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STAATSRAISON UND MORAL - WAS INTERESSIERT, IST DAS INTERESSE

Diskussion von Fakten und Thesen

(25.1.98, 20.00 Uhr, DRS1/ 28.1.98, 15.00 Uhr, DRS2)

Diskussionsteilnehmer:

− Peter Tschopp, Nationalrat


− Carlo Schmid, Ständerat
− Hermann Levin Goldschmidt, Philosoph
− Shraga Elam, Publizist

Leitung: Hanspeter Gschwend

Signet: Doppelpunkt

Gd.: Was ist „Staatsraison“?


Wenn Sie, liebe Hörerin, lieber Hörer, nach dieser Diskussion eine
konkretere Vorstellung davon haben, dann haben wir den Zweck erreicht.
Denn wir wollen nicht theoretische Definitionen suchen, sondern von
konkreten Beispielen ausgehen, und hier im Studio laut miteinander darüber
nachdenken.
Die Beispiele, von denen wir ausgehen, haben wir in den letzten beiden
„Doppelpunkt“-Sendungen dargelegt. Heute reden wir über Schlüsse, die
man auf einer allgemeingültigen politischen und - im alltäglichen Sinn -
philosophischen Ebene aus den Beispielen ziehen kann. Wir versuchen, dies
auf eine Weise zu tun, dass auch Hörerinnen und Hörer, die die
vorangehenden Sendungen nicht gehört haben, der Diskussion folgen
können.

Was ist „Staatsraison“?


Ich denke, „Staatsraison“ ist das, was der Diplomat, Historiker und
Schriftsteller Niccolò Machiavelli meinte, wenn er vor bald 500 Jahren
schrieb:

Zuspielband Sprecher:
Oft ist es notwendig, um einen Staat erhalten zu können, gegen Treu und Glauben, gegen
die Nächstenliebe, gegen die Menschlichkeit und gegen die Religion zu handeln.

Gd.: Man könnte also, um es nicht negativ umschreiben zu müssen, sagen: All
jene Entscheidungen und Handlungen entsprechen der Staatsraison, welche
der Erhaltung eines Staates dienen.

Es wäre spannend gewesen, das Thema Staatsraison auch mit jemandem


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zu diskutieren, der bzw. die Regierungsverantwortung trägt. Frau


Bundesrätin Dreifuss hat dies fest zugesagt. Nun hat sie diese Zusage
zurückgezogen und mitteilen lassen, sie sehe sich nicht in der Lage, auf
unsere Beispiele einzutreten. Umso dankbarer bin ich den beiden Politikern
und dem Philosophen, die bereit sind, auf die tatsächlich diffizilen
Grundsatzfragen einzugehen, die sich hier stellen. Die Politiker haben als
Parlamentarier ja auch mehr Freiheit als ein Regierungsmitglied, zu sagen,
was sie denken.

„Staatsraison und Moral“ heisst unsere Serie. Um in die Diskussion


einzusteigen, habe ich ein Beispiel gewählt, bei dem nicht lange erörtert
werden muss, ob die geforderte Handlung selber moralisch ist: Es geht um
die Angebote, Juden vor der Ermordung in den Konzentrationslagern der
Nationalsozialisten zu retten - zum Beispiel um das Angebot der SS im
August 1944, gegen 10'000 amerikanische Lastwagen 1 Million Juden in die
USA auswandern zu lassen.

Menschenleben zu retten ist zweifellos eine moralische Handlung. Schwierig


wird es aber schon bei der Frage, ob es moralisch ist, auf ein solches
Angebot der SS einzutreten. Da kommen sogleich einige andere Kriterien
mit der Rettungsmoral in Konflikt.

Herr Ständerat Carlo Schmid, wenn Sie als amerikanischer Senator im


Sommer 1944 mit der Frage konfrontiert worden wären, ob Ihre Regierung
auf ein solches Angebot eintreten solle, welche Kriterien hätten da in Ihre
Entscheidung hineingespielt?

Schmid:
Das ist eine hypothetische Frage, die in der Rückprojektion verlangen würde, dass ich
über die tatsächliche Position der USA , die Interessenlagen der verschiedenen Gruppen
in den USA damals informiert gewesen wäre. Das bin ich heute noch nicht. Immerhin, es
ist 44 Kriegszeit, es ist die Frage zu stellen, ob man mit dem Feind in Kontakt treten darf,
es ist die Frage zu stellen, ob gegebenenfalls eine Falle gestellt worden wäre, es ist die
Frage, ob die Möglichkeit real bestand, Hilfe zu leisten, denn Hilfe anzubieten und so zu
tun, als ob man Hilfe leisten könnte, und es dann nicht zu tun, weckt Hoffnungen, die
dann nicht honoriert werden können; das ist auch nicht das, was Menschen in Not
brauchen. Es ist ein ganzer Strauss von Fragen, von Gedanken, die einem dann durch
den Kopf gehen.

Aber letzten Endes - und wir sind ja nicht da, um über andere Staaten zu reden - es ist die
Frage, was hätte der Ständerat Schmid Anno 1944 gegenüber einem Sali Meier gesagt
oder gegenüber einem Alfred Götschel in Basel, der auch seine Glaubensgenossen
freigekauft und damit gerettet hat. Wäre das vor 40, vor 50 Jahren für mich eine Situation
gewesen, bei der ich mir diese Gedanken auch gestellt hätte, und wie hätte ich darauf
geantwortet. Das ist eine Frage, die wir uns heute alle stellen müssen in Bezug auf
unsere heutige Situation.

Denn was im Moment passiert mit der Aufarbeitung unserer Haltung im Zweiten Weltkrieg
sind zwei Dinge. Ich will einmal sagen, die eine Hälfte des Landes begibt sich in eine
einseitig selbstanklagende Haltung. Ich halte dies für ebenso falsch wie die andere
Haltung, die einfach sagt, wir haben gar nichts Schlechtes getan. Einfach a priori schlecht
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sein zu wollen, weil man nicht gut sein darf, und a priori gut sein zu wollen, weil man nicht
schlecht sein darf, sind beides falsche Haltungen. Die ganze Frage mit diesem „Das Boot
ist voll“ ist für mich die zentrale Frage, war das eine akzeptable Haltung damals. Ich
glaube, an dieser Frage entscheidet sich, ob wir recht gehandelt haben, oder ob wir nicht
recht gehandelt haben.

Gd.: Sie sagen, recht gehandelt oder nicht recht gehandelt, das klingt wieder eigentlich
nach Moral, also war es moralisch richtig - innerhalb dieser Frage, das haben Sie ja
eingangs gesagt, spielen eben auch ganz andere Kriterien als Moral eine Rolle. Und da
sind Güter gegeneinander abzuwägen. Herr Nationalrat Tschopp, Sie sind ja Politiker,
auch Sie hätten in die Lage kommen können, sei es in der Schweiz, sei es irgendwo in
der Welt, sich zu überlegen, was tue ich in der Kriegssituation - das müssen wir uns
schon vor Augen halten - wenn es darum geht, Tausende oder Millionen von
Menschenleben zu retten bei einem derartigen Angebot?

Tschopp: Herr Gschwend, darf ich vielleicht versuchen in zwei, drei Sätzen einen Einstieg
zu wagen in Ihr Thema. Ich fühle mich total überfordert. Für mich ist unter dem Stichwort
Staatsraison und Moral ein Spannungsfeld geäufnet zwischen der Ausrede und der
Überlebensfrage. Das hängt für mich stark zusammen, wie gross ist das Desaster, wie
sind die spezifischen Umstände einer jeden Zeit - ich bin 1940 geboren, ich sah zwar das
Elsass brennen, aber ich kann mich nicht in die Zeit des Zweiten Weltkrieges genügend
einleben, um Ihre konkrete Frage, wie hätten Sie gehandelt, wenn, zu beantworten.

Gd.: Entschuldigung, nur zur Präzisierung: Nicht, wie hätten Sie gehandelt, sondern nur,
was hätten Sie gegeneinander abgewogen, was wären Ihre Kriterien gewesen, um
allenfalls zu einem Entscheid zu kommen?

Tschopp: Ja eben, man muss da ganz differenziert vorgehen. Ich möchte Megadesaster
wie diese Zeit abheben von mehr oder weniger betrüblichen Ereignissen die uns betreffen
in meiner Funktion als Nichtkrisenpolitiker, weil bei allen Schwierigkeiten sehe ich keine
wirklich fundamentale Krise in der Schweiz. Aber ich hatte Gelegenheit, mich mit
Genoziden auseinanderzusetzen aus der Gegenwart. Und das macht mich redescheu.
Wenn Sie Pnom Penh sich dokumentieren, wenn Sie Ruanda sich dokumentieren, dann
geht das uns als Zeitgenossen etwas an. Und da finde ich, ist unsere Haltung sehr
diskutabel. Aber ich masse mich, obwohl ich das auf mich nehmen kann, wirklich nicht an,
mich in eine Situation der lautstarken Kritik meinen Eltern und Grosseltern gegenüber
hineinzusteigern, wie das - Herr Schmid hat das gesagt - jetzt gemacht wird. Nicht: „Wenn
wir das Sagen gehabt hätten, dann hätten wir, darf ich das so ausdrücken, die Juden
gerettet.“ Da getraue ich mich nicht vor. Warum? Weil zur damaligen Zeit Europa, wie vor
einigen Jahren Kambodscha, oder, zur Zeit noch, Ruanda, eine riesige Kloake. Und in
einer Kloake, da hat die Moral einen ganz anderen Stellenwert, es geht, wie der Brecht
sagte, zuerst ums Fressen, ums Überleben. Das müssen wir respektieren, bevor wir da
uns vorwagen. Ich glaube aber, dass natürlich wir unsere Bedrohungssituation
überschätzt haben. Die Idee vom vollen Boot wurde ja auch nicht so stark vom direkt
involvierten Volk in Umsatz gegeben, sondern eher von der Leitung.
Und die Beispiele, die Sie in den vorhergehenden Sendungen zitiert haben, sind natürlich
sehr spezifisch zeitgebundene Beispiele einer Gesellschaft, die sich aufdrängen will, die in
Europa alles ausser Funktion gesetzt hat, und da kamen natürlich wie die Ratten
Schlaumeier, Gauner, Schieber, haben sich da eingenistet. Und wenn ich eine Kritik
wagen darf, ich finde Ihre Beispiele B-Serie. Die für mich viel wichtigeren Fragen sind:
Warum haben wir die ganze Global-Dramatik - und das wissen wir heute aus ganz
fundierten historischen Untersuchungen - nicht wahrhaben wollen. Warum wollte
eigentlich niemand ab 1942 - 43, als das Desaster , das dann 42, 43 ganz total
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unglaubliche Proportionen annahm, warum wollte eigentlich niemand das unterbinden


militärisch? Aber in diese Problematik will ich eigentlich nicht einsteigen, weil wir als kleine
Schweizer, in unserer Umzingelung, haben das nicht so genau gemacht, wie wir
eigentlich hätten können, unser IKRK, unser moralisches Gewissen damals, hat es nach
eigenem Eingeständnis auch nicht gemacht, und andern, den kriegsführenden Mächten,
möchte ich eigentlich keine Lektionen erteilen.

Und noch ein Wort: Man tut immer so, als ob nur Politiker, die da mal irgendwann gewählt
wurden, eigentlich egal ob sie in einem Parlament sitzen oder in einer Regierung - ob nur
die das Sagen hätten und als ob nur die involviert wären. Auf einer Mikro-Ebene sind wir
alle angesprochen. Was tun wir, wenn morgen eine Geiselnahme passiert mit unserer
Tochter oder mit unserem Sohn, oder mit unserem Vater? Zahlen wir Lösegeld, oder
liefern wir die aus? Was tun Staaten heute bei der Geiselnahme? Zahlen wir und tun
dergleichen als hätten wir’s nicht gemacht?

Gd.: Aber genau was Sie jetzt gesagt haben, auf der Mikroebene haben wir auch eine
Verantwortung oder stehen wir in denselben Konflikten, das ist eigentlich die Begründung,
warum wir hier von einzelnen Menschen gesprochen haben, was Sie B-Ebene genannt
haben, oder einzelnen Organisationen: Diese Menschen oder diese Organisationen
haben versucht, Rettungsmassnahmen in die Wege zu leiten. Und die Staaten, die
Regierungen haben darauf reagiert oder nicht reagiert, und genau zum Beispiel haben die
Vereinigten Staaten, bewusst, die Regierung gar nicht wahrhaben wollen, dass die
Ermordung der Juden bereits organisiert, im Gange ist. Also in dem Sinn - das ist die Idee
unserer Sendung von diesen Reaktionen auf die versuchten Aktionen von Einzelnen,
seien es Agenten oder Gruppierungen, auf diese Reaktionen oder Nichtreaktionen zu
sprechen zu kommen.

Darf ich noch Herrn Professor Goldschmidt ins Gespräch bringen, Sie sind Philosoph,
aber als Philosoph sind Sie ausgegangen von politischer Realität. Was sind aus Ihrer
Sicht Kriterien, die da neben dem moralischen Anspruch entscheidend sind?

Goldschmidt: Es handelt sich bei der Staatsraison um Völker und Staaten, um


Staatsvölker die die Staaten tragen, und deren Masstab ist die Erhaltung ihres
Kollektivums, ist die Macht. Und diesen Satz des Machiavelli, den Sie an den Anfang
gestellt haben, würde ich unterschreiben. Würde ich unterschreiben, was zunächst die
Macht betrifft. Ein Problem, das taucht jetzt auf, wenn wir erst einmal zugeben, dass es
Geschichte gibt, dass es Macht gibt, dass es in der Geschichte den Kampf um die Macht
gibt als einen Kampf um Tod (???), dann taucht die Frage auf, wie steht es mit der Moral,
wie steht es mit den Folgen der Macht, wo sind die Grenzen der Macht? Aber das erste,
was wir klar zugeben müssen: Dass Staatsraison nicht eine Erfindung der Staaten ist,
sondern ihr Lebenselixier. Dass Staaten dafür da sind, dass sie sich erhalten. Dass sie ihr
Kollektivum organisieren, strukturieren, schützen können. Und diese Aufgabe der
Staatsraison geht - ihre Grenzen lasse ich jetzt noch aus - über das, was das Individuum
sich wünscht und das Individuum braucht, hinaus.

Gd.: Aber inwiefern - weil, ich habe schon, als Herr Tschopp vorhin gesagt hat „zuerst
kommt das Fressen und dann die Moral“ - kann man wirklich sagen, auf der individuellen
Ebene und auf der staatlichen Ebene stellt sich das Problem genau gleich?
Goldschmidt: Ja, das Fressen, wenn Sie unter dem Fressen die Wirtschaft verstehen
wollen, dann kann man das zur Not noch akzeptieren, aber einem Staat - es geht doch
nicht bloss ums Fressen, sondern es geht um die Erhaltung der Willensnation Staaten
sind etwas Grossartiges. Bei aller Brutalität. Bei aller Mörderei. Die Geschichte der
Staaten, seitdem es sie gibt, also 4000 vor Christus, seit 6000 Jahren, seit sich die
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grossen Verwaltungsapparate gebildet haben an den grossen Flüssen dank der Erfindung
der Schrift, Staaten sind grossartige Individuen. Nur eben kollektive Individuen. Und sie
haben einen anderen Lebenszug als wir mit unseren paar Jahrzehnten.

Gd.: Herr Schmid?

Schmid: Wenn ich bei dem , was Herr Professor Goldschmidt jetzt ausgeführt hat, jetzt
anknüpfen darf, nämlich dass der Zweck des Staates seine Selbsterhaltung ist, und dass
die Staatsraison die Selbsterhaltung des Staates ist, dann meine ich, kann man
festhalten, dass ein Teil der Irritation, die wir heute in der Schweiz empfinden, mit Bezug
auf diese ganze Diskussion um unser Verhalten im Zweiten Weltkrieg und nachher auch
daher rührt, dass diese Staatsraison bei uns in der Schweiz stets als moralisch
empfunden worden ist. Und zwar wegen der Neutralität, die heute so angefeindet wird.
Warum? Die Erhaltung des Staates war bei uns - so bin ich durch die Schulen gegangen,
so bin ich gelehrt worden - stets nicht aggressiv. Der Neutrale ist friedfertig. Der Neutrale
ist nicht aggressiv. Er will keinen zusätzlichen Lebensraum. Er bedrängt die anderen
nicht. Er steht zurück, er hält sich ausserhalb der Sicht der Grossmächte, er schaut zu, er
will niemandem an den Kragen. Das ist eine ganz tiefe Meinung innerhalb unseres
Volkes, dass Neutralität eben nicht moralisch negativ ist, sondern dass sie ein moralisch
positiver Aspekt innerhalb der Staatsraison darstellt. Und daher kein Gegensatz zwischen
Staatsraison in der Schweiz und Moral darstellt. Was wir dabei übersehen, ist, dass
natürlich Moral nicht nur gebieten kann, nichts Schlechtes zu tun, sondern Gutes nicht zu
unterlassen. Und in diesem Sinne, um aktuell zu sein, habe ich von Anfang an gesagt, ist
die Solidaritätsstiftung eine gute Sache. Es ist ein Appell an die Schweiz, ihre Neutralität
im Sinn einer positiven, einer solidarischen, einer tätigen, einer helfenden Solidarität zu
verstehen. Und von daher würde ich durchaus sagen, Staatsraison und Moral müssen
nicht notwendigerweise auseinanderfallen.
Gd.: Herr Tschopp, noch einmal zur Frage Vergleich Staat und Individuum haben Sie sich
vorhin gemeldet, also dass das Ueberlebensprinzip als Legitimierung von allem in
gewissem Sinn.

Tschopp: Herr Goldschmidt, ich habe ein wenig Problem, wenn Sie sagen, Sie können die
Worte von Machiavelli unterschreiben. Warum? Ich kann sie persönlich nur dulden, weil
ich einfach sehe, dass Macht etwas mit Kollektivem zu tun hat, über unsere Zeitspanne
hinausgeht, und dass der Erhaltungstrieb des Staates ihn dazu zwingen kann, sich über
individuelle Moralsätze hinwegzusetzen. Ich habe aber doch ein wenig Mühe, weil ich
kenne keine Staaten, und heute weniger denn je, weil alles personifiziert wird wie zu
Zeiten von Ludwig XIV. Ich kenne nur Staatschefs. während dem Zweiten Weltkrieg
hatten wir sehr wenig Akteure, die a) informiert waren, b) die rechtliche Möglichkeit hatten,
die Information wirklich zu verarbeiten, denn wir hatten einen General, der hatte
weitgehende Kompetenzen und einen Apparat, und wir hatten eine Regierung - das
Parlament war ja ausgeschaltet. Also wir hatten nur so eine Art pro forma Parlament
während dem Zweiten Weltkrieg. Und darum glaube ich , kollektive Verantwortung und
individuelle Verantwortung lassen sich nicht so klar abtrennen. Und darum möchte ich
eigentlich sagen, ich bin genügend Realpolitiker, um natürlich einem Genie wie
Machiavelli Recht zu geben, es kommt mir auch vor, dass ich anderen Sozialpolitikern
und Philosophen Recht gebe wie Karl Marx und so weiter, weil sie Genie haben, aber das
unterschreiben als Person, da habe ich einige Mühe.

Gd.: Haben Sie moralische Bedenken eigentlich? Ich meine, es gibt ja Opfer, und das
ganze ist mit der Macht -

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Tschopp: Ja, ich versuche mir einfach zu sagen in dem Spannungsfeld zwischen
Überlebensfrage des Staates und fauler Ausrede bei persönlichem Machtanspruch war
die Kompromisspolitik, die wir mit einer erkannten Wahrheit betrieben haben, und wenn
ich wir sage, dann sind das alle anderen als die Nazis, war die moralisch berechtigt? Und
ich komme zum Schluss, sie war es nicht, und darum hüte ich mich vor Morgarten über
Leute wie diejenigen, die Leute ausbezahlt haben, herzufahren. Ich respektiere die.

Gd.: Herr Goldschmidt?

Goldschmidt: Ja, der erste Punkt, den Sie berührt haben, die Rolle der Staaten. Dieses
kollektive Individuum blüht seit Jahrtausenden, und ihm verdanken wir das, was wir immer
wieder bewundern, Kunst, Bauten, Strukturen, und die Möglichkeit des Individuums, wir
sehen das heute, wo die Staaten versagen, Afrika, Asien usw., dass eben dann auch
nicht schöpferisch gebaut werden kann. Und auf der anderen Seite ist die andere
individuelle Möglichkeit diejenige des Individuums. Des einzelnen Menschen. Und damit
stehen wir auf dem Boden der Moral. So wie ich auf der einen Seite die Macht im Sinne
Machiavellis dem Staat zusprechen würde und auf der andern Seite das Erwachen des
Individuums zwischen gut und böse. Zwischen gut und böse. „Wie man sich richtet, ist
man gerichtet“ ist eine der Formulierungen, auf die ich stolz bin. Das wird dem Kind
beigebracht, ein Gewissen zu haben. Man muss das Gewissen der Menschen wecken.
Das fängt an bei der Gerechtigkeit, beim Verteilen, beim sich Beherrschen, , es entsteht
ein Gewissen, und mit dem Gewissen entsteht das Individuum. Es ist auch die Gefahr der
Dressur da, das autoritäre Gewissen, das Individuum muss diesen autoritären Zwang
durchbrechen, aber Moral ist die Art und Weise, in der ein Individuum nun sich selber
entfaltet, im Widerspruch zur Entfaltung des Selbsterhaltungsanspruchs eines Staates,
ohne das er nicht als Individuum existieren könnte, und wenn ich das als letztes beifügen
darf, was einer der beiden Herren angetönt hat, wir leben in einem Jahrhundert des
ungeheuren Individualismus. So viel Chancen wie das Individuum im 20.Jahrhundert
gehabt hat, hat es noch nie gehabt. In diesem Ausmass. In dieser Zahl! Und das hat dazu
geführt, dass wir unseren Masstab, das Moralische, von dem das Individuum abhängt,
nun auch zum Masstab der kollektiven Individuen machen. Dass wir ganz naiv vom Staat
verlangen, dass er sich wie ein Individuum verhält. Wie wir es sind. Statt wie er es ist.

Gd.: Aber ist es nur naiv, dies zu erwarten?

Goldschmidt: Das ist naiv. Nur naiv.

Gd.: Ja, aber es ist doch so, dass - und damit möchte ich auch Herrn Elam noch ins
Gespräch bringen, der jetzt geduldig zugehört hat, der allerdings uns ja das Material
dargelegt hat in den vorangehenden Sendungen - ich behaupte, dass Moral auch ein
Werkzeug der Staatsraison ist. Dass also Staaten behaupten, moralisch zu handeln,
damit sie die Zustimmung haben zu einem Verhalten, das vielleicht nach derselben Moral,
die der Staat gerade als Werkzeug verwendet, unmoralisch ist, also zum Beispiel, dass
man sagt, es gibt einen guten Krieg, einen Krieg, dessen Ziel man als moralisch hinstellt,
aber es gibt Opfer. Und es gibt nicht nur Opfer derer, die man angreift, sondern ein
Kriegführender Staat hat immer auch in sich selber Opfer. Die Staatsraison selber kann
auch als Werkzeug missbraucht werden, das Prinzip Staatsraison selber kann
missbraucht werden, indem man sagt, es ist für den Staat notwendig, dies und jenes zu
tun, und die Opfer auf der individuellen Ebene, die sind dann einfach notwendig. Aber
dieses Prinzip kann missbraucht werden. Herr Elam, Sie haben ja eigentlich gerade auch
deshalb die Beispiele mit mir zusammen ausgewählt, die wir vorgelegt haben, weil sich
hier zeigt, dass zum Teil auch das Prinzip „Staatsraison“ missbraucht wird und dass es zu

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viele Opfer dabei gibt.

Elam: Ja, ich muss leider Professor Goldschmidt seinem Verständnis von Staat ein
bisschen widersprechen. Der Staat ist nicht etwas Homogenes, sind verschiedene
Gruppen, Interessesgruppen, abgesehen von absolutem totalitärem System, weiss nicht,
im Nationalsozialismus oder Sowjetrussland usw. Aber sobald man die Versuchung
kommt, von demokratischen Systemen zu reden, dann ist die Rede sofort von
verschiedenen Interessengruppen, allenfalls von Machteliten. Wirtschaftliche, politische,
gesellschaftliche usw. Und wenn man redet vom Staat oder von den Interessen vom
Staat, muss man direkt die Frage stellen, von welcher Gruppe redet man. Und das gilt
auch für die Schweiz im Zweiten Weltkrieg Es sind sicherlich verschiedene
Gruppierungen, verschiedene Kräfte, es gibt da sogenannte das einfache Volk und die
Politiker, die haben unterschiedliche Wissensstand und auch Handlungsmöglichkeit. Das
gilt nicht nur für die Schweiz, das gilt für andere Organisationen, das gilt für vorstaatliche
Organisationen. Für mich, in dieser Sendung geht es dieses Verständnis auch für die
Rolle, sagen wir für jüdischen Nationalismus bzw. Logik in den USA, was dort abspielt
bezüglich Rettung von Juden. Und da müssen wir die Frage stellen, welche Interessen
haben diese Machteliten vertreten, War die Rettung der Juden auch bei jüdischen
Nationalisten in den Vordergrund gestellt? Die Frage wird anhand von meinen Befunden
eher verneint. Die Frage stellt sich auch in Richtung der Schweiz. In diesem Handel,
konkret, Freikauf von Juden, kommen verschiedene Elemente von Schweizerischer Politik
zum Zuge. Erstens stand man da sehr skeptisch bzw. ablehnend gegenüber diesen
Möglichkeiten, zweitens war da etwas, das aus meiner Sicht die schweizerische Politik
oder wirtschaftliche Interesse charakterisiert, man versuchte, aus dieser Situation Profit zu
schlagen. Da ging es unter anderem um eine Bezahlung in Dollars, in US-Dollars. Und die
Schweizerische Regierung versuchte diese Möglichkeit, gerade die Blockade von den
Amerikanern zu durchbrechen. Also da war da die Rettung von diesen Gewaltopfern
wurde als ein politisches Instrument missbraucht. Die Frage stellt sich dann eben - wie
gesagt, es ist nicht nur die Logik der Schweiz damals oder der USA damals oder der
jüdischen Organisation - die Frage, die sich stellt, oder die auch von Herrn Tschopp
wieder formuliert wurde, hat diese Logik seitdem sich geändert?

Schmid: Aber sollen wir uns wirklich über die Zeit von damals empören? Das ist für mich
das zentrale Thema. Was die Amerikaner wussten, was die Engländer wussten, das ist
mir eigentlich egal. Wir werden nicht besser, wenn wir die andern schlechter machen.
Aber ich will für meine Vorfahren will ich Gerechtigkeit auch haben. Mit andern Worten,
wenn ich in die Situation komme und mir den Regierungsrat vom Kanton St. Gallen
vorstelle, die ganze Frage mit diesem Grüninger, der übrigens in dieser ganzen
Geschichte Mayer ebenfalls dabei war, oder wenn ich mich als Bundesrat sehe in diesen
Jahren, dann stellten sich doch verschiedene Fragen. Die Frage stellt sich, die erste, was
weiss ich tatsächlich? Was weiss ich wirklich? Zweitens, was für ein Mensch bin ich? Bin
ich ein notfester Mensch, oder habe ich immer Angst. Drittens stellt sich die Frage, was
will ich ? Bin ich überzeugt, dass das Land bei einer bestimmten Tätigkeit meinerseits in
Gefahr kommt, ja oder nein? Also das ist ein ganzer Fächer von Fragen, die muss man
beantworten können. Und ich komme nochmals auf die Neutralität. Ich meine, die Frage,
ob wir jetzt etwas Geld hereinholen wollten, unsere Vorfahren damals, das ist eine
Einzelfrage. Dann ist das Prinzip die Hauptfrage. Kann man vom Bundesrat 1944
verlangen, mit Recht verlangen, bei Licht besehen, dass er die Neutralität aufgibt, dem
Nazideutschland den Krieg erklärt und damit einen positiven Akt im Sinne der Moral tut?
Was ist dann in diesem Sinne Moral? Nehmen wir an, anno 44 wäre Deutschland noch in
der Lage gewesen, die Schweiz zu überrollen. Die Schweiz mit genau dem gleichen
Schrecken zu überziehen, mit welchem Deutschland alle anderen Staaten in Europa
überzogen hat. Ist das eine moralische Haltung? Ist einfach das, dass man sich auch
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noch dem Leiden unterzieht, das alle anderen getroffen hat, ist das moralisch? Ist es nicht
irgendwo auch selbstgerecht? Man kann hinterher noch sagen, wir waren nicht besser als
die andern? Es ging uns nicht besser als den andern? Oder ist nicht die Aufgabe der
Politik, der Staatsleitung, eben primär für das eigene Volk zu schauen? Und dann gibt es
eben solche Händel, die im konkreten Fall dégoutant sind. Nicht , dass man Menschen
gerettet, hat, sondern dass man sich dafür auch noch etwas hat bezahlen lassen. Und da
meine ich, da müssen wir differenzieren, und da müssen wir schauen, werden wir den
Akteuren von damals gerecht, und werden wir im Prinzip der Neutralität gerecht?

Gd.: Aber gibt es nicht zweierlei: Gibt es nicht Handlungen, die sich zwangsläufig
ergeben aus dem Prinzip der Selbsterhaltung des Staates, die Opfer verlangen
zwangsläufig, und andererseits Missbrauch dieses Prinzips? Also dass man bewusst das
Prinzip hochhält und so tut, als ob es einem um das Ganze ginge, und faktisch geht es
einem um etwas anderes?

Schmid: Das ist die Frage der Beurteilung der Akteure von damals.

Tschopp: Darf ich bei Herrn Elam anknüpfen und noch einmal wiederholen, ich habe
Mühe mit so Globalbegriffen, „Der Staat“, wie wenn der, Herr Goldschmidt, ein Individuum
wäre, ein kollektives Individuum, Schweiz, Vereinigte Staaten - mir kommt es, auch Zeit
des Zweiten Weltkrieges, viel differenzierter vor. Ich mache zum Beispiel als Ökonom
einen grossen Unterschied zwischen der CH Nationalbank in ihrer Eigenständigkeit. Dem
General Guisan, seinen Stabsleuten und dem Bundesrat. Weil, ich habe mich einfach
dokumentieren können, und sehe, dass das sehr komplex ist. Ueber das Schweizer Volk
kann ich nicht reden. Ich habe das nur als Bub miterlebt, und das sehr beschränkt. Darum
erlauben Sie mir vielleicht auf Ihre Frage einzugehen mit einem Praxisbezug heute. Denn
wenn wir machen ja diese Vergangenheitsbewältigung, die uns schwertut, Herr Schmid
hat gesagt, wir sehen uns gerne bei den Guten, aber das tun die andern auch. Die
machen wir nicht als Selbstzweck, sondern um unsere Gegenwart besser bewältigen zu
können, besser im Sinn von Gut.
Gd.: Ich möchte ein Stichwort da hineinbringen, das mir wichtig scheint, nämlich das
Stichwort Verantwortung. Alles, was Sie jetzt gesagt haben, Herr Tschopp, ruft bei mir die
Frage hervor: Wer hat denn wofür Verantwortung? Also Sie sagen, wir sollen den Staat
nicht vergötzen, und der Staat ist nicht ein Individuum, das ist ein Zusammenspiel von
Kräften und Mächten und eine Auseinandersetzung, jedenfalls in der Demokratie, und
eigentlich auch in der Diktatur, die sich gegen andere Kräfte durchsetzen muss - wer trägt
denn da überhaupt Verantwortung?
Tschopp: Ja, ich möchte natürlich nicht aufhören in dieser Diskussion mit einer
Lobhudelei über die Schweiz. Aber wir sind eines der ganz wenigen Länder, in denen wir
die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger institutionalisiert haben. Wir stimmen über
grundlegende Fragen ab. Das konnten wir uns während dem Zweiten Weltkrieg nicht
leisten, weil wir mussten die direkte Demokratie aussetzen, um staatlich zu überleben.

Gd.: Herr Goldschmidt, Sie sind verschiedentlich angesprochen worden, vor allem mit
Ihrer Auffassung von Staat.

Goldschmidt.: Ja, und vorher möchte ich noch ganz kurz auf die Neutralität
zurückkommen. Ich möchte sagen, dass Sie in Ihrer Schulzeit eine zu harmlose
Neutralität mitbekommen haben, während man in ihr das sehen kann, erstens wehrhaft,
wehrhafte Neutralität. Und zweitens qualitatives Wachstum. Ein Wachstum, also seit
Marignano, nicht nach aussen, auf Kosten der andern oder der Umwelt im Sinne des
quantitativen Wachstums, sondern qualitatives Wachstum, Wachstum nach innen,
Vertiefung, Insofern ist die klassische Neutralität der Schweiz seit Marignano noch immer
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eine ganz zentrale, nicht mit Waffen bewährte, aber trotzdem ungeheuer kämpferische,
und Mut und Tapferkeit und anderes erfordernde Haltung. Also die Neutralität ist noch
nicht vorbei. Allerdings in ihren Schwachheitszuständen etwas sehr Vergangenes. Das
andere, was noch hinzuzufügen ist, wenn die harte, die brutale Realität der Macht betont
wird. Und im Sinne auch Machiavellis mit dem Staat bei ihm identifiziert wird, wäre die
nächste Frage, vor allem dann, wenn man die Moral nicht als eine Grenze der Macht
akzeptiert - wo liegt die Grenze der Macht? Und da ist über Machiavelli hinauszugehen.
Da versagt er, der zunächst als Mann der Renaissance ein neues Prinzip entdeckte, eben
den souveränen Staat. Wo liegt die Grenze der Macht? Erste Grenze sind die anderen
Mächte. Das erleben wir heute weltweit. Das zweite ist der Übergang, die immer wieder
neue Gefährdung der Macht durch den Übergang in Gewalt. Das heisst, zwangsweise
Anwendung der Macht. Echte Macht ist gewaltfrei. Und dann sind die Folgen zu
bedenken. Ich würde nicht so sehr es schon gerade als moralische Folgen sehen. Hat der
Staat gut gehandelt oder nicht? Sondern, was folgt aus der Grenzschliessung
beispielsweise? Was folgt aus dem Antisemitismus? Das ist ja auch ein Punkt. Was folgt -
wir haben das hier nicht berührt, weil uns die Dame leider entgangen ist , was folgt aus
der Macht der Männer? Denn das ist unzweifelhaft also auch etwas, das uns hier
beschwert. Diese Macht und diese Gewaltversuchung der Macht immer wieder
hinauftreibt. Bis zur Macht des Computers heute - also so viel wollte ich noch hinzufügen.

Gd.: Ich glaube, Herr Schmid, diese Frage ist eine, mit der Sie sich auch als Jurist
auseinandersetzen, die Frage der Grenze dieses Prinzips Staatsraison, also wo wird
dieses Prinzip missbraucht, und die Frage der Verantwortung ganz sicher auch.

Schmid: Ich meine, die Macht des andern begrenzt meine Macht, Die Staatsraison des
andern begrenzt meine Staatsraison. Wo dann die Moral als Begrenzung der Staatsraison
kommt, ist eine Frage, die von Ort, Zeit, Bildung der einzelnen Akteure abhängt. Und
dann kommt hierhin vermutlich der Begriff der Schuld. Wer Moral in dem Sinne akzeptiert,
dass bewusstes und willentliches schädigendes Verhalten anderer etwas ist, das unser
Zusammenleben nicht befördert, der wird dann schuldig in dem Sinn. Das ist aber
vermutlich nicht auf Staaten zu beziehen, sondern auf Individuen.

Gd.: Kann das nicht auf Staaten bezogen werden? Das ist dann wieder die Frage anders
gestellt, die ich vorhin gestellt haben, die Frage der Verantwortung?

Schmid: Gibt es Kollektivschuld? Gibt es kollektive Verantwortung? In der Summierung ja,


aber im Prinzip nicht ohne Einzelverantwortung.

Gd.: Herr Goldschmidt.

Goldschmidt: Da würde ich strenger vorgehen. Entschuldigen Sie. Gerade weil wir das
jetzt so erleben, zu unserem Schrecken und zu unserer Bestürzung, und für viele auch
zur Erfahrung einer scheinbaren Ungerechtigkeit. Schuld holt die Nichtschuldigen ein,
dort, wo sie die Schuldigen nicht hat einholen können. Das kann Generationen gehen. Die
Juden grübeln noch heute darüber nach, warum Moses einen Ägypter erschlagen hat,
nachdem er sich umgesehen hat, ob jemand ihn sah, wohlgemerkt, das ist der
entscheidende Punkt! Er tat’s bewusst! Und das arbeitet noch heute an uns! Und wenn
Sie so wollen, dieses moralische Gefühl gibt uns auch Kraft. Schuld, also das akzeptiere
ich als Begriff der Folgen ohne weiteres eigentlich. Man schuldet etwas. Und die einen
kommen davon, und die andern werden eingeholt. Und von einem umgekehrten Beispiel
noch gesagt: Man hat gedacht, wir haben’s erlebt: Die in Auschwitz Ermordeten, damit hat
sich’s, die sind tot. Davon ist keine Rede! Das lebt in den Kindern, das lebt in den
Kindeskindern weiter. Die Urenkel müssen psychoanalytisch behandelt werden. Werden
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eingeholt als Opfer, nicht bloss als Schuldige! Insofern zeigt es sich doch, dass eben wir
Individuen mit unseren paar Jahrzehnten, ich sehe mich selber schon im Grabe liegen,
dass wir Individuen mit unseren paar Jahrzehnten eben nicht das Ganze ausmachen, und
dass die Existenz kollektiver oder überindividueller Individuen, die auf ihre Weise eben
auch Individuen sind, durchaus dass es das auch gibt. Im Widerspruch zueinander, und -
Sie kennen mein Buch, Herr Gschwend - das ist etwas Schöpferisches, Positives. Dort,
wo widersprochen wird, ist die Welt in Ordnung. Dort, wo nicht widersprochen wird, ist sie
in Unordnung. Totalitär, wie Herr Elam gesagt hat.

Schmid: Der Ideengang von Ihnen ist überzeugend. Auf der anderen Seite bietet er keine
Zukunft für den Frieden. Wenn jede Generation die Erbschaft der vorhergehenden
automatisch mitnehmen muss, dann führt das zu Verhältnissen, wie man sie auf dem
Balkan hat. Kann es nicht eines Tages so kommen, dass man von Blutrache und von
Blutschuld über Generationen Abschied nimmt und sagt, lassen wir es einmal gut sein.
Sicher nicht deswegen, weil jetzt - ich habe es mit Herrn Gabbialavetta. Wir müssen bis
an den Boden hinab untersuchen, was getan worden ist, und wir müssen in jedem
Einzelfall Gerechtigkeit passieren lassen. Das ist unsere Pflicht. Aber dann hat es
irgendwo eine Grenze.

Goldschmidt: Doch, da bin ich einverstanden. Das wäre auch Glaubensgewissheit, der
Friede zuletzt! Der Friede zuletzt! Indem man aber nicht totalitär Einheitsfrieden macht,
sondern pluralistisch Vielfalts-Einigkeit.

Schmid: Man darf auch anderer Meinung sein.

Goldschmidt: Bei Mann und Frau angefangen!

Gd.: Ja, aber das klingt ein bisschen einfach jetzt plötzlich -

(Lachen)

Goldschmidt: Es ist einfach, Herr Gschwend!

Gd.: Sie haben gesagt, Herr Schmid, man kann doch nicht über Generationen ständig
Schuld tragen, einmal muss man fertigmachen. Aber die Frage ist für mich, wie trägt man
Schuld, wie geht man mit Schuld um? Kann man einfach sagen, einmal muss man einen
Strich machen, oder gibt es andere Möglichkeiten, mit Schuld umzugehen, damit man
tatsächlich dahin kommt, dass trotz Schuld Friede möglich ist?

Elam: Also ich glaube, Herr Schmid, Sie haben vorhin ein Stichwort geliefert. Nämlich
Schuld ist mit Verantwortung verknüpft, und die Verantwortung muss man
auseinanderdividieren. Einmal für die Täter, und einmal für Leute, die von einem
Verbrechen profitiert haben. In irgend einer Art und Weise. Und da sind in dieser Gruppe,
wenn ich an die Differenzierung oder Kategorien von Professor Hilberg mich anlehnen
darf, der hat angesichts der Judenvernichtung drei Kategorien hergestellt, von Tätern, von
Opfern und von Zuschauern bzw. von Wegschauern, das heisst auf Englisch Bystanders.
Bei den Juden können wir diese beobachten, bei den Schweizern und so weiter. Und die
Verantwortung, die heute da besteht, bezieht sich nicht auf - sagen wir - Nachfolgerschaft
von Tätern oder Nachfolgerschaft von Opfern. Sondern es steht zur Diskussion, es wurde
da Profit gemacht, sagen wir, die Schweiz hat Profit von diesen Geschäften bezogen, und
das ist offensichtlich. Und von dem her - und ich bin grundsätzlich gegen eine kollektive
Verantwortung - und von dem her ist jeder Mensch, der da in der Schweiz lebt - ich bin ein
Ausländer, aber ich profitiere von diesem Wohlstand in der Schweiz. Insofern bin ich auch
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irgendwie verantwortlich und muss auch irgendwie für diese Situation grade stehen. Also
es ist insofern muss man da einerseits differenzieren, und aus meiner Sicht, es bringt
nichts, wenn man an verschiedene Mythen sich haltet, wie dieser Mythos von - von mir
aus gesehen - Neutralität -

Schmid: Warum ist das ein Mythos?

Elam: Ein Mythos - ich finde, jeder Nationalstaat braucht Mythen. Konkret, die Neutralität
als solche, wie auch Demokratie von mir aus gesehen, sind Zustände, die nicht erreicht
werden können. Weil, es gibt verschiedene fliessende Interessen, und es ist nicht eine
statische Situation, und da muss man von Fall zu Fall handeln, Goldschmidt: Da sind wir
nicht einverstanden. Schmid: M-m. Elam: und da sieht man, wenn man die Rolle der
Schweiz im Zweiten Weltkrieg anschaut, dann muss man sagen, es ist sehr sehr
schwierig zu sagen, welche Gruppe hat in der Schweiz mit den Nazis sympathisiert,
welche Gruppe hat mit den Amerikanern sympathisiert, welche mit den Briten, usw. Also
es sind verschiedene Gruppierungen, und wenn man sie zusammenaddiert, es ist die
Frage, die noch im Raum steht, also ich liefere da keine Antwort, die Frage ist da, unter
dem Strich war die Schweiz quasi neutral. War das Verhalten gegenüber Deutschland
genau gleich wie gegenüber westlichen Alliierten. Man kann sagen auch, was Sie vorhin
formuliert haben, ja, muss man sich riskieren zugunsten von einem anderen Mensch? Als
Staat, als Individuum. Und das ist eine echte moralische Frage. Musste die Schweiz sich
für einen anderen Mensch, also für eine andere Gruppe von Menschen riskieren, und die
Frage stellt sich in den Raum, Ich glaube, von einem moralischen Standpunkt, die Frage
ist: Ja.

Schmid: Nein.

Elam: Es ist im alten Testament, wo auch für Christen Teil hat, da fragt Gott: Kain, wo ist
dein Bruder!

Schmid: Was hat Kain gemacht? Kain hat Abel erschlagen. So kenn ich die Bibel. Ich
glaube, da ist doch ein Unterschied!

Elam: Jaja. Aber er sagt, es geht mir nicht an. Ich trage keine Verantwortung!

Gd.: Also wir sind eigentlich wieder am Anfang unserer Diskussion, nämlich - jetzt haben
Sie ganz klar den moralischen Gesichtspunkt vollkommen in den Vordergrund als den
Entscheidenden doch hingesstellt. Herr Schmid, Sie haben schon lange Protest
angemeldet.

Schmid: (..) Es geht nicht um Protest, sondern einfach - jetzt bin ich schockiert. Denn am
Schluss sind wir jene, die die Judenermordung noch zu verantworten haben. Und ich
glaube da, - das sprengt die Grenzen dessen, über das ich sprechen kann.

Gd.: Haben Sie das gemeint?

Elam: Es gibt also bei der Ermordung gibt es verschiedene Arten von Verantwortung. Ich
würde mich hüten, mit Ausnahme von verschiedenen Leuten, die von der Schweiz aus
aktiv an der Ermordung teilgenommen haben, ich würde mich hüten, diese Behauptung
zu wiederholen. Es gibt aber trotzdem eine gewisse Verantwortung, die nicht nur bei den
direkten Tätern, sondern bei alle diejenigen, die eine Tat nicht verhindern. Und das betrifft
nicht nur die Schweiz. Und diese Behauptung, von mir aus gesehen in diesen zwei
Sendungen, anhand von meinen Befunden und von meinem Glauben denke ich, die
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Rettungsversuche der Juden im Zweiten Weltkrieg waren, da, waren realistisch, waren
möglich, und noch dazu, sie wurden nicht richtig geprüft. Und sobald dass man die
Chance annähernd versucht hat, nachzugehen, war der Beweis da, dass es tatsächlich
möglich war.

Schmid: Sehen Sie - das ist wieder eine andere Diskussionsebene. Hier stellt sich die
Frage, haben wir alles mögliche getan, um Personen, bei denen wir die Möglichkeit
gehabt hätten, sie zu retten, ja oder nein. Aber die Frage, ob wir als Staat uns während
des Zweiten Weltkrieges zur Rettung nicht nur der Juden, sondern aller andern, die von
diesem schrecklichen Regime überfallen worden sind, auch noch in den Krieg hätten
stürzen müssen, das ist eine Frage, die ich schlicht verneine. Das glaube ich würde - ich
würde heute sagen können, als damaliger Verantwortlicher eines kleinen Staates hätte ich
vermutlich nicht anders behandelt.

Gd.: Also wir haben ja bewusst diese Frage in einen Zusammenhang gestellt, in dem
nicht nur die Schweiz steht, in den beiden vorangehenden Sendungen, und dort ist ein
Zitat, das in diesem Zusammenhang wichtig ist, und mit dieser Ambivalenz, die ich mit
diesem Zitat in Zusammenhang bringe, möchte ich Sie bitten, mit mir zusammen die
Diskussion abzuschliessen, nämlich dieser Satz des Rabbiners Weissmandel, der in der
Slowakei von der Slowakei aus versucht, alles versucht hat, auch den ersten dieser
Händel eigentlich in grossem Stil zu realisieren, dass Juden freigekauft werden, und der
gekämpft hat, dass man ihm hilft bei seinem Versuch, freigekauft zu werden, und er hat
nicht den Schweizern und nicht bei den Amerikanern, sondern er hat seinen jüdischen
Glaubens- und Volksgenossen geschrieben, wenn ihr darum streitet, wie seriös das
Angebot ist, wenn ihr darum streitet, ob ihr Geld geben wollt usw., dann werdet ihr Mörder
an euren Brüdern. Kann man diese Argumentation, diese religiös-moralische
Argumentation, das möchte ich abschliessend noch einmal fragen, kann man diese auf
Staaten übertragen, inwiefern trägt da ein Staat Verantwortung, inwiefern nicht?

Schmid: Unter der Voraussetzung, dass er helfen kann, unter der Voraussetzung, dass er
sieht, wenn ich nicht helfe, sterben diese Leute, und unter der Voraussetzung, dass man
nicht vom Staat erwartet, dass er sich damit selbst aufs Spiel setzt als solches, würde ich
den Ausspruch dieses Rabbiners unterschreiben.

Goldschmidt: Bravo. - Bravo!

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