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Kritik an der patriarchalen Vernunft in der Dialektik

der Aufklärung

Westfälische Wilhelms-Universität Münster


Philosophisches Seminar
Seminar Th. W. Adorno/M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung (Einführung in
die Kritische Theorie)
Sommersemester 2007
Dozent Patrick Grodau, M.A.
Name Sven Lüders
Matrikelnummer 332750
Studiengang Magister Philosophie (Hf), Religionswissenschaften (Nf), Deutsche Phi-
lologie (Nf)
Fachsemester 04
Inhalt

1. Einleitung .............................................................................................................. 2

2. Feministische Philosophie und feministisch motivierte Vernunftskritik......... 3

3. Vernunftbegriff und Vernunftskritik in der Dialektik der Aufklärung ............... 4

3.1. Die Vernunft und ihre Position im Aufklärungsbegriff von Horkheimer und Adorno
................................................................................................................................... 5

3.2. Die Rolle der Vernunft in der Entstehung des Subjektes..................................... 6


3.2.1. Das männliche Subjekt in der Odyssee ............................................................ 7

3.3. Der Vernunftbegriff im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur .................... 10

3.4. Die patriarchale Vernunft und ihr Verhältnis zum Geschlecht............................ 11

5. Abschluss ........................................................................................................... 12

4. Verwendete Literatur .......................................................................................... 13

Seite 1
1. Einleitung

Als die Dialektik der Ausklärung1 1947 zum ersten Mal erschien, hatte es zwar be-
reits eine Frauenbewegung gegeben, eine umfassende Theoretisierung, wie sie mit
Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht 1949 in Gang gesetzt wurde,
stand aber noch aus. Es ist dennoch nicht verwunderlich, dass sich zahlreiche Femi-
nistInnen, wie etwa Seyla Benhabib2 auf die Kritische Theorie beziehen, da Kulturkri-
tik auch Patriarchatskritik3 bedeuten kann.

So treten zwei Dinge hervor: Zum einen fällt während der Lektüre der Dialektik der
Aufklärung auf, dass die Kritik am bürgerlichen Vernunftbegriff Ähnlichkeiten zu einer
geschlechtersensiblen Vernunftskritik aufweist. Zum anderen übt auch die feministi-
sche Philosophie in einer Weise Kritik an der Aufklärung, die der von Adorno und
Horkheimer ähnlich ist, nämlich, dass aus der einst egalitären Bewegung eine frau-
enfeindliche wurde, welche Frauen durch die Arbeits- und Rollenaufteilung auf den
Haushalt verweist und so benachteiligt und entfremdet.4

Deshalb stellt sich die Frage, ob die Vernunftskritik des Buches patriarchatskritisch
interpretiert werden kann. Um diese Frage zu beantworten, soll der Vernunftbegriff
des Textes mit dem der feministischen Philosophie verglichen werden. Den Ver-
nunftbegriff werde ich vor allem aus dem Exkurs Odysseus oder der Mythos der Auf-
klärung5, welcher nach Einschätzung der Autoren „Zeugnis [...] von der Dialektik der
Aufklärung“6 ablegt und dem einführenden Kapitel, zum Begriff der Aufklärung7, ext-
rahiert werden. Auf diese Weise soll dargelegt werden, dass sich die Vernunftskritik
des Textes in wesentlichen Punkten mit der feministisch motivierten Variante deckt.

Dazu werde ich zunächst die Zielsetzungen feministischer Philosophie erörtert, da


die geschlechtersensible Vernunftskritik vor allem in dieser Disziplin entstanden ist.

1
Horkheimer, Max u. Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente,
16
Frankfurt 2001.
2
Vgl.: Politische Möglichkeiten feministischer Theorie. Ein Gespräch mit Andrea Maihofer, S. 94-95,
in: Deuber-Mankowsky, Astrid u. Konnert, Ursula: Die Philosophin, Heft 11, Tübingen 1995, S. 94-105.
3
Der Begriff Patriarchat wird im Verlaufe dieser Arbeit immer in seiner Bedeutung der feministischen
Theorie gebraucht. Er soll zum einen die konkrete Herrschaft der Männer über die Frauen und damit
die Benachteilung weiblicher Menschen kennzeichnen, zum anderen steht er auch für eine Allgemeine
Dominanz des Männlichen über das Weibliche, bzw. dessen, was in dem Patriarchat als weiblich ge-
kennzeichnet wird.
4
Vgl.: Nagl-Docekahl, Herta: Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, Frank-
furt/Main 2000, S. 19
5
Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 50-87.
6
Ebd., S. 50.
7
Ebd., S. 9-49
Seite 2
Anschließend sollen die unterschiedlichen Aspekte des Vernunftbegriffs des Textes
aufgezeigt werden, um diese mit der feministischen Variante zu vergleichen.

2. Feministische Philosophie und feministisch motivierte Vernunftskritik

Der Begriff feministische Philosophie meint einen breiten Diskurs, welcher am besten
als ein „Philosophieren am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau“8 be-
zeichnet werden kann. Diese Tätigkeit wird durch zwei Argumente begründet und
gegen Kritiker verteidigt: Zum einen macht die reale Benachteiligung von Frauen in
der Gesellschaft9 ein feministisches Engagement notwendig, zum anderen ist es
auch die Philosophie, die zur Unterdrückung realer Frauen, wie des Weiblichen im
Allgemeinen beigetragen hat10.

Eine der Hauptaufgaben der feministischen Philosophie ist es, die Geschlechter(-
rollen) zu dekonstruieren11, um so die patriarchalen Gesellschaftsverhältnisse zu de-
legitimieren. Eine wichtige Rolle bei dieser Dekonstruktion hat die Kritik an Bipolaritä-
ten inne, dabei wird in Anlehnung an Derrida nicht nur die Dichotomie der Ge-
schlechter hinterfragt, sondern auch bipolares Denken im Generellen.12

Ein Beispiel für die Dekonstruktion einer Bipolarität bietet die Vernunftskritik. Inner-
halb der patriarchalen Symbolwelt wird „den Männern Vernunft, den Frauen hinge-
gen Irrationalität attestiert“13. Diese Zuschreibung ist von hoher Bedeutung für femi-
nistische Praxis, da die zugeschriebene Irrationalität sich für Frauen in der bürgerli-
chen Gesellschaft, in der die angeblich objektive Rationalität das Maß vieler Dinge
darstellt. Umgekehrt wirkt diese Verknüpfung aber auch auf Angehörige des männli-
chen Geschlechts negativ, da somit ein Konformitätsdruck entsteht, der abweichen-
de, unvernünftige Verhaltensweisen sanktioniert. Aufgabe der feministischen Ver-

8
Nagl-Docekal, Herta: Was ist feministische Philosophie?, S. 11, aus: dies. (hrsg.): Feministische
Philosophie, Wien 1990, S. 7-39.
9
Vgl.: „Dessenungeachtet sind in der Regel die Frauen in politischen Entscheidungsgremien, in Füh-
rungspositionen von Wirtschaft und Wissenschaft, wie in den höheren Lohngruppen insgesamt, wei-
terhin massiv unterrepräsentiert.“ (Nagl-Docekahl: Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme,
Perspektiven, S. 8).
10
Meyer, Ursula I.: Einführung in die feministische Philosophie, München 1997.
11
Dabei muss zwischen der älteren Einteilung von sozialem, veränderbaren Geschlecht (gender) und
dem biologischen, unveränderlichem Geschlecht (sex) und der neueren Auffassung des
(de)konstruktivistischen Feminismus, welcher zufolge Geschlechter als solche nur noch soziale Ord-
nungskategorien darstellen, unterscheiden.
12
Vgl.: Nagl-Docekahl: Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven, S. 38.
13
Ebd..
Seite 3
nunftskritik ist es an dieser Stelle die Willkürlichkeit der Verknüpfungen männlich-
rational und weiblich-irrational nachzuweisen und Alternativen zu benennen.14

3. Vernunftbegriff und Vernunftskritik in der Dialektik der Aufklärung

Zunächst einmal sind an dieser Stelle die Schwierigkeiten anzumerken, die zu bewäl-
tigen sind, wenn man die Bipolaritäten Aufklärung/Mythos, Vernunft/Unvernunft, Kul-
tur/Natur und schließlich Männlich/Weiblich versucht, in der Dialektik der Aufklärung
auf klare Begriffe zu bringen. So wird über die Bipolarität Aufklärung/Mythos folgen-
des angemerkt: „[S]chon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in My-
thologie zurück.“15 Da diese Bipolarität mit den oben genannten verwandt ist, gilt
ähnliches auch für die anderen (scheinbaren) Gegensatzpaare. Auch, wenn diese
Form der Begriffsnutzung eine Art von Kritik an den Begriffen offenbart, erschwert sie
dennoch eine Darstellung. Deshalb sollen die Bipolaritäten gemeinsam dargestellt
werden und die Verwandtschaften innerhalb des Textes zum Aufklärungsbegriff, zur
Entstehung des Subjektes, zur Kultur und schließlich zur Männlichkeit herausgestellt
werden.

Die wichtigsten Punkte des Vernunftbegriffes sind schon zu Anfang des ersten Kapi-
tels dargelegt, wenn Adorno und Horkheimer Bacons Verständnis der Aufklärung
untersuchen. Hier wird bereits die geschlechtliche Dimension der Aufklärung und
damit auch ihrer Hauptinstanz, der Vernunft, deutlich. So heißt es:

Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge,
die [Bacon] im Sinne hat, ist patriarchal: der Verstand, der den Aberglauben be-
16
siegt, soll über die entzauberte Natur gebieten.
Herrschaft, so geht es aus dieser Textstelle hervor, ist patriarchal. Selbst, wenn dies
von den Autoren nicht weiter beleuchtet wird, lassen sich aus der Wortwahl jedoch
Schlüsse ziehen, die sich vor dem Hintergrund meiner weiteren Untersuchung als
plausibel erweisen. Erweitert man die Deutung des Satzes, so kann man unter der
Grundannahme, dass die Vernunft (bzw. der „menschliche[..] Verstand“17) männlich
konnotiert ist und die Natur als weiblich vorgestellt wird, aus diesem Satz bereits ei-

14
Wobei es hier mehrere denkbare Wege gibt. So kann man eine weibliche Vernunft postulieren, Irra-
tionalität aufzuwerten oder gar den Vernunftbegriff als solchen abzulehnen.
15
Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 6.
16
Ebd., S. 10 (Hervorhebung von mir).
17
Ebd..
Seite 4
nige Thesen ableiten, welche der Text zum Geschlechterverhältnis und der Rolle der
Vernunft in diesem postuliert.

So ist die „Entzauberung der Welt“18 ein Vorgang, der mit Herrschaft einhergeht:
Herrschaft über die im Patriarchat als weiblich vorgestellte – Natur. Mit der Aufklä-
rung kommt also das Patriarchat in Gang, da sich der Verstand des radikal Anderen
bemächtigen will.

3.1. Die Vernunft und ihre Position im Aufklärungsbegriff von Horkheimer und
Adorno

Vor allem im ersten Kapitel, Der Begriff der Aufklärung, wird die Position der Vernunft
innerhalb der Aufklärung untersucht, dabei wird die Vernunft in dem Text als instru-
mentell dargestellt. Sie hat das Ziel, Herrschaft über die Natur zu erlangen und aus-
zuweiten. Die instrumentelle Vernunft ist die Hauptinstanz, auf die sich die Aufklä-
rung beruft und welche die Aufklärung ermächtigen möchte, wenn sie das Ziel hat,
„den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.“19 Das hat
weit reichende Folgen, denn wenn „Macht und Erkenntnis [...] synonym [sind]“20,
kann es keine Erkenntnis im Bezug auf Herrschaftskritik geben. Ebenso heißt es an
anderer Stelle: „Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als
die Vernunft in der Wirklichkeit.“21

Somit ist die (instrumentelle) Vernunft auch nicht in der Lage, sich selbst kritisch zu
untersuchen, da sie in ihrem eigenen System nicht zum Objekt gemacht werden
kann. Dies resultiert aus dem totalitären Anspruch, den die Vernunft hat – wenn gilt
„Aufklärung ist totalitär“22, dann heißt das ebenfalls, dass die instrumentelle Vernunft
einen Anspruch erhebt, alles zu erfassen. Dies geschieht grundsätzlich in einem ver-
einheitlichenden Denken.23 Dabei werden jedoch die Bereiche der Erfahrung vom
Denken getrennt, was letztlich zu einer „Verarmung des Denkens [und] der Erfah-
rung“24 führt.

18
Ebd., S. 9
19
Ebd., S. 9.
20
Ebd., S. 10.
21
Ebd., S. 28.
22
Ebd., S. 12.
23
Vgl. ebd., S. 13.
24
Ebd., S. 42.
Seite 5
Dabei werden viele Elemente gemäß einem rationalistischen Ausschlussprinzip au-
ßen vor gelassen. Alles, „[w]as dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich
nicht fügen will“25, wird aus der Vernunft ausgeschlossen. Damit verkommt sie zur
instrumentellen Vernunft, bei der Zweck und Ziel identisch sind. Ohne Ziele, die über
das Gegebene hinausreichen, kann das Gegebene nicht mehr verändert werden:

In der Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur ist die Sanktion der
Welt als ihres eigenen Maßes beschlossen. Was als Triumph subjektiver Rationali-
tät erscheint, die Unterwerfung des Seienden unter den logischen Formalismus,
wird mit der gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindli-
26
che erkauft.
Diese Form der Rationalität verengt allerdings nicht nur das Denken, sondern auch
den Menschen selbst: Da die Vernunft mit Dingen, die zu bereits erlangtem Wissen
nicht vergleichbar sind, nichts anzufangen weiß, sind „die Menschen zur realen Kon-
formität gezwungen.“27 Zwang zur Konformität in einer patriarchalen Gesellschaft
bedeutet für Frauen und diejenigen Männer, welche nicht in das Schema der hege-
monialen Männlichkeit28 passen, Selbstentfremdung.

3.2. Die Rolle der Vernunft in der Entstehung des Subjektes


Eine besondere Rolle nimmt in dem Text die imaginierte Entstehung des Subjektes
ein. Dabei wird das Subjekt immer als bürgerlich und männlich dargestellt, wie ich im
Folgenden zeigen werde. Das Selbst wird bei diesem Prozess zum Träger der Ver-
nunft:

Dazu unterzieht es sich zunächst der „Ausmerzung aller natürlichen Spuren“29. Das
heißt, dass sich das Selbst, das zunächst noch eins mit der äußeren und inneren
Natur ist, diese gründlich abschüttelt. Auf diese Weise entsteht das Subjekt, das zum
„Bezugspunkt der Vernunft“29 wird, die danach die „gesetzgebenden Instanz des
Handelns“29 bildet. Wenn man an dieser Stelle die Prämisse beachtet, dass die Natur
im Patriarchat als weiblich vorgestellt wird, muss an dieser Stelle deutlich werden,

25
Ebd., S. 19.
26
Ebd., S. 33.
27
Ebd., S. 19.
28
Der Begriff hegemoniale Männlichkeit stammt von Bob Connell. Der Begriff unterstellt die Existenz
unterschiedlicher Männlichkeiten, unter denen eine die dominante bzw. hegemoniale Form darstellt.
Aus der Abwertung anderer Männlichkeiten durch die hegemoniale Form resultiert – neben der Herr-
schaft über Frauen – auch eine Hierarchie unter Männern (Vgl. Döge, Peter: Abschied vom mächtigen
Mann. Geschlechterdemokratie. Widersprüche der Männlichkeit oder warum Hänschen heimlich wei-
nen muss, es aber öffentlich tun dürfen sollte, aus: Freitag 39, Berlin 1999 -
http://www.freitag.de/1999/49/99491801.htm).
29
Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 36.
Seite 6
dass die „Ausmerzung aller natürlichen Spuren“ bedeuten muss, dass sich entste-
hende Subjekt der (inneren) Weiblichkeit versucht zu entledigen. Damit ist nicht nur
das Subjekt männlich, sondern die Männlichkeit Träger der Vernunft.

Mit diesem Prozess vollendet die Vernunft sich zur instrumentellen Vernunft, die nur
noch ein „reines Organ der Zwecke“30 sein will. Dieses Bedürfnis schließt sich aus
der „Einsinnigkeit der Funktion, in letzter Hinsicht aus dem Zwangscharakter der
Selbsterhaltung“30. Damit ist klar, dass die Vernunft, die eigentlich zu dem Zweck
entstanden ist, die Selbsterhaltung des (männlichen) Menschen zu perfektionieren
und ihn somit über die Natur/Weiblichkeit zu erheben, diesem Zweck nicht gerecht
werden kann, da gerade ihre Eindimensionalität und der „Zwangscharakter“30 der
logischen Gesetze dem Zwang zur Selbsterhaltung so nahe stehen, den die patriar-
chale Vernunft sich als natürlich und weiblich vorstellt. In dieser Eindimensionalität ist
die Vernunft, die jetzt „frei von der Vieldeutigkeit [...] wie von allem Bedeuten über-
haupt“31 ist, nur noch ein Helfer des Kapitalismus32. Ihr eigentliches Ziel, die Selbst-
erhaltung des Subjektes zu organisieren, muss aber auch aus einem anderen Grund
scheitern: Denn das lebendige Individuum, zu dessen Erhalt die Vernunft beitragen
soll, ist bereits „durch Selbsterhaltung aufgelöst[..]“33.

3.2.1. Das männliche Subjekt in der Odyssee


Einen besonderen Fokus legen Horkheimer und Adorno auf die für das bürgerliche
Subjekt ihrer Auffassung nach exemplarische Subjektwerdung des Odysseus, da
sich „der Held der Abenteuer [...] als Urbild eben des bürgerlichen Individuums [er-
weist]“34. Diese Beispielhaftigkeit des Odysseus liegt vor allem darin begründet, dass
die Autoren der Überzeugung sind, dass die Werte, zu denen die Vernunft gehört,
der Aufklärung schon vor ihrem Beginn als historische Epoche tonangebend waren.35

Die Interpretation der Odyssee durch Horkheimer und Adorno ist für eine geschlech-
tersensible Betrachtung der Dialektik der Aufklärung vor allem wegen zwei Episoden
interessant. So sind es besonders die Figuren der Sirenen und die Figur Kirke, bei

30
Ebd., S. 37.
31
Ebd., S. 36.
32
Vgl.: „[Die] Vernunft selbst [wurde] zum bloßen Hilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur
[...]“ (Ebd.).
33
Ebd., S. 62.
34
Ebd., S. 50.
35
Vgl. ebd., S. 51.
Seite 7
denen zum einen die Autoren selbst eine geschlechtersensible Perspektive zeigen,
zum anderen vielfältige Möglichkeiten bestehen, Anknüpfungspunkte für die Gender
Studies zu suchen. Neben dem ersten Exkurs wird die Begegnung von Odysseus mit
Sirenen bereits im ersten Kapitel besprochen. Hier wird die Kritik an der Subjektwer-
dung, welche die Basis für die Vernunft bereitet, explizit geschlechtersensibel:

Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische,
zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas
36
davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.
So wird an dieser Stelle explizit gemacht, dass das entstandene Subjekt maskulin ist.
Es wird deutlich, dass dieser Prozess nur mit Entbehrungen des Menschen möglich
war. Dadurch, dass dieser Prozess nach Adorno und Horkheimer in der Erziehung
von Kindern nachvollzogen wird, ist klar, dass jeder Mensch, also auch männliche
Kinder, unter dem Patriarchat und der dazugehörenden Vernunft leiden.

Das entstandene männliche Subjekt grenzt sich aber über die hegemoniale Männ-
lichkeit in der Arbeitsteilung von anderen Männern ab, was bei der Analyse der Sire-
nen-Interpretation im ersten Kapitel37 deutlich wird. Während Odysseus hier als Ver-
körperung des bürgerlichen Mannes und Symbol für den Kapitalisten, dem Gesang
der Sirenen nur den Platz der Kunst im Patriarchat zuweist und sich in Selbstbeherr-
schung übt, sind seine Besatzung Vorzeichen des arbeitenden Proletariats, welches
von der Kunst ausgeschlossen ist und dessen Überleben an der Unterordnung unter
den Befehl des Kapitalisten abhängt. Dieses Proletariat scheint zwar nicht in vollem
Umfang Zugang zur patriarchalen Vernunft zu genießen und ist auf doppelte Weise
diskriminiert, da es zum einen unter die entfremdende patriarchale Vernunft und zum
anderen unter das Bürgertum untergeordnet ist. Wohl aber trägt es zu dem Erfolg
des Bürgertums bei, während die Verkörperung des Weiblichen, die Sirenen, voll-
kommen entschwinden.38

Die patriarchale Vernunft entfremdet demnach beide, Bürger und Arbeiter, da beide
zum Triebverzicht gezwungen sind. Während der eine ihn „ohne äußeren Zwang“39

36
Ebd., S. 40 (Hervorhebung von mir).
37
Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, S. 39-42.
38
Vgl.: „Das Epos schweigt darüber, was den Sängerinnen widerfährt, nachdem das Schiff ent-
schwunden ist.“ (Ebd., S. 67)
39
Beer, Ursula: Das Zwangsjakett des bürgerlichen Selbst. Instrumentelle Vernunft und Triebverzicht,
S. 22, aus: Kulke, Christine und Scheich, Elvira: Rationalität und sinnliche Vernunft. Frauen in der
patriarchalen Realität, Pfaffenweiler 1988, S. 16-29.
Seite 8
zur Kunst erhebt, verkümmert der andere „durch den Zwang zur Arbeit als
Mensch“40.

Ebenso werden in der Kirke-Interpretation geschlechtersensibel die Grenzen der


patriarchalen Vernunft umrissen. Wenn von der Wirkung Kirkes auf die Gefährten
von Odysseus die Rede ist, wird klar, dass sich die patriarchale Vernunft Weiblichkeit
als Bedrohung für das Subjekt vorstellt, wobei das Weibliche mit der Figur Kirke hier
typisch für die patriarchale Vorstellung als Verführendes imaginiert wird:

Magie desintegriert das Selbst, das ihr wieder verfällt und damit in eine ältere bio-
logische Gattung zurückgestoßen wird. [...] Sie ergreift [...] des festen Willen des
41
Subjekts [...] Kirke verführt die Männer, dem Trieb sich zu überlassen.
Während die Sirenen analog für Tod des Subjektes im weiblich vorgestellten Meer
sorgen, verführt Kirke die Männer dazu, in einer viel direkteren Weise eins mit der
(inneren, verdrängten und domestizierten) Natur zu werden. An dieser Stelle wird
deutlich, dass die Repression im Patriarchat der Vernunft eine Doppelte ist: Zum ei-
nen gegen weibliche Individuen, zum anderen auch gegen Männer, die gezwungen
sind, dass zu unterdrücken, was im Patriarchat als weiblich gekennzeichnet wird. So
zahlen auch männliche Individuen im Patriarchat einen (hohen) Preis, um die herr-
schende Rolle wahrzunehmen. Das dies so ist, wird unter anderem deutlich, wenn
die Befreiung von Odysseus’ Gefährten kommentiert wird:

Aber die also Bestätigten und in ihrer Männlichkeit Bestärkten sind nicht glücklich:
„Alle durchdrang Wehmut, süßschmerzende, daß die Behausung / Rings von Kla-
42
gen erscholl.“
Zusammengehalten wird die Existenz des bürgerlichen Subjekts also durch Triebver-
zicht. In der Fiktion der patriarchalen Vernunft lässt sich dieses Subjekt nur mit ü-
bermenschlichen Kräften bedrohen. Dies wird an der Interpretation der Odyssee sehr
deutlich: So sind die Sirenen Hexen und Kirke verfügt über magische Kräfte. Auf die-
se Weise fällt ein Nachgeben gegenüber der Versuchung für die patriarchale Ver-
nunft nicht dramatisch aus: Das Subjekt kann damit entschuldigt werden, dass es
Kräften gegenüberstand, die seine eigenen bei weitem übertreffen.43

40
Ebd..
41
Ebd., S. 77 (Hervorhebung von mir).
42
Ebd. S. 81.
43
Vgl. Beer: Das Zwangsjakett des bürgerlichen Selbst. Instrumentelle Vernunft und Triebverzicht, S.
24
Seite 9
3.3. Der Vernunftbegriff im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur

Ein weiterer bedeutender Aspekt des Vernunftbegriffes ist seine Anbindung an die
Kultur, womit er ebenfalls der Natur gegenübersteht. Unter geschlechtersensiblen
Gesichtspunkten bedeutet dies, dass jene Aussagen, die über die Binäropposition
Kultur/Natur gemacht werden, ebenfalls Bedeutung für die patriarchale Vernunft ha-
ben.

Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass das Subjekt der Natur in seiner eigenen
Vorstellung nicht nur konträr gegenübersteht, sondern es durch die Machtausübung
über die Natur/Weiblichkeit auch von dieser entfremdet44 ist. Dabei wird die Na-
tur/Weiblichkeit disqualifiziert und zum bloßen Objekt der rationalistischen Vernunft,
während das Subjekt „zur abstrakten Identität“45 wird. Geschlechtersensibel gesehen
wird an dieser Stelle somit offensichtlich, dass Identität, die einen Herrschafts-
/Ausschlusssakt gegenüber dem Anderen bedeutet, im System des Textes nur
männlich konnotiert sein kann. Eine weibliche Identität ist im Text nicht auszuma-
chen, sie wäre aber auch nicht mit der patriarchalen Vernunft zu vereinbaren.

Zugleich fürchtet sich das Subjekt vor dem Aufgehen in der Natur/Weiblichkeit, wie
der gesamte Mensch sich dieses wünscht. Dies wird deutlich, wenn im Rahmen der
Kirke-Interpretation untersucht wird, inwiefern ihre Bedeutung im Mythos mit der im
Patriarchat vergleichbar ist.

Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich
und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion ist in einem
Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation be-
droht war. (S. 40)
An dieser Stelle wird sogar die Bedrohung zugegeben, welche die Verführung des
Weiblichen/der Natur für die männliche Zivilisation/Kultur darstellt. So bedeutet es
nicht nur die Auslöschung des Subjektes als Träger der Vernunft, wenn der Mensch
seiner inneren Natur nachgibt, sondern auch eine Bedrohung für das gesamte Pro-
jekt der Aufklärung, da der Mann fortan nur noch als passives Objekt existieren wür-
de, einer Existenzweise, die er vorher der Frau und der Natur zugeschrieben hätte.

An dieser Stelle bleibt die Frage offen, warum es so dargestellt wird, als sei eine
Rückkehr zur Natur/Weiblichkeit bzw. eine Vereinigung mit ihr für das maskuline
Subjekt überhaupt noch möglich. Diese Frage stellt sich vor allem deswegen, da in

44
Vgl. ebd., S. 15 u. S. 46.
45
Ebd., S. 16.
Seite 10
dieser Textstelle angenommen wird, dass die Vereinigung mit der Natur bzw. das
Ausleben der inneren Weiblichkeit eine Gefahr für die Zivilisation sei. An anderen
Stellen, zum Beispiel, wenn angemerkt wird, dass die Aufklärung totalitär sei46, klingt
es dagegen so, als sei die exemplarische Odyssee des Subjekts aus der Natur nicht
mehr rückgängig zu machen.

Es ist außerdem anzumerken, dass der Tod des Subjekts bei einem Aufgehen in der
Natur/Weiblichkeit nicht das Ende des menschlichen Lebens bedeutet, eher umge-
kehrt. So ist die rationale Nüchternheit nach Horkheimer und Adorno der mimeti-
schen Form des natürlichen Lebens nicht überlegen, wie die patriarchale Vernunft
annimmt. Vielmehr stellt sie selber eine Anpassung "ans Tote"47 dar.

3.4. Die patriarchale Vernunft und ihr Verhältnis zum Geschlecht

Im zweiten Exkurs des Buches, Juliette oder Aufklärung und Moral48, wird auf das
Verhältnis des männlichen Subjekts zur Kategorie Geschlecht eingegangen. Dabei
wird unter anderem gezeigt, dass man mit der instrumentellen Vernunft Frauen nicht
einmal zwingend als Menschen betrachten muss.49 Dem gegenüber steht die
Interpretation der Figur Juliette durch die Autoren:

Die Menschen gewinnen das rationale, kalkulierende Verhältnis zum eigenen Ge-
schlecht, das in Juliettes aufgeklärtem Kreise als alte Weisheit längst verkündet
50
wurde.
So scheint ein rationales (und damit patriarchales) "Verhältnis zum eigenen Ge-
schlecht"50 auch für Frauen möglich zu sein. Damit kommt es allerdings zu einem
ähnlichen Problem wie bei dem Begriff Identität51, denn das Geschlecht ist nur noch
als rationale Kategorie denkbar, d.h. beständig in ein patriarchales Begriffssystem
eingebettet. Das muss bedeuten, dass es eine selbstbestimmte Deutung des eige-
nen Geschlechtes sowohl für Frauen als auch für Männer nicht geben kann, da die-
ses stets einen rationalistischen Akt voraussetzen würde.

An dieser Stelle zeigt sich weiterhin ein anderes Problem sehr deutlich, nämlich,
dass das Operieren mit Ursprungshypothesen seitens der Autoren zur Undenkbarkeit

46
Vgl. ebd., S. 31.
47
Ebd., S. 64.
48
Ebd., S. 88-127
49
Vgl. ebd., S. 118.
50
Ebd., S. 115.
51
Vgl. auch 3.3.
Seite 11
einer Befreiung vom Patriarchat wird. Denn Denken muss immer in rationalistischen
und damit patriarchalen Diskursen verlaufen, da die Aufklärung und mit ihr die patri-
archale Vernunft als totalitär vorgestellt werden. Somit sind Ursprungshypothesen
nicht nur theoretisch fragwürdig, da sie vorgeben, als sei Vergangenes ohne Kennt-
nis der Kontexte rekonstruierbar, sondern sie führen auch zu einem Problem für die
praktische Politik, wenn man ein totalitäres Denksystem kritisiert.

Neben der Tatsache, dass nicht alle Männer in vollem Umfang Zugang zur patriar-
chalen Vernunft haben, bzw. von ihr als vollwertige Subjekte angesehen werden, ist
die patriarchale Vernunft nicht auf Männer beschränkt. Auch Frauen, die sich ihr un-
terordnen, haben einen Zugang und können zumindest teilweise als Subjekte gelten.
Allerdings sind sie dann doppelt von sich selbst entfremdet, da sie zum einen die
Entfremdung des bürgerlichen Mannes mittragen und zum anderen als Frauen ge-
zwungen sind, an einem Wertesystem zu partizipieren, welchen die Weiblichkeit un-
terdrückt.52

5. Abschluss

Es hat sich an vielen Stellen eine hohe Kompatibilität zwischen der Vernunftkritik von
Horkheimer und Adorno und der feministischen Variante gezeigt. Einig sind sich bei-
de darin, dass die Vernunft eine patriarchale ist, die Frauen unterdrückt. So kann die
Dialektik der Aufklärung in großem Maße zur Kritik der patriarchalen Vernunft durch
die philosophische Frauen- und Geschlechterforschung beitragen.

Trotz dieser Kompatibilität bleiben entschiedene Probleme für die feministische Ver-
nunftkritik bestehen, wenn sie sich auf die Dialektik der Aufklärung beruft. Zum einen
die bereits erwähnten, fragwürdigen Ursprungshypothesen des Buches, zum ande-
ren muss klar sein, dass der Blick auf das männliche Subjekt der patriarchalen Ver-
nunft ein androzentristischer ist, da Frauen als handelnde (z.B. in Form der Frauen-
bewegung) Subjekte nicht berücksichtigt werden. In dem Vernunftbegriff des Textes
müssen sich Subjekte der patriarchalen Vernunft unterordnen – das macht die Be-
freiung vom Patriarchat schwierig. Hier muss die feministische Vernunftkritik also
einen Weg finden, einen alternativen Vernunftbegriff zu postulieren.

52
Vgl. Beer: Das Zwangsjakett des bürgerlichen Selbst. Instrumentelle Vernunft und Triebverzicht, S.
21.
Seite 12
4. Verwendete Literatur

Politische Möglichkeiten feministischer Theorie. Ein Gespräch mit Andrea Mai-


hofer, in: Deuber-Mankowsky, Astrid u. Konnert, Ursula: Die Philosophin, Heft
11, Tübingen 1995, S. 94-105

Beer, Ursula: Das Zwangsjakett des bürgerlichen Selbst. Instrumentelle Ver-


nunft und Triebverzicht, aus: Kulke, Christine und Scheich, Elvira: Rationalität
und sinnliche Vernunft. Frauen in der patriarchalen Realität, Pfaffenweiler
1988, S. 16-29

Döge, Peter: Abschied vom mächtigen Mann. Geschlechterdemokratie. Wider-


sprüche der Männlichkeit oder warum Hänschen heimlich weinen muss, es
aber öffentlich tun dürfen sollte, aus: Freitag 39, Berlin 1999 -
http://www.freitag.de/1999/49/99491801.htm

Horkheimer, Max u. Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophi-


sche Fragmente, Frankfurt 162001

Meyer, Ursula I.: Einführung in die feministische Philosophie, München 1997

Nagl-Docekahl, Herta: Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Per-


spektiven, Frankfurt/Main 2000

Nagl-Docekal, Herta: Was ist feministische Philosophie?, aus: dies. (hrsg.):


Feministische Philosophie, Wien 1990, S. 7-39

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Plagiatserklärung
Hiermit versichere ich, dass die vorliegende Arbeit über Kritik an der patriarchalen
Vernunft in der Dialektik der Aufklärung selbstständig verfasst worden ist, dass keine
anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt worden sind und dass
die Stellen der Arbeit, die anderen Werken – auch elektronischen Medien – dem
Wortlaut oder Sinn nach entnommen wurden, auf jeden Fall unter Angabe der Quelle
als Entlehnung kenntlich gemacht worden sind.

(Unterschrift)

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