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Kritische Einordnung und theoretische Erweiterung eines
missbrauchsanalytischen Readers.*
Ulrich Kobbé
Vorab
Dieses Vorwort ist keine einfach kommentierende Einleitung aus fachlicher Sicht, denn … das vorlie-
gende Buch vom Homes erweist sich als mehrfach ‚problematisch’, dessen Rezension sich mithin als
‚brisant’, sprich, als ein zwangsläufig sehr subjektives Unterfangen – in diesem Sinne wird am eige-
nen latenten Unbehagen aufzuzeigen sein, worin das Unerhörte dieses Buches besteht:
1. Zum einen thematisiert der Autor eine entwicklungs- und sozialpsychologisch höchst bedeutsame
forensische Interaktionsdynamik, die im Rahmen gesellschaftlich längst fälliger Debatten um
Missbrauch und andere sexuelle Gewalt zugleich ausgeblendet wurde.
2. Zum anderen nimmt Homes psychodynamische Zuschreibungen und Interpretationen vor, die bei
oberflächlicher Betrachtung zwar schlüssig erscheinen mögen, sich bei theoretisch fundierter Ana-
lyse jedoch als kurzschlüssig, mithin als falsch erweisen müssen.
3. Hinzu kommt, dass er in seiner konsequent tabulosen Entzauberungsstrategie dazu tendiert, sich
das Buch – so jedenfalls der Blick in die Reaktionen auf die Erstauflage des Buches (S. 322 ff.)
und Ergebnisse einer eigenen Internetrecherche – dazu anbietet, als Rechtfertigungs- und Kampf-
instrument missbraucht zu werden, d. h. Beifall von der falschen Seite (von Pädophilengruppen,
von militanten Vätervereinen etc.) zu erhalten.
Dass sich der Verfasser dennoch für das Schreiben dieses Vorworts – und so auch für eine Mitver-
antwortung der Publikation dieses Buches – entschieden hat, liegt vor allem darin begründet, dass
diese Arbeit eine wissenschaftliche und fachpublizistische Lücke schließt, ein informelles Defizit ver-
ringert und prinzipiell aufklärerischen Impetus hat. Genau genommen legt Homes nicht ein Fachbuch
im eigentlichen Sinne, sondern eine umfangreiche Fachdokumentation vor, in der er in wissenschafts-
jounalistischer Strategie auf eigene Theoriebildung verzichtet und sich diese dort ausborgt, wo sie
ihm in den recherchierten Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt wird. Diese Programmatik hat je-
doch zu Folge, dass Homes in seiner Modellbildung jeweils nur so weit zu springen in der Lage ist,
wie ihm dies die Autoren der betreffenden Basisliteratur ermöglichen … und dies ist an einigen Stel-
len (siehe unten) für ein fundierteres Verständnis, für eine theoretische Einordnung zitierter Fakten
und Meinungen zu kurz. Dies (er)forderte anstelle einer nur kommentierenden Einleitung einen theo-
retischen Vorspann als sozusagen ‚co-mentierenden’ Rahmen, als eine Art ‚Kon-Text’ zum Text.
*
Vorwort für Homes, Alexander Markus. (2005; geplanten Neuauflage 2006). Von der Mutter missbraucht. Frauen und die sexuelle Lust am
Kind. Lengerich: Pabst.
ne manifest aggressiv-defensive Tendenz, den als vollkommen ich-fremd, uneinfühlbar, fern usw.
dargestellten Täter dadurch zu strafend zu verfolgen, dass Skandalisierung und Dämonisierung ge-
eignete Mittel sind, den Anderen propagandistisch aus der Gemeinschaft auszuschließen und in ein
soziales Abseits zu verbannen (Margalit 1999, S. 114-116). Diese ethisch-moralisch durchaus an-
greifbare Reaktionsweise tendiert dazu, den Missbraucher zu entmenschlichen und verdinglicht zu
behandeln, ohne dabei die ethische Problematik seiner selbstgerechten Position des moralisierenden
Recht-Habens zu erkennen, geschweige denn zu reflektieren:
„Wer betroffen ist, wähnt sich dabei von vornherein im Recht: er steht hier und kann nicht anders.
So zufällig es ist, wer denn betroffen ist, so unbestimmbar sind auch die Folgen, die der Betrof-
fenheit entwachsen. Betroffenheit ist ein Fetisch, vor dem alle Argumente in die Knie zu gehen
haben. Vor ihr dankt alle Vernunft ab. Persönliche Betroffenheit wird heutzutage stets dann rekla-
miert, wenn die Argumente entweder ausgegangen sind oder man sich mit ihnen nicht mehr ab-
geben möchte. Betroffenheit gilt als kostenloser moralischer Bonus allen denjenigen gegenüber,
die mit ihr nicht aufwarten können. Wer sie an Stelle eines Arguments für sich reklamiert, setzt
das zufällige Ich als letzte Bastion der ihm fremden und unverständlichen [Innen-]Welt [des Miss-
brauchers] gegenüber. Betroffenheit als letzte Größe ist Aufspreizung des Subjekts mit gleichzei-
tigem Verlust seiner Vernunft, ist Distanzlosigkeit“ (Pohl 1983, S. 109-110).
In der Tat hemmt Differenzierung den Elan. Um so schwieriger ist es, angesichts eines affizierenden
Themas, eines moralisierenden parteilichen Opferdiskurses und eines emotionalisierten gesellschaft-
liches Klimas eine unabhängig-reflektierte, versachlichende und sozusagen a-moralische Haltung
einzunehmen bzw. zu bewahren, um einen wissenschaftlichen Diskurs führen zu können. Das Buch
von Homes zumindest konterkariert die zum Teil höchst einseitig und emotionalisiert geführten Täter-
Opfer-Diskurse, indem es in weiten Teilen eine wissenschaftliche Materialsammlung zur Verfügung
stellt. Kritisch bleibt dabei einzuwenden, dass die Form der Zitatmontagen dazu tendiert, wissen-
schaftliches Arbeiten als eine Art von exzerpierendem Sampling vorzuführen und unterschiedliche
AutorInnen quasi gnadenlos zu montieren, doch wird dieses Buch damit auch zu einem „Steinbruch“
im Foucaultschen Sinne, zu einer „toolbox“, aus der Interessierte sich – allerdings fast beliebig – be-
dienen können3.
Deutlich wird, dass bei den Motiven des Missbrauchs nicht primär ‚Lust’ im Sinne einer sexuellen Be-
friedigungslust ausschlaggebend ist, sondern dass es – im Spannungsbogens zwischen Angstabwehr
und Wunscherfüllung – darum geht, als unerträglich erlebte oder antizipierte Zustände von ‚Unlust’4
zu vermeiden und sich durch die symptomatische Missbrauchshandlung situativ zu stabilisieren. Da
dieser Effekt jeweils nur vorübergehende Wirkung haben kann, tendiert dieses perverse Bewälti-
gungsmuster dazu, den Charakter eines wiederkehrenden, schließlich habituierten Konfliktlösungs-
musters im Sinne der oben genannten ‚perversen Reaktion’ anzunehmen.
Literatur