Heute gibt es 14 kanonische orthodoxe Kirchen – ihre Geschichte ist ohne die
Entwicklung des Byzantinischen Reichs, der Stadt Konstantinopel und der
Stellung des Ökumenischen Patriarchen nicht denkbar. Ein Rückblick auf die
Entwicklung der Orthodoxie von den römischen Kaisern bis in die Gegenwart.
In der Kirche der ersten Jahrhunderte gab es fünf bedeutende Zentren des Christentums:
Rom, Konstantinopel (heute Istanbul), Antiochien (heute Antakya in der Südtürkei),
Alexandrien (Ägypten) und Jerusalem. Während Rom das westliche, lateinische
Christentum prägte, entwickelte sich Konstantinopel zum Zentrum des östlichen,
griechischen Christentums.
Im Jahr 324 verlegte Kaiser Konstantin die Hauptstadt des Römischen Reiches nach
Byzanz, das er in Konstantinopel umbenannte. Hier beriefen er und die Kaiser nach ihm
die Bischofsversammlungen (Konzilien) der so genannten Alten Kirche ein, die religiöse
Angelegenheiten klären und die kirchliche Einheit im Reich wahren sollten.
Im 6. Jahrhundert gab sich der Patriarch von Konstantinopel den Titel "Ökumenischer
Patriarch". Damit brachte er seinen Anspruch zum Ausdruck, der erste Patriarch der
christlichen Welt zu sein (griech. oikumene = Erdkreis). In Rom protestierten die Päpste
jedoch entschieden dagegen. Als der Papst im Jahr 800 Karl den Grossen zum römischen
Kaiser krönte, provozierte dies den byzantinischen Kaiser, der sich als alleiniger Herrscher
in der Tradition des Römischen Reichs sah.
Wegen solcher politischen und theologischen Konflikte entfremdeten sich das lateinische
und das griechische Christentum immer mehr. Im Jahr 1054 zerstritt sich eine römische
Delegation mit dem Patriarchen von Konstantinopel, worauf sie sich gegenseitig
exkommunizierten. Dieser gegenseitige Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft wird
als das Morgenländische Schisma bezeichnet. Als die Kreuzfahrer im Jahr 1204
Konstantinopel eroberten und dort ein lateinisches Kaiserreich errichteten, kam es
endgültig zum Bruch.
In den folgenden Jahrhunderten versuchte man immer wieder, die Gemeinschaft zwischen
Rom und den orthodoxen Kirchen wiederherzustellen. Da sich nach Unionsverhandlungen
nie alle Gläubigen der Gemeinschaft mit Rom anschlossen, entstanden jedes Mal neue
Kirchen, die sich von der orthodoxen Kirchengemeinschaft loslösten. Diese Kirchen
behielten die byzantinische Liturgie und griechische Tradition bei, unterstanden aber dem
Papst. Heute bezeichnen sich sechs Kirchen als griechisch-katholische beziehungsweise
unierte Kirchen mit byzanthinischem Ritus. Bis heute belastet ihre Existenz die
Beziehungen zwischen der Orthodoxie und der Römisch-Katholischen Kirche.
Im Jahr 988 liess sich der heidnische Kiewer Grossfürst Wladimir taufen und nahm das
byzantinische Christentum an. Die Orthodoxie wurde seither zur prägenden religiösen und
kulturellen Kraft im Herrschaftsgebiet der so genannten Kiewer Rus und dem späteren
Moskauer Reich.
Bis ins 15. Jahrhundert blieb die orthodoxe Kirche in diesen Gebieten vom Ökumenischen
Patriarchat abhängig. Erst nachdem sich der in Moskau residierende Metropolit einer
Union mit der katholischen Kirche anschliessen wollte, setzte ihn der russische Grossfürst
ab. Damit löste sich die Kirche im Moskauer Reich faktisch von Konstantinopel.
Nachdem die Osmanen im Jahr 1453 Konstantinopel eroberten, erhielt der Patriarch von
Konstantinopel die Zuständigkeit für alle orthodoxen Gläubigen im Osmanischen Reich.
Das so genannte Millet-System gab zwar den nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften
eine gewisse Autonomie, doch musste der Ökumenische Patriarch die Steuern für den
Sultan einziehen und war damit auch dessen Handlanger.
Als im 19. Jahrhundert die Nationalstaaten entstanden und nach dem Ersten Weltkrieg
das Osmanische Reich unterging, etablierten sich in den neu entstandenen Staaten auch
eigene Kirchenstrukturen. So erklärten sich die orthodoxen Kirchen von Griechenland,
Serbien, Rumänien und Bulgarien für eigenständig mit einem eigenen Oberhaupt, also für
autokephal. Herrschaftsgebiet und Einfluss des Patriarchen von Konstantinopel wurden
immer kleiner.
Der neu gegründete und 1924 säkularisierte türkische Staat brachte das Ökumenische
Patriarchat in eine ungewöhnliche Situation: Der Amtssitz des Patriarchen ist zwar
weiterhin im Istanbuler Stadtteil Phanar - in einem Staat mit 99 Prozent muslimischer
Bevölkerung - die meisten Gläubigen des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel
leben aber in Amerika, Australien und Westeuropa.
Offene Verfolgungen und staatliche Unterdrückung erlebte die orthodoxe Kirche im 20.
Jahrhundert in den Ländern der neu gegründeten Sowjetunion. Das atheistische
Sowjetregime schloss Kirchen, Klöster sowie kirchliche Sozial- und Bildungseinrichtungen,
es verbot sogar das öffentliche Singen religiöser Lieder. Die Kommunisten diskriminierten
und schikanierten die Gläubigen.
In den ersten Jahrzehnten der Sowjetherrschaft wurden tausende Priester, Mönche und
Nonnen in Arbeitslager deportiert und auch Gläubige wurden verfolgt, verhaftet und
hingerichtet. Von 1920 bis 1940 dezimierte das Regime die Zahl der Gläubigen unter den
Russen von 90 Prozent auf unter 30 Prozent.
Während des Zweiten Weltkriegs lockerte sich die antireligiöse Diktatur etwas, die Kirche
konnte sich neu organisieren, wurde aber vom Staat weiter streng beobachtet und
kontrolliert. Mit der Perestrojka und dann der Auflösung der Sowjetunion 1991 konnte sich
religiöses Leben wieder frei entfalten - das brachte aber auch neue Konflikte um den
Kirchenbesitz und die religiöse Identität.
Durch alle politischen Wirren des 20. Jahrhunderts hindurch setzte sich das Ökumenische
Patriarchat von Konstantinopel immer wieder für die die ökumenische Bewegung und die
Einheit der orthodoxen Kirchen ein. Dafür suchte der Patriarch einen Ort in Nähe zum
Ökumenischen Rat der Kirchen ÖRK in Genf.
In Chambésy fördert das Begegnungszentrum des Ökumenischen Patriarchats seit den
1960er Jahren die innerorthodoxen Beziehungen. Im Dezember 2009 finden hier auch
Vorgespräche statt für die fünfte panorthodoxe vorkonziliare Konferenz, also eine
Vorbereitung zur Vorbereitung eines gesamtorthodoxen Konzils. Durch diese Konferenzen
ist das 3500-Seelen-Dorf nördlich von Genf zu einem wichtigen Ort in der Geschichte der
Orthodoxie geworden.
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