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die Reihe " Information tber serielle Musik Herausgegeben von Herbert Eimert unter Mitarbeit von Karlheinz Stockhausen Anton Webern Universal Edition / Wien + Zirich + London Bereits erschienen ist Heft l, Elektronische Musik. Inhaltsverzeichnis am Schlu3. dieses Heftes Heft Il] Musikalisches Handwerk Heft IV Debussy Weitere Hefte folgen Bildtafeln Vill und XI: Archiv ,,Freie Typographia", Wien Bildtafeln VI, Vil und IX: Photo L. Zenk, Wien Copyright 1955 by Universal Edition A. G., Wien Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfaltigung jeglicher Art, sowohl des ganzen Heftes als auch einzelner Teile daraus, vorbehalten. Universal Edition A. G., Wien Umschlagentwurf: Willi Bahner, Wien Druck: G. Gistel & Cie, Wien I Anton Webern Dokumente Igor Strawinsky Friedrich Wildgans Verzeichnis der Werke Hildegard Jone Arnold Schénberg Anton Webern Der Dirigent Anton Webern Ernst Krenek Aus dem Briefwechsel Der UE-Lektor Anton Webern Erkenntnisse Herbert Eimert Karlheinz Stockhausen Pierre Boulez Heinz-Klaus Metzger Leopold Spinner Henri Pousseur Christian Wolff Karlheinz Stockhausen Heinz-Klaus Metzger Armin Klammer Herbert Eimert Bekenntnisse Geleitwort 7 Biographische Tabelle 8 12 Eine Kantate 14 Verwort zu den Sechs Bagatellen 15 Bekenntnis zu Schénberg 6 18 Der Stein, den die Bavleute verworfen haben, der ist zum Eckstein worden 19 20 29 Choralis Constantinus 30 - Analysen Die notwendige Korrektur 35 Zum 15, September 1955 42 Fur Anton Webern ° 45 Webern und Schénberg a7 Eine Analyse (Konzert fir 9 Instrumente, 2, Satz) 51 Weberns organische Chromatik (1. Bagatelle) 56 Kontrollierte Bewegung (Werkauswahl) 66 Struktur_und Erlebniszeit (Streichquartett, 2. Satz) 69 Analyse des Geistlichen Liedes op.15.Nr.4 80 Weberns Variationen fr Klavier, 3. Satz 85 Intervallproportionen (Streichquartett, 1. Satz) 97 Karlheinz Stockhausen Struktur und Erlebniszeit Nach einer ersten Kldrung der elementaren Vorgtinge in der Reihenmusik stellen sich jetzt vor allem Fragen nach dem musikalischen Zusammenhang. Eine der dringlichsten soll hier an einer Komposition Weberns erlaulert werden: Welche Zusammenhéinge sind zwischen Struktur und Erlebniszeit? Mit Erlebniszeit ist folgendes gemeint: Héren wir ein Musikstick, so folgen die Veranderungs- vorgdnge verschieden rasch aufeinander. Einmal haben wir mehr Zeit, Verdnderungen zu erfassen, ein andermal weniger. Demnach erscheint alles, was sich unmittelbar wiederholt oder dessen wir uns erinnern kénnen, schneller erfaBbar als das, was sich verdindert. Den Ablauf der Zeit erleben wir in den Intervallen zwischen Verdnderungen: wenn sich gar nichts verandert, verlieren wir die Zeitorientierung, So ist auch die Wiederholung eines Ereignisses eine Verdinde- rung: Es geschieht etwas — dann geschieht nichts — und wieder geschieht etwas. Selbst bei einem einzigen Vorgang erleben wir Veranderungen: er beginnt und endet, Den Abstand zwischen Beginn und Ende nennen wir Zeitdaver; den Abstand zwischen den Anfingen zweier aufein- ander folgender Vorgiinge den Einsatzabstand, SchlieBlich beruht die Wahrnehmung eines einzelnen Tones ja auch nur darauf, daB wir die periodischen oder aperiodischen Schwankungen des Lufidrucks erleben, Bei allen Wahrnehmungen haben wir es immer nur mit unterschied- lichen Verdnderungen bestimmter Struktur zu tun, und diese unterschiedlichen Zeitstrukturen erleben wir qualitativ in den verschiedenen Begriffen. Eine Wiederholung hat somit den gering- sien Veranderungsgrad, ein véllig Uberraschendes Ereignis den gréBten. Die Erlebniszeit ist ferner von der Veranderungsdichte abhéngig: Je mehr Uberraschende Ereignisse vorkommen, um so ,kurzweiliger", je mehr Wiederholungen vorkommen, um so _alangweiliger'* wird die Zeit, Oberraschung tritt aber nur dann auf, wenn Unerwartetes geschieht: Wir erwarten auf Grund vorausgegangener Ereignisse eine bestimmte Ari der Folge von Ver- &nderungen, und dann geschieht pldtzlich etwas anderes, als wir erwarteten. In dem Augen- blick sind wir Uberrascht: unsere Sinne sind aufs duBerste angeregt, die unerwartete Veranderung aufzunehmen, sich darayf einzustellen, So wird schon nach kurzer Zeit eine permanente Folge von Kontrasten ebenso ,,langweilig’’ wie stindige Wiederholungen: Wir geben es auf, etwas Bestimmies zu erwarten, und kénnen nicht mehr Uberrascht werden: der gesamte Eindruck einer Kontrasifolge wird zu einer einzigen Information nivelliert. » Der Informationsgrad ist also dann am héchsten, wenn in jedem Augenblick eines musika- lischen Ablaufes das Oberraschungsmoment (in beschriebenem Sinne) am starksten ist: die Musik hat uns bestéindig ,,elwas zu sagen"'. Das hei8t aber, daB die Erlebniszeit ununterbrochen im FluB ist, sich sténdig und unerwartet andert. Etwas scheinbar Paradoxes wird sofort klar: je gréfer die zeitliche Dichte unerwarteter Ver- &nderungen — der Informationsgehalt — ist, um so mehr Zeit brauchen wir fr dos Erfassen der Vorgiinge, um so weniger Zeit haben wir zur Reflexion, und um so kOrzer vergeht uns die Zeit; je geringer die effektive Verdnderungsdichte ist (die nicht durch die Erinnerung oder Ober- einstimmung der Veranderungen mit unserer Erwartung verringer! wird), um so weniger Zeit brauchen die Sinne zum Reagieren, um so gréfiere Intervalle der Erlebniszeit liegen zwischen den Vorgéingen, und um so langsamer vergeht die Zeit. Die Erlebniszeit ist also zundichst unabhéingig vom gemessenen Tempo (das die Geschwindigkeit 69 der kirzesten Zahleinheit fUr die Zeitabstiinde der Vorgdinge definier!) und von der Geschwins digkeil der aufeinanderfolgenden Vorgdnge: So kann die Erlebniszeit sehr langsam verlaufen, wenn duBerst rasch Vorgtinge aufeinanderfolgen, die sich kaum oder gar nicht verdindern (bspyy,. bei regelmaBig periodischen Vorgdingen), wie umgekehrt bei langsamem Tempo oder langsamer. Folge der Vorgéinge durch deren hohen Verdnderungsgrad die Erlebniszeit sehr rasch Verlaufen kann, Ein hoher, effektiver Verdnderungsgrad und damit auch ein groBes Uberraschungsmoment erfordern es also auch immer, daB wir eine Zeitlang eine gewisse Folgerichtigkeit des Ablaufs er- lebt haben, auf Grund derer wir vorauszuerleben beginnen, etwas erwarten, Bemerken wir am Ende eines MusikstUckes — ganz unabhéingig davon, wie lange es gedavert hat, ob es langsam oder schnell gespielt wurde, ob sehr viele oder sehr wenige Tne vorgekom= men sind —, daB wir ,,die Zeit vergessen" hatten, dann haben wir sie eigentlich am starksten erlebt, So geht es uns nun bei Weberns Musik siandig, und wir wollen versuchen, das teilweise aus der Struktur zu ergriinden. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, den ersten Teil aus dem zweiten Satz des Streichquartettes op. 28. (Beispiel 1.) Wir héren eine Folge von 35gleich groBen Zeitintervallen. Die Abstiinde zwischen den eine zelnen Vertinderungsvorgdingen wiederholen sich also davernd, Nachdem aber der erste Satz vorausgegangen ist, in dem die Zeitwerte relatiy stark variiert wurden, erwarten wir nicht diese ununterbrochene Folge gleicher Zeitwerte, und die Erwartung einer Zeitverdinderung hall bis zum Ende dieser Partie an, wobei die Erlebniszeit sich bis ungeftihr zur Mitte beschleunigt und dann wieder verlangsamt: die Intensitét des Wartens auf einen anderen Zeitwert nimmt zu, dann wie- der ab. Die stetige Wiederholung der gleichen Zeitwerte wirkt in diesem Fall also durch das, was vorausgegangen ist, Uberraschend. Mit der nochmaligen Wiederholung des ganzen Vorgangs fallt dieses Uberraschungsmoment fort (wenn auch die Wiederholung bereits vorbereitend fir die folgende Struktur wirkt, was wir aber beim erstmaligen Héren nicht wissen; sobald wir das Stick gut oder sogar auswendig kennen, gilt unsere Erwartung mehr und mehr anderen Dingen} schlieBlich wissen wir alles im voraus und achten nur noch auf Veranderungen des Gespieltwerdens etc., was aber glicklicherweise nur ganz selten eintritt, da man kaum eine Komposition restlos in der Erinnerung behalt), Der ganze beschriebene Vorgang davert wenig mehr als eine halbe Minute, und Uber diese Daver der villigen Fixierung eines Parameters (hier der Zeitdavern und Einsatzabstiinde) ist Webern in keinem Werk hinausgegangen, Wenn ein Parameter fixiert ist, richtet sich unsere Aufmerksamkeit mehr auf die anderen Vor= géinge: Nach 14 Vierteln, die alle pizzicato gespielt werden, steht das erste legato in der 1, Violine, 2 Viertel spater folgt das zweite in der Bratsche, die Legatogruppen werden immer dichter — entsprechend der Abnahme ihres Uberraschungsmomentes —, nehmen wieder ab und fuhren zum pizzicato zuruck. Damit wird die Tonform zu einer zeitformenden Komponente. Ein weiteres Kriterium fur die Erlebniszeit ist hier die vertikale Dichte. Von 31 Zusammen- klngen (ohne Wiederholung) sind 23 dreiténig, 6 vierténig, und zu Begin stehen ein einzelner Ton und ein Zweiklang. Die 6 Vierton-Akkorde sind so verteilt, da® sie im Zusammenhang mit den dreiténigen einen groGen Vertinderungsgrad haben: Die gleichbleibenden Dreiton-Akkorde werden von Vierton- zu Vierton-Akkord zu Gbergeordneten Intervallen der Erlebniszeit zusammengefaBt, und diese Intervalle werden zunehmend kirzer, dann wieder linger. Vor Doppelstrich aus héren wir also die Zeitintervalle; 9—5—5—3—1—5 Viertel. Die Wiederholung gibt zweifach Gelegenheit, den Verdinderungsvorgiingen zu folgen: haben wir beim ersten Mal mehr auf die Verdnderungen der Tonform geachtet (pizzicato — legato), 70 Gemiichlich ¢: ca 56 — poco rit, aah; tempo, etwas fliessender 18 oe 7 bp ichiich 4 . Wieder gemici = esusra ‘i 7 ‘so wird sich jetzt automatisch unsere Aufmerksamkeit mehr auf die sinnfalligen Veranderungen der Akkorddichte in Beziehung zur Tonformvertinderung richten — oder umgekehrt. £s wird hier bereits deutlich, daB der Grad der komponierten Verdnderungsdichte nicht direkt proportional der Erlebnisdichte ist. Bleiben beispielsweise die Zeitintervalle zwischen den Vertinderungen konstant, so verlangsamt sich zunehmend die Erlebniszeit; nimmt die zeit- fiche Dichte der Ver&inderung zu, so bleibt der Ablauf der Erlebniszeit zundichst konstant, und ‘erst mit potentiell zunehmendem Verinderungsgrad wird auch ihr Tempo rascher. Somit miBte also bei gleichbleibendem Verdinderungsgrad die zeitliche Dichte der Veranderungen zunehmen, wenn die Erlebniszeit gleichbleibend schnell verlaufen soll; oder umgekehrt: bei gleichbleibender Verinderungsdichte mu der Grad der Verdinderungen zunehmen, wenn der Erlebnisgrad gleich hoch und die Erlebniszeit nicht langsamer werden soll, Beide Vorgtinge finden wir im gewahiten Beispiel. Wir sehen, daB Webern bei konstantem Zeitablauf (gemessen) der einzelnen Akkorde durch Ubergeordnete Verdinderungsvorgiinge die Erlebniszeit stindig verdindert, und wie er das macht, Der Zeitabstand zwischen den Vertinderungen gleichen Grades (Vierton-Akkorde gegentiber den Dreiton-Akkorden) nimmt ab und dann schneller wieder zu; d. h. die Zeifdichte nimmt bei gleichbleibendem Verdinderungsgrad zu und wieder ab. Die legato-Tonform hat hier gegenUber den Vierton-Akkorden einen viel hoheren Vertinderungs- grad, da sie erst nach 14 pizzicato-Akkorden eingefUhrt wird und man bereits weniger auf die bis dahin gleichbleibende Tonform achtet, wahrend die GegenUberstellung von Drei- und Vier- ton-Akkorden bereits seit Anfang des Stiickes als Vertinderungsmoment erlebt ist. Deshalb nimmt die Verdnderungsdichte pizzicato—legato sehr viel schneller zu, um den gleichen Informationsgrad zu erhalien, und wo diese Dichte — in Viertelabsttinden: 3—2—2—1—1—1—-1—1—2. (bzw, nach der Wiederholung 5) — beim funfmaligen Abstand von einem Viertel der einsetzenden tegato-Paare konstant wird, nimmt der Grad der Verdnderung in der Vertikale zu; es Uber= lagern sich mehrere legato-Téne gleichzeitig in der Reihenfolge; 2—4—3—2 | 232 forte > piano > ‘Webern laBt also hier bei konstanter Veriinderungsdichte den Vertinderungsgrad anwachsen. Die Erlebniszeit des ganzen Abschnitts, soweit sie bereits aus diesen beiden Teilvorgdingen her- vorgeht, verlauft bis Takt 14, in Spriingen, zunehmend schneller; und da Verdnderungsdichte und Vernderungsgrad rascher wieder abnehmen, als sie zugenommen haben, wirkt das wiederum — als eine effektive Verdinderung — der Wiederholung von pizzicato-Ténen und gréBeren Zeit- ‘abstinden zwischen den Vierton-Akkorden entgegen, so daB die Erlebniszeit_ nur wenig lang- samer wird. Bei der folgenden Wiederholung muB also die Kurve der Erlebniszeit einen ganz anderen Verlauf nehmen: die Veranderungsgrade veriagern sich auf vorher weniger beachtete Vor- ‘Gunge; die Erinnerung setzt als eine Kraft ein, die den Informationsgehalt des Gehdrien erheblich beeintrachtigt: man versucht, wiederzuerkennen, der Uberraschungsgrad sinkt etc. Verdnderungsgrad und Veranderungsdichte einer Struktur resultieren aber aus dem Zusammen- wirken aller Komponenten, gleichsam als vektorielle GréBen vieldimensionaler Gebilde. Nach den internen Zeitintervallen, den Ubergeordneten Tonformvertinderungen und vertikalen Dichteunterschieden untersuchen wir in unserem Beispiel jetzt, wie weit die Struktur der Inten- sitten und dann die der harmonischen Veranderungen die Erlebniszeit mitbestimmen. Hierzu vergleiche man die Beispiele 2 und 3. Durch Veriinderung der Lautsttirke werden die Viertelwerte in eine Gruppenreihe aufgetel 7pp—isi—Sp—épp—6f-—2p—4pp(8) Durch die Wiederholung wird die SchluBgruppe zu einer Achtergruppe, Aus der Uberlagerung 72 der zeitgliedernden Gruppen von Vierton-Akkorden und Lautstirkeverdinderungen wird er- sichtlich, daB diese durch gemeinsame Treffpunkte die Erlebniszeit nochmals in drei Haupt- gruppen unterteilen: ic Beispiel 2 Die dynamische Gruppierung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der harmonischen Struk- tur, Zwei harmonische Spiegel-Symmetriegruppen, eine erste von 12 Akkorden (6 und 6) und eine zweite von 16 Akkorden (8 und 8) entstehen dadurch, daB Akkorde gleicher, nochmals vertikal gespiegelter Intervallstrukiur — aber vernderter Oktavregistrierung und transponiert — miteinander korrespondieren. Diese Gruppen werden deutlich getrennt, da genau mit dem Beginn der zweiten Symmetriegruppe die legato-Tonform einsetz! (5. Beispiel 3). Das Zentrum der ersten Symmetriegruppe wird durch ein sforzato markiert, das Zentrum der zweiten durch die einzige vorkommende Prim und den so entstehenden Zweiklang: c2, g! pizz. gt arco (gréBter Verdinderungsgrad der vertikalen Dichte: Folge von Zwei- und Vierklang). In der zweiten Gruppe wird die Spiegelsymmetrie in den drei inneren Akkordpaaren sowie durch die beiden — das Gleichgewicht der Symmetrie zur zweiten Halfie verlagernden — Vierton- Akkorde unregelmasig. Die Lautsttirke macht die Gruppenbeziehungen in den Symmelrien deutlich: die erste Halfie der ersten Spiegelgruppe ist pianissimo — (2+)5 Akkorde —; der erste Akkord des Zentralpaares ist sforzato; die zwelten 5 Akkorde sind piano. Das folgende pianissimo fir 6 Akkorde verbindet die beiden Symmetriegruppen durch Einbeziehung des letzien Akkordes der ersten Gruppe in die folgende und zeigt an, wie weit die genau symmetrisch korrespondierenden Akkorde der folgenden Gruppe reichen; das forte mit hohem Vertinderungsgrad (wie auch sforzato in der ersten Gruppe) im Zusammenhang mit den am meisten vorkommenden leisen Intensiffiten kenn- zeichnet die zunehmend unsymmetrischer entsprechenden drei Innenpaare; die beiden Vierion- Akkorde sind piano; die letzte symmetrisch korrespondierende Gruppe ist wieder pianissimo, Dieser Vorgang wird nochmals durch die Art der Tempoyveranderung verdeutlicht: die erste Symmetriegruppe ist ohne Tempovertinderung; genau mit der zweiten Gruppe beginnt ein poco ritardando; mit der unregelmaBig symmetrischen Zentralgruppe im forte wird das ,,Tempo etwas flieBender''; beim ersten Akkord nach dem Moment grdGter harmonischer Information — der gleichzeitig das Zentrum der zweiten Symmetric ist — steht wieder poco ritardando (graGter Verdnderungsgrad der Akkorddichte vom Zwei- zum Vierklang und damit auch vom Gber- raschend einfachen Intervall — der Quarte — zum differenzierten Vierklang ohne die bis jetzt gewohnte symmetrisch bzw, teilsymmetrisch gespiegelte Entsprechung); dem gréften Vertinde- rungsgrad horizontaler Dichte — direkte Folge der beiden Vierion-Akkorde —folgt .,wieder geméchlich", 6 73 £ feidseg Peauguete6o7 — as * “ee Bs Sao aS Cbs WN? J Xv ey | eo ces ae ee mei safe) Unmittelbar nacheinander erleben wir den héchslen Verdinderungsgrad und die gréBte Ver- nderungsdichte bei gleichzeitiger Zu- und wieder Abnahme des Tempos sowie starker dyna- mischer Verénderung, und zwar sowohl der Akkordstruktur wie der symmetrisch-asymmetri- schen Verschiebung. Damit wird noch einmal die Einfuhrung der legato-Tonform verglichen, die — in Verbindung mit der Tonhdhen-Intervallrichtung (6, u.) — die anderen Vertinderungsformen ergdinzt: Es ent- steht eine symmetrische Gruppe mit den ersten 5 Akkorden der zweiten Spiegelsymmetrie durch steigendes legato pizzicato — fallendes legato: —"~\ ; dann eine zweite, ineinander- geschoben-symmetrische Sechsergruppe, die das Schwergewicht zur zweiten Hilfie verlagert: © & undeine angeknUpfte Dreiergruppe mit nur noch fallenden legato-Bogen: ~ . Die gréBten Vertinderungsgrade der vertikalen legato-Uberlagerung im Zentrum der Sechser- und der Dreiergruppe fallen mit den bezeichneten Vierton-Akkorden zusammen. Diese sind wie~ derum durch weiteste und engste Gberhaupt vorkommende Lage der Akkordtdne unterschieden: gist f? cis? — ht hast B fist Zusammengefabt ergibt sich folgendes: Die harmonischen Symmetriegruppen teilen den Zeitablauf in zwei (bzw. mit Wiederholung vier und eine unsymmetrische SchluBgruppe) Abschnitie von der Daver (2-+) 12 und 16 Viertel. Wahrend die erste Symmetrie, von der Dynamik in den beiden Halften und im Zentrum belichiet, zweiteilig und regelmaBig ist, wird die zweite, langere sowohl harmonisch wie auch dyna- misch und durch Tempotinderung dreiteilig und im Mitfelteil unregelmaGig, mit einer Gewichtverlagerung zur zweiten Halfte durch die beiden herausfallenden Vierton-Akkorde sowie durch eingeschobene ungleiche Symmetriegruppen der legato-Tonform. Die Trennung der groflen Symmetrie durch Einsetzen des legato wird mit der Ubernahme des letzten Akkordes der ersten Gruppe in die zweite (pp) unscharf gemacht. Immer an den Stellen, wo eine Verlangsamung der Erlebniszeit durch geringere Verdnde- rungsgrade eines Parameters bzw. durch Wiederholung eintritt, steigt der Verdnde- rungsgrad eines anderen, um die Verlangsamung gleichsam wieder einzuholen: die un- mittelbare Wiederholung der Akkordstruktur in der Mitte der ersten Symmetriegruppe ist mit sforzato verbunden; wo die verschiedenen, aufeinanderfolgenden Akkorde der ersten Hiilfie in der symmetrisch korrespondierenden zweiten Halfte ruckldufig und vertikal gespiegelt wieder- holt sind, wéichst die Intensitat zum piano; die zweite Gruppe wiederholt in Hinsicht auf ihre symmetrische Struktur die erste, dafuir ist sie aber léinger, dreiteilig, unregelmaBig zur Mite hin, aus dem Gleichgewicht gebracht — gerade dort also, wo wir von der ersten Symmetrie her die gréBte direkte Verwandtschaft der Akkordfolge erwarten —, obwoh! das Zentrum deutlich markiert bleibt, SchlieBlich ergeben die symmetrischen Teilstrukturen eine unsymme- trische Gesamtform. ‘Aus den Lagen und Lagenbreiten ergibt sich die Reihenfolge der Intervalle zwischen den jeweils tiefsten und héchsten Ténen der Akkorde (Beispiel 4). Im Zusammenhang von Akkordlagen und Lagenbreiten entsteht eine dreifache Zeitteilung: (1+) 148-7 Viertel (6 als SchluBgruppe nach der Wiederholung). In der ersten Symmeirie= aruppe korrespondieren Akkorde eng verwandter Lagenbreite miteinander; die Gruppenmitte ist durch starken Lagenwechsel gekennzeichnet, was auch flr die AnschluBstelle zur folgenden symmetrischen Gruppe und von dieser zur dritten, unsymmetrischen, gilt. Die Gruppenanschlisse sind sehr deutlich durch die Septimenbreite baw. deren Halfte, die Quarle (10 und 5), gekenn- o 7s zeichnet. Erste und zweite sowie dritte und vierte Gruppe werden durch gemeinsame Glieder verbunden, indes zweite und dritte getrennt sind beim grSBten Gegensatz der Lagenbreite 5—34. Die erste Gruppe deckt sich mit der ersten harmonischen, die zweite und dritte entsprechen di beiden Halften der zweiten harmonischen Symmeiriegruppe, die aber durch die Folge sym trischer und unsymmetrischer (in der Breite abnehmender) Breitengruppen in zwei verschieden Halften geteilt wird; dabei hat die zweite einen sehr viel hSheren Vertinderungsgrad nach zweimal vorausgegangenen Symmetrie. we evertinARK. hi * age “ i i a) iJ i i i SEE AS Beispiel 4 Typisch ist die durchgehend alternierende Verdnderung der Akkordbreite, die in der ersten Gruppe zu zwei verschréinkt korrespondierenden Paaren und in der dritten zu einer zwel- schichtigen Reihe der Breitenabnahme fuhrt: 2 —. ——— 34-31-14 - 27-11 - 20-6 - 10 en =e 2 Nach der Wiederholung ist die SchluBgruppe in der Akkordbreite nur noch abnehmend (,,Coda" Reminiszenz).. In der zweiten Achtergruppe diferieren die korrespondierenden Symmetrieglieder der zweite Haifte von denen der ersten Haifte um durchschnitflich vier Einheiten (gr. Terz), im Gege zur ersten Vierzehnergruppe, wo die Symmetriepaare sehr eng verwandt waren. AuBerdem ist die durchschnittliche Breite der Akkorde in den drei Gruppen verschiede sowie die Form ihrer Lagenbewegung: Gruppe 1 — Breite alternierend zunehmend und abnehmend, Lage “17; Gruppe 2 — Breite abnehmend und wieder zuneh durchschnittlich engere Lage \j ; Gruppe 3 — Breite alternierend abnehmend, von breitesten in die mittlere Lage tendierend (> ; Schlufgruppe — Breite abnehmend, L¢ fallend NS. Im GroBen unterstitzt also die Form der Akkordbreiten und -lagen den Verlauf der Erlebniszeity wie er durch die anderen Strukturen gegeben ist; im Kleinen aber verschiebt sie das Symme= trieverhalinis der zweiten Gruppe durch den ansteigenden Verdinderungsgrad der zweiten Hall noch starker, als es bisher schon der Fall war. Aus der Kombination der Instrumente, viel mehr aber noch aus der Strukturierung der oe o 4 luten Tonhéhen ergibt es sich weiterhin, daB die Gesamtverteilung der Tone in den Lagen — die Lagendichte — in der eingestrichenen Oktay weitaus die meisten Téne bringt, in den AuBenlagen des maximal drei Oktaven und eine groBe Sexte breiten Abschnitts immer weniger Téne. Von insgesamt 106 Ténen stehen in den einzelnen Oktaven: Dreigestrichene Oktav 2 Téne Zweigestrichene Oktay 29 Téne Eingestrichene Oktav 46 Téne Kleine Oktav 25 Téne Grofe Oktav 4 Téne Wie weit sich die durchschnittliche Tondichte im Verlauf dieses Abschnitts in die Mittellage verschiebt (mit steigendem ,,Stufengang" der unteren Spitzentine, wahrend die oberen Spitzen- téne fix bleiben) ersieht man aus dem Lagendiagramm. (Das sonst bei Webern so auBerordentlich stark an der Zeitformung beteiligte Fixieren und in verschiedensten Schnelligkeitsgraden erfolgende Wechseln der Oktavlagen der Téne — eines der sinnfalligen Mittel Gberhaupt zur Artikulation der Erlebniszeit — kommt in unserem Beispiel nur wenig zum Vorschein wegen der ganz anderen Absichten im Harmonischen. Aus diesem Grund bleiben auch die Zeitdavern und Einsatzabstinde undifferenziert, die sonst in vielfaltiger Verainderung komponiert sind: durch Fixierung, Auslassung, Hinzuftgung einzelner Zeitwert- gruppen flr bestimmte Partien — und das in verschiedensten Graden und Dichten, die sich im Zusammenhang mehr oder weniger rasch vertindern.) Tonwiederholungen treten nur vor oder nach den Vierton-Akkorden auf, die Richtung der Symmetrie weisend: in der 1, Gruppe nach dem ersten und vor dem zweiten Vierton-Akkord werden fist und dis? wiederholt; in der 2. Gruppe wiederholen sich jetzt jeweils zwei Téne: nach dem ersten Vierton-Akkord e', dis, und vor dem letzten der Gruppe werden fist und f? voraus- genommen, Die Stockung bei diesen Wiederholungen lenkt unsere Aufmerksamkeit besonders auf die Vier- ton-Akkorde, und dann ergéinzen sich Vierton- und folgender bzw. vorausgehender Dreiton- Akkord durch die Tonwiederholung zu 6 (2 X 3)Ténen, im zweiten Abschnitt nur zu 5 Ténen: als sei ein Ausgleich der eintretenden Dichtevertinderungen geplant. Als hinweisende Zeichen geben diese Tonwiederholungen Einblick in subtilste Feinheiten webernscher Komposition (Inter- punktionen). Horizontale Intervallgruppen in den einzelnen Instrumenten sind jeweils durch Viertel- pausen getrennt, als doppelt kanonisch gefUhrte Enisprechungen zwischen 1. Violine und Bratsche sowie Cello und 2. Violine (Grundreihe und ihre obere Terztransposition sowie Krebs und Um- kehrung auf der oberen Quinte). In der ersten Violine ist die Gruppenfolge (in Vierteln): 6—6—4 (2 arco+2 pizz.)—8 (6 arco+2 pizz.)—6 (bzw. 4 nach Wahlg.) Anderungen der Intervalltypen und -richtungen unterscheiden die Gruppen. Verwendet sind kleine None, groBe Septime, groBe Sexte, kleine Sexte und kleine Dezime innerhalb der Gruppen; kleine Dezime, groBe Dezime und kleine Sexte bei den Gruppenanschliissen (6. 0. Beispiel 1). Die Gruppen sind folgendermafen komponiert: 1$-9-[ 5-19 |15-9-[a4]-0-18 | 9-48 | 13- ®-15 | 1G-9-11 | 19-9-11 ~ © 16 8 8 : ‘s i eitveta gt teat tote ; Beispiel 5 Auch hier treffen wir die mit allen anderen in eins gehenden symmetrischen Gruppierungen, Das Zentrum der ersten Spiegel-Symmetriegruppen ist aber im Gegensatz zur harmonischen, lagenmaBigen etc, um ein Viertel zum Anfang hin geriickt, und dadurch schieben sich die Grup. pensymmetrien verschiedener Herkunft wie zwei Raster um einen Grad ineinander (man denkt. unmittelbar an eine mehrfach belichtete pholographische Aufnahme eines gleichen Gegenstandes, wobei alle Konturen, mit kleinstem Abstand verschoben, mehrmals sichtbar sind). Die AnschluB- stellen der Gruppen, bisher offen und vielfailtig unterstrichen, werden dadurch unscharf gemacht, In der zweiten Gruppe, die achsensymmetrisch (Zentrum 15) ist — im Gegensatz zur 2. Spiegel- symmetrie der harmonischen, lagenmaBigen etc. Gruppe —, fall der zweite Ton des gréBten unmitielbaren Intervalls, der kleinen Dezime, auf den ersien Akkord des harmonischen Zentral= Paares, also den Zweiklang c*—g', g', Damit sind die 2weiten Symmetriegruppen wiederum um den Zeitwert eines Viertels gegeneinander verschoben. Die Iniervallgruppen der Bratsche ls vertikal-symmetrische Entsprechungen zur 1. Violine (Intervallumkehrungen) vergleiche man ebenso, Im Cello hdren wir die Gruppenfolge (in Vierteln): 32-23 | 44 @2 pizz. +2 arco)—3 (1 pizz.+2 arco)—3 (bzw. 4) Verwendet sind kleine None, kleine Dezime, groBe Septime, groBe Sexte Uber eine Oktav inner- halb der Gruppen und groGe Sexte, kleine Terz, groBe Terz, kleine Sexte und Quinte als Gruppen- anschluBintervalle, Intervalle und Richtungen verhalten sich so zueinander: Beispiel 6 Die erste Symmetriegruppe von 6 Intervallen (im Zentralpoar 11—13 unregelmatig) ist — gegen- Ober der ersten Gruppe in der Violine von 10 (5-+5) Intervallen — verkleinert, bedingt durch den kanonisch verspateten Einsatz, auf den dann aber auch die Verkirzung der zweiten Halfte mitreagiert, In das Zentrum dieser Gruppe (Vierlelpause) fallt sforzato, das in der harmonischen Gruppe den ersten Akkord des zentralen Innenpaares markierte; und in der folgenden groBen Gruppe von 11 achsensymmetrisch angeordneten Intervallen (Zentrum 11) fallen die gr&Bten Intervalle (groBe Sext Gber eine Oktav) einmal auf den zweiten Akkord des Zentralpaares der zweiien harmonischen Symmetrie sowie auf die beiden das Gleichgewicht verlagernden Vierton- Akkorde. Dadurch sind die zweite horizontale Symmetriegruppe der Intervalle und Richtungen und die entsprechende harmonische Symmetriegruppe um ein weiteres Viertel mehr als in der ersten gegeneinander verschoben und wechselseitig unscharf gemacht, Die 2. Violine verfolge man ebenso, Wir sehen also, wie gleichzeitige, die Erlebniszeit artikulierende Symmetrien verschiedenster Her= kunft und Form erst im Zusammenhang ihre eigentliche Funktion erfdllen, indem sie sich nur annéhernd decken und dadurch einen Unschdirfegrad unterschiedlicher GriGe in die Kompo- sition hineinbringen, der auch fur alle natirlich vorkommenden Symmetrien typisch ist. Gleiches wird nur annéhernd gleich, Entsprechendes nur anndhernd entsprechend, So kommt ein andavernd wirksamer Verdnderungsfaktor in die Erlebniszeit, den wir als den optimalen 2¥ 78 Anfang unserer Untersuchung aligemein bezeichneten: DaB durch eine mit- und vorauserlebbare Folgerichtigkeit der strukturellen Vorgiinge — und, wie unser Beispiel zeigte, in noch wichti- gerem Mafe eine nacherlebbare Folgerichtigkeit (indem sich Vorausgegangenes erst durch das Folgende erschlieBt, in umgekehriem Kausalverhdilinis) — unsere Erwartung geweckt wird, so daB wir dadurch die informatorischen Mittel an die Hand gegeben bekommen und so in eine \Hér"-Konvention einbezogen werden; und daB dann erst die eintretenden Verschiebungen und effektiven Verdinderungen Uberraschend und von entsprechend informatorischer Bedeutung sind, ‘Auf dieser schmalen Klippe zwischen einem Zuviel an Entsprechungen und .,Wiederholungen"* ‘oder aber einem Zuviel an ,,Kontrasten‘* — d, h. einem Zuwenig an nacherlebbarer Folgerichtig- keit —, auf diesem halsbrecherischen Grat muB sich der Komponist bewegen kénnen, wenn er die Erlebniszeit von der Struktur aus in den Griff bekommen will, wenn er die Struktur von der Erlebniszeit her formen will: Wir héren nicht mehr ,,einzelne Uberlagerte" Strukturen, wie sie in dieser Untersuchung getrennt dargestellt wurden; wir erleben nicht mehrere synchrone Zeit- abldufe, sondern die Zeit, die immer mehr ist als die Summe der quantitativen Verdnderungen, da der eigentliche Faktor unbestimmbar bleibt: der Erlebende, So geschieht die letztmégliche kompositorische Kontrolle der Strukturqualitat im,,Ourchhéren", das Webern immer wieder gefordert hat. Trifft den Komponisten — der bei allen strukturellen Einzelbestimmungen den ganzen, vorer- lebten Zeltorganismus im Ohr behalten muB — die glickliche Fugung, so ist zu seiner Kunst jener unentbehrliche Rest hinzugekommen, der ,,Struktur’’ erst sinnvoll macht. Und wir erleben, wie traumhaft sicher Webern diese Kunst immer wieder unter véllig anderen Voraussetzungen und mit anderen Mitteln vollbringt. Hért man nun den beschriebenen Ausschnitt aus dem Streichquartett — und sei es zum wievielten Male —, erscheint einem alles ,,einfach", alles wird zu einem Ganzen, zu einer Einheit. Die Viel- falt schieBt zusammen: zu einem Stick ténend erlebter Zeit: einem Stick Musik. 79

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