ihn nun durchschaut zu haben. „Du 453
willst mich bloß reinlegen!“, schrie sie und schlug ihm die
linke Faust ins Gesicht. Ihr war selbst noch unklar, weshalb
sie seinem Treiben kein Ende mit der Klinge setzte. Melek
musste sich mit einem Schritt zur Seite abfangen und
hielt sich den Kiefer. Die Wut in seinen Augen verrauchte
jedoch schnell. „Ich lüge Dich nicht an!“, beteuerte er.
„Aber wie brechen wir den Fluch, wenn nicht durch
Deinen Tod?“, beharrte Laura und drohte ihm mit
dem Schwert.
„Ich weiß es nicht“, gab Melek zu und senkte den Blick.
„Aber ich bin sicher, dass einer Deiner Begleiter so etwas
weiß, oder einer der Nachtelfen.“
„Mèra ist fort. Aber Myándirel ist ein großer Zauberer
und kennt sich damit aus“, fiel Laura ein. Sie starrten
einander lange an. Tatsächlich entdeckte sie ihr eigenes
inneres Feuer in seinen Augen. Sie beide gewannen Kraft
aus ihrem Hass und Stolz. Melek trat nah vor Laura und
schob seine Hände um ihre Hüfte. Das Schwert hing nur
noch locker in ihrer Faust. Sie erschrak vor sich selbst, weil
sie ihn gewähren ließ, rührte sich aber nicht. Seine rissigen
Lippen kamen näher, sein Atem stank nach faulem Zahn.
Plötzlich griff er ihre Locken, riss ihren Kopf zur Seite
und biss in ihren Hals. Seine andere Hand stieß unter
das Kettenhemd und packte ihre Brust. Das Schwert
fiel zu Boden. Lauras Hände streiften über Meleks
Rückenmuskeln. Einen Schenkel rieb sie an seinem. Melek
hob sie an, rammte sie gegen die Höhlenwand und presste
die Hüfte gegen ihre. Laura verleugnete ihre Gier nach
Gewalt nicht länger, mit der sie früher so oft angeeckt
454 war. Ihre Herzen rasten, atemlos verschlangen sie sich
ineinander. Sie warfen sich gegen den Fels und zu Boden,
kratzten sich blutig und wurden zu einem zuckenden und
stöhnenden Fleischknäuel.

Lauras Bauch und Brüste wurden eisig auf dem Fels. Ihre
Haut brannte von den tiefen Kratzern, die spitze Steine und
Meleks Fingernägel gerissen hatten. Melek lag nackt auf
ihrem Rücken und schlief endlich, hielt aber noch immer
ihre Handgelenke fest. „Was habe ich getan?“, stöhnte sie
und riss die Augen auf. Das Kettenhemd lag neben ihr,
die Fetzen ihrer Tunika und ihres Brusttuches hingen
an ihren Armen. Hose und Lendentuch hingen an ihren
Knöcheln, die Stiefel trug sie noch. Nur langsam sammelte
ihr Bewusstsein sich wieder und bestätigte, dass sie nicht
bloß einen unappetitlichen Traum gehabt hatte. Sie war
abermals von ihrem verhassten Menschenerbe überwältigt
worden, ihre Fassade hatte nicht standgehalten. Melek
hatte gewonnen und sie hatte sich nicht mal gewehrt. Mit
tränenden Augen schüttelte sie seinen schlaffen Körper ab,
sprang auf und zog sich so weit an, wie ihre Kleidung nicht
zerrissen war.
Melek öffnete die Augen und lächelte sie verschlafen an.
Laura rannte zu ihrem Schwert. Zähnefletschend stürmte
sie auf Melek los, aber der blieb liegen und hob abwehrend
die Arme. „Ich dachte, wir hätten uns vertragen?“, fragte
er vorwurfsvoll und schien ehrlich überrascht. „Lass uns
lieber ein Feuerchen und Tee machen!“, schlug er vor.
Seine Augen blitzten dämonisch, verrieten seinen Spott 455
und sein Triumphgefühl.
Laura wankte rückwärts, ihre Knie wurden weich.
Ungläubig blinzelte sie ihre Tränen fort, sie schniefte und
schluckte. Sie hatte sich geirrt: Sie wäre keine kaltblütige
Mörderin, wenn sie ihn tötete. „Wenn irgendjemand den
Tod verdient, dann Melek!“, schoss ihr in den Kopf.
Srrigs Lektion galt nicht für diesen Fall. Sie wäre die
legitime Richterin und Henkerin eines Monsters, tat
ihre Pflicht und würde sich obendrein von seinem Fluch
befreien. Nur das Ergebnis zählte für sie.
Zwar galt ein Teil ihrer Wut sich selbst, weil sie dem
widerwärtigen Erzfeind verfallen war. Doch sie lenkte
diese Wut auf Melek um. Fieberhaft suchte sie einen Weg,
ihre Skrupel zu verlieren, ihn zu töten, aber ihr Gesicht
dabei zu wahren – ihre Heldenfassade, die sie krampfhaft
zu erhalten suchte.
Er würde weitermorden, wenn sie ihn nicht aufhielt.
Denn gerade weil er ihr so ähnlich war, würde er sich
keinesfalls von einem Tag auf den anderen ändern. So wenig,
wie sie es konnte. Plötzlich schien ihr alles sonnenklar.
Wegen ihres väterlichen Erbes, das sie Melek so ähnlich
machte, war sie ihm zuvor unterlegen. Doch nun drehte
sie den Spieß um. Sie nutzte das Wissen über ihn, das sie
ebenfalls jenem Erbe verdankte, um sein Schauspiel zu
enttarnen und seinen Tod zu rechtfertigen, ohne selbst
dem Bösen zu verfallen. Sie verwandelte ihre dunkle
Seite in etwas Nützliches, so wie sie zuvor ihren Stolz als
zusätzliche Kraft zu nutzen versucht hatte, anstatt sich
vom Stolz in Schwierigkeiten bringen zu lassen.
456 Laura kam bebend näher und fletschte die Zähne.
Melek sah die Mordlust in ihren Augen und schob sich auf
die Knie. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Wie Du meinst!“,
zischte er und sprang zu seinem Dolch. „Lass mich gehen,
dann siehst Du mich nie wieder.“ Ich hoffe auf ein Kind von
Dir und dass Du es großziehst, um meinen überlegenen Weg
zu würdigen und meinen Fortbestand zu sichern. „Aber greif
mich an und ich töte Dich.“

Laura drängte ihren Hass zurück und wurde ruhig.


Kalt, entgegen Srrigs Warnung, Gefühle im Krieg zu
ersticken. War ein gefühlloser Halbgott ein schlechter
oder gerade ein guter Lehrer für solch eine Frage?
So sehr sie verabscheute, was sich unter Srrigs Oberfläche
befand, seine Lektion bei den Verwundeten hatte sie viel
gelehrt. Zudem war sie besser bewaffnet und Melek müde.
Er spürte sofort an Lauras festem Blick und ihrer geraden
Haltung, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatte. Melek
zögerte, wurde unruhig, fuchtelte mit dem Dolch herum
und versuchte, Laura mit einem gehässigen Grinsen zu
provozieren. „An den Gestank Deiner Füße werde ich
mich immer erinnern!“, feixte er.
Laura schwieg und rührte sich nicht. Meleks Unruhe
und seine verkrampfte Haltung bestärkten sie darin,
dass er den Kampf schon verloren hatte, bevor sie die
Klingen kreuzten.
Er sprang vor, doch dass sein Dolchstich nur eine Finte
war, erkannte sie an der unentschlossenen Armbewegung.
Sein Tritt, der unter dem Dolch hervorschoss, überraschte
sie nicht. Sie riss das Schwert zur Seite in seinen
unbedeckten Innenschenkel, zog es mit einem Schnitt 457
zurück und sah gleichzeitig gelassen auf die Dolchspitze
vor ihrem Gesicht. Als Melek vor Schmerzen schrie und
mit dem Dolch ihre Lippen zerschneiden wollte, lehnte
sie sich zurück und er verfehlte sie. Laura jedoch schnitt
über seinen Faustrücken und drückte die Hand weg. Fast
wäre ihm der Dolch entglitten. Sie schnellte vor, außen an
der blutenden Hand vorbei, hielt mit der Linken seinen
Ellbogen fest und spuckte ihm ins Gesicht.
Unter ihrer Linken schoss ihr Schwert vor, um Melek
aufzuspießen, doch er taumelte haarscharf zurück und fluchte.
Mit einsetzender Betäubung starrte er auf die Blutfontäne,
die aus seinem Innenschenkel schoss. Laura machte stumm
einen Schritt rückwärts. Er hinkte ihr voller ungläubigem
Hass nach, da schlug sie unvermittelt eine Kreisbewegung mit
dem Schwert und trennte ihm den Daumen der Waffenhand
ab, sein Dolch klirrte zu Boden. Melek starrte auf die zweite
Blutfontäne, die seinen Körper verließ. Bevor er entsetzt
schreien konnte, brüllte Laura wie eine Löwin, sprang hoch
und donnerte ihm die Stirn auf die Nase.
Melek sackte in die Knie. Er leckte das Blut von
den Lippen, das aus seiner Nase floss. Er grinste, sah
benommen zu Laura auf und flüsterte: „Ich kann ruhig
sterben. Ich habe Dich trotzdem besiegt und vom Leben
alles bekommen, was ich je wollte. Wenn Du es nicht tust,
wird die Wanderin mich töten. Bloß wird sie weniger
gnädig sein. Also tu es!“
Laura schrie unmenschlich. Sie nahm den Schwertgriff
in beide Fäuste und hackte Meleks Körper in Stücke, bis
sie die Klinge vor Erschöpfung kaum noch heben konnte.
458 Ihr Fluch war längst mit seinem Blick zerbrochen. „Unser
Vater soll verdammt sein! Aber er gab mir auch die Kraft,
Dich zu durchschauen und dadurch zu besiegen, Bruder!“,
keuchte sie. Dass sie nicht wirklich verwandt waren, spielte
für Laura keine Rolle mehr.

Die Halbelfin erhob sich und schnaufte schwer. Sein


Blut trocknete in ihrem Haar, im Gesicht und überall auf
ihrem zerkratzten Oberkörper. Erst als sie wieder ruhig
dastand und durch die Nase atmen konnte, strich sie ihre
Klinge an ihrer Hose sauber und würdigte Melek keines
weiteren Blickes.
Die Henkerin hatte das Urteil vollstreckt, die Hinrichtung
war beendet. Laura hatte es sich nicht leicht gemacht. Um
so höher hatte sie sich dafür über Meleks Wahn und ihre
eigene dunkle Seite erhoben. Weiteren Hass ließ sie nicht
zu. Sie nahm die Fackel, legte sich das Kettenhemd über die
nackte Schulter und verließ Meleks Grabhöhle.

Athónon und Zeeris eilten Laura entgegen, als sie ihren


Fackelschein sahen. Schweigend und streng sah Athónon
das Blut auf ihrer Haut an.
„Melek ist tot und der Fluch gebrochen“, verkündete
Laura kalt und ließ das Kettenhemd fallen. „Hast Du
noch Kleidung übrig? Das Eisen scheuert auf der Haut.“
Athónon nickte und zog eine gelbe Tunika aus den Tiefen
seines Rucksacks. Er faltete es auseinander und präsentierte
ohne Lächeln den aufgestickten Fisch, der gelegentlich
magisch blubberte. „Ein Erbstück meines verstorbenen 459
Mentors Tugibenn“, erklärte der Gnom sachlich.
Zeeris vergaß den grausigen Anblick der Halbelfin und
betrachtete eingehend den Fisch. „Das hast Du in all der
Zeit bei der Einsiedlerhöhle aber nicht getragen!“, wunderte
sich das Teufelchen. „Hatte das Ding fast vergessen!“
Laura lachte leise, doch kamen ihr gleichzeitig
die Tränen.
„Melek hatte den Tod mehr als verdient“, knurrte Athónon.
Er ignorierte Zeeris und reichte Laura die Fischtunika.
„Ein Geist hatte ihn zu dem gemacht, was er war,
wusstest Du das? Ich frage mich, wie schuldig er letztlich
war.“ Laura zog die Tunika an und setzte sich zu Athónon,
der ein neues Feuer schürte.
„Er war frei genug, um Schuld auf sich zu laden“, meinte
der Gnom. „Aber das spielt keine Rolle. Du hast seinem
Tun ein Ende gesetzt und damit vielen Opfern den Tod
erspart. Denen wäre es egal gewesen, ob sie durch das Böse
selbst oder sein Werkzeug gestorben wären.“
Laura nickte schwermütig und stützte das Kinn auf die
Fäuste. Athónon fügte spöttisch hinzu: „Du wolltest doch
eine Heldin sein. Niemand hat gesagt, das sei leicht.“
„Nur das Ergebnis zählt, nicht wahr?“, fragte sie
sarkastisch. „Der beste Vorsatz, der schönste Charakterzug
ist wertlos, wenn er zu nichts führt.“
„Lass Dir von Srrig keine Angst machen. Zu kalt
bist Du erst, wenn Dir sogar das Ergebnis egal ist.
Alles andere ist genau die Stärke, die Du brauchen
wirst auf unserem Weg als Götterdiener. Verwechsle
Güte nicht mit Schwäche. Wer sich hinter Moral und
460 Persönlichkeit versteckt, ist zu schwach für die Bürde,
den Vier Königen zu folgen.“
Laura suchte lange nach Worten und schaute mit
großen Augen ins Feuer. „Du hast mich mal gefragt, ob es
etwas Böses in mir ...“
Entschieden fiel ihr der Gnom ins Wort und machte
eine schneidende Handbewegung. „Niemand ist nur gut
und kein Sieg ist makellos. Es gibt nichts Böses in Dir,
weil Du nicht so sein willst.“

Zeeris fragte: „Willst Du Dich gar nicht sauberputzen?“


Mit spitzen Krallen zupfte er einen verkrusteten
Blutklumpen aus ihren Locken.
Die Halbelfin ließ den Kopf sinken. Mèras und Athónons
Bitterkeit sprach aus ihr, so sehr sie auch diesem Gefühl
auszuweichen versucht hatte. „Sein Blut wird immer an mir
kleben, egal wie oft ich mich wasche.“ Dass sie damit auch
meinte, Melek zunächst verfallen zu sein, verriet sie nicht.
Sie redete sich ein, Opfer eines bösen Zaubers geworden
zu sein, so wie Melek zuvor hatte unsichtbar werden
und sie verfluchen können. Abermals verdrängte sie eine
Wahrheit über ihr Inneres. „Nur das Ergebnis!“, ermahnte
sie sich stumm. Melek war tot und Laura hatte dem Bösen
widerstanden, auch wenn sie kurz gewankt hatte.
„Ich werde beladen mit Schätzen in meine idyllische
Heimat zurückkehren und bejubelt werden, jawohl!“,
scherzte sie und lachte. Zeeris applaudierte eifrig. Alles
Dunkle in ihr wollte sie im Feindesland lassen.
Athónon hob warnend den Zeigefinger vor ihrer
Nase. „Werde nicht maßlos in Deinen Wünschen. Die
Prophezeiung von Theb Nor verdammt so etwas zu Recht 461
als den Anfang vom Ende der Welt.“
Zeeris verdrehte die Augen und gähnte demonstrativ,
aber Athónon ließ sich von seiner Predigt nicht abbringen.
„Natürlich kann man wegsehen, der Untergang kommt
schleichend. Wenn man den Grund der Schlucht erkennt,
ist man aber schon den halben Weg hinabgestürzt. Je mehr
Du Deinem naiven und krampfhaften Heldenwunsch
opferst, desto leichter wird es für unsere Feinde sein, Dich
zu besiegen. Leg ihn endlich ab. Vergiss die Zukunft.“
„Athónon, was redest Du da? Ich verstehe kein Wort“,
maulte Laura und Zeeris kicherte hinter vorgehaltener Hand.
„Genau das ist das Problem“, fuhr Athónon
stirnrunzelnd fort. „Sobald Du es verstehst, ist es zu
spät. Geschichte wiederholt sich unaufhörlich, sagt die
Prophezeiung. Bleib wie Du bist und versuche nicht, mit
Gewalt größer zu werden.“
Laura schwieg pikiert, sie verstand ihn noch immer
nicht. Athónon seufzte und wurde deutlicher. „Wieso
musstest Du wieder allein loslaufen, Mädchen? Hätten
wir Melek zu dritt gestellt ... Aber nun wiederholst Du die
Geschichte Deiner Mutter, genau so, wie sie es Dir hatte
ersparen wollen. Hättest Du nicht immer mehr sein wollen,
als Du bist, hättest Du nicht mal Dein Dorf verlassen.
Die Fehler der Sterblichen wiederholen sich unaufhörlich,
sagte Theb Nor, weil sie nie zufrieden sind und immer
mehr wollen. Mehr Gold. Mehr Wissen, wie Cerýllion
über die Zauberei. Mehr Land, wie die Amdovenn, die
ihre Heimat verspielten. Mehr Macht, wie Schattenwacht.
Mehr Heldentum, wie Du. Doch es gibt kein strahlendes
462 Heldentum. Das sind alles bloß verklärte Geschichten. Je
länger Du dieser Illusion nachrennst, desto leichter machst
Du es dem Feind.“
Sie nickte. Wäre sie kaltblütig gewesen, hätte sie zwar
noch mehr gegen Srrigs Lektion über den Krieg verstoßen,
aber sie hätte Melek sofort erschlagen und er hätte sie nicht
verführen können. Doch nur in ihrer noblen Wunschrolle
war sie über ihr dunkles Erbe hinausgewachsen.
Laura schüttelte den Kopf so heftig, als wollte sie
Athónons Worte abschütteln. „Der Drache kann mich
durch Deine Augen sehen. Wir müssen uns trennen!“,
verlangte sie. „Ich gehe zu Mèra, der ich auch den Traum
von Melek verdankte. Sie hat mich dadurch zu sich
gerufen, denke ich. Vielleicht teilt sie Deine Meinung vom
Heldentum nicht, Athónon.“
Ihre Ignoranz und ihre Worte trafen ihn wie einen Hieb
ins Genick. „Ich weiß keine Lösung gegen Schattenwachts
Spionage“, räumte er ein. „Aber Deine Lösung war auch
nicht gut, wie Du zugeben musst, Mädchen!“, knurrte
er und fuhr demonstrativ mit dem Zeigefinger über das
getrocknete Blut an ihrer Wange. „Jetzt gehen wir zu den
Nachtelfen zurück.“
„Nein.“ Sie streckte sich und stand auf. Ihr Blick traf
Athónons. „Ich gehe nicht rückwärts. Ich habe Melek
besiegt. Ich habe meine Rolle in der Welt selbst bestimmt,
ich bin frei. Ich bin jetzt die Jägerin und nicht länger die
Beute. Du bist nicht mehr der Einzige, der Botschaften von
Mèra empfängt, Gnom. Ich folge ihr und werde an ihrer
Seite kämpfen, und soll ich meiner Mutter nachfolgen,
dann sei es so. Du aber solltest zu Deiner Einsiedlerhöhle
zurückkehren, dann kann Schattenwacht sich den blanken 463
Fels ansehen!“
Laura reckte das Kinn und biss die Zähne zusammen,
doch sie hielt seinen Augen lang genug stand. Dann riss sie
den Blick von Athónons glühender Miene und stampfte
an ihm vorbei. Athónons Gesicht begann zu zittern, er
fletschte die Zähne. Als Laura vier Schritte hinter ihm war,
brüllte er: „Nein! Bleib stehen! Das lasse ich nicht zu! Kein
weiterer Gefährte wird sterben, weil ich nicht zur Stelle
war! Ich habe genug Gräber geschaufelt! Soll der Drache
doch sehen, wie ich Dich beschütze!“
Sie wurde nicht einmal langsamer. „Ich muss nicht
mehr beschützt werden!“, zischte sie hochmütig. „Egoist!“
Das ihm! Das war zu viel. Athónon sprengte ihr nach,
sprang hoch und zog sie an den Locken mit solcher Kraft
zurück, dass sie von den Füßen gerissen wurde und auf den
Rücken krachte. Sie holte mühsam Luft. Ihr Hinterkopf
lag vor dem Fels geschützt in seiner Hand. Zornig packte
sie den Griff ihrer Waffe.
„Bitte“, knurrte Athónon und funkelte sie immer noch
streng an, doch mischte sich in seinen Blick ein Flehen.
„Vertrau mir“, bat er. „Wir müssen zu den Nachtelfen, ob
Schattenwacht ein Auge darauf hat oder nicht. Meine Zeit
des Abschieds kommt noch früh genug.“
Laura schluckte und ließ die Waffe los. Die beiden
umarmten sich innig. Athónon raunte: „Wir werden
Mèra wiedertreffen, daran habe ich keinen Zweifel. Aber
erst müssen wir an ihrer Stelle die Nachtelfen vor den
Grauen beschützen. Diese Aufgabe hat sie uns in blindem
Vertrauen hinterlassen, das ist mir jetzt klar, und wir
464 wollen sie doch nicht enttäuschen. Manchmal vergessen
die Vier Könige, dass für uns Sterbliche die Dinge nicht
so offenkundig sind wie für sie. Du musst lernen, ihre
Absichten zu lesen, auch wenn sie nichts sagen. Du bist
hier, also bist Du bereits ihre Dienerin. Du bist mitnichten
frei, bloß weil Du glaubst, Dich durch Meleks Niederlage
über die Natur erhoben zu haben.“ Er löste sich und blickte
ihr hart in die Augen. „Du hast bewiesen, dass Meleks
Weg dem Deinen unterlegen war. Aber es werden andere
wie Melek kommen. Und was Dich Deine Freiheit kostet,
ist nicht ein Feind, sondern Dein eigener Lebensweg, den
Du unumkehrlich eingeschlagen hast.“
In Lauras Blick zerbrach etwas. Sie senkte den Kopf
und nickte traurig. „Ich will es nicht wahrhaben“, flüsterte
sie, aber gleichzeitig wusste sie, dass ihr freier Wille nicht
länger eine Rolle spielte und ihr Stolz ein zerschlissener
Umhang aus der Vergangenheit war. Sie schmiegte die
linke Hand um den Schwertgriff und taufte endlich die
Klinge. „Widerstolz!“, sagte sie feierlich.
Zeeris hüpfte neben sie und hielt das abgerissene
Amulett hoch. „Das hast Du verloren!“, rief er. „Es ist
beleidigt, glaube ich.“ Mit gemischten Gefühlen sah Laura
auf das Artefakt herab. Widerwillig nahm sie es entgegen
und band es am Gürtel fest. „Es wird seinen Stolz ebenso
wie ich zähmen lernen.“ Zu dritt kehrten sie zu den
Nachtelfen zurück.
Danksagung

Mein besonderer Dank gilt


Georg Braun, Simon Czaplok und Elke Wendt
für ihre umfassende Unterstützung!

Weiterhin danke ich Karoline Flume, Kai Klisch,


Paul Kraft, Florian Maier, Markus „Imiri“ Raab,
Sebastian Schmack und Laura Schröder, die mich zu
diesem Zyklus inspirierten, sowie allen weiteren Personen,
die an der Entstehung mitgewirkt haben.

Einen ganz speziellen Dank schulde ich


André Dawson Sensei (Budo-Dojo Paderborn) für
seine Zeit. Er hat mir vorgelebt, wie man selbst die
unwahrscheinlichsten Ziele erreichen und seinen ganz
eigenen Weg gehen kann, wenn man nur nie aufgibt –
egal was der Rest der Welt meint.
Ausklang 469

Gut ein Jahr ist vergangen, seit Band 1 erschien.


Eigentlich wollte ich Band 2 schneller fertig bekommen,
aber stattdessen schrieb ich ein anderes Buch und ein
Kampfkunst-Booklet für denselben Verlag.
Daraus entstand aber auch ein Vorteil für Band 2:
Ich hatte mehr Übung im schreiberischen Handwerk
gesammelt und viel Feedback zu meinen schreiberischen
„Experimenten“ eingearbeitet. Band 1 merkt man deutlich
an, dass er in klassischer Fantasy wurzelt, gepaart mit
einer Hommage an meine alte Spielrunde. Mancher fand
es schade, aber Band 2 lässt diese Wurzeln ein Stück weit
hinter sich. Ich habe mich vermehrt auf die Eigenheiten
Hevanors konzentriert, das eingesetzte Kampfkunst-
Wissen feiner dosiert und den Figuren mehr Tiefe
verliehen, anstatt mich auf dem Bekannten auszuruhen.
Im Schattenwacht-Zyklus geht es oft ums Hinterfragen.
Laura hinterfragt ihre naive Heldenträumerei, und der Autor
versucht, trotz – oder gerade wegen – seiner klassischen
Fantasy-Wurzeln eingefahrene Erzählstrukturen der
bösen, bösen Unterhaltungsindustrie zu hinterfragen.
Ich hoffe, die dunkle Atmosphäre und das verzwickte
Hin und Her der Handlung haben Sie fesseln können.
Freuen Sie sich auf eine geballte Ladung dramatischer
Zuspitzungen in Band 3!
470 Kulturtrümmer

Wie in jedem Band des Zyklus wird auch hier ein


zusätzlicher kultureller Einblick in die Welt der Erben
von Theb Nor gewährt. Diesmal wird jedoch nicht die
Menschenstadt Silberberg unter die Lupe genommen,
sondern eine dunkle Facette der Chimärier. Wie und
warum experimentieren sie mit Niederen? Mit der
Protagonistin dieses Textes wird es im nächsten Band ein
intensives Wiedersehen geben.

Nicht effizient. Ich kann das nicht mehr hören. Meine


Hautbilder sind richtig. Ich gewinne alle Arenakämpfe,
kann lange laufen. Wieso sagen die so was über mich? Ich
habe meine Nummer genau gehört.
Ich kratzte mit braunen Fingernägeln über den
körnigen Tonziegel und den einzelnen Strohhalm,
der aus dem Loch im Putz meiner Zelle ragte. Mit
Schulter und Schläfe lehnte ich an der Wand unter
dem Fensterloch, die Beine im Sitzen angewinkelt.
Goldgelbes Sonnenlicht brannte durchs Fenster ein
Gittermuster in die Mitte des Steinbodens. Wenn es
Tag war, konnte ich mich nur an den Wänden der Zelle
entlang bewegen. Sonnenlicht vertrugen nur Pýucaani,
keine Niederen wie ich. Meine Blutfarbe musste es
sein, die passte nicht zum Licht. Ich konnte mir nichts
anderes vorstellen.
Unter dem fingerbreiten Spalt der hohen Eisentür 471
drangen immer noch pýucaanische Stimmen hervor, ich
konnte nicht weghören. „Ihre Runen sind von Geburt
an voll ausgebildet, wieso tut sich nichts? Die Mädchen
anderer Würfe haben zum Teil schon nach Monaten
magische Reaktionen gezeigt. Einzig die Muskeln wuchsen
beim Kamdrasho-Wurf vergleichbar.“
„Alle anderen Kinder, selbst innerhalb dieses Wurfes,
sind auch tot oder irre. Niedere Sklavensoldaten werden
aus den Würfen, denen wir die Runen aufzüchten, sicher
nicht. Auch wenn sie die gleiche Ausbildung absolvieren
und dabei viel leichter Muskeln bekommen. 37 ist die
Letzte des Kamdrasho-Wurfs. General P’sheyri sagte aber,
er stehe kurz davor, die erste Rune stabil zu aktivieren.
Ein gesunder Schutz umgibt das Mädchen. Ich bin der
Meinung, dass dies ihren Wert erhöht und nicht senkt.“
„Der Imperator wird ungeduldig! Fünfzehn Jahre
dauert das bald! Wie lange könnt ihr die Veränderungen
der Jugend bei ihr noch aufhalten? Schattenwacht will
solch eine Zeitspanne nicht hinnehmen. Nur noch diesen
Vollmond. Wenn dann nicht wenigstens eine Rune aktiv
wird, ohne dass 37 durchdreht oder stirbt, wird die
Versuchsreihe eingestellt und 37 verfüttert oder in die
Zucht gesteckt. Forciert die Aktivierung!“
Schweigen. Fäuste schlugen zum Salut auf schuppige
Brustkörbe, mächtige Schritte entfernten sich. Ich hielt
den Atem an, als der Riegel metallisch kreischte. Die
Eisentür glitt nach außen. Mein Ziehvater stand im Gang,
um mich wie jeden fünften Tag zur Untersuchung zu
holen. Fünf Finger, fünf Tage, fünf Mann eine Patrouille.
472 Ich reichte ihm schon fast bis zur Brust und meine Beine
waren fast so stark wie seine Arme. Aber heute war er
ganz anders: Er trug schwarzen Stoff vom Hals bis zu den
Knien. Rote Zeichen waren darauf, aber andere als die auf
meiner Haut.
Ich durfte nicht so starren, auch nicht fragen. Der
Ranghöhere musste nichts erklären. Kleidung trug ich nur
für den Kampf, aber viel dickere. Ich musste den Sinn von
dünner Kleidung nicht verstehen.

Ich folgte ihm zum Untersuchungsraum, einer Zelle in


groß. Ein Tisch aus Holz stand darin und es stank nicht.
Ich musste zuerst meine Finger strecken. Er schnitt meine
Nägel mit einem kurzen Messer wieder spitz und maß ihre
Dicke mit einem flachen Stöckchen, auf dem sich winzige
Ritzer befanden. Seit einer Weile wurden meine Krallen
nicht mehr stärker oder dunkler, so hart ich sie auch gegen
die Zellenwand schlug. Sie würden sicher nie pýucaanische
Maße bekommen. Dafür bekam ich weiche Beulen auf der
Brust. Ich schämte mich, weil er sie jedesmal ganz genau
betrachtete, missbilligend durch die Nase schnaubte und
die Verformung maß.
Heute war etwas anders. Er reagierte auf meinen
traurigen Blick wegen der Verformung und hielt inne vor
der nächsten Messung. Ich straffte mich sofort und schaute
hart an die Wand. „Es ist nichts“, sagte ich und verlieh
meiner Stimme einen möglichst tiefen und festen Klang.
Er beleidigte mich, denn in seinen Augen blitzte Mitleid.
Ich sah es genau. Ein Schauer überlief meinen Nacken. Er
hatte es ja mit seinem Vorgesetzten besprochen: Ich sollte
sterben. Ich war nicht effizient. Meine Augen brannten 473
seltsam, plötzlich lief Wasser hinein, ich wusste nicht von
wo. Mein Ziehvater betrachtete das Wasser, wie es meine
Wangen herablief. Ich schämte mich so. Aber ich ließ
keine Schwäche zu, mit angespannten Muskeln blieb ich
stehen und reckte das Kinn. Meine Lippen zitterten, doch
meiner Kehle entkam kein Laut. Ich wollte nach meinem
nächsten Kampf fragen, meinen Willen zeigen, aber ich
fühlte im Hals, dass meine Stimme nicht einsatzbereit
war, also schwieg ich lieber, bevor ich mir noch mehr
Blöße gab.
Mein Ziehvater tat etwas Unerhörtes. Er zog
seinen Ärmel vor und tupfte das Wasser von meinem
Gesicht. So erhöhte er die Bedeutung meiner neuesten
Unzulänglichkeit noch.
Und dann sah er das Blut zwischen meinen Schenkeln. Ich
schloss die Augen. Ich war alt und kaputt. Er musste mich
verfüttern. Ich hatte bei den letzten Kämpfen sowieso das
Gefühl, schwerfälliger geworden zu sein. Ich hörte über mir
seinen Atem ein- und ausfahren. Seine Nasenlöcher waren so
groß wie mein Mund. Sein Atem brannte wie die Sonne auf
meinem Kahlschädel und meinen langen Spitzohren.
„Passiert das zum ersten Mal?“, fragte er nüchtern.
Ich wollte nicken, aber er würde die alten Blutflecken
in meiner Zelle finden. Pýucaani konnte man nicht
belügen. Ich setzte mich immer an dieselbe Stelle zum
Bluten. Mit Stroh, Putz und Steinstaub überdeckte ich die
Flecken, doch eine Handbewegung würde genügen, um
sie freizulegen. „Wir müssen wohl Deinen Trainingsplan
wieder mal verschärfen“, erklärte er.
474 „Ich will im Kampf sterben, nicht am Alter!“, äußerte
ich meinen letzten Wunsch und starrte mit geballten
Fäusten die Wand an.
Mein Ziehvater redete monoton. „Wir haben die
Veränderungen der Jugend bei Dir so weit herausgezögert,
wie es ging. Aber die Natur hat Dich eingeholt. Für
ausgewachsene Exemplare gibt es andere Aufgaben. Du
musst nicht sterben, wenn Du nicht willst. Aber vielleicht
ist auch gleich alles anders. Der General hat ein neues
Experiment mit Dir und Deinen Hautbildern vor.“
Er reichte mir wie nach jeder Untersuchung einen
Becher mit seltsam schmeckendem Wasser. Ich leerte ihn
in einem Zug. Mit den Jahren war der Geschmack immer
intensiver geworden.

Auch im Hauptraum, der größten aller Zellen, gab


es heute eine Überraschung. Alle trugen schwarzen
Stoff mit roten Zeichen. Neben General P’sheyri, der
die magischen Untersuchungen an mir vornahm, stand
ein grau geschuppter Pýucaan. Die Anzahl der anderen
Kompaniemagier hinter dem General betrug heute zehn
und nicht fünf, sie mussten sich in zwei Reihen aufstellen.
Keiner schien das Blut an meinen Beinen zu bemerken.
Andere Dinge blieben wie immer. Niemand sprach.
Mein Ziehvater stand an der Tür und ich ging zur
Zellenmitte. Dort legte ich mich auf den Rücken und
General P’sheyri trat neben mich. Sonst blieb immer alles
still und ich verlor irgendwann das Bewusstsein, wenn
der General seine stummen Zauber wirkte. Diesmal aber
erklärte er dem Grauen über die Schulter: „Die Allezor-
Rune ist die schwächste von allen. Wir haben schon 475
mehrfach eine Resonanz in ihr auslösen können, wo alle
anderen vollkommen regungslos blieben. Die Mädchen 14
bis 22 sind bei der plötzlichen Selbstaktivierung der Rune
regelrecht zerfetzt worden. Bei 23 bis 33 haben wir die
Feinjustierung herausgefunden und über kurze Zeiträume
Aktivierungen erzielen können, jedoch stets instabil und
auf Kosten der Gesundheit. Zudem wurden 29 bis 32 durch
Einflüsterungen der Rune wahnsinnig. Seit Nummer
34 kennen wir zwar alle nötigen Sicherheitszauber, doch
durch die Überlagerung zu vieler Einzelwirkungen war
die Allezor-Rune zu stark unterdrückt worden. Bei 35
haben wir daher Sicherheitszauber zusammengefasst und
eine weitere Feinjustierung vorgenommen. 36 starb nur,
weil ihre schwache Gesundheit die Aktivierung nicht
ausgehalten hat. Wir hätten sie eigentlich schon viel früher
aussortieren müssen, aber wir haben ja keine Vorräte für
diese Versuchsreihe mehr. 37 nun ist unser Prachtexemplar,
das wir lange geschont und nur passiv untersucht haben.
Ich bin sicher, Ihr seid jetzt bei Eurem überraschenden
Besuch hier Zeuge, wie wir bei Nummer 37 die erste
stabile Aktivierung der Allezor-Rune durchführen.“
Der graue Pýucaan antwortete bloß knapp.
„Die Runen sind der Schlüssel zu den Heiligen. Sie
Niederen zu schenken, ist Entweihung genug, damit zu
experimentieren, ein Sakrileg. Der Imperator ließ Euch
gewähren, weil Ihr Erfolge versprochen habt. Ich nehme
heute den Schlüssel zur Wiedererweckung der Inferior in
jenem Mädchen mit, oder ich beende diese Forschung im
Namen des Imperators.“
476 „Ja, Euer Eminenz“, erwiderte General P’sheyri gepresst
und hob die Arme über mir.

Ich hatte nicht viel von dem verstanden, was P’sheyri


oder der Graue wollten. Meine Aufgabe war es bloß, still
dazuliegen. Vielleicht war ich trotz meines hohen Alters
noch zu etwas nütze, wenn ich das möglichst gut machte.
Daher rührte ich keinen Zeh und hielt die Luft an.
Schon oft hatte ich P’sheyris Magie durch meine Haut
dringen gefühlt. Sie drückte mich nieder, lag wie ein
toter Pýucaan auf mir und brachte meinen Herzschlag
durcheinander. Schwindel entlockte meiner Kehle kleine
Laute und mein Nacken zuckte. Eine der Runen, die über
meinen ganzen Körper liefen, wurde heiß wie Sonnenlicht.
Der brennende Strahl fraß sich durch mein Inneres, zum
Herzen, zum Bauch. Plötzlich schoss er in den Kopf wie
ein Keulenschlag und Lichter explodierten vor meinen
Augen. Ich wollte mich nicht aufbäumen, aber mein
Körper gehorchte nicht. Ich wollte auch nicht schreien,
aber seltsame Rufe rollten über meine Lippen. Ich verstand
sie selbst nicht und die Stimme gehörte nicht mir. Etwas
erhob sich. Schwärze wuchs über meinen Zehen in mein
Sichtfeld, bewegte sich. Mir wurde kalt, so als gefröre
P’sheyris Zauber in mir zu Eis. Die Schwärze bekam Dornen
am Horizont. Sie war ein Drachenflügel, der den ganzen
Raum durchmaß und sich langsam zu einem Flügelschlag
sammelte. Ich stieß einen infernalischen Schrei aus und
wälzte mich gegen meinen Willen am Boden. Plötzlich
stand ich vor P’sheyri, aber ich fühlte mich größer als er,
sah auf ihn herab. Er stierte mich panisch an und prallte
zurück. Meine Arme durchmaßen wie Flügel den Raum, 477
ich schwebte und sang eine bedrohlich treibende Weise.
Der Graue stieß P’sheyri zur Seite, fluchte und hob mir
die Arme entgegen. Er knurrte Worte und seine alten
Augen brannten wie Feuer, seine ganze Miene glühte
vor Ehrfurcht und Begeisterung. P’sheyris Zauber in mir
zerplatzte wie stürzendes Eis und ich polterte wie ein Sack
Steine vor die Füße des Grauen. Der senkte langsam die
Arme und betrachtete mich. Freude lag in seinen Augen.
Er kniete sich zu mir und hob mich mühelos auf die Arme.
Ohne ein weiteres Wort, mit stolz gerecktem Haupt, trug
er mich fort.

Die fünf Magier, die dem Grauen folgten, ringten


sich um uns und berührten sich Faust an Faust. Wieder
verschwamm um mich alles für einen Augenblick. Als
Nächstes sah ich grüne Wolken auf Stielen, selbst der
Boden war grünes Stroh. Ich fiel von seinen Armen.
Sonnenlicht brannte vom Himmel, schutzlos wälzte ich
mich im grünen weichen Stroh und wimmerte. Ein lautes
Rauschen schwoll an, die Pýucaani schrien und stürzten,
von Pfeilen gespickt. Bis auf den Grauen neben mir. Der
hatte den Pfeilen gebieterisch eine Hand entgegengehalten
und sie kurz vor uns zerbrochen. Mit der anderen Hand
strich er durch die Luft über mir und ein dunkles Dach
wuchs in der Luft, das mich vor der Sonne schützte.
Zwanzig Meter weiter stand eine lange Reihe Niederer
mit Bögen vor den grünen aufgestielten Wolken. Einer
rief mit holpriger Sprache und einigen falschen Wörtern,
dass mein Begleiter sich ergeben und mich aushändigen
478 solle oder er würde sterben. Immerhin seien sie in der
Lage gewesen, seine Teleportation abzufangen und zu sich
umzulenken und er solle sie nicht unterschätzen.
Der Graue kniete sich zu mir. „Nimm Dir eine Robe
von den toten Magiern und zieh sie an.“
Ich schaute unsicher auf den dünnen Stoff. Im Kampf
würde er mich nicht schützen, aber vielleicht vor der
Sonne. Ich gehorchte dem hochrangigen Pýucaan
natürlich, obgleich selbst die Robe des Kleinsten mir viel
zu groß war. Der Graue rief derweil eine Antwort zurück,
redete von Inferior und dem Zorn des Imperators. Doch
enthielten seine Worte keine klare Anweisung. Als ich die
Robe gerade übergestreift und mir die Kapuze aufgesetzt
hatte, packte er mich am Arm und zischte: „Lauf in die
Richtung, wo nie die Sonne steht!“ Er zeigte darauf.
„Am dritten Tag laufe dort weiter, wo die Sonne abends
versinkt. Dann wirst Du den Imperator finden. Zu ihm
musst Du um jeden Preis gelangen! Er wartet auf Dich!“
Damit stieß er mich von sich. Er wandte sich den
Bogenschützen zu und breitete die Arme aus. Da er mir
befohlen hatte, sofort loszulaufen, sah ich nicht zu, was
er mit den Niederen tat. Ich raffte den Stoff bis über die
Knöchel und lief davon. Die riesige Kapuze fiel mir bis auf
die Brust, doch war sie so dünn, dass ich hindurchsehen
konnte. Hinter mir hörte ich zahlreiche Todesschreie,
Pfeilzischen und ein triumphierendes Pýucaan-Lachen,
das jedoch immer öfter von Schmerzlauten unterbrochen
und leiser wurde. Meine Füße röteten sich und warfen
Blasen, weil die Sonne sie verbrannte. Auch meine Wangen
röteten sich durch die Kapuze.
Zwischen einigen der Stielwolken lief ich in Deckung. 479
Dort kitzelte auch das grüne Stroh nicht mehr meine
Fußsohlen. Laufen musste ich jeden Morgen eine Stunde
und jeden Abend, wenn ich nicht kämpfen musste. Ich
war kaum außer Atem. Allerdings knurrte mein Magen,
niemand hatte mir etwas zu essen gegeben. Wie sollte ich
bloß dem Befehl Folge leisten, über drei Tage nur zu laufen
und nichts zu essen oder zu trinken? Ob ich an einem
Bach trinken durfte, wenn ich einen sah? Hätte ich das
fragen dürfen?
Hinter einem breiten Stiel schoss ein Stock hervor. Ich
beugte mich weit zurück und entging dem Schlag, packte
die Holzwaffe und trat zu den Händen, die sie hielten.
Hinter mir bewegte sich noch etwas. Ich hatte den Stock
nicht freibekommen, ließ ihn aber auch nicht los, sondern
rannte vorwärts und zog ihn mit mir. Über die viel zu lange
Robe stolperte ich nicht, weil ich sehr kleine Schritte machte.
Das Stockende knallte hinter mir dem zweiten Angreifer
vor die Brust und stoppte ihn, sein Schwert zuckte meinem
Rücken nur nach. Die Faust des Stockträgers flog mir ins
Gesicht. Er konnte nicht so hart schlagen wie ein Pýucaan.
Ich schlug zurück und riss gleichzeitig den Stock frei. Im
Gegensatz zu ihm wartete ich nicht auf das Ergebnis,
sondern trat ihm so fest ich konnte in den Bauch. Der
Stock donnerte in sein knirschendes Genick. Das Schwert
flog wieder auf mich zu. Ich wischte es mit dem Stock zur
Seite und stieß das Holz ins Gesicht des Gegners, wieder
und wieder, bis es nur noch ein blutiger Krater war und der
Mensch zuckend am Boden lag. Ich nahm sein Schwert
und stach beiden Gegnern zur Sicherheit in die Kehle.
480 Bewaffnet mit Schwert und Stock wollte ich
weiterlaufen, doch Bogenschützen versperrten mir den
Weg und zielten auf mich. Sie flüsterten miteinander,
einer senkte den Bogen. Ein anderer schüttelte den Kopf
und wollte schießen, wurde jedoch scharf angeschrien und
gehorchte dann doch. Weil sie Niedere waren, wurde er für
solchen Ungehorsam nicht getötet. Ich schüttelte den Kopf.
Schwächlinge. Kein Wunder, dass Ihr den Krieg verliert.
Mit holprigen Worten verlangte der Anführer von mir,
die Waffen wegzulegen, dann würde er mich trotz allem
nicht töten lassen. Seinen Untergebenen gefiel sichtlich
nicht, was er sagte. Ich warf die Waffen weg, weil ich mein
Ziel tot nicht erreichen konnte. So schlecht organisierten
und unentschlossenen Gegnern würde ich aber sicher
später entkommen.
Der Anführer nickte mir zu und redete davon, dass
ich nichts für das könne, was ich sei. Anweisungen gab er
jedoch keine mehr, darum hörte ich kaum zu. Ich horchte
erst wieder auf, als er sagte, ich dürfe keinesfalls zum
Imperator gelangen, weil dann die ganze Welt verloren
sei, und dass er mich töten würde, falls ich zu fliehen
versuchte. Ich nickte und verlangte Essen. Gestärkt würde
ich viel besser fliehen können.
Personenregister 481

Athónon
Der alte Gnomenspäher hat ein breites Kreuz und eine
Schwäche für seltene Teesorten. Viele bezeichnen ihn
wegen seiner enormen Kampferfahrung und seiner
Vergangenheit als Helden. Doch das ist dem wortkargen
Götterdiener nur lästig. Nie würde er den Vier Königen
eine Bitte abschlagen, aber seine wahre Aufgabe beim
Kreuzzug gegen Schattenwacht sieht er darin, Laura, die
junge Tochter seiner toten Freundin Jade, zu beschützen.
Denn eine eigene Familie war ihm nie vergönnt.

Brommil
Der Zwergensöldner geriet als Gefangener der Chimärier
zunächst an Taren und Srrig. Er spürt, dass große Dinge
bevorstehen. Er möchte daran teilhaben und sein bisheriges
Leben hinter sich lassen. Brommil rettete Laura bei ihrem
ersten Kampf gegen Melek.

Cerýllion
Der unsterbliche Elf benutzte Mèra im Glorreichen
Zeitalter, um ihr den Thron zu stehlen. Er schickte sie ins
Exil und kollaborierte mit dem Äußeren Volk, doch am
Ende des Krieges flog sein Verrat auf und seine Rolle wurde
mit Mèras vertauscht. Für Jahrhunderte war Machtgier
sein einziger Antrieb. Heute ist er ein willenloser Diener
Schattenwachts, doch seine magische Kraft ist immens.
482 Cesius
Der Tempelkrieger aus Silberberg, von Elfen als haariger,
fetter Klumpen tituliert, war ein Meister des Krieges und
ein guter Freund Athónons. Durch einen Fluch, der den
Zauberer Xelos in den Wahnsinn trieb, kam Cesius zu
Tode: Xelos tötete Cesius mit einer Salve Feuerkugeln. Die
größte Leistung des Tempelkriegers war die Ausbildung der
Nachtelfin Jade zur Kriegerin. Er lehrte sie die Wahrheiten
des Kampfes, sodass auch Laura, Jades Tochter, ihm
indirekt ihr Können verdankt.

Endáruel
Lauras Ziehvater ist ein guter elfischer Waldläufer. Er
akzeptiert seine halbmenschliche Tochter, doch blieb
sein Verhältnis zu ihr stets oberflächlich. Woher er das
Eisenschwert und das Kettenhemd hat, das Laura bei ihrer
Flucht mitnahm, bleibt ein Geheimnis.

Fêowyn
Der alternde Nachtelf ist ein Ratsmitglied von Quirmó. Er ist
stets freundlich, wenn auch etwas traurig. Seine Fähigkeiten
als Meisterheiler sind in Quirmó außer Konkurrenz.

Gamáal
Er ist der beste Krieger Quirmós, ein unheimlicher und
sehr gefährlicher Elf. Dass die Mitgliedschaft im Rat
ihm und nicht Kanmárael zugestanden hätte, ist ein
offenes Geheimnis. Kanmárael war als der Umgänglichere
vorgezogen worden. Niemand versteht es wie Gamáal, ein
Schwert zu führen. Gerüchte besagen, bevor er ein Nachtelf
wurde, habe er in einem Kloster der Tigermenschen deren 483
spirituelle Kampfkunst studiert.

Gozbad
Dieser uralte Geist korrumpierte Melek als Kind und
machte ihn zu seinem Werkzeug. Je mehr Leid Gozbads
Jünger auf Hevanor anrichten, desto stärker wird er.

Jade
In einem zurückliegenden Krieg gegen Tiefenweltler
unter der Führung eines untoten Magierkönigs half die
Nachtelfin Athónons Gruppe, eine neue Heimat für eine
kleine Elfensippe zu finden. Als sie der Gruppe heimlich
nachlief, wurde sie jedoch gefangen und geschändet. Gegen
alle Widerstände im Dorf gebar sie Laura. Sie konnte die
Wut kaum ertragen, als ihre Tochter genau denselben
Fehler machte und Jades Schicksal beinahe geteilt hätte.
Von einem Schergen Cerýllions wurde die stolze Kriegerin
getötet, als sie Mèra verteidigte.

Kanmárael
Das Ratsmitglied von Quirmó ist für die Verteidigung der
Stadt verantwortlich. Kanmárael ist ein hervorragender
Kämpfer und der Erste, der die Wahrheit über die
vermeintliche Krankheit der Nachtelfen akzeptiert.

Laura
Die ungestüme Halbelfin erbte die Willenskraft ihrer
elfischen Mutter Jade und die Zähigkeit ihres unbekannten
Vaters. Sie sehnte sich nach Abenteuern und folgte
484 heimlich der Gruppe um die Halbgöttin Mèra. Doch bei
der Konfrontation mit der Wirklichkeit bekam Laura viel
mehr, als ihr lieb war. Schnell wurde sie von allen Illusionen
befreit und versucht nun zu überleben – denn zurück in
ihr Heimatdorf will die Außenseiterin nicht. Welche Rolle
sie beim Kreuzzug gegen Imperator Schattenwacht spielen
wird, ahnt sie noch nicht. Ihr oberstes Ziel ist zunächst,
ihren Erzfeind Melek zu töten und damit auch ihr eigenes
dunkles Erbe zu überwinden.

Lishárial
Lauras jüngere Schwester ist eine reinblütige, verwöhnte
Elfin und genauso gemein zu der Halbelfin wie alle im Dorf.

Melek
Er ist ein böses Genie. Melek strebt aber nicht nach
Höherem, sondern einzig und allein nach unmittelbarer
Triebbefriedigung. Der Geist Gozbad verfluchte Melek,
brachte ihn dazu, seine Eltern zu töten und gewann für
Jahre die völlige Kontrolle über den Jungen. So wurde
Melek ein Werkzeug Gozbads, auch wenn er sich für einen
freien und erfolgreichen Menschenjäger hält. Melek ist
davon besessen, Laura zu besiegen. Sie soll an der Seite von
Halbgöttern eine große Bedeutung erhalten und Melek
fühlt sich dagegen in einem Maß herabgewürdigt, das
er nicht hinnehmen will. Sein Sieg über Laura soll seine
Gleichwertigkeit beweisen.
Mèra 485
Die elfische Halbgöttin ist eine der mythenhaften
Heldengestalten aus dem zwei Jahrtausende zurück-
liegenden Glorreichen Zeitalter, den Vier Königen. Sie
rebellierten gegen die damaligen Götter und retteten so
Hevanor vor der Invasion durch das Äußere Volk. Mèra
und die anderen drei Könige wurden zu unsterblichen
Götterdienern gemacht und wachten für Jahrhunderte
über den Wiederaufbau der Welt nach neuen Werten, um
die Götter nicht abermals zu verärgern. Doch durch eine
Intrige Schattenwachts verschwanden sie aus der Welt und
tauchten erst dank Athónon und seiner Gefährten wieder
auf – stark geschwächt und ohne Gedächtnis, da das
Wiedererweckungsritual nicht ohne Fehler gelang. Mèra
ist vom hohen Alter zerrüttet und sehnt sich nach dem
ewigen Frieden. Aber erst muss Schattenwacht besiegt
werden, der nun wie Cerýllion zuvor mit dem Äußeren
Volk kollaboriert. Niemand sonst scheint dieser Aufgabe
gewachsen zu sein.
Mèra schuf einst die Nachtelfen als Waffe gegen das
Äußere Volk, doch gelang der Zauber nicht makellos. So
kam es, dass Nachtelfen kein Sonnenlicht vertragen, denn
ihre Gabe, das Äußere Volk verletzen zu können, reagiert
damit und verbrennt sie von innen heraus. Mèras größte
magische Kraft liegt in der Heilkunst.

Myándirel
Der fast blinde und schrullige Zauberer raucht gern Pfeife
und tritt im Rat von Quirmó die schwierige Nachfolge
des Meisterzauberers Velýthoel an, der durch die Hand des
486 Kanzlers der Amdovenn stirbt, Rogáril. Myándirel war es
auch, der Srrig sein verlorenes Gedächtnis zurückbrachte.

Nenúriel
Diese Nachtelfin lebte als verzweifelte Bettlerin in
Silberberg, verliebte sich in Taren und begleitete ihn auf
eine fragwürdige Mission ins Feindesland. Dort wurden
beide gefangen genommen und Nénuriel erschossen, als
sie in der Gladiatoren-Arena einen Heilzauber auf Taren
zu wirken versuchte.

Olériel
Tarens zweite nachtelfische Gefährtin experimentiert mit
Metallverarbeitung und ist ebenso eine Außenseiterin.
Anders als Nenúriel ist Olériel jedoch lebensfroh und weniger
zerbrechlich. Nur ihre Zähne sind keine Augenweide.

Paaldrag
Der desertierte chimärische Offizier, eine erfahrene
Kampfmaschine, ist hin- und hergerissen zwischen seiner
Gewohnheit, Niedere nicht ernst zu nehmen, und dem
Wunsch nach neuen Freunden. Er fürchtet sich insgeheim
vor dem Kreuzzug gegen Schattenwacht, denn auch
die Angst vor dem Imperator ist in der chimärischen
Erziehung tief verwurzelt.

Pêraphèniel
Der Älteste von Quirmó ist ebenso weise wie gebrechlich.
Er spürt schnell, wen er in Srrig, Mèra und Athónon vor
sich hat und unterstützt die Gruppe, so gut er kann. Sein 487
oberstes Ziel ist jedoch, sein Volk vor den Übergriffen der
Schlangenblüter zu schützen.

Randolph
Der Menschenkrieger ist einer der Vier Könige. Er
verkörpert wie kaum jemand das reine Gute, selbst
Mèra bewundert ihn. Er wird irgendwo im Feindesland
gefangen gehalten.

Rogáril
Der Kanzler der Amdovenn, des Äußeren Volkes arbeitet
mit Cerýllion und Schattenwacht zusammen, um eine
erneute Invasion Hevanors vorzubereiten, ohne dass die
Götter es frühzeitig mitbekommen. Nur die Vier Könige
könnten seine Pläne durchkreuzen. Er und Schattenwacht
sind sich einig, dass die Sterblichen und ihre Götter mit
Ausnahme der Chimärier das Überleben nicht wert seien,
auch wenn es bisher nicht gelungen ist, alle anderen Völker
mit bloßer Waffengewalt von Hevanor zu tilgen. Die
Amdovenn sind heimatlos und warten nur darauf, eine
neue Welt zu besetzen. Darüber, wie die Götter reagieren
werden, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden,
können die Intrigenschmiede nur spekulieren.

Safériel
Die Gefährtin Kanmáraels ist Fêowyns rechte Hand als
Heilerin. Durch ihren Mut rettet sie Kanmárael und Mèra.
488 Schattenwacht
Der letzte freie Inferior ist ein Betrüger und Verräter durch
und durch. Der Drache lässt sich von seinen Chimäriern
als Gott feiern, verbietet aber jede andere Religion.
Gegenüber den Göttern übernahm er die Aufgabe des
Sphärenwächters und schickte die Vier Könige in ihre
verdiente Ruhe. Denn im Gegensatz zu den Göttern sind
sie vor Ort und durchschauen seine Pläne. Sein größter
Betrug ist jedoch, dass er gar kein echter Inferior ist, keiner
jener Ureinwohner Hevanors, die noch vor den Göttern
dort lebten und sich mit ihnen einen Krieg lieferten.
Schattenwacht war ein Spion der Götter, der nur die
Gestalt der Inferior annahm. Nun will er die Inferior aus
ihrer Verbannung befreien und als Verbündete gewinnen.
Doch die Vier Könige kennen auch dieses Geheimnis
und könnten Schattenwacht gegenüber den rachsüchtigen
Inferior auffliegen lassen. Abgesehen davon könnten sie
den Göttern Schattenwachts Verrat bezüglich des Äußeren
Volkes aufzeigen.

Sophéion
Der beste Barde Quirmós hat einen Platz im Rat, weil
die Künste, insbesondere Musik, unter Elfen traditionell
einen sehr hohen Stellenwert haben. Sophéion ist eitel und
den ruhmreichen Fremden gegenüber feindselig, weil sie
ihm das Rampenlicht stehlen.

Srrig
Der Tigermann ist ein weiterer der Vier Könige. Auch
er hat kaum noch eine echte Empfindung, weil das Alter
ihn ausbrannte. Doch wo Mèra hellen Empfindungen 489
wie Mitgefühl und Liebe wieder auf die Spur zu kommen
versucht, gibt Srrig sich mehr und mehr N’rracorr hin,
dem Dämon des Blutdurstes, der sich nach der Niederlage
des Äußeren Volkes in den Seelen der Tigermenschen
verschanzte und sie seitdem zu korrumpieren versucht.

Taffi
Das magische Chamäleon ist klug und weise, viel älter, als
es aussieht, und ein treuer Freund Athónons. Es ist in den
Zauberkünsten überraschend bewandert.

Taren
Er ist ein bärbeißiger und kriegserfahrener Tempelkrieger
von Bruder Mond, dem Gott der Nachtruhe. Er lernte Srrig
während der Flucht aus der chimärischen Arena kennen
und spürte sofort, dass sich große Dinge anbahnten. Taren
ist fasziniert davon, den Vier Königen ohne jegliches
Hintergrundwissen auf einer heiligen Mission zu folgen.
Der Prophet Theb Nor, der den Grundstein von Tarens
Glauben legte, verdammte jegliches Wissen als etwas Böses,
welches das Äußere Volk anlockte und die Sterblichen in
den Abgrund stürzte. Unwissend eine Aufgabe zu erfüllen,
deutet Taren daher als göttliches Zeichen. Tarens Heimat,
die Metropole Silberberg, wurde vom Feind belauert, aber
nicht entschieden angegriffen. Von Athónon erfährt Taren,
dass dies an einem Artefakt in Menschenhand liege, das
die Vier Könige in die Welt zurückrufen könne, und dass
Schattenwacht von einem Geheimkult der freien Völker
erpresst wurde, die Erpressung aber mit Erscheinen der
490 Vier Könige lange hinfällig sei und Silberberg zur Stunde
vermutlich gar nicht mehr existiere.

T’ral
Das archaische Wesen erschien primitiven Kulturen schon
lange vor dem Glorreichen Zeitalter als mythische Gestalt,
genannt Der Feuerbringer. Wie alle Dämoniden wurde
auch T’ral vom Äußeren Volk als Kriegsdiener geschaffen,
doch ist T’ral der Letzte, der noch in einem vorzeitlichen
Krieg jenseits Hevanors gedient hatte. Er gehört ebenfalls
zu den halbgöttlichen Vier Königen, denn er führte die
Dämoniden Hevanors bei der Rebellion gegen die Götter
an, nachdem er sich von seinen Schöpfern abgewandt hatte.
Cerýllion war T’rals Meisterschüler, bevor ihre Wege sich
trennten. T’ral ist so alt und mächtig, dass Schattenwacht
eine Konfrontation mit ihm insgeheim fürchtet. Die
Gedanken des Dämoniden sind der Welt so entfremdet,
dass selbst Mèra und Srrig ihn nicht verstehen.

Tugibenn
Der fröhliche alte Gnom und Meisterzauberer starb vor
langer Zeit im Dienste der Vier Könige. Doch Athónon
konnte diesen besten Freund und Vaterersatz nie
vergessen. Zu Tugibenns Erbschaft, die Athónon unter
Tränen antreten musste, gehörten neben einem wertvollen
Teesortiment noch schrullige Artefakte wie die gelbe
Tunika, auf der ein gestickter Fisch blubbert, aber auch
eine verwandelte Truhe, in der die Zeit stehen bleibt.
Unter allen sterblichen Zauberern kennt Athónon bis
heute niemanden, der solch ein Artefakt herstellen könnte.
Die Art, wie kaltblütig und berechnet Tugibenn für ein 491
höheres Ziel geopfert worden war, hat eine tiefe Narbe in
Athónons Seele hinterlassen.

Veydrag
Der illegitime Sohn Schattenwachts trägt die Runen
der Inferior auf dem Rücken. Er ist der jüngste und
gefährlichste General des Imperiums und wird von einem
hochrangigen Richter auf Srrigs Fährte angesetzt: Veydrag
soll Srrig das Geheimnis der Unsterblichkeit entreißen.

Wenndur
Dieser halbelfische Barde umschwärmte Laura vergeblich
während des ersten Teils ihrer Reise. Er starb für sie im
Kampf, und nun hat Laura nur noch seine Laute als
Erinnerungsstück.

Xelos
In jungen Jahren von einem Späher des Äußeren Volkes
besessen, hat Xelos sich nie ganz von der dämonischen
Berührung erholt. Er wurde zu einem der besten
Dämonologen und machte sich dadurch unentbehrlich
bei der Erforschung des Feindes durch den geheimen
Königskult. Doch jeder wusste, wie gefährlich und
unberechenbar der Zauberer gleichzeitig war. Bei einem
seiner Aufträge trieb ihn ein Fluch endgültig in den
Wahnsinn. Er tötete den Gefährten Cesius und wurde
daraufhin von Athónon erschlagen.
492 Zeeris
Das Teufelchen, ein gebürtiger Wüstenbewohner, liebt
Flammen an den Füßen und frische Augäpfel. Seit
Athónon es vor vielen Jahren freikaufte, begleitet es den
Gnom, muntert ihn mit seiner unbeholfenen und doch
sympathischen Art auf und betätigt sich als unsichtbarer,
fliegender Späher mit scharfen Krallen. Besonders stolz ist
Zeeris auf seine einfache Heilmagie, die er sich von dem
verstorbenen Tempelkrieger Cesius abschaute.
BÖSES ERWACHEN
Michael Thiel

Im Westen tobte ein unerbittlicher Krieg, den die Häscher


Schattenwachts, des letzten Drachen auf Hevanor, für sich
entscheiden konnten. Seine Drachenkrieger unterwarfen die
Orks und Trolle und stehen nun vor den Toren Silberbergs, der
letzten menschlichen Metropole im Westen. Nichts wird sie
mehr aufhalten können, wenn diese Stadt fällt...
Spannende Fantasy-Action, die mit realistischen
Kampfszenen und Humor überzeugt.

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