Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
2/97
Seit Jahrzehnten schwelt, besonders in den USA, die Evolutionstheorie mißbraucht oder falsch ver-
ein Konflikt darüber, was im Biologieunterricht zu standen; dennoch, ihre Begründer und die Theorie
lehren sei, die Theorie der Evolution oder die Ent- selbst werden in hohen Ehren gehalten.
stehung des Lebens und der Arten durch Gott oder
beide Sichtweisen nebeneinander. Befürworter der Ein Evolutionist beschreibt den Mißbrauch
Evolutionstheorie betrachten diese als die einzige der Evolutionstheorie
zu lehrende vernünftige Erklärung für die Entste- Stephen J. GOULD, überzeugter Evolutionist und
hung des Lebens, dagegen bestehen Kreationisten erfolgreicher Forscher an der Smithsonian Institu-
darauf, daß auch die auf die Bibel sich gründende tion in den USA, macht in seinen Büchern immer
Schöpfungslehre vertretbar sei und gelehrt werden wieder auf einige menschliche Probleme aufmerk-
sollte. sam: auf den Umgang mit wissenschaftlichen
Seit rund zwei Jahrzehnten ist dieser Konflikt Theorien und Forschungsergebnissen, insbesonde-
besonders durch das Erstarken der bekennenden re wenn ihre Interpretationen auf den Menschen
christlichen Bewegung und die Gründungen angewendet werden.
christlicher Schulen auch in Deutschland aktuell. In Kürze: Prominente Wissenschaftler gingen
Abgesehen von den wissenschaftlichen und den allgemeinen Ansichten der letzten zwei Jahr-
theologischen Argumenten für die verschiedenen hunderte entsprechend davon aus, daß die ver-
Ansichten zeigen sich auch unterschiedliche ideo- schiedenen Menschenrassen verschiedene Stufen
logische Tendenzen bei beiden Parteien. Diese äu- der Perfektion einnehmen. Schöpfungslehre und
ßern sich z. B. darin, daß gelegentlich der Gegen- Evolutionstheorie wurden jeweils in unterschiedli-
seite deren Irrungen und Verwirrungen angelastet cher Weise dieser „allgemein bekannten Tatsache“
werden, die eigene Geschichte aber völlig unkri- angepaßt.
tisch betrachtet bzw. unterschlagen wird. Ein Bei- GOULD stellt eine Reihe von bedeutenden Wis-
spiel soll dies verdeutlichen. senschaftlern der Vergangenheit und ihre Ansich-
ten zu diesem Punkt vor. So Louis AGASSIZ, der in
Schöpfung, Evolution, traditionell verhär- der Mitte des 19. Jhd. die Afrikaner als den Wei-
tete Fronten ßen unterlegen ansah, und davon ausging, daß Gott
In einer Fachzeitschrift für den naturkundlichen die Weißen und Schwarzen als zwei unterschiedli-
Schulunterricht werden grobe Fehler und Engstir- che Spezies erschaffen habe. Zur widernatürlichen
nigkeit einiger Vertreter des Kreationismus zur Vermischung der Gruppen kam es nach seiner
Bewertung der Schöpfungslehre im Schul- Meinung dadurch, daß sich die jungen weißen
unterricht herangezogen, und die Schöpfungslehre Männer durch Mischlingsmädchen, die als Haus-
damit als unwissenschaftliche und gefährliche personal arbeiteten, an den Verkehr mit der dunk-
Ideologie, die oft mit politischen Einstellungen ge- len Gruppe gewöhnten.3
koppelt sei, gekennzeichnet.1 Im Gefolge der Auffassung, die dunkelhäutigen
Betrachtet man die Geschichte des Kreationis- Rassen seien den Europäern unterlegen, kam dann
mus und die damit verbundenen Gerichtsverfahren aber auch der Darwinismus den Europäern und
in den USA, so ist eine derartige Einstellung viel- Weißen Amerikas, die den Europäer als die über-
leicht verständlich.2 Andererseits wurde aber auch legene Rasse schlechthin ansahen, nur gelegen.
Man ging davon aus, daß eine Entwicklung zum
1
WUKETITS, Franz M. (1989) Evolutionslehre und Krea- DUNNE, Philip (1990) Dissident Dogma and Darwin’s
tionismus: Wissenschaft kontra Ideologie. In: Praxis der Dog. In: Time, Jan. 15, 1990, S. 84.
3
Naturwissenschaften 8/38, S. 28-33. GOULD, Stephen Jay (1981) The mismeasure of Man.
2
DESMOND, Adrian & MOORE, James (1991) Darwin. London, New York. Kapitel „American Polygeny and
München. craniology“, S. 30-72.
DISKUSSIONSBEITRÄGE, BERICHTE,
INFORMATIONEN 2/97
„Höheren“, also eine Evolution, alles beherrscht, sen sei, und dumme Menschen nicht die richtige
wodurch Rassenunterschiede und unterschiedliche Regierung wählen könnten. Dies klang einsichtig,
Wertungen der Rassen verständlich seien. denn der Darwinismus lehrt, daß nur die Weiter-
gabe der hochwertigsten Erbmerkmale (heute auch
Die Schritte der Evolution sind überall er- als angepaßte Gene bezeichnet) zur Weiterent-
kennbar und lebendig erhalten wicklung führt. Unabsichtlich mißverständlich an-
GOULD zeigt weiter: Die Embryonalentwicklung gelegte Intelligenztests schienen auch zu zeigen,
sollte nach HAECKEL die Schritte der Evolution als daß Einwanderer aus Ost- und Südeuropa sowie
eine Rekapitulation wiederholen: vom Zellklum- Juden überwiegend von minderer Intelligenz wa-
pen zum Urfisch, zum Amphib, Reptil, Ursäuger, ren. Für diese Charakterisierung wurde der Begriff
Affen und schließlich zum Menschen. Das Kind „moron“ verwendet, ein Wort, das eigens dafür aus
wieder zeige in seiner geistigen Entwicklung die dem Griechischen neu aufgenommen wurde und
Phasen der menschlichen Evolution: affenartige sich seitdem in der englischen Sprache eingebür-
Uneinsichtigkeit, primitive Sprache und primitiver gert hat; so stark war der Einfluß dieser Theorien
Werkzeuggebrauch, einfache intellektuelle und und ihrer Politik. Die Konsequenz waren Einwan-
handwerkliche Fähigkeiten und endlich perfekte derungsbestimmungen, die die Einwanderungs-
Reife. Auch die Gesellschaft zeige Evolution, von quote aus Ländern mit „minderwertigen“ Rassen
der primitiven Horde zur hochdifferenzierten begrenzten, und Gesetze, die verhindern sollten,
Ständegesellschaft. daß geistig zurückgebliebene Menschen Nach-
Die Menschenrassen entsprachen folglich nun kommen in die Welt setzten.5 Es muß wie Hohn
verschiedenen Stufen der Evolution, auf der die klingen, daß ein weltbekannter Wissenschaftler
eine oder andere Rasse stehen geblieben sei, was wie Stephen J. GOULD selbst Nachfahre einer die-
an ihrem Körperbau wie auch an ihrem Verhalten ser „moronen“ Rassen ist.
und ihren geistigen Fähigkeiten ablesbar sei: Af- 1884 kam ein italienischer Arzt zu dem Schluß,
fen, Hottentotten, Neger, Asiaten und Europäer, Kriminalität sei das Resultat eines Artrückschla-
unter diesen wiederum die Germanen, Angelsach- ges: Der Mensch habe in seiner Evolution die tie-
sen und eventuell Franzosen als Spitze der Evolu- rischen Verhaltensformen des Egoismus, der Ge-
tion. HAECKEL selbst und viele seiner Zeitgenos- walttätigkeit etc. überwunden, aber primitive Ge-
sen vertraten die Ansicht, daß Frauen und Neger sellschaften der Wilden sollen diese noch besitzen.
auf der geistigen Stufe der Kinder stehen geblie- Kriminell gewordenen Europäer seien Opfer eines
ben seien.4 Artrückschlages (Atavismus), der diese sonst ver-
lorenen Merkmale wieder hervorbrachte. Cesare
Politik, Populationsgenetik und Evoluti- LOMBROSO fand prompt eine Reihe von körperli-
onsgedanke verbinden sich in der Praxis chen Merkmalen, die die vermeintliche Primitivität
Alfred BINET (1857-1911) entwickelte den Vorläu- der Kriminellen zeigten. Es sollten aufgrund dieser
fer des Intelligenztests, um zu zeigen, daß ein di- „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ Möglichkeiten
rekter Zusammenhang zwischen Schädelform, gefunden werden, Kriminelle zu erkennen, um sie
Schädelvolumen und Intelligenz bestünde. Er ging vorbeugend an ihren Untaten zu hindern, bevor sie
auch von einer Vererbung dieser Merkmale aus. ein Verbrechen begehen könnten.6
GODDARD brachte Theorie und Testpraxis In den USA wurden einige Menschen ohne ihr
BINETs zur Zeit des Ersten Weltkrieges nach Ame- Wissen sterilisiert, um die Vererbung der minder-
rika, verband sie mit den Mendelschen Gesetzen wertigen Gene zu verhindern. Auch in Schweden
der Vererbung und entwickelte den Intelligenztest, wurde dies praktiziert; laut aktuellen Pressebe-
um damit zu verhindern, daß zu viele Minderintel- richten findet zur Zeit in Schweden eine Aufar-
ligente in die USA einwanderten, und um die beitung dieser Praxis statt, die bis 1950 betrieben
Vermehrung der Minderintelligenz in der Nation worden sein soll.
dadurch zu bremsen, daß Minderintelligenten und Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in
Schwachsinnigen die Fortpflanzung unmöglich Deutschland wurde daraus die Politik der Rassen-
gemacht würde. Er sah dies als eine zwingende
5
Notwendigkeit an, da eine Demokratie ja auf GOULD, Stephen Jay (1981) The mismeasure of Man.
Denkvermögen und Klarsicht des Volkes angewie- Kapitel „The Hereditarian Theory of IQ“, S. 146-231.
6
DESMOND, Adrian & MOORE, James (1991) Darwin.
München.
4
Gould, Stephen Jay (1977) Ever since Darwin. London, GOULD, Stephen Jay (1977) Ever since Darwin. Ka-
New York. Kapitel „Racism and Recapitulation“, S. pitel „Criminal as Nature's Mistake or the ape in some of
214-221. us“, S. 222-228.
12
VON PACZENSKY, Gert (1979) Weiße Herrschaft. Mün-
chen, S. 135. Dies erinnert übrigens stark an den La-
marckismus, wonach im Laufe des Lebens erworbene
Merkmale auf die Nachkommen vererbt werden.
13
GOULD, Stephen Jay (1977) Ever since Darwin. Kapitel
„Biological Potentiality versus Biological Determinis-
mus“, S. 251-260.
14 15
SOMMER, Volker (1990) Das Tabu. In: Natur 10/1990, DESMOND, Adrian & MOORE, James (1991) Darwin.
S. 55-58. München.