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Gilles de Rais: Päderast und Kinderschänder

Paradigmatische Kasuistik
um Totem und Tabu*
Ulrich Kobbe

Zusammenfassung

Das Thema pädosexueller Praktiken - Demütigung, Ausbeutung, Zerstörung - macht die


Behandlung aktueller perverser Devianzen und sexualsadistischer Delinquenz unausweich-
lich. Sich der Affaire Dutroux und ähnlicher Scheußlichkeiten der Gegenwart zu nähern,
aktiviert derart unaushaltbare Affekte des Abscheus, der Wut, des Hasses, daß der Zugang
zu diesen Tätern und Taten über eine historische Kasuistik versucht wird.
Am Exempel des 1440 wegen Sodomie, Kirchenschändung, Ketzerei sowie wegen Kindes-
raub, Kinderschändung und -mord in mehr als 100 Fällen hingerichteten Gilles de Rais
werden Aspekte der Doppelmoral und des Doppellebens skizziert: Verwerflichkeit indivi-
dueller Abnormität und Verwerfung gesellschaftlicher Norm verdeutlichen, daß niemand
sich einer gesetzlosen Gewalt bedienen und zugleich Subjekt des Gesetzes bleiben kann.
Daß Gilles de Rais neben dem existentiellen Tod als historische Person einem sozialen Tod,
der Auslöschung im Vergessen anheim fiel, verweist auf die Unerträglichkeit seiner obszö-
nen Monstrosität, auf den Frevel der Übertretung des Tabu. Daß er als Blaubart in Legen-
den schattenhaft verfremdet fortlebt, läßt diese als generalisiertes soziales Totem, als Ver-
such einer Generationen überdauernden Wiedererrichtung des Inzesttabus verstehen.

Schlüsselwörter

Pädosexualität - Sadismus - Tabu - Ethik - Gilles de Rais

Summary

The theme of paedophiliac practices - humiliation, exploitation, destruction - means that


perverse deviations and sexually sadistric delinquency is a matter which cannot be ignored
in present society. To contemplate the Dutroux affair and other similar monstrocities of the
present day world causes such an intolerable feeling of abhorrence, anger and hate, that an
attempt is made to try and approach these actions and their committers through historic
casuistry. Aspects of double morals and double Standards of behaviour are roughly drawn
out in the example of Gilles de Rais, who in 1440 was convicted not only of sodomy, heresy
and the desecration of churches, but also of stealing and molesting children and of more
than 100 cases of murder: Where repudiation of individual abnormality and repudiation of
the norms of society make clear that nobody can behave in an unlawfully violent manner
and at the same time be a subject of the laws pertaining to such behaviour.
That Gilles de Rais alongside his existential death äs a historical person also suffered a
social death in that his existence was extinguished from the collective memory, points to the

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extreme unacceptability of his obscene monstrocities and to the wickedness of his breaking sexueller Praktiken und der in ihnen mehr oder weniger unausweichlich
with taboos. That he continues to exist in alienated shadow form in the legends of Bluebeard enthalten Demütigung, Ausbeutung, Zerstörung die gleichzeitige Behand-
could be understood äs a generalised totem for society, an attempt by successive generations lung aktueller perverser Devianzen und sexualsadistischer Delinquenz
to re-establish the taboo of incest.
unausweichlich. Sich damit aber der Affaire Dutroux und ähnlicher
Scheußlichkeiten der Gegenwart zu nähern, focussiert ein in die soziale
Keywords and phrases
Struktur, ins Imaginäre und Reale eingebrochenes Vakuum. Hierauf
gerichtete Impulse aktivieren derart unaushaltbare Affekte des Abscheus,
paedosexuality - sadism - taboos - ethics - Gilles de Rais
der Wut, des Hasses, daß die Annäherung an diese Täter und Taten nun
über eine historische Kasuistik versucht werden soll. Denn: „Von einem
Resume
gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu
En egard aux pratiques pedosexuelles - humiliation, abus et destruction -, le traitement des erreichen" (Kafka 1918, Aph. 5).
deviances perverses et de la delinquance caracterisee par un sadisme sexuel est devenu
inevitable. L'affaire Dutroux et de pareils delits horribles evoquent des affects de degoüt, Doch der Zu-Gang zur Archaik des Bösen, zu seiner Banalität, ist nicht
de rage et de haine qui sont si insupportables que l'auteur essaie de trouver acces aupres de möglich, wenn man dieses Böse verteufelt. Wenn nämlich 'Gut' und
ces delinquants et leurs delits par un cas clinique historique. Les aspects de la morale
jesuitique et d'une vie double sont esquisses ä l'exemple de Gilles de Rais, execute en 140 'Böse' nicht mehr als Pole auf einem Kontinuum wahrgenommen, son-
en raison de sodomie, de profanation sacrilege, de heresie, ainsi qu'en raison de plus de dern als ausschließliches Entweder-Oder erlebt und definiert werden,
cent affaires de rapt d'enfant, d'abus et de meurtre d'enfant. deutet dies darauf hin, daß und wie man von der Thematik, seiner Af-
L'abjection de Panomalie individuelle et le rejet de la norme sociale elucident le fait que fektivität und seinen Archaismen beherrscht wird. Angesichts der Unta-
personne ne peut se servir d'une violence Sans loi en restant en meine temps le sujet de la
loi.
ten gerade nicht die Beherrschung zu verlieren, erzwingt das Bewußt-
Que Gilles de Rais n'a subi non seulement une mort existentielle comme individu historique, sein der Unmöglichkeit adäquaten Sprechens darüber: „Wenn das gute
mais egalement une mort sociale, comme il est efface par l'oubli, renvoie ä l'atrocite de sä oder böse Wollen die Welt ändert, so kann es nur die Grenzen der Welt
monstruosite obscene et au mefait d'avoir viole un tabou. Ainsi, il faut considerer les ändern, nicht die Tatsachen; nicht das, was durch die Sprache ausge-
legendes, dans lesquelles il survit - meconnaissable et fantomatique - comme Barbe-Bleue
comme totem social generalise, comme tentative de recreer le tabou de l'inceste pour toutes druckt werden kann" (Wittgenstein 1918, 87, Satz 6.43). Denn gerade
les generations ä venir. auch die Sozialwissenschaften gehen als Produkt der Moderne charakte-
ristischerweise von einem Gesellschaftsmodell aus, in dem das Grauen
Mots-cles „keinen Platz" hat (vgl. Welzer 1997). Dieses mißlingende Zur-Spra-
che-Bringen vergegenwärtigt mithin auch das Bewußtsein des zwangs-
pedosexualite - sadisme - tabou - ethique - Gilles de Rais läufigen Scheiterns einer Arbeit über ein solches Thema. Versucht wer-
den soll daher, sich in einem Wechsel von Konkretem und Abstraktem -
in einem philosophischen Gedanken-Gang - mit dieser Provokation und
Es gibt ein Blaubart-Zimmer in unserer Seele, implizierten Ent-Täuschung zu konfrontieren.
das man nicht öffnen soll.
(Maeterlinck 1890)
Gilles de Rais, Sire de Laval
Vorrede Zunächst zum Abriß einer Biographie**: Der fran-
zösische Adlige Sire Gilles de Rais wurde um das
Im folgenden wird eine historische Person des 15. Jahrhunderts behan- Jahr 1404 an der Grenze der Bretagne und des Anjou _^m
delt werden, den der Titel dieser Arbeit als Gilles de Rais benennt, als im Schloß Machecoul geboren. Von seiner Kind- v
Päderasten und Kinderschänder charakterisiert. Warum dieser histori- heit ist wenig bekannt. Seine Mutter und sein Vater
sche Exkurs? Nun, meines Erachtens macht die Thematisierung pädo- sterben kurz nacheinander Ende 1415 als der Sohn
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ca. 11 Jahre alt ist. Gilles und sein Bruder Rene kommen unter die Vor- sich mit Künstlern, Dichtem und Spaßmachern, Gelehrten und Wis-
mundschaft ihres Großvaters Jean de Craon, des einflußreichen und ge- senschaftlern von weither, andererseits verfällt er dem Mystizismus, der
rissenen Herrn von Champtoce und la Suze. Doch dieser durchtriebene, Alchimie und Zauberei bis hin zu Geisterbeschwörungen, Satanismus
greise Mann erzieht ihn nicht: Er leitet ihn viel-mehr zu Verbrechen an und schwarzer Magie. Pracht und Pomp sind immens, ruinieren und
und „lehrt ihn, sich nach seinem Vorbild als über dem Gesetz stehend zu treiben ihn zum Versuch, Gold zu erzeugen, weiter zu Drogen, Elixieren
fühlen" (Bataille 1967, 33). Schließlich schafft er ihn sich vom Halse, und habgierigem Teufelsglauben, schließlich zum ersten satanistischen
indem er ihn am 30. November 1420 etwa 16-jährig mit Catherine de Menschenopfer (Mackay 1992, 56-63). Während er die Kinder seiner
Thouar verheiratet. Kantorei wegen ihrer schönen Stimmen privilegiert und verehrt, jedoch
verschont, entführt Gilles de Rais zwischen 1432 und 1440 innerhalb
Fünf Jahre später berichtet man von ihm am Hofe des Dauphins Charles von acht Jahren eine Unzahl von Kindern, mißbraucht, quält, mißhan-
VII. in Chinon. Gilles de Rais - damals einer der reichsten Barone Frank- delt und tötet sie. Die Quellen sprechen von über 100, mindestens 140
reichs - wird dort als kraftvoller, robuster Mensch von berauschender Toten ...
Schönheit und seltener Eleganz geschildert. Es ist das Zeitalter der Beset-
zung Frankreichs durch die Engländer, deren Einnahme der Bretagne
und Normandie, eines Teils der Picardie, der Ile de France, des ganzen Pädosadismus und Nekrophilie
Nordens bis nach Orleans den Dauphin erschöpft haben: Er ist ohne
Geld, jedes Ansehens entblößt, und seine Autorität ist gleich Null. Hier Wir begeben uns hier aus dem Bereich sexueller Phantasien in den des
nun hebt Gilles de Rais auf eigene Kosten Truppen aus, verteidigt er das nackten Grauens: Hemmungslos praktiziert er sadistische pädosexuelle
königliche Frankreich und lernt er Jeanne d'Arc kennen, deren Bewa- Akte, wobei er offenbar gleichermaßen die Verrenkungen, Zuckungen
chung und Verteidigung ihm von Charles VII. anvertraut wird. Neben und seelische Not seiner Opfer, den sexuellen Mißbrauch, die Demüti-
ihr kämpft er - halb Ritter, halb Mönch - in einer Reihe von Schlachten gungen und Verstümmelungen, die Marter des Aufhängens, seine All-
und wird er mit 25 Jahren vom König zum Marschall von Frankreich macht und Gewalttätigkeit berauscht genießt: Er „ergötzte sich" bei der
ernannt. Betrachtung „der schönsten Köpfe", er „ließ ihre Körper grausam öff-
nen und ergötzte sich am Anblick ihrer inneren Organe" (Bataille 1967,
Nach Aufhebung der Belagerung von Orleans, Befreiung von Paris und 58-59). Nicht nur das Quälen, die Folterung, Zergliederung und Zerstö-
Krönung Charles VII. in Reims verliert sich seine Spur, doch wird ein rung der Körper, nicht nur der sinnliche Kontakt mit Körperflüssigkeiten
Jahr später seine Rückkehr und Anwesenheit im Schloß Tiffauges sowie und Exkrementen erregt und befriedigt ihn. Gilles de Rais selbst wird
von homosexuellen Beziehungen zu Untergebenen berichtet. Das Jahr später hierzu sagen: «Der Genuß von Qualen, Tränen, Entsetzen und
1432 markiert eine entscheidende Wende, nachdem Gilles de Rais seine Blut befriedigte mich mehr als alles andere» (Huysmans 1891, 28). In
Frau Catherine nach Pouzauges verbannte und auch sein Großvater ver- atemberaubender Weise faszinieren ihn gleichermaßen die primordialen
storben ist. Als „eine Penelope'des Hasses" schwört ihm Catherine - so Affekte der Angst, Panik wie Hoffnung seiner kindlichen Opfer, ihr
Natonek (1988) in 'Blaubarts letzte Liebe' - „unerschütterlich die Treue, Erschrecken und Entsetzen, erregt ihn die intersubjektive Anspannung,
wie man Rache schwört". Stürzte sich Gilles hingegen zu Lebzeiten des ihre basale Pein, ihr fäkaler Angstgestank (vgl. Kobbe 1995, 62) und
unempfindlichen, kalkulierend-schurkenhaften Großvaters in gegen die- der morbide Geruch des Todes. Süskind wird in seinem Parfüm-Roman
sen gerichtete verschwenderische Ausgaben, so schlägt dies nun in Aus- über die 'Geschichte eines Mörders' diesen den Geruchscharakter von
schweifungen, in Prunk, Maßlosigkeit und Wahn um (vgl. Bataille 1967, Aggression, Abwehr und sozialer Interaktion wie folgt wahrnehmen las-
35): Einerseits verfaßt er Abhandlungen über Kunst, verehrt er kirchli- sen: „Ein schauerliches Dufikonglornerat aus Afterschweiß, Menstruati-
che Orgelmusik und seinen Kinderchor, zieht er Balladensänger, Mo- onsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften Händen, durchmischt
riskentänzer, Zauberkünstler, Ausrufer für Mysterienspiele, dann wie- von ausgestoßener Atemluft [...]: schauerlich in seiner nebulösen, un-
derum Ritter und Adlige zu Kampfspielen und Turnieren an, umgibt er
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konturierten, übelkeitserregenden Ballung und doch schon unverkenn- Mannes, die in den Gerichtsakten Fall für Fall präzise - und doch unvor-
bar menschlich" (Süskind 1985, 238). stellbar - beschrieben sind (Bataille 1967, 286-375; Reliquet 1982, 72-
80). „ Unvorstellbar, das ist ein Wort, das sich nicht teilen läßt, das nicht
einschränkt. Läuft man mit diesem Wort als Schutzschild umher, diesem
Um den Preis des Todes Wort der Leere, wird der Schritt sicherer, fester, fängt sich das Gewis-
sen wieder" (Antelme 1957,405-406).
Sowie der Marschall seinen, Wohnsitz ändert, wenn er von seiner Fe-
stung Tiffauges nach Schloß Champtoce fährt und von da nach Schloß Wesentlich erscheint mir jedoch ein Hinweis: Den grausam-rücksichtslo-
La Suze oder nach Nantes, hinterläßt er eine Blut- und Tränenspur. Er sen Kinderschänder Gilles de Rais mit dem perversen Schriftsteller-
kommt durch eine Landschaft und am folgenden Tage fehlen - von den philosophen Marquis de Sade zu vergleichen, hieße beiden Unrecht zu
Feldern geraubt, vom Spielen oder Schulweg entführt - Kinder, die nie tun: «Alles, was man sich auf diesem Gebiet vorstellen kann, habe ich
wiederkehren werden. Erst nachdem der Bischof von Nantes, zu dessen mir vorgestellt, aber ich habe durchaus nicht alles getan, was ich mir
Diözese das Pays de Rais gehört, auf Gerüchte aufmerksam wird und vorgestellt habe, und ich werde es auch nie tun», sollte de Sade mit
Gilles de Rais am Pfingstsonntag des 15. Mai 1440 bewaffnet in eine vierzig Jahren klarsichtig feststellen (Pauvert 1991, 12). Insofern geht
Kirche eindringt und die Immunität der Kirche verletzt, kommt ein Ver- es vielleicht um die von Klossowski (1967) getroffene Unterscheidung
fahren gegen ihn in Gang. Am 29. Juli 1440 veröffentlicht der Bischof zwischen sog. 'normalen' Perversen und sog. „integralen Ungeheuern":
einen Erlaß, in dem Gilles de Rais als Mörder, Wollüstling, Dämonen- Während der Perverse an eine bestimmte Phantasie, durch eine partielle
beschwörer, Urheber anderer ungeheurer Verbrechen angeklagt und für Praxis gebunden, auf ein Partialorgan fixiert ist, überschreitet der Sadist
«infam», für ehrlos erklärt wird. Zwar zögert der Repräsentant weltli- im totalisierenden Prozeß der gewalttätigen Orgie jede Norm in einer
cher Gerichtsbarkeit in der Bretagne, Herzog Jean V., zu intervenieren, Weise (Treut 1983, 126), daß diese Übertretung nicht nur an die Gren-
doch versichert er sich immerhin der Neutralität Charles VII., sodaß zen des Rechts, sondern auch die Grenzen der Sprache rührt (Foucault
Gilles de Rais am 15. September 1440 in Machecoul verhaftet und am 1963, 69).
19. September das erste Mal vor Gericht gestellt wird. Am 25. Oktober
befindet ihn das kirchliche Gericht Das heißt, während der instrumentelle Handlungscharakter der Sprache beim
- erstens «der heimtückischen ketzerischen Abtrünnigkeit sowie der sog. 'normalen' Perversen eine Nicht-Sprachlichkeit des Sprechens herbeiführt
verabscheuungswerten Beschwörung von Dämonen für schuldig», und diese „Ausschließung der Sprache durch sich selbst ( . . . ] umkehrbar" ist
(Klossowski 1967, 67), überschreiten die grauenhaften Akte des Sadisten die
- zweitens «für überführt, bösartig das Verbrechen der widernatürlichen
Sprachfähigkeit bis zur irreversiblen Zerstörung des Symbolischen. Erweist sich
Unzucht an Kindern beiderlei Geschlechts nach sodomitischer Praxis die totale Zerstörung bei de Rais als willkürlich-wollüstige Überschreitung jeder
begangen zu haben» sowie Norm, so fungieren die anti-ethischen Exzesse des Libertins de Sade als kalku-
- drittens der Verletzung der Immunität der Kirche schuldig zu sein, liert-empfindungslose Totalisierung des Selbst und allmächtige Negation eines
exkommuniziert und übergibt ihn der weltlichen Gerichtsbarkeit (Bataille als „überaus rachsüchtig, barbarisch, bösartig, ungerecht, grausam" erlebten Gottes
1967, 260). Diese hatte zeitgleich getagt und verkündet ebenfalls am 25. (Blanchot 1963, 44).
Oktober das Todesurteil. Am Tag darauf, dem 26. Oktober 1440, wird
Gilles de Rais in Nantes vor einer unübersehbaren Menge gehenkt.
Überschreitungen ins Absolute
i
Sadistische Exzesse Über den unaussprechlichen Horror zu schreiben, ohne pathetisch oder
obszön zu werden (Fauconnier 1997, 85), setzt eine affektiv distanzier-
Ich erspare Ihnen und mir die detaillierte Darstellung der unsäglichen
te, reflektierte Haltung voraus: „Es ist klar, daß sich die Ethik nicht
Abscheulichkeiten, der über hundertfachen monströsen Taten dieses
aussprechen läßt" (Wittgenstein 1918, 86, Satz 6.421). Nur die Fakten
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zu beschreiben, ohne sie erklären zu können, dies auch nicht zu versu- selbst ohne den des Vertrauens auf eine Zukunft, die doch vergangenes
chen, bedarf einer Ethik, die nicht als explikativer metasprachlicher Dis- Leid nicht wieder gutmachte" (Adorno 1986, 161), denn: „Das Gute ist
kurs, sondern als Handlung deskriptiven Sprechens zu verwirklichen ist, in gewissem Sinne trostlos" (Kafka 1918, 32, Aph. 30). So ist mit dieser
denn: „Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit" (Witt- Negativität des Grauens die Möglichkeit seiner Negation untrennbar ver-
genstein 1918, 32, Satz 4.112). Insofern muß versucht werden, anhand bunden und läßt sich aus dieser negativen Dialektik ein utopischer Im-
der Grenzerfahrungen der Sprache die Tat-Sachen zugänglich zu ma- puls gewinnen. Heute diese Triebhaftigkeit, radikale Erotik, unvorstell-
chen und „das Undenkbare von innen durch das Denkbare [zuj begren- bare Grausamkeit und sadistische Perversion desillusioniert zu themati-
zen" (Wittgenstein 1918, 32, Satz 4.115). Und sei es, indem nicht über sieren, zehrt von der Hoffnung, Sprachlosigkeit dadurch zu überwin-
die Tatsachen, aber zwangsläufig von den unvorstellbar grausamen De- den, daß im Sprechen ein Annehmen dieser Zerrissenheit, eine Artikula-
tails geschwiegen wird (Cometti 1997, 49). tion der gewalttätigen, genußsüchtigen, mörderischen, verruchten Sei-
ten des Subjekts möglich werden. Denn - so Natonek (1988) - bereits
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" „die radikale Erotik [...] ist den Menschen unerträglich".
(Wittgenstein 1918, 69, Satz 5.6). Dies bedingt die Sprachlosigkeit der
Empörung über die Affaire Dutroux, gleichermaßen aber auch den Skan- Den Totalitarismus derartiger Exzesse, sein 'Alles ist möglich', verste-
dal um den pädophilen Paul Schäfer in der chilenischen Colonia Dignidad2: hen zu wollen und zu müssen, verweist auf die basale Erfahrung einer
Die Überschreitung macht eine Grenzenlosigkeit erfahrbar und erzwingt Banalität des Bösen, die nur dann möglich ist, „wenn man das, was
die Anerkennung eines unmöglich erscheinenden Exzesses, die erschrek- geschehen ist, anders perzipiert als diejenigen, die es tatsächlich erfah-
kend auf den Zusammenhang von Sexualität und Aggression bis hin zum ren haben" (Ludz 1996, 20). „Denn, die Gesamtheit der Tatsachen be-
Tod verweisen (vgl. Foucault 1963, 72). Es ist ein historisch datierbarer stimmt, was der Fall ist und auch, was nicht der Fall ist" (Wittgenstein
Exzeß, der in seiner Unausprechbarkeit ein Absolutes darstellt (Blanchot 1918, 9, Satz 1. 12). Einerseits kann das in seiner unmittelbaren Abso-
1973, 156), das jeden wissenschaftlichen Diskurs3 insofern unmöglich lutheit unkommunizierbare Undenkbare nicht sprachlich transzendiert
macht, als die Wörter angesichts des Grauens Bedeutungslosigkeit er- werden ohne es zu negieren (vgl. Jaspers 1994), und zugleich ist dieses
langen (Blanchot 1980, 134). Doch muß benannt werden, daß es dieses Verstehen der 'nackten' Taten/Tatsachen andererseits nicht mehr auf
Absolute gab und gibt, daß es in der Geschichte einmalig und dennoch deren Erlebnisebene möglich, da das Sprechen darüber als solches be-
zugleich wiederholbar ist, daß es unfaßbar und dennoch 'wirklich' ist: reits die Schranke zu überschreiten droht, die dem etwaigen Genießen
„Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir kön- des Zuhörers Einhalt gebietet. Denn „das Genießen ist nur ein anderes
nen also auch nicht sagen, was wir nicht denken können" (Wittgenstein Wort für diese Faszination", die beim Zuhören von Berichten über den
1918, 69, Satz 5.61). Horror menschlicher Destruktivität entsteht (Granon-Lafont 1994, 184).
Jenseits der historischen Details bedarf es des Bemühens um eine Spra-
Wenn das imperative «Schweig!» sich an jene richtet, die diese Zäsur che, in deren anerkennender Aktualisierung des Horrors - im 'So ist es'
nur aus der Ferne oder nur zum Teil kennen, markiert diese Unerzählbar- - das Undenkbare als immanente existentielle Gewißheit erfaßt werden
keit der Ver-Nichtung, dieses Ende des Sprechens eine Leerstelle, von kann (Jaspers 1994): „Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht
der aus ein Anfang gemacht und an den kategorischen Imperativ Adornos darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch
nach Auschwitz angeknüpft werden kann: Wenn mit Auschwitz ein Ab- sie ausdrücken" (Wittgenstein 1918, 33, Satz 4.121). Mithin bedarf es
solutes erreicht wurde, vor dem andere Rechte und Pflichten beurteilt für ein 'eigentliches Verstehen' i. S. Arendts einer ethischen Konfronta-
werden müssen (Kofman 1988, 25; Blanchot 1984), dann sei unser „Den- tion und Verstehensanstrengung aus der sprachlichen Distanz: Ihr Er-
ken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, gebnis „ist Sinn", insofern „wir uns mit dem, was wir tun und erleiden,
nichts Ähnliches geschehe" (Adorno 1975, 358). Zugleich formuliert zu versöhnen versuchen" und im Erzählen der Geschichte, im Verstehens-
Adorno hierin aber auch eine materialistische Ahnung der Vergeblichkeit dialog, immanent Sinn enthüllt wird (Arendt 1994, 111). Daher ist die
dieser Forderung und verlangt eine Utopie „ohne affirmativen Trost, Vorsicht abstrahierend-verobjektivierenden Sprechens sowohl ein Ver-
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such, den Horror als Absolutes zur Sprache zu bringen, als auch „ein Unerfüllbarkeit des Begehrens
Zurückweichen vor diesem Genießen [...], zu dem jeder Bericht über
diese Schrecken auffordert" (Granon-Lafont 1994, 185). So wie der Ort der Macht und Staats-Macht als im Grunde 'leerer' sym-
bolischer Ort zu erkennen ist, dessen Leere allenfalls durch absolutistische
Macht und Willkür verdeckt wird und sich heute in der demokratischen
Strukturen der Destruktion Staatsform explizit als 'leerer' Ort institutionalisiert findet (vgl. Lebrun
1994; Kobbe 1998), war in der konkreten geschichtlichen Situation des
„Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt", Gilles de Rais dieser Ort der Macht gar nicht oder nur schwach besetzt:
seiner jeweils subjektiven inneren wie äußeren Welt- und Grenzerfahrung Erst 1439 verkündet Charles VII. einen sog. 'großen Erlaß', der nach
(Wittgenstein 1918, 70, Satz 5.632). Anhand der biographischen Skizze Bataille (1967, 216-217) - von der Vernunft diktiert - einen manifesten
des Gilles de Rais lassen sich Charakteristika des radikal-gewalttätigen Fortschritt in Gesetz und Verwaltung gegen Willkür und Gewaltaus-
Begehrens und exzessiven Genießens verdeutlichen: In seiner Kasuistik übung markiert, so auch der zügellosen Gewalt eines Gilles de Rais
findet sich eine regressiv-progressive süchtige Lüsternheit der 'Bestie Einhalt gebieten soll. Als dann der zwar gehaßte, jedoch berechnende,
Mensch', die von einer zunächst noch naiven, doch bereits aggressivierten habgierige, willkürliche, gesetzlose und machtbesessene Großvater Jean
Neugier über eine sexualisierte, perverse Gier in entmenscht erschei- de Craon stirbt, fehlt nunmehr auf staatlicher wie familiärer Ebene der
nende Brutalität mündet. Als solle durch besessene Opferung, durch Repräsentant des Gesetzes, der de Rais' Gewalt, Gier und Haß beschrän-
ritualisierte Vernichtung naiver Unschuld im anderen die Nichtung wahn- ken könnte. Da wir dem konkreten Gegenüber nie wirklich begegnen,
hafter Schuld versucht werden. Als möge durch repetitive Schändung sondern nur über ihn phantasieren können, findet eine Beziehung zu ihm
eigene Schande exkorporiert und durch konsequente Auslöschung das nie im Realen, sondern immer nur im Imaginären einer phantasmatischen
im anderen verkörperte Eigene getilgt werden. Als könne unbeschwerte Intersubjektivität statt. So ist der Gegenüber sowohl Projektionsfläche
Lebendigkeit im Tod des anderen wiederbelebt, eine Art Tausch vorge- der Phantasmen des Subjekts als auch Repräsentant eines namenlosen,
nommen werden, so wie bei Süskind (1985, 239) sich der Mörder Jean- vorgeschichtlichen Anderen und seines ungeschriebenen Gesetzes (vgl.
Baptiste Grenouille des anderen „im ganzen zu bemächtigen", ihn sei- Kobbe 1997; 1998).
nen Geruch einsaugend zu töten sucht. Als seien vampirhafte Sinnlich-
keit und sinnlose Destruktion kreative Akte, würden sie kreatürliche Auf diesen 'leeren' Ort hinter dem phantasmatischen Objekt richtete sich Gilles
Rekonstruktionen vitaler Sinnhaftigkeit. individuelles und richtet sich allgemein das Begehren des Subjekts in dessen fun-
damentaler Gewalt4: Denn nicht das phantasmatische Objekt des anderen, son-
dern der von diesem verdeckte 'leere' Ort ist Ziel des Begehrens5. Insofern droht
Exemplarisch verweist hierzu beispielsweise Zizek (1990, 247) auf die „destruktive
die Konfrontation mit einer Lücke in der symbolischen Ordnung und symboli-
Kreativität" der 'Roten Khmer' Pol Pots, deren Massenmord von zwei Millionen
sierten Realität, deren 'Leere' oder 'Unmöglichkeit' mit Hegel als „radikale
Menschen, deren Vernichtung des bestehenden symbolischen Systems und deren
Negativität" gedacht werden kann (Zizek 1990, 249-251; Kobbe 1998, 226).
radikale Auslöschung der gesamten geschichtlichen Tradition die Öffnung eines
Diese menschliche Unvollkommenheit und Krise versucht Gilles de Rais durch
entvölkerten, kulturlosen 'leeren' Raumes herbeiführten, in sie die neuen Symbol-
fetischistische Verleugnung aufzuheben oder durch besessene Aktivität verbor-
verhältnisse als Versuch eines Anfangs aus dem Grab des Nichts, aus der Gruft
gen zu halten. Zwar ist das Genießen immer das Genießen des anderen, auf den
existentieller Negation einzuschreiben suchten.
sich das Begehren richtet, doch wird dieses Begehren nie wirklich befriedigt,
verlangt es nach mehr Befriedigung: Lacan spricht in Analogie zum Mehrwert-
Analog verhält es sich mit der Kulturrevolution Maos, bei der neben Millionen
Begriff bei Marx von einem «plus-de-jouir», was mit 'Mehr-Lust', besser aber
von Menschenleben auch Kulturgeschichte ausgelöscht wurde: „Ähnlich wie
mit 'Mehr-Genießen', zu übersetzen ist (vgl. Widmer 1990, 136; Zizek 1992,
Rodins Meißel hat Maos großer Pinsel alle 'überflüssigen Teile' der Geschichte 23).
beseitigt, und damit auch das Geschichtsbewußtsein. Heute sind alle Chinesen
Opfer der Kulturrevolution" (Duoduo 1997, 9). Damit erweist sich das Genießen als 'Lust in Unlust', das bei Gilles de Rais im
süchtigen Exzeß zerstörerischer Lust zu übersteigen versucht wird. In wahnhafter

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Egozentrik überschreitet er die Grenzen des Realen bis ins Imaginäre des sadisti- Der symbolische Tausch und der Tod
schen Phantasmas und agiert er in seinen pädosadistischen Untaten die im 'Du
sollst nicht...' benannte Handlung als zwar unethisch-verbotene, jedoch prinzi- Das Ende des Gilles de Rais, die Endgültigkeit seines Todes, bestätigt
piell denkbare Möglichkeit fundamentalsten Begehrens (Lacan 1959; Kobbe 1998, einerseits das Absolute seiner Devianz und reintegriert ihn doch wieder
230).
in die gesellschaftliche Ordnung. Indem zuletzt kirchliche und weltliche
Andererseits verdeutlichen die skizzierten Aspekte der Verwerflichkeit individueller
Wert-systeme auf ihn angewandt werden, beziehen ihn seine Richter
Abnormität und der Verwerfung gesellschaftlicher Norm, daß niemand sich ei- auch im exkommunizierenden Ausschluß aus der kirchlichen Gemein-
ner gesetzlosen Gewalt bedienen, sich über das Gesetz stellen und zugleich Sub- schaft dennoch in die soziale Ordnung wieder ein. Das Schauspiel der
jekt des Gesetzes bleiben kann. öffentlichen Hinrichtung versöhnt die kontemplativ gaffende Menge
(Baudrillard 1982, 263-280) und beinhaltet ein symbolisches Ritual, bei
dessen Inszenierung durch einen „gesellschaftlichen Tauschakt" eine ge-
Die Banalität des Bösen meinsame soziale Beziehung wiederhergestellt wird, die den Gegensatz
von Realem und Imaginärem auflöst: „Der Preis, den wir für die «Rea-
Die Radikalität einer Analyse erweist sich im unverstellten und kon- lität» des Lebens bezahlen, [...] ist das kontinuierliche Phantasma des
zessionslosen Blick auf die „erschreckende" Normalität, die Banalität Todes" (Baudrillard 1982, 210).
des Bösen (Arendt 1964) und ist als Haltung „Redlichkeit vor der Un-
haltbarkeit des Gedankens der Wahrheit" (Nancy 1980, 177). Gerade in Hier nun wird das befleckte Leben zum nur noch aufgeschobenen Tod, wird das
der Auseinandersetzung mit der Banalität des Bösen und dem Problem Subjekt - einem Totem («kamo») gleich - zum lebenden Toten (Leenhardt 1947,
des nachträglichen Verstehens als politisch-moralischem Urteil (Beiner 56-60), der seine perverse Selbstinstrumentalisierung objekthaft im Genießen der
1982, 121-130) bedarf einer solchen selbstreflexiven Redlichkeit. Daher Getöteten realisiert: Sein Leben ist bereits vor der Hinrichtung im Sinne einer
ist die Auseinandersetzung mit der Wahrheit eine Art „Interpretation in Ethik des Zurückzahlen schuldhaft verwirkt. Das Todesurteil enthält und ver-
wirklicht dabei einen symbolischen Tausch im Sinne einer - erzwungenen
progress" (Vattimo 1985, 49), die als Selbstinterpretation und Selbst-
symbolischen Anerkennung des anderen und des Gesetzes bei gleichzeitiger Be-
befragung des Subjekts das eigene Begehren und die Phantasmen zum stätigung eigener Differenz. Der symbolische Tausch - schreibt Baudrillard (1982,
Gegenstand hat. Wahrheit ist demzufolge konstruktionsspezifisch und 212) - „hat kein Ende, weder unter den Lebenden noch mit den Toten [...]. Er ist
müßte folglich als Geschichte ihrer Ent-Stellung begriffen werden: „Nur absolutes Gesetz: Verpflichtung und Reziprozität sind unüberwindlich. Gegen
was wir selbst konstruieren, können wir voraussehen" (Wittgenstein 1918, wen oder was es auch gerichtet sein mag, keiner kann sich dem entziehen, bei
68, Satz 5.556). Bestrafung mit dem Tode"6.

Das Reale des Begehrens erweist sich unter dieser Perspektive als Stehen am
Abgrund der psychischen Realität, wobei das Bewußtsein dieser Bedrohung und «Barbe-bleue» - Blaubart
deren Abwehr gewissermaßen oszillieren und die zum Teil unaushaltbare Span-
nung des nie gänzlich erfüllten Begehrens ausmachen. Erweist sich einerseits, Daß Gilles de Rais neben dem existentiellen Tod als historische Person
daß es in der historisierten und symbolisierten Realität bedrohlicherweise eine einem sozialen Tod der Auslöschung im kollektiven Vergessen anheim
traumatische, verbotene 'leere' Stelle gibt, so garantieren die symbolische Ord-
fiel, verweist auf die Unerträglichkeit seiner obszönen Monstrosität, auf
nung der Sprache und die durch sie strukturierte Realität zugleich eine relative
Sicherheit. Leben, Über- und Weiter-Leben, heiße deshalb, den Gedanken des den Frevel der Übertretung des Tötungs- und des Inzest-Tabu. In dieser
Endes wesentlich nicht zu denken, pointiert Lang (1990, 232) diese verborgene weiteren Variante des symbolischen Tauschs wird er zur legendären Fi-
Dramatik mit Verweis auf den Satz Gadamers, „einer" habe Zukunft, „solange gur: 1697 überliefert Charles Perrault die Erzählung des «Barbe-bleue»,
er nicht weiß, daß er keine Zukunft hat." die Ludwig Tieck hundert Jahre später aufgreift und als 'Der Ritter
Blaubart - ein Ammenmärchen in vier Akten' veröffentlicht. In einer
schlichten Dramatisierung des von Perrault erzählten Volksmärchens geht

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es um den kaltblütigen Frauenmörder Peter Berner und seine Frau Agnes, Kinderverführer". So hänge auch an der Speisekammer des Bürgerhauses „noch
die - während er in den Krieg gezogen ist - neugierig das ihr verbotene ein Rest Magie jener kleinen Kammer in Blaubarts Schloß, die als einzige nicht
siebente Zimmer des Schlosses öffnet und darin als grausigen Fund die betreten werden darf und hinter deren verschlossener Tür beides lauert: die Lust
Leichen ihrer Vorgängerinnen entdeckt. Der Schlüssel entfällt ihr und und das Unheil. In den Exempelgeschichten ist Blaubart zum Erzieher geworden;
das Blut daran läßt sich nicht mehr abwaschen. Mit knapper Not entgeht mit der künstlich inszenierten Abwesenheit hat er die Falle gestellt. Das Blau-
bart-Märchen endet mit der Rettung der Neugierigen und der Bestrafung des
sie dem blutdürstigen Zorn ihres zurückgekehrten Gemahls, vor dem sie
Fallenstellers; die Moral des Exempels hingegen ist die Bestrafung der Neugier"
durch ihre Brüder gerettet wird und der selbst dem Dolch zum Opfer (Richter 1987, 61).
fällt. Damit enthält diese moralische Geschichte bei Perrault zwar zu-
nächst als explizite Moral eine Warnung vor den schlimmen Folgen Dieser Zusammenhang von Unterwerfungsversuch und Gehorsamsprobe
weiblicher Neugier und enthält sie die Gehorsamsforderung völliger charakterisiert auch heute noch die Werte und Leitmotive jeder patriarchal
Selbstaufgabe und Identitätsauslöschung der Frau, doch erweist sich der unterlegten bürgerlichen Gesellschaft, denn „der ganze Macht-Ohnmacht-
Mann Blaubart auch als von der Frau durchschaut, sodaß dieser sie als Sektor funktioniert durchaus im Sinne des Blaubart-Musters. Wir müs-
Angstmörder - nicht Lustmörder - umbringen 'muß' (Suhrbier 1987, sen nur an Schulen, Kinderheime, Gefängnisse, z.T. auch Familien den-
21-22). ken" (Käst 1980, 106).
„Fast jeder Mann hat, wie Blaubart, seine Blutkammer mit zerstückelten Frauen-
existenzen aus seiner Vergangenheit. Nur daß die moderne Frau dies schon vor- Totem Blaubart
aussetzt. Und auch deshalb hat sie keine Gelegenheit, im ersten Entsetzen das
goldene Schlüsselchen zu dieser Vergangenheit mit dem Blut ihrer Vorgängerin-
Daß Gilles de Rais als legendärer Blaubart in diesen Volksmärchen schat-
nen zu beflecken, weil der Mann entweder den Schlüssel selber in der Tasche hält
- oder seinen Ruhm darein setzt, die Tür möglichst weit offen zu lassen"(Costenoble tenhaft verfremdet fortlebt, läßt diese hinsichtlich seiner Person als gene-
1907). ralisiertes soziales Totem, als paradigmatischen Versuch einer Generatio-
nen überdauernden Wiedererrichtung des Tabus verstehen. Denn das
vom Totem bestimmte Verhalten geht - so Leenhardt (1984, 229) - „aus
Blaubarts Moral einer Art Verpflichtung hervor, die der Mensch empfindet und die be-
reits an eine Ethik denken läßt, wenn man diesen Terminus nicht seiner
Erst bei Tieck (1797) wird die moralische Exempelgeschichte Teil der ursprünglichen Bedeutung von ethos, Brauch, entreißt". In Referenz auf
literarischen Kinderbelehrung der Aufklärung, in dem das Bürgerkind ein ungeschrieben-vorgeschichtliches Gesetz richtet sich dieser erzählte
ohne autoritative, sein Verhalten unmittelbar steuernde Aufsicht einen Totem an die soziale Gemeinschaft und fordert ihr eine Ethik des Begeh-
Individuationsprozeß durchläuft, der insbesondere durch die internali- rens ab (Kobbe 1998, 231), nach der es in der Einhaltung fundamentaler
sierte Kontrollinstanz des Gewissens, des Über-Ichs, geprägt ist. Ähn- Gesetze insbesondere darum geht, daß das Subjekt gemäß des - unge-
lich werden Grimm und Grimm (1812) und Bechstein (1845) das Motiv schriebenen - ethischen Gesetzes7 begehrt. Denn: Die reine Unterwer-
aufgreifen und variieren. fung unter ein juristisch codifiziertes Gesetz, das keinen anderen Inhalt
als sich selbst haben kann, das reine leere Form ist und kein Objekt hat,
Das Alleinsein des Kindes ist - so Richter (1987, 60) - „die Stunde, die dazu läßt dieses zum säkularisierten normativen Fetisch gerinnen und bezieht
einlädt, den Geheimnissen nachzuspüren: den Geheimnissen des eigenen Körpers die gewissenhafte Einhaltung der Gesetze als formal geronnene Forde-
und jenen der verschlossenen Kammern, die, ginge es nach den Eltern, den Kin- rung ausschließlich auf das Über-Ich. Damit stellt sich die Frage da-
dern verborgen bleiben sollen [...] Erziehung wird damit zur Variation der Sze- nach, wie sich das moralische Subjekt konstituiert: Nämlich, ob es als
nerie des Blaubart-Märchens, wo mit der Aushändigung des Schlüssels zu der reines Rechtssubjekt i.S. Kants oder eben auch als autonomes, ethisches
kleinen verbotenen Kammer das Unheil seinen Lauf nimmt. Der Schlüssel, jetzt
Individuum gedacht und realisiert werden kann (vgl. Knieper 1981, 22-
von Erzieher ausgehändigt, ist, selbst wo er als Mittel zur Prüfung gedacht ist,
gleichzeitig Verlockungsmittel, sich verführen zu lassen. Der Erzieher wird zum
25; Kobbe 1998, 223-224).
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Schuld (müssen), um ertragen werden zu können, so 'banal' ist das Denk- und
Sagbare dieser Fakten. Damit ist dieser Essay ein skeptischer philoso-
Eine Ethik des Begehrens jedoch ist mit dem Über-Ich weder gleichzu- phischer Gang, der wohl eine ethische Haltung jenseits der Grenzen des
setzen noch darf es mit ihm verwechselt werden, erweist sich das Über- Aussprechbaren versucht, der mithin das ethische Begehren als „ein Ziel,
Ich doch gerade als Kehrseite des Ich-Ideals bzw. als radikaler Gegenpol aber keinen Weg" kennt (Kafka 1918, 32, Aph. 26). „Der wahre Weg
bedürfnisgerechter Normen. Dies, indem eben nicht nur der Verstoß geht über ein Seil", das „knapp über dem Boden" gespannt sei, schreibt
gegen das imperative Über-Ich schuldhaft ist, sondern indem gerade die Kafka (1918, 30, Aph. 1). Ihn zu begehen, verwirklicht ein ethisch ver-
Selbstunterwerfung unter die Über-Ich-Forderungen einen Verrat des antwortetes Begehren in der phantasmatischen Beziehung zur Alterität,
eigenen Begehrens darstellt, damit gleichermaßen Schuld beinhaltet und zur Andersheit des anderen, d.h. einen selbstbefragenden Balanceakt
so - paradoxerweise - eine Stärkung des Über-Ich zur Folge hat. Damit auf einem Weg, der mehr dazu bestimmt zu sein scheint, „stolpern zu
entkommt das Subjekt dem Konflikt kafkaesk-irrationaler Schuldhaftig- machen, als begangen zu werden", denn - so wieder Kafka (1918, 32,
keit nicht und stellt sich die Frage, wie eine Ethik des Begehrens gedacht Aph. 26) - „was wir Weg nennen, ist Zögern".
und realisiert werden kann. Zwar artikuliert sich die ethische Haltung
als kritische Arbeit des Denkens an sich selber, doch kann das morali-
sche Subjekt in dieser Ungewißheit unaufhörlicher Selbsthinterfragung Anmerkungen
analog Levinas (1986, 72-96) seine Freiheit und Moral der Freiheit nur
* Vortrag während der 3.Forensische Fachtagung „Sex & Drugs & Rock'n Roll" in den
im Urteil des anderen, in der sozialen Beziehung erlangen. Rhein. Kliniken Bedburg-Hau, 11.-13.06.97
** Portrait: Zeichnung von J. Lezin nach einem unbekannten Gemälde; Namenszug des
Damit bedürfte es in der Auseinandersetzung mit sexualdevianten Tä- Gille de Rais
tern einer ethischen Arbeit des Subjekts an sich selbst in seiner Bezie-
hung zum Gesetz. Angedeutet wird hiermit bereits, daß hierin der poli-
Fußnoten
tische Aspekt der Theorie des Begehrens enthalten ist: Das oben skiz-
zierte subjektive Dilemma des Schuldigsein gegenüber dem Gesetz des
' Im griech. Mythos Gemahlin des Odysseus, die während dessen Irrfahrten ihre Freier
Über-Ich versus eines Schuldigwerdens hinsichtlich des eigenen - zwangs- hinhielt, indem sie vorgab, zuvor ein Leichenhemd anfertigen zu müssen, jedoch das
läufig verratenen - Begehrens im Ergebnis zum Schuldgefühl als Ursa- tagsüber Angefertigte nachts immer wieder auftrennte. Eine ähnliche Blaubart-Version
che und Bedingung für die Seinsmöglichkeiten des Subjekts. Unter die- findet sich bei El Hör (1913).
2 Offiziell ist dieses lagerähnliche Landgut als Sociedad Benefactory EducacionalDigniäad
sem Gesichtspunkt müßten intersubjektive Beziehungen und soziale Be-
(dtsch. Wohlfahrts- und Erziehungsgesdlschaft) eingetragen, doch macht die verkehren-
dingungen als Schuldgemeinschaft von Subjekten interpretiert werden, de Verkürzung zu Kolonie der Würde den perversen Aspekt dieses Unternehmens noch
die sich als durch den konstitutiven Mangel und das unerfüllbare Begeh- transparenter.
ren bzw. untersagte Genießen charakterisiert erweist (Baas 1994, 113). 3 „Jedes 'wissenschaftliche' Begehren hat die Regulation von Verschiebungen, d.h. das
Gesetz, zum Objekt: libidinöse Intensitäten sind in wissenschaftlichen Objekten und daher
auch in wissenschaftlichen Diskursen ausgeschlossen" (Lyotard 1973, 64).
4 im franz. Original: «violence fondatnentale»; s. Bergeret 1984, 63.
Aus-Gang, mitnichten Aus-Weg 5 Wie im übrigen anhand der Affaire Dutroux offensichtlich wird, läßt sich diese doch
bezeichnenderweise gleichlautend als «affaire du trau» = deutsch „Angelegenheit des
Loches" lesen ...
So bleibt, daß es keinen Aus-Weg aus dem Schuldigsein des Subjekts
6 Selbst im modernen Theater thematisiert 1996 die Stuttgarter Inszenierung eines frisch
gibt, daß dieser Weg i.S. einer Ethik des Begehrens beschritten werden rasierten Blaubart Jacques Offenbachs (1867) den Waren- und Tauschcharakter der kastra-
muß: Im Schreiben, im Verzicht auf das Erklären eines unerklärbaren tionsbedrohenden Machtbeziehungen mit der einschmeichelnd-werbenden Paraphrase „Für
Absoluten, wird jenseits jeder Theorie Zeugnis einer furchtbaren Wahr- das Beste im Mann: Der Bart ist ab".
7 Von griech. ägrafos nömos = umgeschriebenes Gesetz, das auf den sozialethischen Ge-
heit abzulegen gesucht, deren Existenz unbestreitbar ist: Als wie ein-
setzgeber Solon zurückgeht (Kobbe 1997; 1998).
malig auch immer pädosadistische Exzesse öffentlich bewertet werden
194 WsFPP 5.Jg. (1998) H.2 WsFPP 5.Jg. (1998) H.2 195
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Anschrift des Verfassers

Dr. phil. Ulrich Kobbe, Dipl.-Psych.


Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt
Eickelbornstr. 21
D-59556 Lippstadt

198 WsFPP 5.Jg. (1998) H.2

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