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Carson
EMERGING
CHURCH
Abschied von der
biblischen Lehre?
Christliche
Literatur-Verbreitung e. V.
Postfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld
1. Auflage 2008
ISBN 978-3-89397-989-9
Vorbemerkung
Vorwort 9
9
vermutlich manche Leser in gegenteiliger Hinsicht enttäuschen
wird: Einigen wird die Behandlung der Postmoderne als zu ein-
fach erscheinen, während es anderen schwerfallen wird, Teile da-
von zu lesen. Die Anmerkungen werden den Erstgenannten si-
cher Möglichkeiten zur Vertiefung bieten, wohingegen den Letzte-
ren hoffentlich dadurch geholfen ist, dass sie entsprechende Stel-
len nochmals lesen. Doch der Buchumfang übersteigt den Umfang
der Vortragsmanuskripte um ein Mehrfaches. Weil es nötig war,
die Manuskripte knapp zu formulieren, musste ich auf ausführ-
liche Quellenangaben oder die Vorstellung vieler Feinheiten und
Ausnahmen verzichten. Nicht zuletzt infolge der Tatsache, dass
einige führende Vertreter der Emerging Church die Vorträge in
verschiedenen Internet-Einträgen aufgrund solcher Auslassungen
kritisierten, habe ich in diesem Buch versucht, diese Lücke so weit
wie möglich zu schließen.
Wann immer eine christliche Bewegung auftaucht, die einen
Reformanspruch erhebt, sollte man sie nicht kurzerhand ableh-
nen. Selbst wenn man letztendlich zu dem Urteil kommt, dass
die Bewegung eine Vielzahl besorgniserregender Schwachpunkte
aufweist, kann sie auch einige wichtige Lektionen vermitteln, die
man sich in der übrigen Christenheit anhören muss. Daher habe
ich versucht, mit Respekt und Sorgfalt zuzuhören. Meine Hoff-
nung und mein Gebet besteht darin, dass die führenden Persön-
lichkeiten dieser »Bewegung« in gleicher Weise auf meine Aus-
führungen hören werden.
Ferner möchte ich Jonathan Davis und Michael Thate dafür
danken, dass sie die Verzeichnisse zusammengestellt haben.
Soli Deo gloria.
D. A. Carson
Trinity Evangelical Divinity School
10
Kurzdarstellung der Emerging Church
1 Hier sei nur ein Buchtitel erwähnt, der »emergence« oder einen ähnlichen Be-
griff enthält: siehe Mark T. B. Laing, The Indian Church in Context: Her Emergence,
Growth and Mission (Delhi: Indian Centre for Promoting Christian Knowledge/
Pune: Centre for Mission Studies, 2002).
2 So hat beispielsweise Arthur G. Patzia das Wort mit der Kirche der Frühzeit
in Verbindung gebracht, als er The Emergence of the Church Context, Growth, Leader-
ship and Worship schrieb (Downers Grove: InterVarsity Press, 2001).
11
senschaftsphilosophie. Doch in den letzten zwölf Jahren wurde
»emerging« und »emergent« in starkem Maße mit einer bedeut-
samen Bewegung in Verbindung gebracht, die sich in den USA,
Großbritannien und darüber hinaus ausbreitet. Viele, die in dieser
Bewegung mitarbeiten, gebrauchen »emerging« oder »emergent«
(ich verwende beide Begriffe in gleicher Bedeutung) als Bestim-
mungsadjektive für diese Bewegung. Etwa ein Dutzend Bücher
befassen sich mit den Themen »Emerging Church«, »Aufbruchs-
geschichten« und dergleichen.3 Eine Website ermutigt ihre Besu-
cher zu »emergenter Freundschaft«. Dabei geht es letztlich nicht
um Freundschaft, die neu entsteht, sondern um die Bedeutung
der Freundschaft in dieser Bewegung. Damit wird bestätigt, dass
der Ausdruck »emergent« für Anhänger dieser Bewegung ein hin-
reichendes Etikett ist, womit sie sich identifizieren können, sodass
»emergente Freundschaft« formell gesehen mit Begriffen wie z.B.
»hausgemeindlicher Freundschaft« oder »baptistischer Freund-
schaft« verwandt ist.
Im Zentrum der »Bewegung« – bzw. im Zentrum der »Ge-
sprächsebene«, wie manche führenden Leute es lieber nennen –
befindet sich die Überzeugung, dass kulturelle Veränderungen
die »Entstehung« einer neuen Kirche signalisieren würden. Lei-
tende kirchliche Mitarbeiter müssten sich daher dieser Emerging
Church anpassen. Diejenigen, die sich dem verweigern, seien
blind gegenüber kulturellen Wertzuwächsen, die das Evangelium
hinter gedanklichen Formen und Ausdrucksweisen verbergen.
Diese Verweigerer seien nicht mehr imstande, mit der neuen Ge-
neration, der im Aufbruch befindlichen Generation, zu kommuni-
zieren. Der landesweite Pastorenkongress (NPC) und die »Konfe-
renz der Emerging Churches« fanden 2003 zur gleichen Zeit in San
Diego statt. Von den 3000 teilnehmenden Pastoren entschieden
sich 1900 für das eher traditionelle Treffen, den NPC, und 1100 für
die andere Konferenz.
Bevor ich versuche, die Schwerpunkte meiner Ausführungen
zu skizzieren, sollte ich betonen, dass nicht nur die Bewegung
12
schwer definierbar ist, sondern auch ihre Grenzen schlecht zu
bestimmen sind. Zweifellos betrachteten sich viele der über ein-
tausend Pastoren (genaue Zahlen fehlen mir) auf der »Emergent-
Konferenz« zu diesem Zeitpunkt und überhaupt als diejenigen,
die nicht zur Emerging Church gehören. Sie waren vielmehr da-
bei, um sich zu informieren. Möglicherweise übernahmen sie ein-
zelne Aspekte der Bewegung, während sie andere verwarfen. An-
dererseits besteht ein Grund für das rasche Anwachsen dieser Be-
wegung darin, dass sie eine Vielzahl unklarer Vorstellungen in
den Brennpunkt rückt, die sich in unserer Kultur bereits weit ver-
breitet haben. Sie bringt treffend und auf polemische Weise zum
Ausdruck, was viele Pastoren und andere bereits gedanklich vor-
bereitet hatten, selbst wenn sie bis zum Auftauchen der führenden
Vertreter dieser Bewegung nicht den Vorteil hatten, irgendwelche
Verfechter ihrer Ideen zu haben, die ihr diffuses Unbehagen ins
rechte Licht rückten.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Verfasser zahlreicher
Bücher und Artikel, die sich nicht als Teil der Emerging-Church-
Bewegung verstehen, dennoch ihre Grundwerte teilen und so-
mit dazugehören, ohne sich mit dem entsprechenden Namen zu
schmücken. Man denke z.B. an Pete Wards Liquid Church4 oder
an eine Abhandlung von Graham Kings, der die evangelikale Be-
wegung in der Kirche von England untersucht.5 Als ich vor eini-
gen Monaten zu mehreren Hundert Pastoren in Australien sprach,
gebrauchte ich die Emerging-Church-Bewegung in den USA, um
dies oder jenes zu veranschaulichen. Keiner der Pastoren, an die
ich mich wandte, hatte von dieser Bewegung gehört, aber ziem-
lich viele von ihnen beschrieben Gemeinden in ihrer näheren Um-
gebung, worin genau die gleichen Werte ihren Niederschlag fan-
den. In Großbritannien betonten Gemeinden, die zum Baptisten-
bund gehören, traditionell die Tatsache, dass »glauben« vor »da-
13
zugehören« kommt. Darin zeigen sich ihre historischen Wurzeln
in der Tradition von Gemeinden, deren Glieder Gläubige sind.
Aber gegenwärtig ermutigen die führenden Vertreter des Bap-
tistenbundes ihre Mitgliedsgemeinden dazu, die Prioritäten um-
zukehren, indem sie sagen, dass »dazugehören« vor »glauben«
komme. Dies ist mit den Schwerpunkten der Emerging-Church-
Bewegung vergleichbar, selbst wenn die Bewegung unter diesem
Slogan auf der europäischen Seite des Atlantiks nur geringfügig
Anklang gefunden hat.
Aus diesen unterschiedlichen Tendenzen schließe ich, dass die
Emerging-Church-Bewegung vermutlich etwas kleiner ist, als ei-
nige ihrer führenden Persönlichkeiten denken. Andererseits wird
sie von ihnen wahrscheinlich erheblich unterschätzt. Ja, ein scharf-
sichtiger Beobachter hat vorgebracht, dass das Reden über »die
Emerging Church« bereits überholt ist, da die Emerging Church
ihrerseits bereits »emergent geworden« ist.6
1. Protest
Es ist schwierig, die spezifischen Merkmale der Bewegung umfas-
send zu verstehen, ohne sich die Lebensgeschichte ihrer führen-
den Vertreter genauer anzusehen. Viele davon kommen aus kon-
servativen, traditionellen, evangelikalen Gemeinden, die manch-
mal einen fundamentalistischen Anstrich haben. Somit bringen
die Reformen, zu der die Bewegung ermutigt, die Protesthaltung
im Leben vieler ihrer führenden Persönlichkeiten zum Ausdruck.
Wahrscheinlich ist es am angemessensten, mit Hinweisen auf
ein Buch unter dem Titel Stories of Emergence (frei übersetzt etwa
14
Aufbruchgeschichten) zu beginnen.7 Das Buch beinhaltet fünfzehn
solcher Geschichten, wobei der erste interessante Sachverhalt dar-
in besteht, wer in diesen Geschichten zu finden ist. Natürlich wer-
den viele, die sich mit der Emerging-Church-Bewegung identifi-
zieren, hier erwähnt – Leute wie der inzwischen verstorbene Mike
Yaconelli (der Herausgeber), Spencer Burke und Brian McLaren.
Doch es geht in diesem Buch auch um Menschen, die zwar der Be-
wegung vielleicht wohlwollend gegenüberstehen, sich aber nicht
als ihr zugehörig ansehen. So gehört z.B. Chuck Smith jun. in ge-
wisser Hinsicht einer anderen Generation und einer anderen Be-
wegung an (Anmerkung des Übersetzers: Chuck Smith, der be-
reits 1927 geboren wurde, ist Gründer der sogenannten »Calvary
Chapel«, die konfessionskundlich als kleine freikirchliche Bewe-
gung gilt und nach allgemeiner Auffassung theologisch zwischen
Evangelikalen und Charismatikern steht.). Frederica Mathewes-
Green verließ als Kind den römisch-katholischen Glauben, wäh-
rend sie als junge Erwachsene Feministin und Mitglied der Epi-
skopalkirche war, um dann zur orthodoxen Kirche überzutreten.
Sie ist eine von mehreren Ausnahmen in diesem Buch.
Die meisten dieser »Emergenz-Geschichten« haben ein gemein-
sames Ziel (nämlich die Emerging-Church-Bewegung in Gang
bringen zu wollen) und einen gemeinsamen Ursprung: den tradi-
tionellen (und mitunter fundamentalistischen) Evangelikalismus.
All diese Leute haben gemeinsam, dass sie in eine Richtung zu ar-
beiten begannen, sich aber die entsprechende Bewegung in eine
andere Richtung fortentwickelte. Dies verleiht dem Werk Züge
des Protests und der Ablehnung: Wir haben einst euer gemeind-
liches Erbe geteilt, doch jetzt befinden wir uns im Aufbruch, um
etwas anderes zu erreichen. Der Untertitel des Buches lässt erken-
nen, was der Herausgeber als gemeinsamen Nenner betrachtet:
Der Übergang vom Absoluten zum Authentischen.
Einige Beispiele mögen verdeutlichen, was mit diesem Buch er-
reicht werden soll. Spencer Burkes Bericht über seine »Emergenz«
15
trägt den Titel »From the Third Floor to the Garage«8 (so viel wie
»Vom dritten Stock in die Garage«). Burke war es gewohnt, in
einem luxuriösen Büro im dritten Stock zu arbeiten. Er war einer
der Pastoren der Mariners Church in Irvine (Kalifornien), »einer
soliden Megagemeinde mit einem ca. 10 ha großen Grundstück
und einem Haushaltsvolumen von 7,8 Millionen Dollar«.9 An je-
dem Wochenende nehmen 4500 Erwachsene die gemeindlichen
Angebote wahr, während wöchentlich 10.000 Menschen betreut
werden. Aber Burke machten Dinge wie der »Parkplatzdienst«
zu schaffen (»Meine Geistesgabe besteht nicht darin, in Gelände-
wagen sitzenden gut gekleideten Familien zu helfen, den nächs-
ten freien Parkplatz zu finden.«).10 Die gleiche Ernüchterung be-
mächtigte sich seiner angesichts von 3-Punkte-Predigten und zehn-
stufigen Jüngerschaftskursen, ganz zu schweigen von der prämil-
lennialistischen Eschatologie im Sinne der Vorentrückungslehre,
in der er ausgebildet worden war.
Nach achtzehnjährigem Dienst brach Burkes Arbeitsphilo-
sophie in sich zusammen. Als der Hauptpastor Burkes Unruhe
spürte, bat er ihn, mit einem Samstagabendgottesdienst zu be-
ginnen, worin er imstande wäre, »neue Ideen einzubringen und
die Botschaft in ein postmodernes Gewand zu kleiden«.11 Zu-
nächst begann dieser Versuch ganz vielversprechend, als bisher
unerreichte Menschen in den Gottesdienst kamen. Trotzdem
fühlte er sich noch unwohler, was teilweise daran lag, dass die
Gottesdienste seiner Meinung nach »verwirrend« waren (einige
Elemente erwiesen sich als sehr modern, während andere über-
aus postmodern waren). Darüber hinaus spürte er, wie sich seine
Arbeit immer weiter vom übrigen Angebot gemeindlicher Ver-
anstaltungen entfernte. Daher kündigte er schließlich, »um nach
Hause zu fahren – in meine gerade mal 63 m2 große Baracke am
Strand. Fünf Jahre danach«, so sagte er, »sitze ich hier in mei-
8 Ebd., S. 27-39.
9 Ebd., S. 28.
10 Ebd.
11 Ebd.
16
ner Garage«12 oder – genauer gesagt – in seiner zum Büro umge-
bauten Garage.
Diese fünf Jahre der Trennung haben Burke verdeutlicht, war-
um er die Mariners-Gemeinde verlassen musste: »Ich habe er-
kannt, dass ich nie mit der Mariners als Gemeinde, sondern mit
dem gegenwärtigen Christentum als Institution unzufrieden
war.«13
Burke fasst die Gründe für seine Unzufriedenheit unter drei
Überschriften zusammen: Erstens lehnt er mittlerweile dasjenige
ab, was er »geistlichen McCarthyismus«14 nennt. Zu dieser Rubrik
zählt er drei Sachverhalte: Er verwirft denjenigen Leitungsstil, der
zu »einer linearen, analytischen Welt«15 gehört und sich durch klar
abgetrennte Zuständigkeitsbereiche sowie einen Pastor auszeich-
net, der nach Art eines Vorstandsvorsitzenden agiert. Geistlicher
McCarthyismus, so bekräftigt Burke, liegt vor, »wenn das Modell
›Pastor als Vorstandsvorsitzender‹ negative Züge annimmt oder
wenn sich wohlmeinende Menschen zu viel Macht aneignen«.16
Ebenso beunruhigt ihn »immer mehr die Tatsache, dass gewisse
evangelikale Persönlichkeiten große Macht haben und damit die
öffentliche Meinung beeinflussen«. Er schreibt dazu: »Sie mögen
mich ja als verrückt bezeichnen, aber es hat den Anschein, dass
sich viele meiner gemeindlichen Freunde eher Wort für Wort an
das halten, was aus dem Munde der weltweit führenden Evangeli-
kalen kommt, statt von jedem Wort zu leben, das aus dem Munde
Gottes kommt.«17 Und schließlich sind diese autoritären Struk-
turen schnell dabei, jeden als »liberal« zu brandmarken, der die
überkommene Tradition infrage stellt.
12 Ebd., S. 29.
13 Ebd.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 Ebd., S. 30.
17 Ebd., S. 31.
17
sich. Lippen werden geschürzt. Wollen Sie sich einen Platz
auf der schwarzen Liste von Colorado Springs … äh, ich mei-
ne natürlich auf derjenigen von Hollywood verdienen? (An-
merkung des Übersetzers: Auf der »schwarzen Liste von Hol-
lywood« standen US-amerikanische Filmschaffende, die in der
Nachkriegszeit der Sympathie für Kommunisten verdächtigt
wurden. Diese Liste ist eng mit dem bereits erwähnten McCar-
thyismus in dessen ursprünglichem Sinne verbunden.) Dann
müssen Sie nur Ihre Zweifel daran äußern, dass Homosexuali-
tät als biblisch verurteilte Sünde gilt. Oder wollen Sie als Verrä-
ter in Ihrer eigenen Gemeinde gebrandmarkt werden? Bringen
Sie nur Ihre zwiespältigen Empfindungen hinsichtlich eines
denominationsspezifischen Sinnbilds, wie etwa der Taufe, zum
Ausdruck.«18
»Als ich aufwuchs, hörte ich viel über die Gefahren, ›den Kelch
unwürdig zu trinken«‹ – und darüber, dass das Mahl des Herrn
nur für bekennende Christen bestimmt sei. Die Belegstelle war
natürlich stets 1. Korinther 11,29: ›Denn wer isst und trinkt, isst
und trinkt sich selbst Gericht, wenn er den Leib des Herrn nicht
richtig beurteilt«.‹ Da die meisten Christen davon ausgehen,
18 Ebd., S. 30.
19 Ebd.
18
dass die gesamte Menschheit ohne Christus verloren ist, fragt
man sich: Inwieweit würde es das Schicksal eines sogenann-
ten Ungläubigen beeinflussen, wenn er Brot und Wein zu sich
nimmt? Würde er etwa zweimal in die Hölle kommen? Oder
könnte es nicht eine machtvolle erste Erfahrung mit der Ge-
schichte Christi sein? In einer Subkultur, in der sich der geist-
liche McCarthyismus ausgebreitet hat, sollte man diese Fragen
lieber nicht stellen.«20
20 Ebd., S. 30-31.
21 Ebd., S. 31.
22 Ebd.
23 Ebd., S. 32.
19
gendealer an der Straßenecke Geschäfte machen. Seien wir ehr-
lich: Es kann unangenehm sein, wenn sich eine Gemeinde in der
Innenstadt befindet. Sich mit einem Obdachlosen zu beschäftigen,
der in den Gottesdienst hereinplatzt und dabei laut flucht, oder
Erbrochenes auf der Hintertreppe aufzuwischen, ist etwas völlig
anderes, als im Gemeindeseminar griechische Verben zu definie-
ren.«24 Ja, Megagemeinden in den Vorstädten errichten manchmal
ganze campusähnliche Welten, in denen es weder an Einkaufs-
möglichkeiten noch an Sporthallen und Aerobic-Zentren fehlt.
Eine andere Form der »geistlichen Abschottung« ist nach Bur-
kes Ansicht diejenige Art von »Absonderung«, deren Befürwor-
ter eine ganze Reihe von Dingen nicht tun, hinsichtlich derer die
meisten Leute keine Bedenken haben. 1977 verließ Burke eine
konservative Baptistengemeinde, um nach Berkeley (Kalifornien)
zu ziehen, wo er sich einer christlichen Lebensgemeinschaft an-
schloss. Er war schockiert, als er den Mann, der ihn jüngerschaft-
lich unterweisen sollte, in einem Restaurant am Ort traf und die-
ser Mann ein Bier bestellte. Ein Jahr später wurde Burke gebe-
ten, Aufnahmen von Chuck Colson zu machen. Dabei bemerkte
er eine Pfeife auf der Frisierkommode des Hotelzimmers von Col-
son. Daraufhin angesprochen, sagte Colson, er habe die Pfeife von
der C.-S.-Lewis-Stiftung bekommen. »Ich war am Boden zerstört«,
schreibt Burke. »An nur einem Nachmittag verlor ich gleich zwei
Pfeiler meines Glaubens.«25 Schließlich wurde dieses Gefühl, dass
die Kultur und die Erwartungen der Evangelikalen so weit aus-
einandergedriftet waren, für ihn zu übermächtig – und dies umso
mehr, da er selbst während seiner Zeit in Mariners der Welt der
Kunst verhaftet blieb.
24 Ebd.
25 Ebd., S. 33.
20
sie sprachlos. Gleichermaßen konnten meine gemeindlichen
Freunde nur schwer die Künstlerkreise verstehen, denen ich
angehörte … Beide Seiten hatten sich so lange voneinander ab-
gekapselt, dass sie sich gegenseitig nicht mehr verstanden oder
nicht einmal mehr das Verlangen hatten, miteinander zu kom-
munizieren.«26
26 Ebd., S. 33-34.
27 Ebd., S. 34.
28 Ebd.
29 Ebd., S. 35.
21
sanft seine Arme um mich. Er sagte kein Wort. Er hielt mich le-
diglich in meinem Schmerz fest.
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass Gott konsequente
Ehrlichkeit wollte. An Echtheit in dem ganzen Durcheinan-
der meines Lebens nahm er keinen Anstoß. Zweifel, Ärger und
Verwirrung haben darin ihren Platz.
Nun durfte ich wirklich ›ich‹ sein.«30
Diese Erfahrung führte Burke zu dem, was er »Die Suche nach ei-
ner authentischen Ausdrucksweise«31 nannte. Außerdem stieß er
dabei auf Autoren, die er neu entdeckte: Thomas Merton, Henri
Nouwen, die Heilige Teresa von Avila. Je mehr er deren Werke las,
umso mehr spürte er, dass er seinen hauptamtlichen Gemeinde-
dienst niederlegen sollte. Wenn er heute in seinem improvisierten
Büro, der einstigen Garage, arbeitet, dann dient er seiner Ansicht
nach weiterhin der Gemeinde, aber auf eine andere Weise: »Da-
durch, dass ich mich entschieden habe, die Fragen meines Her-
zens auszuleben, bin ich in der Lage, mit Menschen zu reden, wie
es früher nicht möglich war. Ich sehe mich nicht mehr als Reiselei-
ter, sondern als Mitreisenden. Um es mit Robert Frost zu sagen:
›Darin liegt der entscheidende Unterschied.‹«32
Im Jahre 1998 begann Burke mit TheOoze.com (»ooze« bedeu-
tet »durchdringen« bzw. »Durchdringung«.). Der Name dieses ak-
tiven Chatrooms (virtueller Gesprächsraum im Internet) ist meta-
phorisch zu verstehen: Nach Burkes Absicht soll dies ein Ort sein,
wo »die verschiedenen Teilbereiche der Gemeinschaft der Glau-
benden wie Quecksilber miteinander umgehen. Manchmal kom-
men wir zusammen und manchmal gehen wir auseinander. Ver-
sucht man, die Flüssigkeit zu berühren oder irgendwie einzu-
zwängen, misslingt der Versuch. Statt jemanden zu zwingen, sich
einzufügen, duldet eine überschäumende Gemeinschaft Mei-
nungsverschiedenheiten und behandelt Menschen, die widerspre-
chende Ansichten vertreten, überaus würdevoll. Hier befindet sich
30 Ebd.
31 Ebd., S. 36.
32 Ebd.
22
für mich das eigentliche Wesen der Emerging Church.«33 Mehre-
re Jahre lang hat The Ooze »eine Gruppe Lernender (betreut), die
sich Soularize nennt«. Dort tauschten sich Mitglieder der »Online-
Gemeinschaft« miteinander aus. Und 2001 ging man sogar so weit,
ein sogenanntes indianisches »Potlatch« auszurichten – d.h. »eine
geistliche Zeremonie, bei der Geschenke gemacht werden und Se-
gen gespendet wird«.34 Dies wurde als Teil einer Konferenz durch-
geführt. »Immer mehr fühle ich mich innerlich getrieben, Freiräu-
me für Führungspersönlichkeiten zu schaffen, wo sie Fragen stel-
len und so voneinander lernen können.«35
Offensichtlich wäre es ziemlich zeitaufwendig, sich mit den an-
deren, die das Buch Stories of Emergence mitverfasst haben, genau-
so lange zu beschäftigen. Trotzdem ist es wichtig festzustellen, was
alle diese Geschichten gemeinsam haben, und zu erkennen, wie
sehr sie dennoch voneinander abweichen. Der Herausgeber Mike
Yaconelli führt die Riege mit einer Einführung in seine eigene Le-
bensgeschichte unter dem Titel »The Illegitimate Church«36 (so
viel wie »Die unrechtmäßige Kirche«) an. »Ich habe die Liebe zu
meiner Kirche nie verloren«, schreibt er, aber soweit es die Kirche
als Institution betreffe, sei er angesichts ihres Zustands »entsetzt,
beschämt, niedergeschlagen, ärgerlich, frustriert und betrübt«.37
Als er noch Pastor einer Ortsgemeinde war, sagte man ihm, dass
er kein richtiger Pastor sei, weil er keinen Seminarabschluss vor-
zuweisen hatte. Er war von zwei Bibelschulen verwiesen worden
und musste erleben, wie seine Gemeinde Mitglieder verlor. Er
sehnte sich nach Ruhe und nach einem Gott, »der sich an Freund-
schaft genügen ließ – einem Gott, der glücklich war, mit mir zu-
sammen zu sein. Mein einziger Wunsch war, dass Gott mich lieb
hatte und davon überzeugt war, dass ich ein rechtmäßiger Die-
ner des Evangeliums sei.«38 Im Alter von 50 Jahren war er müde
33 Ebd., S. 36-37.
34 Ebd., S. 37.
35 Ebd., S. 38.
36 Ebd., S. 12-22.
37 Ebd., S. 14.
38 Ebd., S. 16.
23
und enttäuscht. Nachdem er ein Buch von Henri Nouwen39 gele-
sen hatte, verbrachte er in seiner Verzweiflung einige Zeit in einer
Kommunität namens »L’Arche«. Hier fühlte er sich zu Hause.
24
ihre eigenen Fehler bekannten, und Geschichten, in denen sie ihre
Kommunikation mit Gott bezeugten.
Letztendlich handeln diese Geschichten »nicht von tatsäch-
lichen Ereignissen. Sie betreffen vielmehr das, was sich in uns ab-
spielt. Sie reden von den unergründlichen Zufluchtsorten in uns,
die nicht nur unser Wesen, sondern auch Gottes Fingerabdrücke
in unserem Leben zum Vorschein bringen und erkennen lassen.«42
Und diese Geschichten seien »nie fertig, sondern beinhalten nur
Ausschnitte, sind im Werden – Geschichten, die nie zu Ende
sind.«43 Im Grunde könne man Geschichten leicht behalten, und
was noch wichtiger sei: Sie sind »die effektivste Methode, kom-
plizierte und schwer zu erklärende Wahrheiten zu einfachen und
verständlichen Bausteinen der Realität zusammenzufassen, die
wir begreifen können.«44 Diese Christen verstanden das Evange-
lium als Geschichte und glaubten, »dass Gemeinde ganz einfach
der Ort sei, wo wir unsere Geschichten einander erzählen können.
Sind dies die Geschichten der postmodernen Emerging Church?
Ich hoffe, dass dem nicht so ist. Hoffentlich sind dies stattdessen
die Geschichten von immer mehr Menschen, die versuchen, Ge-
meinde für die gegenwärtige Situation zu sein, und dabei sehr
wohl wissen, dass Gemeinde im nächsten Augenblick wieder ganz
anders aussehen kann.«45
Todd Hunter46 war früher Direktor von Vineyard USA (An-
merkung des Übersetzers: Der US-amerikanische Zweig dieser
1978 von John Wimber [1934-1997] gegründeten und inzwischen
in vielen Ländern aktiven charismatischen Erneuerungs- und Ge-
meindegründungsbewegung heißt offiziell »National Association
of Vineyard Churches«.), wobei er mit jungen christlichen Füh-
rerpersönlichkeiten, insbesondere Gemeindegründern, zusam-
menarbeitete. Allmählich fand er heraus, dass sich die Fragen, die
von Ungläubigen gestellt wurden, änderten: »Gibt es Wahrheit?«,
42 Ebd., S. 20.
43 Ebd.
44 Ebd., S. 21.
45 Ebd., S. 21-22.
46 »Entering the Conversation«, S. 40-54.
25
»Wie kann man sie angesichts unserer menschlichen Fehlerhaftig-
keit erkennen?«, »Inwieweit können wir hinsichtlich der Wahr-
heit sicher sein?«, »Ist alle Wahrheit von Natur aus gut?«, »Gibt es
Möglichkeiten, die Wahrheit außerhalb derjenigen Wege zu erken-
nen, die man uns im Sinne des christlichen Ausschließlichkeits-
anspruchs und des grundlagentheoretischen Fundamentalismus
lehrte? Wenn ja, was bedeutet dies für die Apologetik, Theologie
und Kirchengeschichte?«47
Hunter verließ Vineyard im Jahre 2000, um eine Gemeinde
für postmoderne Menschen zu gründen. »Die Postmoderne«, so
schreibt er, »hat mich zu einem Postreduktionisten gemacht.«48
(Anmerkung des Übersetzers: Wer z.B. eine reduktionistische
Sichtweise der Bibel vertritt, greift einzelne Elemente heraus, um
sie anschließend demgemäß auszulegen. Ein Postreduktionist ist
demnach einer, der meint, er habe diese auf Einzelelemente ausge-
richtete Betrachtungsweise hinter sich gebracht.) Unter dem Ein-
fluss von Stanley J. Grenz und John R. Franke49 kam er zu der Ein-
sicht, wie wichtig es sei, nicht in der falschen »Geschichte« zu le-
ben. Wir alle würden gewissermaßen in irgendeiner Geschichte
leben, wobei das Wichtigste darin bestehe, dass wir in Gottes Ge-
schichte leben und mit unserer Existenz in die biblische Handlung
eingebettet sind.
47 Ebd., S. 43.
48 Ebd., S. 46.
49 Beyond Foundationalism: Shaping Theology in a Postmodern Context (Louisville:
Westminster John Knox Press, 2000).
50 »Entering the Conversation«, S. 48.
26
Mit anderen Worten: Hunter möchte vermeiden, dass Christen
eine auf einzelne Elemente fixierte Haltung einnehmen, wonach
man nach dem Tod sicher in den Himmel komme, weil man ein-
mal ein Übergabegebet gesprochen habe.51 Er sieht sich nicht als
derjenige, der die neue Position schon völlig angenommen hat,
glaubt aber, »sanft aufsetzen zu können, damit die Landung gut
vonstattengeht«.52 In diesem Zusammenhang will er weder »ein
exzentrischer Befürworter der Postmoderne noch ein gedanken-
loser Kritiker der Moderne sein«.53 Er möchte die Wahrheits-
ansprüche des Evangeliums nicht aufgeben, versteht sich aber als
kritischer Realist: als Realist, weil er daran festhält, dass es eine
Realität außerhalb der menschlichen Sprache gibt (d.h., dass Worte
außertextliche Bezüge haben; sie können sich auf etwas beziehen,
das außerhalb des eigentlichen Sprechaktes liegt). Er ist jedoch
auch ein kritischer Realist, weil sich »der einzige Zugang, den wir
zu dieser Realität haben, auf einer spiralförmigen Bahn zwischen
dem Wissenden und dem Wissen selbst befindet«.54
Es geht noch rasanter: Als Jugendpastor ging Tony Jones von
einer Programm-Mentalität zu einem Dienstkonzept über, das sich
insbesondere auf Seelsorge, theologische Reflektion, kontempla-
tives Gebet und generationsübergreifende Gemeinschaft konzen-
triert.55 Verschiedene Einflüsse veranlassten ihn, in diese Richtung
vorzustoßen. Dazu gehörten Nancey Murphys Vorlesungen über
postmoderne Theologie am Fuller Seminary, ein flüchtiges Ken-
nenlernen der Lakota-Kultur (Anmerkung des Übersetzers: Die-
se Kultur ist nach den Lakota benannt, die zum weitverbreiteten
Indianerstamm der Sioux gehören.) und das Engagement in ei-
ner Gruppe Ende der 90er-Jahre, die sich damals »Young Leaders
Network« (so viel wie »Netzwerk junger Leiterpersönlichkeiten«
(heute »Emergent«) nannte.
Chris Seay betont nachdrücklich, dass sein Großvater ein Er-
51 Ebd., S. 49.
52 Ebd., S. 50.
53 Ebd.
54 Ebd., S. 53.
55 »Toward a Missional Ministry«, S. 56-72.
27
weckungsprediger der 50er-Jahre war, während sein Vater »ein
Pastor à la Swindoll war.«56 (Anmerkung des Übersetzers: Ge-
meint ist Charles Rozell Swindoll [geb. 1934], ein bekannter US-
amerikanischer Pastor, Autor, Pädagoge und Rundfunkprediger.)
Er lehnte zwar die Ausdrucksformen ihres Glaubens, nicht aber
dessen Inhalt ab (»Die wesentlichen Punkte des Glaubens [wie sie
im Apostolischen Glaubensbekenntnis dargelegt sind] haben sich
nicht geändert«).57 Er begehrte auch gegen seine Hauptverant-
wortung als Pastor auf (»die niederträchtigsten Menschen findet
man außerhalb der Hölle«)58 und fand heraus, »wie treffend eini-
ge französische Philosophen und diejenigen, die das Konzept der
generationsspezifischen Merkmale vertreten, Einwände gegen die
Moderne vorbrachten«59 –ganz zu schweigen von Stanley Hauer-
was’ (US-amerikanischer Theologe der Vereinigten Methodisten,
Ethiker und Juraprofessor [geb. 1940]) Schriften. Seay gründete
die University Baptist Church in Waco, Texas. Er sieht sich in der
Rolle des »Geschichten erzählenden Pastors«:
Dies liege – so Seay – insbesondere daran, dass sich die Welt »wie-
der östliches Denken wie dasjenige der Israeliten aneignet«61, in
dem es vorrangig um das Erzählen von Geschichten gehe, wie
28
Jesu Beispiel uns zeige. In der Vergangenheit habe die westliche
Christenheit die Meinung vertreten, dass Wissen Macht sei. »Ob
jemand errettet war, ist zumeist danach beurteilt worden, inwie-
weit er die Lehrsätze im Blick auf Christus und den Glauben her-
sagen konnte. Theologisch gesehen wird dies als Metanoia (Buße)
bezeichnet – bei der gewissermaßen ein kognitiver Schalter in un-
serem Denken umgelegt wird und wir in den Heilszustand eintre-
ten.«62 Das Evangelium sei zu einem System von Lehrsätzen ge-
worden. Doch das wahre Evangelium beinhalte »alles – die ganze
Geschichte Gottes für Menschen als ganzheitliche Wesen«.63 Au-
ßerdem sollten wir das lineare Denken immer stärker zugunsten
des kreisenden Denkens aufgeben, wie es das »hebräische« Mo-
dell des Predigerbuches erkennen lasse. Wir sollten mehr im Stile
des Internets denken, das mittels Verknüpfung arbeite.
62 Ebd., S. 80.
63 Ebd., S. 81.
29
nicht darum, den Zuhörern entgegenzukommen und allen
Menschen alles zu werden? Dies ist ein Bereich, der den unmit-
telbaren Wandel in der Emerging Church unabdingbar werden
lässt. Betrachten Sie bitte die Art und Weise, wie Sie mit ande-
ren kommunizieren, und die Gründe, warum Ihre Geschichten
unverständlich sind.«64
64 Ebd., S. 82.
65 Ebd., S. 84.
30
wohl darin Protesthaltungen gegenüber dem Feminismus (Frede-
rica Mathewes-Green)66, dem Luthertum (Gregory R. Baum)67 und
dem Kommunismus (Parush R. Parushev)68 zu finden sind, ist der
Protest in diesen Lebensberichten doch hauptsächlich gegen die
kulturell konservativen Formen der evangelikalen Bewegung ge-
richtet.
Diese Proteststimmung ist in Dave Tomlinsons Buch The Post-
Evangelical ebenso deutlich zu spüren. Es wurde vor einigen Jah-
ren in Großbritannien veröffentlicht und ist inzwischen auch in
Nordamerika erhältlich.69 Der Autor hat bemerkt, dass die evan-
gelikale Bewegung nicht auf andere kirchliche Traditionen ein-
gegangen ist. Dagegen und gegen die konservative Haltung der
Mittelschicht, womit diese Bewegung oft verbunden wird, rich-
tet sich teilweise sein Protest. Aber die zentrale These von Tom-
linsons Werk besteht darin, dass sich die Post-Evangelikalen an ei-
ner Kultur orientieren, die sich von derjenigen unterscheidet, die
zur Prägung der evangelikalen Bewegung beitrug. Hier befindet
sich der Übergang von der Moderne zur Postmoderne. Evangeli-
kale denken über die Integrität und Glaubwürdigkeit ihrer Über-
zeugungen in der modernen Kultur nach, während Post-Evange-
likale darüber reflektieren, ob ihre Überzeugungen in der Kultur
der Postmoderne standhalten und dort glaubwürdig sind.
Tomlinsons persönliche Entwicklung führte vom Brüdertum
über die Pfingst- und Hausgemeindebewegung (in England weit
verbreitet) bis zur gegenwärtigen Phase, in der er seinen Stand-
punkt als Post-Evangelikaler betont. In seinem Fall gehören Diens-
tagabendtreffen in einer Gemeinde der etwas anderen Art dazu:
der Salon einer Süd-Londoner Kneipe mit der Bezeichnung Holy
Joe’s. Die Atmosphäre ist entspannt: Man kann trinken oder rau-
chen. Inwieweit man an den Anbetungsabenden teilnimmt, in de-
ren Verlauf auf Zeit zur Besinnung, Kerzen, Symbole und Umge-
31
bungsmusik großer Wert gelegt wird, kann man selbst entschei-
den. Wem es nicht gefällt, der kann aufstehen, um zur Hauptbar
zu gehen. Außerdem gibt es zahlreiche Bibelstudienabende. Tom-
linson fügt rasch hinzu, dass Holy Joe’s zwar einem von vielen
Gemeinden nicht erfüllten Bedürfnis entgegenkommt, aber nicht
unbedingt den Weg vorgibt, den Post-Evangelikale einschlagen
müssten. Vielmehr sei es lediglich ein Beispiel dafür, wie eine spe-
zielle Gruppe der Post-Evangelikalen ihren Glauben als Gemein-
schaft praktisch umsetze.
Dieser Gedanke liefert uns einen Übergang zu einem zweiten
vorherrschenden Merkmal der Emerging-Church-Bewegung.
70 Siehe z.B. Thomas C. Oden, After Modernity … What? Agenda for Theology
(Grand Rapids: Zondervan, 1990); Michael Hortons Kapitel »Better Homes and
Gardens«, in The Church in Emerging Culture: Five Perspectives, Hrsg. Leonard Sweet
(El Cajon: emergentYS/Grand Rapids: Zondervan, 2003), S. 105-138; und besonders
die erstklassige Erörterung von Harold Netland, Encountering Religious Pluralism:
The Challenge to Christian Faith and Mission (Downers Grove: InterVarsity Press,
2001), bes. S. 55-91.
32
Ursprünge nicht anerkennen will.71 Darüber hinaus werden so-
wohl Moderne als auch Postmoderne in einer Vielzahl allgemein
verständlicher Diskussionen zu sehr in Schablonen gezwängt. Es
geht nämlich vorrangig um den »Reduktionismus«, d.h. die auf
Einzelelemente ausgerichtete Sichtweise. Indem man die gemein-
samen Entwicklungsstränge aufzeigt, lassen sich die schlimmsten
Reduktionismen vermeiden. Dennoch sind die Veränderungen,
die in der westlichen Kultur in den letzten fünfzig Jahren statt-
fanden, sowohl komplex als auch bedeutsam. Lassen sie sich bes-
ser unter der Bezeichnung »Postmoderne« oder unter dem Etikett
»Spätmoderne« zusammenfassen? Wenn wir verstehen wollen,
dass sich die Zeit im Anschluss an die Moderne organisch aus ihr
entwickelt hat, ist meiner Ansicht nach »Spätmoderne« der bes-
sere Begriff, während in Bezug auf das Verständnis der Verände-
rungen in der Erkenntnistheorie der heutigen Kultur »Postmo-
derne« vorzuziehen ist. Und natürlich kann man beiden Bezeich-
nungen vorwerfen, dass sie in verwirrendem Maße auf einzelne
Aspekte ausgerichtet sind, wie wir sehen werden.
Ein anderer Personenkreis gebraucht die Bezeichnung »Post-
moderne«, um sich auf irgendeine Leitkultur zu konzentrieren,
die durch ungezügeltes Wachstum gesprengt worden ist. Für
Andy Crouch, der keiner Emerging Church angehört, beinhaltet
die postmoderne Kultur ausuferndes Konsumdenken, das sich so-
wohl von Neid als auch vom Ideal eines unkontrollierten Indivi-
dualismus nährt. Wir können uns amüsieren, wie wir wollen, kau-
fen, was wir wollen, und wählen, was wir wollen. Das Ideal be-
steht dabei darin, genug Geld zu haben, um unsere geheimsten
Wünsche befriedigen zu können. Nach seiner Analyse setzt sich
in der Postmoderne die Moderne fort: Die Postmoderne ist dem-
zufolge die »Ultramoderne«. Aber die gleiche Konsumenten-
mentalität, die zum Bau des Vehicle Assembly Building in Cape
71 Daher habe ich die Postmoderne anderenorts als uneheliches Kind der Mo-
derne bezeichnet. Man kann kaum leugnen, dass letztere »genetisch gesehen«
von ersterer abstammt, doch aus Sicht der Mutter handelt es sich um ein Huren-
kind. Im Blick auf die vollständige Erörterung siehe mein Werk The Gagging of God
(Grand Rapids: Zondervan, 1996).
33
Canaveral (Anmerkung des Übersetzers: Damit ist jene riesige
Montagehalle gemeint, worin der Space Shuttle mit dem Außen-
tank und den Feststoffraketen verbunden und für den Start vor-
bereitet wird. Das Gebäude ist das Wahrzeichen des Kennedy
Space Centers und zählt zu den größten Hallenbauten der Erde.
Zum Zeitpunkt seiner Errichtung galt es als das Gebäude mit dem
größten Raumvolumen überhaupt.) inspiriert hat, gab den Anstoß
zur Errichtung der Mall of America in Bloomington, Minnesota
(Anmerkung des Übersetzers: Diese Einkaufsmeile ist mit 40 Mil-
lionen Besuchern jährlich das meistbesuchte Einkaufsparadies der
USA und befindet sich im Ballungsraum Minneapolis/St. Paul).72
Nach Crouchs Argumentation sei eine bestimmte Art des Sakra-
mentalismus dringend notwendig: Die Taufe »bietet den einzigen
Weg zu echtem Postindividualismus, während die Eucharistie den
einzigen Weg zu wahrem Post-Konsumententum ebnet«.73
Die Mehrheitsmeinung besteht allerdings darin, dass die
grundlegende Frage hinsichtlich des Übergangs von der Moderne
zur Postmoderne die Epistemologie (Erkenntnistheorie) ist. Es geht
also darum, wie wir Dinge erkennen oder meinen, Dinge zu er-
kennen. Die Moderne wird oft als Geistesströmung dargestellt,
die nach Wahrheit, dem Absoluten, dem linearen Denken, dem Ra-
tionalismus, der Gewissheit und dem rein Intellektuellen im Ge-
gensatz zum Emotionalen strebt. Dadurch werden im Gegenzug
Überheblichkeit, geistige Unbeweglichkeit, Rechthaberei und das
Verlangen hervorgebracht, alles kontrollieren zu wollen. Die Post-
moderne erkennt dagegen an, dass ein Großteil unserer »Erkennt-
nis« von der Kultur, in der wir leben, geprägt ist. Diese Erkennt-
nis sei von Emotionen, ästhetischem Empfinden und Traditionen
beherrscht – ja, sie könne nur nach eingehender Überlegung
als Teil einer allgemeinen Überlieferung gelten, ohne in anma-
ßender Weise zu behaupten, wahr oder richtig zu sein. Die Mo-
34
derne versucht, unangefochtene Grundlagen zu finden, worauf
das Erkenntnisgebäude errichtet werden kann, um dann mit me-
thodologischer Genauigkeit vorzugehen. Die Postmoderne leug-
net dagegen, dass solche Grundlagen existieren (sie ist »gegen den
grundlagentheoretischen Fundamentalismus gerichtet«), und be-
steht darauf, dass wir letztlich auf vielen Wegen zur »Erkenntnis«
gelangen, denen ebendiese Genauigkeit weithin fehlt. Die Moder-
ne ist klar abgegrenzt, wobei sie sich im Bereich der Religion auf
Wahrheit kontra Irrtum, auf Rechtgläubigkeit und Konfessionalis-
mus konzentriert. Demgegenüber ist die Postmoderne behutsam,
indem sie auf religiösem Gebiet Beziehungen, Liebe, gemeinsame
Traditionen, Wahrhaftigkeit bei Diskussionen in den Mittelpunkt
stellt. Meiner Ansicht nach ist der Nutzen, diesen erkenntnistheo-
retischen Gegensatz zwischen Moderne und Postmoderne zu er-
forschen, überaus groß, da er so viele andere Dinge berührt. Ich
werde im vierten und fünften Kapitel dieses Buches darauf zu-
rückkommen.
Wie denken nun diejenigen, die sich mit der Emerging-
Church-Bewegung identifizieren, über diese Fragen? Obwohl
einige Crouch hinsichtlich der Erkenntnis zustimmen würden,
dass die Konsumhaltung einer der größten Missstände unserer
Zeit ist, würden sie ihr im Gegensatz zu ihm nicht das Attribut
»postmodern« beifügen. Die meisten Leiter der Emerging Church
erkennen einen überaus deutlichen Gegensatz zwischen moder-
ner Kultur sowie postmoderner Kultur und verbinden die ent-
sprechende Trennlinie mit erkenntnistheoretischen Fragen. Man-
che davon sind der Auffassung (darauf deuten die von mir wie-
dergegebenen Zeugnisse hin), dass wir in einer postmodernen
Kultur leben und daher postmoderne Gemeinden bauen sollten.
Einige wenige räumen ein, dass nicht alle Aspekte der Postmoder-
ne anerkennenswert sind. Sie wollen daher eine Art prophetisches
Zeugnis aufrechterhalten, das die Postmoderne an verschiedenen
Punkten eindringlich mahnen soll, während sie sich gleichzeitig
eifrig jene Merkmale der Postmoderne aneignen, die für sie emp-
fehlenswert sind.
Brian McLaren, der vermutlich brillanteste Redner dieser im
35
Entstehen begriffenen Bewegung, hat sowohl in Büchern als auch
in Vorträgen betont, dass Postmoderne nicht Antimoderne umfas-
se. Damit meint er, dass die Moderne in vielfacher Hinsicht nicht
überholt sei und die Vorsilbe »post« »aus der Quelle (der Moder-
ne) strömend« bzw. »auf (die Moderne) folgend« bedeute.74 Rich-
tig verstanden »deutet der Begriff [post-] auf Kontinuität und zu-
gleich auf Diskontinuität hin. Ein junger Erwachsener, der dem
Pubertätsalter entwachsen ist, behält seinen Namen, gehört wei-
terhin zur selben Familie, setzt dieselbe Familientradition fort und
ist im Innersten derselbe wie vor der Pubertät und während dieser
Phase. Ebenso ist derjenige, der nach dem ersten akademischen
Grad weiterstudiert, nicht antiintellektualistisch eingestellt.«75
(Offen gesagt: Für mich ist McLarens Diskussion ein bisschen ver-
wirrend, weil sie sich nicht innerhalb bestimmter Sachbereiche be-
wegt.)76
74 Siehe z.B. seine fundierte Reaktion auf Crouchs Abhandlung in Sweet, The
Church in Emerging Culture: Five Perspectives, S. 66.
75 Ebd.
76 Die Vorsilbe »post-« bedeutet nach »Webster’s Unabridged Dictionary« le-
diglich »(a) zeitlich gesehen danach, später, im Anschluss an, wie z.B. in postgradual
(Anmerkung des Übersetzers: d.h. nach dem ersten akademischen Grad), postgla-
zial (d.h. nacheiszeitlich); (b) räumlich gesehen danach, hinter, wie z.B. in postaxial«
(Anmerkung des Übersetzers: Begriff, der beispielsweise in der Medizin verwen-
det wird. So bezeichnet etwa das Krankheitsbild »postaxiale Hexadactylie« eine
Handfehlbildung, bei der es einen überzähligen Kleinfinger gibt.). Zwar bedeutet
»postglazial« nicht »anstelle der glazialen Merkmale«, doch weil die entsprechen-
de Periode nach der Eiszeit kommt, bezieht sie sich auf eine Phase, die man nicht
mehr als »glazial« bezeichnen kann. Ebenso ist ein »Student im Aufbaustudium«
kein Studienanfänger mehr: Er hat den entsprechenden akademischen Grad be-
reits erworben. Wer sagt, dass der Betreffende jetzt dennoch nicht geistfeindlich
eingestellt ist, bringt irrelevante Sachverhalte hinsichtlich dieses Begriffs ins Spiel
– genauso, als würde man sagen, durch den Ausdruck »postglazial« werde we-
der bestätigt noch in Abrede gestellt, dass der Sauerstoffanteil in der Atmosphä-
re sowohl in der Eiszeit als auch in der Nacheiszeit eventuell gleich gewesen sei.
Ein postpubertäres Kind gehört zweifellos nach wie vor zu derselben Familie und
»setzt die gleiche Familientradition fort«. Dies ist jedoch für den Begriff irrelevant,
der vor allem mit der Pubertät zu tun hat. Dabei gibt es nichts, was in dem Aus-
druck selbst darauf hindeutet, inwieweit die Merkmale außerhalb des Bedeutungs-
felds dieses Ausdrucks fortgeführt oder aber fallen gelassen werden. Somit bezieht
sich »postmodern« auf etwas, das der Epoche der Moderne folgt. Es ist eine Bin-
senweisheit, dass eine gewisse Stetigkeit auf dem umfassenderen kulturellen Hin-
tergrund weiter besteht – aber sie besteht gewiss nicht im Übergang von einer wie
auch immer gearteten »Moderne« zu einer »Postmoderne« fort – ungeachtet des-
sen, wie diese beschaffen sein mag. Anderenfalls hat unsere Aussage, dass wir in
36
Für McLaren und die meisten anderen führenden Vertreter der
Emerging-Church-Bewegung ist ihr Beharren darauf bezeichnend,
dass sie sich nicht mehr im Einklang mit der Moderne sehen, son-
dern damit weitgehend gebrochen haben. Gelegentlich schlüpft
McLaren in die Rolle von Neo, der postmodernen christlichen
Hauptfigur seiner beiden bekanntesten Bücher. Dann gebraucht
er »post-« als allumfassende Kategorie, um hervorzuheben, was
ihm missfällt: »In der postmodernen Welt zeichnen wir uns immer
mehr durch Post-Kolonialismus, post-mechanistische und post-
analytische Züge, Post-Säkularismus und Post-Objektivismus aus.
Wir sind zunehmend post-kritisch, post-strukturell, post-indivi-
dualistisch, post-protestantisch und post-verbraucherorientiert.«77
Wenn man diese Bücher überfliegt, erkennt man: Dasjenige, was
nach McLarens Ansicht heute »eine neue Art des Christseins« aus-
machen sollte, wird in erheblichem Maße von all den neuen Dingen
bestimmt, die seiner Meinung nach mit der Postmoderne verbun-
den sind: Daher kommt »eine neue Art des Christseins«.
Für fast jeden innerhalb der Bewegung verwirklicht sich dies
darin, worauf man Wert legt: auf Emotionen und Gefühle gegen-
über linearem Denken und Rationalität, auf Erfahrung gegenüber
Wahrheit, auf Einbeziehung gegenüber Ausschluss, auf Beteili-
gung gegenüber Individualismus und heldenhaftem Einzelgän-
gertum. Für einige (wie im Untertitel von Yaconellis Buch erkenn-
bar) bedeutet dies eine Abkehr vom Absoluten und eine Hinkehr
zum Authentischen. Es bedeutet, die gegenwärtige Betonung der
Toleranz zu berücksichtigen. Es bedeutet, anderen nicht zu sagen,
der Postmoderne angekommen sind, keinen Wert. Mit anderen Worten: Hinsicht-
lich eines Begriffs wie »im Aufbaustudium befindlich« verlässt McLaren den Sach-
bereich »Studium«, um eine Antithese intellektuell/antiintellektuell zu leugnen,
doch im Blick auf postmodern will er darauf bestehen, dass es Kontinuitäten zwi-
schen der Moderne und der Postmoderne im eigentlichen Bereich des »Modernen«
gibt. Wenn aber Sprache überhaupt eine Bedeutung hat, befinden wir uns natür-
lich nicht in einer postmodernen Situation, sofern die Moderne fortbesteht. Umge-
kehrt gilt: Wenn es stimmt, dass wir in der Zeit der Postmoderne leben, haben wir
die Zeit der Moderne hinter uns gelassen.
77 Brian D. McLaren, A New Kind of Christian: A Tale of Two Friends on a Spiritu-
al Journey (San Francisco: Jossey-Bass, 2001), S. 19. Der Nachfolgeband trägt den Ti-
tel The Story We Find Ourselves In: Further Adventures of a New Kind of Christian (San
Francisco: Jossey-Bass, 2003).
37
dass sie unrecht haben. Es unterstreicht die Wichtigkeit narra-
tiver Elemente (Anmerkung des Übersetzers: d.h. in erzählender
Form dargestellte Elemente. Da »narrativ« als Schlüsselbegriff in
der Emerging-Church-Bewegung gilt, wurde der Begriff hier nicht
umschrieben.) – sowohl von Lebensgeschichten (da Gläubige und
Ungläubige gleichermaßen ihre individuellen Geschichten erzäh-
len) als auch von Bibelstudium und Verkündigung.78
Dennoch hat sich in einigen Kreisen der Emerging-Church-Be-
wegung die Argumentation von Debatten über Erkenntnistheorie
zu Diskussionen über Sozialgeschichte hin verlagert. In einem Se-
minar unter der Bezeichnung »Pluralism Revisited« (so viel wie
»Pluralismus – neu besehen«), der während der 2004 stattfin-
denden Emergent Convention in Nashville vorgestellt wurde79,
sagte McLaren, dass er seine diesbezügliche Ansicht geändert und
dies ihn zu der Erkenntnis von der größeren Bedeutung der Sozi-
algeschichte gegenüber der Geistesgeschichte geführt habe. Nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen viele europäische
Denker, die unter dem Trauma des Krieges litten, bohrende Fra-
gen hinsichtlich der Moderne und der Aufklärung als dem Nähr-
boden der Moderne zu stellen. Nachdem diese Fragen zur Spra-
che gebracht waren, konnten sie nicht mehr auf den Holocaust
oder die Barbareien Stalins beschränkt werden. Sie fragten: Wer
gab den Europäern das Recht, Afrika, Nordamerika sowie Süd-
amerika zu erobern und zu besitzen? Was gibt uns das Recht, die
Erde zu zerstören, um unsere Gier zu befriedigen?
Ihre Folgerung (die nach McLarens Ansicht zwar korrekt, aber
unvollständig ist) bestand darin, dass das sie verbindende Element
eine allumfassende Überzeugung war, die in ihren großen Erzäh-
lungen bzw. Meta-Erzählungen wurzelte (in ihren sogenannten
»großen Geschichten«, die den Deutungsrahmen für all ihre »klei-
nen Geschichten« vorgaben). In den USA war diese Zuversicht in
der Überzeugung von der Vormachtstellung der Weißen und in
78 Siehe z.B. Walter Wangerin jun., »Making Disciples by Sacred Story«, Chris-
tianity Today 48/2 (Februar 2004), S. 66-69.
79 Obwohl ich nicht teilnehmen konnte, übersandte mir ein Kollege freundli-
cherweise eine CD mit Seminarmitschnitten.
38
Visionen von einer klar zutage tretenden Bestimmung verwur-
zelt. In Einklang damit sagt McLaren, dass die Glaubensaussagen
des Christentums und die Überzeugungen des Kolonialismus mit-
einander verwoben gewesen seien.
Unabhängig davon, ob diese Analyse stichhaltig ist oder nicht,
muss man anerkennen, dass zu vielen komplexen Abhandlungen
der Erkenntnistheorie Darstellungen zu sozialgeschichtlichen The-
men gehören, die dort Teil des notwendigen Rahmens der Geistes-
geschichte sind. Man muss sich dem Primat der Erkenntnistheo-
rie an der Schwelle zur Postmoderne stellen. Obwohl die Sozial-
geschichte einen Teil dieser Herausforderung darstellt, wirft sie
selbst (hinsichtlich ihres Einflusses auf die Postmoderne) im We-
sentlichen erkenntnistheoretische Fragen auf.
Vieles vom dem, worauf McLaren in seinen Schriften und Vor-
trägen abzielt, soll die Sicherheiten, die seiner Meinung nach einen
zu großen Teil des Denkens der vom westlichen Christentum ge-
prägten Menschen in der Vergangenheit beherrscht haben, ad ab-
surdum führen. Anders ausgedrückt: Seine Erörterung erfolgt auf
dem Gebiet der Erkenntnistheorie – ungeachtet dessen, ob er sich
diesem Gebiet über die Sozialgeschichte oder auf einem anderen
Weg nähert. Doch damit, dass man die Sicherheiten der Vergan-
genheit fortwährend ad absurdum führt, ist eine Gefahr verbun-
den: Wenn wir nicht achtgeben, haben wir am Ende vielleicht gar
nichts mehr, woran wir uns festhalten können. Indem McLaren
diese Gefahr erkennt, geht er in diesem Vortrag (Anmerkung des
Übersetzers: d.h. im oben erwähnten Vortrag in Nashville) einen
Schritt weiter, indem er uns zwei Definitionen anbietet, die seine
nachfolgende Erörterung bestimmen (wobei diese Definitionen in
seinen Schriften immer wieder auftauchen).
Die erste seiner Definitionen betrifft den Pluralismus. Dabei
konzentriert er sich nicht auf den empirischen Pluralismus, der le-
diglich die tatsächlich bestehende Vielfalt beschreibt – eine Vielfalt,
die gottgewollt ist (vgl. die Vision in Offenbarung 5): Unter den
durch Christus Erlösten findet sich »jeder Stamm und jede Sprache
und jedes Volk und jede Nation« (Offb 5,9; vgl. auch den Pfingst-
tag). Vielmehr geht es ihm vorrangig um den philosophischen Plu-
39
ralismus – um jene Haltung, die geltend macht, dass keine Weltan-
schauung für sich genommen das Erklärungssystem oder die Re-
alitätswahrnehmung umfassen kann, die alle Aspekte des Lebens
deutet. Selbst wenn wir Christen das Gegenteil behaupten wür-
den, so müssten wir uns doch erst einmal den Meinungsverschie-
denheiten unter uns stellen: Sollen wir von einer baptistischen Re-
alitätswahrnehmung sprechen? Von einer presbyterianischen? Ei-
ner anglikanischen? Und welche baptistische Richtung meinen wir
eigentlich? Der philosophische Pluralismus leugnet die Tatsache,
dass irgendein System die vollständige Erklärung bietet.
Die zweite Definition betrifft den Relativismus. Zu einem be-
stimmten Zeitpunkt beeinflusste der Relativismus vor allem das
Gebiet der Ästhetik: Die Theorie der Ästhetik war es, die das Ab-
solute verneinte und darauf bestand, dass Ästhetik immer in Bezie-
hung zu den Menschen gesehen werden muss, die bestimmte Hal-
tungen hinsichtlich dessen einnehmen, was Schönheit ausmacht.
Heutzutage beherrscht der Relativismus auch die Bereiche der Re-
ligion und der Moral. Sie beinhaltet jene Theorie, die das Absolu-
te leugnet und nachdrücklich betont, dass ethische und religiöse
Anschauungen auf die Menschen bezogen sind, die sie vertreten.
Damit Christen nicht denken, dass all dies kein Thema für sie sei,
lenkt McLaren die Aufmerksamkeit auf die im Alten Testament
befohlene Ausrottung der kanaanitischen Urbevölkerung, auf die
vielen Frauen Davids und das Verbot, goldene Ringe zu tragen.
Können sich sowohl der philosophische Pluralismus als auch
der Relativismus frei entfalten, kann man sich nach McLarens
Aussage nur schwer vorstellen, wie man imstande ist, bibeltreu
zu sein. Dennoch kann umgekehrt nicht dem Absoluten die Herr-
schaft überlassen werden: Die Kritik des Absoluten ist zu zerstö-
rerisch, zu tief greifend, als dass sie eine solche Haltung zulassen
würde. Daher bringt McLaren seine Lösung vor: »das emergente
Denken«, vielleicht besser bekannt als »integrales Denken«.80
McLaren benutzt dazu eine Reihe von Illustrationen unterschied-
80 Hier stützt sich McLaren auf Ken Wilber, The Marriage of Sense and Soul: Inte-
grating Science and Religion (New York: Broadway Books, 1998).
40
licher Qualität. Ein Baum wächst nicht einfach nach oben, sondern
bildet jeweils eine Schicht nach der anderen heraus. Dadurch, dass
sich die Schichten ringweise anlagern, ist er imstande zu wachsen.
Jede Schicht umfasst alles zuvor Gewachsene. Es ist etwa so, wie
wenn jemand lesen lernt. Die Fähigkeit entsteht neu, indem sie
bisher Erworbenes aufgreift und sich durch die Aneignung neuer
Aspekte weiterentwickelt.
Daher müsse einer vom Absoluten beschwerten Kultur viel-
leicht in geringem Umfang Relativismus hinzugefügt werden,
um das damit verbundene Falsche zu korrigieren. Dabei gehe es
nicht so sehr um einen Relativismus, der alles Frühere ersetzt,
sondern um einen Relativismus, der in gewisser Hinsicht das Vor-
hergehende umfasst und sich dennoch weiterentwickelt. Wenn
das Krebsgeschwür »das Absolute« heiße, brauche man den Re-
lativismus als Chemotherapie. Selbst wenn diese Chemotherapie
für sich genommen gefährlich sei, so stelle sie doch die notwen-
dige Lösung dar. Unsere Kultur trage also zunehmend post-kolo-
nialistische, post-moderne und post-totalitäre Züge. Wie können
wir uns demnach das Evangelium in einem post-kolonialen, post-
modernen und post-totalitären Kontext vorstellen?
Es ist nach McLarens Aussagen keine Lösung, eine »Meta-Er-
zählung«, nämlich die christliche Meta-Erzählung, vorzuschlagen.
Selbst wenn es nämlich einen Aspekt gibt, der die Einbeziehung
unserer Mitmenschen in die biblische Handlung ermöglicht, ruft
das Wort »Meta-Erzählung« in einer postmodernen Welt alle mit
»Propaganda« verbundenen Assoziationen wach. Für die Men-
schen der Postmoderne riecht dies nach dem Absoluten. Wie sol-
len wir also an diese Herausforderung herangehen?
McLaren greift nun wieder die zentralen Fragen auf, die für
seine Hauptanliegen noch charakteristischer sind – die Überwin-
dung des Absoluten, das für ihn ausschließlich in einem Großteil
des althergebrachten westlichen Konfessionalismus vorkommt.
Damit kommt er zum Thema zurück, indem er eine Seitentür be-
nutzt. Er fordert uns auf, zwei Fragen zu beantworten. Erstens:
Waren die Muslime im Unrecht, als sie die Buddha-Statuen in Af-
ghanistan zerstörten? Die meisten von uns würden mit »Ja« ant-
41
worten. Zweitens: Wären sie im Unrecht gewesen, wenn sie dies
im Namen Jesu getan hätten? Angenommen wir sagen »Ja« – d.h.,
wir sagen, dass wir u.a. aufgrund unseres Glaubens an Jesus zu
der Schlussfolgerung kommen, die Zerstörung sei verkehrt ge-
wesen. Geben wir dann nicht stillschweigend zu, dass das Chris-
tentum nicht die gesamte Realität erklärt? Überdies müsse das
Christentum über seine eigenen entsetzlichen Barbareien Rechen-
schaft ablegen. McLaren erinnert uns an die schweren Verbrechen
gegenüber den eingeborenen Völkern Amerikas – ganz gleich, ob
im Rahmen der Eroberungen durch Pizarro und andere spanische
Konquistadoren oder aber im Zuge jener schrecklichen Ereignisse,
die in Bury My Heart at Wounded Knee beschrieben werden (An-
merkung des Übersetzers: In diesem Buch, auf dessen deutsche
Ausgabe in den bibliografischen Angaben der Anmerkungen hin-
gewiesen wird, geht es um Ausrottung, Unterwerfung und Unter-
gang der nordamerikanischen Indianer sowie deren Kultur. Der
in der deutschen Ausgabe unverändert wiedergegebene Original-
titel bezieht sich auf das letzte Massaker, das weiße Siedler 1890
am Wounded Knee unter Indianern anrichteten. Damit fand der
Freiheitskampf der Indianer sein symbolisches Ende.).81 Von die-
sem Argumentationsstrang ausgehend bekräftigt McLaren, dass
das Absolute einfach nicht die Antwort geben kann.
Wohin sollen wir uns dann wenden? Wenn weder das Abso-
lute noch der absolute Relativismus die Antwort beinhalten, wor-
in besteht dann der zukunftsweisende Weg für Christen? Hier
ist McLaren dem knapp gehaltenen Werk von Jonathan Wilson,
Living Faithfully in a Fragmented World: Lessons for the Church from
MacIntyre’s After Virtue (Die deutsche Ausgabe erschien unter
dem Titel Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegen-
wart, Frankfurt/Main: Suhrkamp, Neuauflage 2007.), sehr zu Dank
verpflichtet.82 Wie sein Untertitel andeutet, verdankt dieses Buch
außerordentlich viel den Ideen des Philosophen Alasdair MacIn-
81 Der Autor ist Dee Alexander Brown (New York: Henry Holt & Co., 1971;
deutsche Ausgabe: Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses, München: Droemer
Knaur, 2005).
82 New York: Morehouse Publishing, 1998.
42
tyre.83 Und gewiss wollen wir genau dies: Wir möchten lernen, in
einer fragmentierten Welt treu zu leben. Das Absolute hält sich an
ein bestimmtes Regelwerk. Der echte Pluralismus gleicht einem
großen Feld, auf dem viele Spiele ausgetragen werden und wo in
jedem Spiel eigene Regeln gelten. Ein derartiger Pluralismus ist in
sich schlüssig. Wir leben jedoch in einer fragmentierten Welt: Wir
spielen Golf mit einem Baseball, Baseball mit einem Fußball usw.
Hier geht es nicht um echten Pluralismus, sondern um Leben unter
fragmentierten Bedingungen.
Zweifellos gibt es einige kleine, in sich geschlossene Gemein-
schaften: Chassidische Juden etwa oder die Amischen – Grup-
pen, denen es gelingt, sich an einen bestimmten Regelkodex zu
halten. Doch wir als die Übrigen stecken im Dilemma der Frag-
mentierung. Infolgedessen gibt es keine Geschlossenheit, keine
Übereinstimmung darüber, wohin wir gehen, kein telos, kein Ziel.
Wenn wir von unserem Verhalten berichten, behalten wir weiter-
hin die frühere Sprache des Absoluten bei, während wir uns nicht
in echtem Pluralismus, sondern in der Fragmentierung befinden.
In Nordamerika erinnern wir uns noch an ein vom Absoluten ge-
prägtes, totalitäres Christentum und erleben die Fragmentierung.
Wir müssen uns daher entscheiden, ob wir zu diesem Erbe des
Absoluten zurückkehren, oder ob wir nach vorn gehen, um ande-
re Aspekte anzuvisieren. Können wir eine Struktur gestalten, die
keine totalitären und absoluten Züge trägt, aber gleichzeitig den
absoluten Relativismus vermeidet? Der erstgenannte Sachverhalt
bringt uns zu den Barbareien der Vergangenheit zurück und ist im
postmodernen Zeitalter nicht überzeugend, während wir im Fal-
le des letzteren den Marktstrategen ausgesetzt sind, weil es keine
einheitliche Abwehrstrategie ihnen gegenüber gibt.
Der zukunftsweisende Weg wird nach McLarens Anregung
in einem umfangreichen Buch von David J. Bosch ungemein hilf-
reich dargestellt.84 Gegen Ende des Buches listet Bosch acht Per-
43
spektiven auf, die in unsere Situation hineinsprechen und uns ge-
wisse Anhaltspunkte geben:
(1) Nehmen Sie die Tatsache, dass unterschiedliche Glaubens-
richtungen nebeneinander bestehen, freudig und nicht wi-
derwillig an. Es ist nicht deren Schuld, dass sie existieren.
(2) Dialog setzt voraus, dass man sich seiner eigenen Position
verpflichtet weiß. Daher ist es sicher gut, genau hinzuhö-
ren. Der Dialog sollte entsprechend dem Vertrauen auf das
Evangelium geführt werden.
(3) Wir gehen davon aus, dass der Dialog in der Gegenwart
Gottes, der unsichtbar zugegen ist, geführt wird. In einem
solchen Dialog können wir wie Petrus in Apostelgeschichte
10-11 Bestimmtes lernen. Ebenso lernt Jesus während seines
Austauschs mit der syrophönizischen Frau hinzu.
(4) Missionale (Anmerkung des Übersetzers: Der Ausdruck
missional ist von dem Begriff missionarisch abzugrenzen. Un-
ter einer »missionalen Gemeinde« verstehen die Vertreter
der Emerging Church die Tatsache, dass Evangelisation
bzw. Mission nicht mehr nur eine ihrer Aktivitäten ist, son-
dern darin ihr Wesen zum Ausdruck kommt. Sie fordern
die »Ganzheitlichkeit« der Mission. Das Schlagwort lautet:
»Missional heißt Sein und nicht Tun!« Obwohl dieses An-
liegen berechtigt sowie nachvollziehbar ist und sich mit
der Zielstellung einer »missionarischen Gemeinde« deckt,
will man sich durch diese Wortwahl von den »missionari-
schen Aktivitäten der Moderne« abheben, weil sie angeb-
lich zu wenig erreicht haben. Außerdem birgt die prakti-
sche Umsetzung des »missionalen Konzepts in der Postmo-
derne« die Gefahr in sich, die Vorrangstellung der Evange-
liumsverkündigung zugunsten sozialer und diakonischer
Arbeit zu vernachlässigen. Die konkrete Umsetzung die-
ses Konzepts in unserer Zeit bestätigt, dass diese Gefahr
real ist.) Gespräche erfordern Demut und Empfindsam-
keit. Aber dies sollte uns nicht erschrecken, denn wenn wir
schwach sind, dann sind wir stark. Es ist z.B. sicher richtig,
die von Christen früherer Zeiten begangenen Gräueltaten
44
einzuräumen, auch wenn wir immer wieder achtgeben
sollten, von diesen Christen nicht geringschätzig zu reden.
(5) Jede Religion handelt jeweils in ihrer Welt. Auf diese Tatsa-
che müssen Christen verschieden reagieren.
(6) Christliches Zeugnis schließt Dialog nicht aus.
(7) Die »uralte Geschichte« ist unter Umständen nicht die »al-
lein wahre Geschichte«, denn wir wachsen weiterhin er-
kenntnismäßig, wobei sogar unsere Diskussion und unsere
Dialoge zum Wachstum beitragen. Mit anderen Worten: Die
Fragen, die von der Postmoderne aufgeworfen werden, er-
schließen uns neue Dimensionen.
(8) Leben Sie mit Widersprüchen: Wir kennen keinen von Je-
sus Christus losgelösten Heilsweg, aber wir urteilen nicht
vorschnell darüber, wie Gott vielleicht mit anderen handelt.
Wir müssen einfach mit der entsprechenden Spannung le-
ben.
McLaren beendete seinen Vortrag, indem er feststellte, dass Kon-
servative die relativistische Einstellung der Liberalen beklagen.
Dagegen würden Liberale beklagen, dass Konservative vom Ab-
soluten her geprägt sind. Aber die Geschichte lehre uns, dass wir
uns immer dann, wenn wir eine Seite gewähren lassen, in großen
Schwierigkeiten befinden. Den vor uns liegenden Weg, der beide
Extreme umgehe, könnten wir jedenfalls mit einer angemessenen
Überzeugung beschreiten.
Ein kurzes Frage-Antwort-Szenario schloss sich McLarens Se-
minar an. Zwei der betreffenden Fragen sind es wert, hier wieder-
gegeben zu werden (»F« steht für Frage, »A« für Antwort.). (1) F:
Unsere Kultur verbindet weithin Intoleranz mit dem Absoluten
und Toleranz mit Relativismus. Gibt es einen besseren zukunfts-
weisenden Weg? A: Nach McLarens Ansicht wird diese schwie-
rige Frage in Exclusion and Embrace, einem Buch von Miroslav
Volf, am besten behandelt.85 F: Wie sollen wir auf das Problem
der Homosexualität reagieren? A: McLaren macht geltend, dass
85 Ich habe mich anerkennend zu Volfs Werk geäußert, selbst wenn ich zuwei-
len gegenteiliger Meinung bin; vgl. D.A. Carson, Love in Hard Places (Wheaton:
Crossway, 2002).
45
es diesbezüglich keine zufriedenstellende Position gebe, weil alle
Standpunkte irgendjemanden verletzen. Das sei immer schlecht.
Außerdem kann Homosexualität 75 verschiedene Formen anneh-
men. Sehen wir uns zum Vergleich die Schizophrenie an. Obwohl
sie eine komplexe und ziemlich häufig auftretende Krankheit ist,
wird sie in der Bibel nicht erwähnt. Am nächsten kommt ihr in
der Bibel phänomenologisch gesehen die dämonische Besessen-
heit. Aber können wir ohne Weiteres sagen, dass jedes Beispiel für
Schizophrenie als dämonische Besessenheit bezeichnet werden
sollte, um in biblischen Kategorien zu bleiben? Ebenso ist die mo-
derne Homosexualität ein komplexes Phänomen. Dabei ist nicht
völlig klar, ob das, was wir anhand eines speziellen Beispiels unter
Homosexualität verstehen, ganz mit dem übereinstimmt, was die
Bibel darüber sagt. McLaren betont nachdrücklich, dass er durch
eine solch vorsichtige Herangehensweise kein Urteil in der einen
oder anderen Form über die Homosexualität selbst abgibt. Viel-
mehr will er verdeutlichen, wie man diesbezüglich mit Menschen
umgehen kann.
Ich habe der Zusammenfassung eines der neuesten Seminare
von McLaren breiten Raum gewidmet – teilweise deshalb, weil die
meisten Beteiligten zustimmen würden, dass McLaren die Kory-
phäe der Emerging Church ist (oder zumindest zu ihren einfluss-
reichsten Denkern gehört). Teilweise habe ich es auch deshalb ge-
tan, weil dieses Seminar noch etwas anderes erkennen lässt – et-
was, das unter den Denkern der Emerging Church ziemlich neue
Wege beschreitet. Dabei beziehe ich mich nicht auf McLarens Um-
gang mit der Sozialgeschichte und der sozialen Konstruktion von
Wissen. Dieser ist nicht besonders innovativ, selbst wenn ihm eine
angemessene, allgemein verständliche Darstellung dessen gelun-
gen ist, was andere Autoren auf diesem Gebiet geschrieben ha-
ben. Vielmehr geht es mir darum, dass die meisten Führer der
Emerging-Church-Bewegung eine relativ einfache Antithese auf-
stellen – nämlich dahin gehend, dass die Moderne schlecht und
die Postmoderne gut ist. Was dies anbelangt, ist McLaren sorgfäl-
tig bemüht, diese offensichtliche Falle zu umgehen. Im Grunde
genommen führen viele Formen des postmodernen Denkens zu
46
irgendeiner Spielart des religiösen Relativismus, wobei McLaren
weiß, dass dies für Christen keine Option ist. Er will eindeutig
einen Kurs zwischen dem Absoluten und dem Relativismus steuern,
wobei er an dieser Stelle vorsichtiger ist als einige seiner Mitstrei-
ter.
Dennoch ist für McLaren das Absolute mit der Moderne ver-
bunden, sodass jede Bewertung, die er unter diesem Aspekt
der Herausforderung vorbringt, negativ ausfällt. Ja, man kann
sich in den von mir gelesenen Schriften führender Vertreter der
Emerging Church nur schwer einen einzigen Abschnitt vorstellen,
in dem irgendein wesentliches Element der Moderne positiv be-
wertet wird. McLaren unterlässt es jedoch, den Relativismus mit
der Postmoderne zu verbinden. Seiner Ansicht nach umfasst der
Relativismus scheinbar einen noch extremeren Sachverhalt (viel-
leicht eine entartete Form der Postmoderne?), während der Post-
modernismus selbst zu einem unkritisch übernommenen Rahmen
wird, innerhalb dessen wir unsere Theologie umsetzen müssen.
Einerseits lehnt er also absolute Formen des religiösen Relativis-
mus ab (Man kann nicht sagen, dass er ihn kritisiert. Vielmehr er-
kennt er an, dass er als Christ diesem Weg letztlich nicht folgen
kann.). Andererseits habe ich bis heute weder von McLaren noch
von irgendeinem anderen Vertreter der Emerging-Church-Bewe-
gung eine kritische Beurteilung irgendeines substanziellen Ele-
ments des postmodernen Denkens gesehen. An dieser entschei-
denden Stelle will ich als Autor nicht werten, indem ich mich we-
der anerkennend äußere noch anklage. Ich versuche lediglich, das
Denken der Emerging-Church-Bewegung so genau wie möglich
darzustellen.
47
orientierte Gemeinde, die Megagemeinde. Obwohl es manchmal
schwierig ist, diese drei Protestarten auseinanderzuhalten, ist die-
ses dritte Element von besonderem Interesse.
Das Ausmaß, in dem dieses Element in Erscheinung tritt, va-
riiert beträchtlich. Sicher ist es z.B. in der Konstruktion von Dan
Kimball enthalten. Eine ganze Reihe von Pastoren in der suchero-
rientierten Tradition hat sein 2003 auch auf Deutsch erschienenes
Buch86 enthusiastisch aufgenommen87 – zweifellos deshalb, weil
Kimball sein Buch teilweise als Wegweiser in die Zukunft konzi-
piert, um eine neue Generation Heranwachsender zu erreichen,
die sich sowohl gegenüber der älteren Generation als auch kul-
turell weiterentwickelt hat. Dieser früheren Generation gehörten
jene an, auf die die sucherorientierte Bewegung vor 30 Jahren be-
sonders abzielte. Obwohl es Unterschiede gibt, besteht das Motiv
führender Persönlichkeiten der Emerging-Church-Bewegung (wie
dasjenige der Leiter des sucherorientierten Konzepts zu ihrer Zeit)
teilweise in dem Verlangen, Menschen zu erreichen, die durch
herkömmliche Ansätze und Einstellungen offenbar nicht angezo-
gen werden. Die sucherorientierte Bewegung ist inzwischen in die
Jahre gekommen, sodass sie mittlerweile als »traditioneller« An-
satz gelten kann. Pastoren in der sucherorientierten Tradition nei-
gen demnach dazu, in den führenden Vertretern der Emerging
Church eine neue Generation von Christen zu sehen, die im Grun-
de das Gleiche tun, was sie selbst eine Generation zuvor getan ha-
ben.
In Kimballs Buch wird dargelegt, wie man die post-sucher-
orientierte Generation erreichen kann. Ein Großteil seiner Aus-
führungen bewegt sich auf bekanntem Boden. Er bietet eine Art
populäre Kurzdarstellung dessen, was sich die Postmoderne sei-
ner Meinung nach angeeignet hat:88 Sie akzeptiert den Pluralis-
mus, macht sich das Erfahrungsmäßige zu eigen, erfreut sich an
86 Emerging Church, Die postmoderne Kirche. Spiritualität und Gemeinde für neue
Generationen, Gerth Medien, 2005, S. 166.
87 Z.B. John Ortberg, früher bei Willow Creek, und Rick Warren von der Saddle-
back Church.
88 Siehe z.B. sein Schaubild in Emerging Church, S. 57.
48
mystischen Erfahrungen, findet Gefallen am Erzählerischen sowie
an dem, was fließenden, globalen und gemeinschaftlichen/loka-
len Charakter hat, usw. Kimball geht dann zu der Frage über, wie
wir Dinge ganz anders in Angriff nehmen sollten. Dazu gehört
ein Anhang, der Anregungen für post-sucherorientierte Gottes-
dienste gibt. Hier müssten wir, so Kimball, viel mehr sinnbildliche
Elemente haben und viel stärker das Visuelle hervorheben. Wir
sollten Kreuze und Kerzen haben. Es könnte sogar einen Abend-
mahlsgottesdienst ganz ohne Predigt geben. Die ganze Raumge-
staltung könne anders werden. So sollte es fortan möglich sein,
dass sich verschiedene Gruppen innerhalb der Gemeinde zur sel-
ben Zeit unterschiedlichen Dingen widmen. Vielleicht geht auch
jemand eine Zeit lang nach draußen, um an einem Tisch in der
Stille Tagebucheintragungen vorzunehmen. Die gottesdienstliche
Erfahrung in ihrer Gesamtheit sollte alle Sinne ansprechen, wobei
man an der Gebetsstation durchaus Weihrauch einsetzen könne.
»Die Gottesdienste der Emerging Church«, schreibt Kimball, »ver-
suchen weniger, innovativ zu sein, sondern vielmehr zu unserer
geistlichen Mitte zurückzukehren, zu Jesus«.89
Kimball bietet uns in antithetischer Form einen Überblick über
die moderne und postmoderne Predigt.90 In der modernen Ge-
meinde ist die Predigt das Kernstück des Gottesdienstes, wäh-
rend der Verkündiger biblische Wahrheiten vermittelt und hilft,
persönliche Probleme des modernen Lebens zu lösen. In den Pre-
digten wird vorrangig erklärt, d.h. erläutert, was Wahrheit ist.
Der Ausgangspunkt ist das jüdisch-christliche Weltbild, wobei bi-
blische Begriffe wie »Evangelium« und »Harmagedon« nicht defi-
niert werden müssen. Der jeweilige Bibeltext wird hauptsächlich
durch Worte vermittelt. Dabei findet diese Predigt innerhalb des
Gemeindehauses während eines Gottesdienstes statt.
Kimball schreibt, dass im Gegensatz dazu in der (postmoder-
nen) Emerging-Church-Bewegung die Predigt nur ein Teil der
gottesdienstlichen Erfahrung während der allsonntäglichen Zu-
89 Ebd., S. 166.
90 Siehe insbesondere sein Schaubild ebd., S. 171. Viele der Thesen in den fol-
genden Ausführungen entstammen Kimballs Buch.
49
sammenkünfte ist. Hier lehrt der Verkündiger, wie sich die alte bi-
blische Weisheit auf das Leben im Reich Gottes anwenden lässt. Er
betont und erläutert die Erfahrung im Blick darauf, wer die Wahr-
heit ist. Der Ausgangspunkt ist der Garten Eden, wobei man die
Geschichte von der Schöpfung und dem Ursprung des Menschen
sowie der Sünde immer wieder neu erzählen muss (vgl. Apostel-
geschichte 17,22-34). Biblische Begriffe wie »Evangelium« und
»Harmagedon« müssen »auseinandergenommen und neu de-
finiert« (vgl. ebd., S. 171) werden. Die Botschaft der Schrift wird
durch eine Mischung aus Worten, Bildern, Kunst, Stille, Zeug-
nis und Erzählung vermittelt. Der Prediger motiviert und ermu-
tigt Menschen, im Laufe der Woche aus der Schrift zu lernen. Ein
Großteil der Predigt findet außerhalb des Gemeindehauses in
Gruppen und Beziehungen statt. Eine solche Verkündigung wird
immer wieder Gott und nicht den Menschen in den Mittelpunkt
stellen, wobei der Prediger darauf achtgeben sollte, nicht die Intel-
ligenz der Menschen zu beleidigen.
Eines kann in Kimballs Buch meiner Meinung nach nicht über-
sehen werden: Ein beträchtlicher Teil seiner Analyse ist spezi-
ell gegen Gemeinden in der sucherorientierten Tradition gerich-
tet. Sehen wir uns einige seiner Anregungen an. Dazu gehört z.B.
die nachdrückliche Betonung, dass Predigten Gott und nicht den
Menschen in den Mittelpunkt stellen sollten. Außerdem sollten sie
nicht die Intelligenz der Zuhörer beleidigen. Während der Woche
sollte die Unterweisung im Wort weitergehen, statt sie auf norma-
le Sonntagsgottesdienste zu beschränken. Wir sollten darauf hin-
arbeiten, wie Menschen des Reiches Gottes zu leben. Derartige
Anregungen könnte man genauso mühelos in Ermahnungen kon-
servativer Gemeinden finden.
Andere Aspekte der Ratschläge Kimballs könnten natürlich
nicht so einfach eingeordnet werden. Dennoch bleibt die Tatsa-
che, dass ein erheblicher Teil seiner Ausführungen durchaus mit
vielen ernsthaften (und nicht nur reformierten) Wortmeldungen
innerhalb der traditionellen evangelikalen Bewegung in Einklang
gebracht werden kann. Dies deutet darauf hin, dass der »unter-
schwellig gemeinte Leser« seines Buches nicht einer eher tradi-
50
tionellen evangelikalen Gemeinde, sondern einer der sucherorien-
tierten Gemeinden angehört. Nach Kimballs Ansicht gehen sie au-
ßerdem mit der heutigen Kultur nicht konform und leiden unter
der Geißel des Modernismus. Überdies müssen wir Folgendes sa-
gen: Obwohl – wie wir gesehen haben – mehrere von Kimballs
Einzelvorschlägen im Blick auf den zukunftsweisenden Weg an
Einstellungen erinnern, die in Teilen der traditionellen evangeli-
kalen Bewegung eingenommen werden, ist seine Denkstruktur
aufs Ganze gesehen für die Postmoderne charakteristisch.
Dieses Anliegen, den Protest an mehreren Fronten zugleich
zu bekunden, ist in einem Dokument, das von einer Gemeinde
im Raum Chicago erstellt wurde, sehr deutlich zu erkennen. Die-
se Gemeinde will sich der Emerging-Church-Bewegung anschlie-
ßen. Bei ihrer Suche nach einem »leitenden Pastor« (niemand in
der Emerging-Church-Bewegung redet von einem »Hauptpas-
tor«) ermächtigte diese Gemeinde ein »Forward Development
Team« (frei übersetzt etwa »Gemeindeentwicklungsteam«), lang-
fristige Vorschläge für die gemeindliche Entwicklung zusammen
mit Richtlinien für die Einstellung neuer hauptamtlicher Mitarbei-
ter zu erarbeiten. Die drei Zielsetzungen der Gemeinde beginnen
im Englischen jeweils mit einem »C«: Veranstaltungen durchfüh-
ren (celebrating), Verbinden (connecting) und Verantwortung für
Nachwuchsmitarbeiter übernehmen (coaching). Der leitende Pas-
tor sollte die Kultur der Emerging Church klar verstehen und ent-
sprechende Erfahrungen sammeln.
Das Dokument enthält einschlägige Zitate von Dan Kimball
(dessen Werk ich gerade kurz dargestellt habe) und von anderen
Autoren.91 Es legt das Ziel, die völlig Gemeindedistanzierten zu
erreichen, auf hervorragende Weise dar. Aber für unsere Zielset-
zung ist es eine im Dokument vorgenommene Dreiteilung, die un-
ser Interesse an dieser Stelle auf sich zieht. Das Schriftstück un-
terscheidet zwischen traditionellen Evangelikalen, pragmatischen
Evangelikalen und Evangelikalen der Emerging Church.
91 Z.B. Robert Lewis und Rob Wilkins, The Church of Irresistible Influence (Grand
Rapids: Zondervan, 2001); Brian D. McLaren, The Church on the Other Side (Grand
Rapids: Zondervan, 2000).
51
Die traditionellen Evangelikalen sind »in ihrem Denken und
Dienstverständnis meist traditionsbewusst und ›modern‹. Dazu
gehören eine herkömmliche Bibelauslegung, geistliche Lieder
und ein gewisser Anteil an moderner Musik.« »Sie haben oft tra-
ditionelle Gebäude mit Kirchenbänken, Orgel, Kanzel und got-
tesdienstlichen Symbolen.« »Beispiele auf örtlicher Ebene finden
sich in der Moody Church, der Arlington Heights Evangelical Free
Church, der Harvest Bible Church oder der Trinity Evangelical
Divinity School.« »Diese werden bevorzugt von Menschen mit ge-
meindlichem Hintergrund besucht.«
Die pragmatischen Evangelikalen vertreten »in ihrem Den-
ken und Dienstverständnis zumeist Werte der geburtenstarken
Nachkriegsgeneration. Dazu gehören sucherorientierte Veranstal-
tungen, bis ins Letzte ausgefeilte Gottesdienste und die Betonung
der Tatsache, dass man Menschen dort abholen müsse, wo ihre
Nöte sind.« »Gemeindegebäude sehen eher wie Theater aus und
entbehren aller sichtbaren religiösen Symbole.« »Ein Beispiel auf
örtlicher Ebene ist die Willow Creek Community Church.« »Die-
ser Gemeindetyp wird vorzugsweise von Menschen aufgesucht,
welche die Werte der in der Nachkriegszeit geborenen Jahrgänge
vertreten.«
Im Gegensatz zu beiden Gruppen sind die zur Emerging
Church gehörenden Evangelikalen »in ihrem Denken und Dienst-
verständnis größtenteils nah am Puls unserer Zeit (Anmerkung
des Übersetzers: die zunehmend postmoderne Züge trägt). Dazu
zählen eine Betonung der Anbetung, sowohl traditionelle Lieder
als auch moderne Musik, aktive Mitarbeit, authentische Bezie-
hungen und Evangelisation in ihren Wohngegenden.« »Es gibt
Mehrzweckhallen, die oft als Gemeindezentren dienen, aber rasch
in Räume für Anbetungsgottesdienste umgewandelt werden kön-
nen, wo man Technik, Kunstobjekte und sogar Kerzen sowie litur-
gische Symbole nutzen kann, um ein Gespür für das Geheimnis-
volle und die entsprechende Ehrfurcht hervorzurufen.« »Es gibt
keine diesbezüglichen Beispiele im Raum Palatine (Stadt in Illinois,
im Nordwesten des Ballungsgebiets Chicago gelegen), obwohl die
Chapel im nördlichen Teil von Illinois und Axis (in Willow Creek)
52
dieses Konzept verfolgt. Aber es gibt eine schnell zunehmende
Zahl wachsender Gemeinden der Emerging Church in anderen
Landesteilen.« »Diese Gemeinden werden von Menschen bevor-
zugt, denen es auf Beziehungen, Gemeinschaft und Zurüstung an-
kommt und die auch einen Ort haben wollen, wo sie dienen sowie
Gottesdienste feiern können – allerdings in kleinerem Rahmen. Sie
sind scheinbar am besten geeignet, postmodern geprägte, der Kir-
che misstrauende Menschen zu erreichen.«92
Selbst wenn die Theoretiker der Emerging Church nicht spe-
ziell zwischen sucherorientierten Evangelikalen und eher tradi-
tionellen Evangelikalen unterscheiden, lassen die von ihnen dar-
gelegten Antithesen und Paradigmen erkennen, dass sie sich von
beiden distanzieren wollen. In seinem Buch Post-Modern Pilgrims
behauptet Leonard Sweet, dass der Dienst im 21. Jahrhundert mit
dem Dienst im 1. Jahrhundert mehr gemeinsam habe als mit der
modernen Welt, die überall um uns herum zusammenbreche.93
Zwar warnt uns Sweet davor, eine postmoderne Weltanschauung
zu übernehmen.94 Seine in vier Kapiteln erörterte Lösung besteht
jedoch darin, dass ein Dienst im 21. Jahrhundert auf Erfahrungen
beruhen (experiential), Beteiligung ermöglichen (participatory),
auf Bilder orientiert (image-driven) und gemeinschaftsfördernd
(connected) sein sollte. Im Englischen entsteht somit das Akrosti-
chon (ein sogenannter »Leistenvers«) EPIC, das in gewisser Weise
zu einem Mantra geworden ist.
Manchmal ist die Tatsache, dass man den Kontrast zwischen
Dienst in der Moderne und Dienst in der Postmoderne zu schablo-
nenhaft sieht, mit ziemlich erstaunlichen Extremen überfrachtet –
mit Extremen, welche die Reichweite des Protests erfassen. Sehen
wir uns beispielsweise die folgenden Kapitelüberschriften an, die
einem kürzlich erschienenen Buch entnommen sind:
53
(3) Kommunikation: Vom gedruckten Wort zur kulturbezo-
genen Vermittlung
(4) Geschichte: Von der Geschichtslosigkeit zur Tradition
(5) Theologie: Von der lehrsatzbezogenen Weitergabe zur Ver-
mittlung in erzählender Form
(6) Apologetik: Vom Rationalismus zur Verwirklichung christ-
licher Werte
(7) Lehre von der Gemeinde: Vom Unsichtbaren zum Sicht-
baren
(8) Gemeindeidentität: Von Marktstrategien zu missionalen
Zielen
(9) Pastoren: Von Machtstrukturen zur dienenden Leiter-
schaft
(10) Jugendmitarbeiter: Von der event- zur gebetsorientierten
Jugendarbeit
(11) Pädagogen: Von der Informationsvermittlung zum ganz-
heitlichen Lernen
(12) Geistliche Entwicklung: Von der Gesetzlichkeit zur Frei-
heit
(13) Lobpreisleiter: Vom Programm zu erzählerischen Ele-
menten
(14) Künstler: Von der Zurückhaltung zum Ausdruck
(15) Evangelisten: Von der Veranstaltungsevangelisation zur
vernetzten Beziehungsarbeit
(16) Aktivisten: Von der Theorie zur Aktion95
Kurz zusammengefasst: Ein Hauch von Protest ist in der Emer-
ging-Church-Bewegung überall zu finden. Er kann mithilfe drei-
er Leitlinien sinnvoll analysiert werden: Protest gegen das, was
als persönlich einengende konservative Einstellung in kultureller
Hinsicht wahrgenommen wird; Protest gegen die Moderne und
dagegen, wie Glieder moderner Gemeinden diese ausleben;
und Protest dagegen, wie die Moderne in sucherorientierten Ge-
meinden ihren Niederschlag findet.
95 Robert E. Webber, The Younger Evangelicals: Facing the Challenges of the New
World (Grand Rapids: Baker, 2002).
54
Wonach sollten wir fragen?
Ich kann die Emerging-Church-Bewegung hier nur kurz darstel-
len, während man viele weitere Bücher und Artikel nutzbringend
zusammenfassen könnte.96 Zumindest mit einigen von ihnen wer-
de ich mich in den folgenden Kapiteln befassen. Doch bevor wir
weitergehen, erweist es sich als hilfreich, Zwischenbilanz im Blick
darauf zu ziehen, was wir bisher kennengelernt haben, um dann
über die Fragen nachzudenken, die wir stellen sollten.
Auf diesen einleitenden Seiten ging es um die zusammen-
gefassten Lebensgeschichten mehrerer führender Vertreter der
Emerging-Church-Bewegung und um einen Überblick über einige
ihrer Veröffentlichungen. Dabei hebt sich ein Punkt ziemlich deut-
lich ab. Sagen wir es ganz prägnant: Es lohnt sich, die Emerging-
Church-Bewegung mit der Reformation zu vergleichen, denn dies
war immerhin eine weitere Bewegung, die für sich in Anspruch
nahm, die Kirche reformieren zu wollen. Die der Reformation zu-
grunde liegende Triebkraft war die von all ihren führenden Per-
sönlichkeiten geteilte Überzeugung, dass die römisch-katholische
Kirche von der Heiligen Schrift abgewichen war und theologische
Anschauungen sowie Praktiken eingeführt hatte, die dem wah-
96 Neben den bereits erwähnten Büchern siehe u.a. Spencer Burke (mit Colleen
Pepper als Koautorin), Making Sense of Church: Eavesdropping on Emerging Conver-
sations about God, Community, and Culture (El Cajon: emergentYS/Grand Rapids:
Zondervan, 2003); Brian D. McLaren, More Ready Than You Realize: Evangelism as
Dance in the Postmodern Matrix (Grand Rapids: Zondervan, 2002); Joseph R. Myers,
The Search to Belong: Rethinking Intimacy, Community, and Small Groups (El Cajon:
emergentYS/Grand Rapids: Zondervan, 2003). Es gibt darüber hinaus eine gan-
ze Anzahl von Büchern über postmoderne Theologie, die sich mit der eher prag-
matisch orientierten Literatur der eigentlichen Emerging-Church-Bewegung über-
schneiden. Manchmal werden diese innerhalb einer Tradition geschrieben, die eine
gewisse Verbindung zum kirchengeschichtlich allgemein anerkannten Glaubens-
gut zu wahren sucht. Mitunter ist dies jedoch nicht der Fall. Zu den Werken dieser
Sachgebiete, die lesenwert sind, gehören: Robert C. Greer, Mapping Postmodernism:
A Survey of Christian Options (Downers Grove: InterVarsity Press, 2000); Stanley
J. Grenz, Renewing the Center: Evangelical Theology in a Post-Theological Era (Grand
Rapids: Baker, 2000); David J. Lose, Confessing Jesus Christ: Preaching in a Postmodern
World (Grand Rapids: Eerdmans, 2003); John W. Riggs, Postmodern Christianity:
Doing Theology in the Contemporary World (Harrisburg: Trinity Press International,
2003); Kevin J. Vanhoozer, Hrsg., The Cambridge Companion to Postmodern Theology
(Cambridge: Cambridge University Press, 2003).
55
ren christlichen Glauben abträglich waren. Mit anderen Worten:
Die Reformatoren wollten Änderungen herbeiführen – und zwar
nicht, weil sie feststellten, dass neue Entwicklungen im kulturellen
Bereich stattgefunden hatten, sodass die Kirche berufen war, ihre
Einstellung gegenüber dem neuen kulturellen Erscheinungsbild
anzupassen. Vielmehr nahmen sie wahr, dass sich in der Kirche
neue theologische Standpunkte und Praktiken entwickelt hatten,
die der Schrift zuwiderliefen. Deshalb mussten die bestehenden
Verhältnisse auf der Grundlage des Wortes Gottes reformiert wer-
den. Im Gegensatz dazu steht die Emerging-Church-Bewegung:
Sie sagt zwar einigen der Glaubensüberzeugungen und Praktiken
des Evangelikalismus auf biblischer Grundlage den Kampf an, be-
steht aber im Großen und Ganzen darauf, dass sie den traditio-
nellen Konfessionalismus erhalten wolle. Gleichzeitig möchte sie
die Schwerpunkte anders setzen, weil sich die Kultur geändert
habe. Daher sähen diejenigen, die kulturell sensibel seien, die Din-
ge zwangsläufig aus einer neuen Perspektive.97 Mit anderen Wor-
56
ten: Das Herzstück der neu aufbrechenden Reformation liegt dar-
in, dass man eine wichtige kulturelle Veränderung wahrnimmt.
Dies soll nicht heißen, dass sich die Emerging-Church-Bewe-
gung im Irrtum befindet. Vielmehr soll damit dreierlei ausgesagt
werden:
Erstens: Die Emerging-Church-Bewegung muss danach bewer-
tet werden, wie sie die Gegenwartskultur beurteilt. Die meisten ih-
rer Reformforderungen sind eng mit ihrem Verständnis der Post-
moderne verknüpft. Trotz der Schwierigkeit der entsprechenden
Aufgabe (angesichts der Fülle von Einstellungen gegenüber der
Postmoderne) bleibt uns ein solcher Versuch nicht erspart.
Zweitens: Wie die Leser anhand des in diesem Kapitel gege-
benen Überblicks bereits festgestellt haben, kann man die Bezug-
nahmen auf die Schrift in der Literatur der Emerging Church im
Allgemeinen zwei Kategorien zuordnen: Einerseits behaupten ei-
nige führende Vertreter der Emerging Church, dass in sich wan-
delnden Zeiten neue Fragen an die Schrift gestellt und darauf
neue Antworten gegeben werden müssten. Was als angemessener
Gebrauch der Schrift in der Moderne galt, ist in der Postmoder-
ne einer anderen Schriftanwendung gewichen. Wer die Geschich-
te der evangelikalen Bewegung wohlwollender versteht, beschul-
che Antwort begehren, so will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne hat,
dermaßen: Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder helle Gründe [(Anmerkung
des Übersetzers: »vernünftige Gründe« bzw. »klare Vernunftsgründe« nach an-
deren Quellen). Beachten wir: Dies ist eine Bezugnahme auf die Vernunft in vor-
aufklärerischer Zeit.)] würde überwunden werden (denn ich glaube weder dem
Papst noch den Konzilien allein, weil feststeht, dass sie öfter … sich selbst wider-
sprochen haben), so (ist) … mein Gewissen gefangen in Gottes Worten; widerrufen
kann ich nichts und will ich nichts, weil wider das Gewissen zu handeln beschwer-
lich, unsicher und nicht lauter ist … Gott helfe mir, Amen« (siehe Roland Bainton:
Here I Stand: A Life of Martin Luther [Nashville: Abingdon, 1950], S. 183; der deut-
sche Text ist online abrufbar unter http://www.specialtyinterests.net/luthersworte.
html.). Vgl. Mark D. Thompson, A Sure Ground on Which to Stand: The Relation of
Authority and Interpretive Method in Luther’s Approach to Scripture (Carlisle: Pater-
noster, 2004). Ähnliche Sachverhalte kann man im Leben von Johannes Calvin, Ul-
rich Zwingli und anderer führender Reformatoren mühelos darlegen. Damit soll
nicht gesagt werden, dass die Führer der Reformation alles richtig verstanden ha-
ben. Vielmehr will ich lediglich darauf verweisen, dass sich die grundlegende Pro-
blemanalyse und der wichtigste Lösungsansatz in der Reformationszeit von den-
jenigen Veränderungen, die von der Emerging-Church-Bewegung gefordert wer-
den, erheblich unterscheiden.
57
digt traditionelle Evangelikale nicht, schwerwiegende Fehler in
ihrer Zeit begangen zu haben. Vielmehr sagt er damit lediglich,
dass sie nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind – nicht zuletzt in
ihrem Umgang mit der Bibel. Andererseits kritisiert die Emerging
Church die Moderne und die evangelikale Bewegung, die in die-
sem zeitgeschichtlichen Umfeld entstanden ist, mitunter (nicht
immer) überaus scharf. Dies kann dazu führen, dass der Umgang
des Evangelikalismus mit der Schrift mit verletzenden Worten ins
Lächerliche gezogen wird. (Erinnern wir uns z.B. daran, wie Spen-
cer Burke mit dem Mahl des Herrn in 1. Korinther 11 umging.)
Damit soll nicht angedeutet werden, dass dies für alle Pastoren
der Emerging Church gilt.
Drittens: Die Emerging-Church-Bewegung wird dadurch mo-
tiviert, dass sie weitreichende kulturelle Veränderungen wahr-
nimmt. Angesichts dessen sollte man ihre eigenen Vorschläge für
den zukunftsweisenden Weg anhand ihrer Treue zur Bibel ein-
schätzen. Mit anderen Worten: Wir müssen nicht nur versuchen
zu beurteilen, inwieweit die Emerging Church unsere Kultur ge-
nau analysiert, sondern auch abwägen, inwieweit ihre Vorschlä-
ge der Schrift entstammen oder zumindest damit in Einklang ge-
bracht werden können. Stellen wir die Angelegenheit anders dar:
Gibt es zumindest eine gewisse Gefahr, dass man weniger eine
neue Art des Christseins in einer neu entstehenden Kirche be-
fürwortet, als vielmehr eine Kirche schaffen will, die sich derart
stark mit der Kultur identifiziert, dass sie riskiert, in hoffnungs-
lose Kompromisse abzugleiten?
Schon allein diese Frage zu stellen, werden einige bestenfalls
als Unverschämtheit und schlimmstenfalls als abgegriffene Beru-
fung auf eine überholte Gemeindepraxis auffassen. Beides wäre
meiner Meinung nach verfehlt. Die meisten Bewegungen enthal-
ten sowohl positive als auch negative Aspekte, wobei das nächs-
te Kapitel einige der Sachverhalte hervorhebt, die meiner Ansicht
nach in der Emerging-Church-Bewegung ermutigend und hilf-
reich sind. Wenn die vier folgenden Kapitel etwas kritischer sind,
dann teilweise deshalb, weil sich meine »Herangehensweise« an
die moderne Kultur von derjenigen der Emerging-Church-Vertre-
58
ter ein wenig unterscheidet. Teilweise liegt es auch daran, dass die
meiner Auffassung nach notwendigen Lösungen weithin anders
sind als ihre Lösungsansätze. Außerdem bin ich darüber besorgt,
dass sie sich (unwissentlich) von der Schrift entfernen. Schließlich
kommt mir das Emerging-Church-Konzept wie die Bewegung
eines schwingenden Pendels vor, bei der das Gesetz der unbeab-
sichtigten Folgen großen Schaden anrichten kann, bevor das Pen-
del in die Ruhestellung gelangt.
Doch zunächst einige Sachverhalte, für die wir dankbar sein
können.
59
Stärken der Emerging Church im
Beurteilen unserer Zeit
60
sucht nach »der guten alten Zeit« (häufig eine verdeckte Forde-
rung nach rückschrittlichem Konservativismus in Verbindung mit
intellektueller Trägheit) ist keine Antwort. Obwohl es natürlich
wichtige Sachverhalte gibt, die bewahrenswert sind, treten auch
Veränderungen auf, die wir – ob nun mit guten oder schlechten
Auswirkungen – nicht aufhalten können. Wir sind genauso we-
nig imstande, etwas dagegen auszurichten, wie sich der Kanute
gegen die hereinbrechende Flut stemmen kann. Diese Verände-
rungen müssen wir nicht nur verstehen, sondern auch auf dem
Hintergrund der biblischen Aussagen, im Blick auf das Evange-
lium und im Kontext des Wesens christlicher Jüngerschaft deu-
ten. Die Emerging-Church-Bewegung reagiert auf diese Verände-
rungen und versucht, deren Folgen zu durchdenken.
Das sollte für uns nicht bedrohlich sein. Sogar innerhalb der
Christen der ersten Generation war die Gemeinde emergent (wie-
der dieses Wort): Sie entwickelte sich von einer in Jerusalem wur-
zelnden jüdischen Gemeinschaft zu einer im gesamten Römischen
Reich und darüber hinaus verbreiteten Bewegung, die sich aus
Juden und Heiden zusammensetzte. Natürlich waren einige der
Veränderungen, die solch eine Ausdehnung mit sich brachte, ein-
zigartig. Im Grunde genommen verschob sich der Schwerpunkt
nicht nur von einer jüdisch-christlichen zu einer gemischtrassigen
Prägung, sondern auch von einem Schriftkanon (den wir als Altes
Testament bezeichnen) zu einer neuen Offenbarung, die mit dem
Kommen, dem Dienst, dem Tod, der Auferstehung und der Him-
melfahrt des Herrn Jesus verbunden ist. Dazu gehören auch die
Bücher, die ihn anfänglich bezeugten (als Gesamtwerk unter dem
Namen »Neues Testament« bekannt). Die Arten kultureller Ver-
änderungen, den wir uns heute gegenübersehen, mögen schnell
und weitreichend sein. Im Großen und Ganzen behaupten Chris-
ten nicht, neue Offenbarungen empfangen zu haben, die eine Re-
vision oder Neubewertung früherer Offenbarungen erzwingen
würden. Aus diesem Grund sind die Veränderungen in der neu-
testamentlichen Zeit einzigartig.
Dennoch bedeutet dies nicht, dass es keine Lektionen hin-
sichtlich kultureller Veränderungen gibt, die uns das Neue Testa-
61
ment vermittelt. Wenn der Apostel Paulus als Evangelist in einer
jüdischen Synagoge im pisidischen Antiochia predigt (Apostel-
geschichte 13), dann hört sich dies ganz anders an als seine evan-
gelistische Verkündigung, die er vor intellektuell gebildeten Hei-
den in Athen hält (Apostelgeschichte 17,16-34). Im Falle der zuerst
genannten Gruppe setzt der Apostel voraus, dass seine Zuhörer
mit der alttestamentlichen Geschichte vertraut sind und ihr glau-
ben: Ihr zufolge gibt es einen Gott, der alles geschaffen hat, wäh-
rend der Sündenfall die Menschheit danach in Sünde und Unter-
gang stürzte. Später erfolgte Gottes souveräner Ruf an Abraham
und Sara, die Stammeltern des Volkes Israel. Als die Zeit erfüllt
war, offenbarte Gott Mose das Gesetz auf dem Berg Sinai. Fortan
gab es immer häufigere und konkretere Verheißungen Gottes hin-
sichtlich eines kommenden Erlösers, eines »Messias« (eines »Ge-
salbten«) usw. All dies bewegt sich auf bekanntem Boden, sodass
Paulus den größten Teil seiner Verkündigung dem Nachweis wid-
met, dass Jesus wirklich der verheißene Messias ist. Wenn er je-
doch mit bibelunkundigen Heiden zu tun hat (unabhängig da-
von, wie intellektuell begabt sie sind), befindet sich der Apostel
in einer Stellung, in der er mit seiner Botschaft viel früher anset-
zen muss, wenn er verständlich darlegen will, wer Jesus ist. Er be-
ginnt mit der Tatsache, dass es nur einen Gott gibt und dass die-
ser der Schöpfer aller Dinge ist. Er ist nicht auf seine Schöpfung
angewiesen, während seine gesamte Schöpfung fortwährend von
ihm abhängig ist. Außerdem betont Paulus, dass Gott nicht nur
eine Stammesgottheit ist. Ferner muss Paulus den Begriff Sünde
erläutern, wobei er in seiner Erklärung bei der Götterverehrung
anknüpft.
Natürlich haben viele Autoren diese und andere Unterschiede
zwischen den beiden evangelistischen Reden dargelegt.98 Genau
genommen stellen die verschiedenen Kulturen (die von den Syna-
gogenvorstehern im pisidischen Antiochia und den Philosophen
auf dem Areshügel in Athen verkörperten Kulturen) keine Ver-
98 Mein eigener diesbezüglicher Essay findet sich in D.A. Carson, »Athens Re-
visited«, in Telling the Truth: Evangelizing Postmoderns, Hrsg. D.A. Carson (Grand
Rapids: Zondervan, 2000), S. 384-398.
62
änderung in einer Kultur dar, sondern sind vielmehr Ausdruck
der Unterschiede, die ein Mensch (nämlich der Apostel Paulus)
erlebt, während er von Ort zu Ort zieht. Dem kommt heute mei-
ner Ansicht nach derjenige Christ (oft ein Missionar) am nächsten,
der Kulturgrenzen überschreitet und viel dazulernen muss, um
das Evangelium auf ausgewogene und wirksame Weise innerhalb
der neuen Kultur darbieten zu können. Als Merkmal, das uns al-
len heute begegnet, kommt hinzu, wie schnell der Wandel vor sich
geht: Kulturelle Veränderungen laufen in einem bestimmten Um-
feld mitunter so rasch ab, dass die dort lebenden Menschen das
gleiche Gefühl der Entwurzelung wie der Missionar erleben, der
von einer Kultur in die andere überwechselt. Heutzutage bleiben
wir zu Hause, aber unsere eigene Kultur verändert sich.
Der Apostel verstand also, dass sein Kulturgrenzen über-
schreitendes Wirken Auswirkungen im Blick darauf hatte, wie die
Herangehensweise bei seiner Verkündigung aussehen musste
(selbst wenn er fortwährend entschlossen war, Christus als Ge-
kreuzigten zu predigen, 1. Korinther 2,1-5). Umsichtige Missio-
nare lernen die gleiche Lektion, wenn sie Kulturgrenzen über-
schreiten. Diese Beispiele müssen für die Glieder der Gemeinde
Gottes maßgebend sein, wenn sie zu Hause bleiben und sich die
Kultur, in der sie verwurzelt sind, ändert. Dies ist ein Sachverhalt,
der in der Emerging-Church-Bewegung verstanden wird.
Wir haben nicht immer verstanden, wie intensiv die Kultur, in
der wir verwurzelt sind, unser Verständnis und unsere Einstellung
prägt. Anderenorts habe ich einmal erwähnt, dass in meinem Büro
in der Trinity Evangelical Divinity School die bekannten Worte von
C.S. Lewis über Aslan hängen. Die entsprechende Stickerei meiner
Frau hat einen schönen Rahmen erhalten und ziert nun meine Bü-
rowand. Darauf ist zu lesen: »Er ist kein zahmer Löwe.« Eines Ta-
ges saß ein Koreaner, der kurz zuvor angekommen war, erstma-
lig in meinem Büro, um sich bei seinem Erstkontakt mit unserem
Fachbereich für unser Doktorandenprogramm anzumelden. Da-
bei konnte ich sehen, wie sein Blick von meinem Gesicht zu dem
Wandbehang hinaufhuschte, der sich hinter mir befand, und dann
zu meinem Gesicht zurückschweifte. Plötzlich wurde mir be-
63
wusst, dass zwar die meisten unserer europäischen und ameri-
kanischen Studenten das Zitat und dessen Quelle erkennen wür-
den, man aber von diesem Koreaner verständlicherweise natürlich
nicht erwarten konnte, dass er mit Literatur aus dem englischspra-
chigen Raum vertraut war. Ich habe mich gefragt, was er wohl da-
von halten würde, ohne meine Hilfe anzubieten. Also führten wir
einfach unser Gespräch über Doktorandenseminare und derglei-
chen fort. Schließlich nahm er seinen Mut zusammen, indem er
auf den Wandbehang mit den Worten »Er ist kein zahmer Löwe«
wies und mich direkt fragte: »Sind Sie darauf zu sehen?« Und na-
türlich kam mir schlagartig in den Sinn, dass er als Koreaner von
einer konfuzianischen Bildungsauffassung geprägt war: Der Leh-
rer befand sich dort weit oben, der Student dagegen weit unten in
der Hierarchie. Aufgrund der Unterschiede in Bezug auf unseren
jeweiligen kulturellen Hintergrund deuteten wir beide diese fünf
Worte von C.S. Lewis auf ganz unterschiedliche Weise.
Oder sehen wir uns den folgenden Witz an:
Etliche Schachbegeisterte hatten sich als Gruppe gerade in
einem Hotel angemeldet, standen im Foyer und sprachen über
ihre jüngsten Turniererfolge. Nach ungefähr einer Stunde kam der
Hotelmanager aus seinem Büro und bat sie, auseinanderzugehen.
»Aber warum denn?«, fragten sie beim Hinausgehen.
»Weil ich«, sagte er, »es nicht ertragen kann, wenn Chess Nuts
in einem offenen Foyer herumstehen und mit ihren Erfolgen prah-
len« (Anmerkung des Übersetzers: Bei Chess-Nuts« handelt es sich
um die Bezeichnung eines 1932 gedrehten Kurzfilms über zwei
Schachspieler [Regisseur: Dave Fleischer]. Chess-Nuts erscheint
manchmal in einem Wortspiel mit »chestnuts« [Kastanien], wo-
bei hier ein längeres Wortspiel vorliegt: »Chess nuts boasting in an
open foyer« erinnert an »Chestnuts roasting in an open fire« – an
»Kastanien, die in einem offenen Feuer rösten«. Man denke auch
an unsere deutsche Redewendung »die Kastanien aus dem Feuer
holen«, deren Ursprung auf geröstete Kastanien in einer Fabel von
La Fontaine zurückgeht.).
Stellen Sie sich vor, wie schwierig es für Sie wäre, wenn Sie
versuchen wollten, einem Menschen außerhalb der englischspra-
64
chigen Welt diese Geschichte zu erklären. Der Betreffende mag
zwar als Zweitsprache einigermaßen fließend Englisch sprechen,
ist aber mit der US-amerikanischen Popmusik und mit den ihm
unverständlichen Pointen vielschichtiger englischer Wortspiele
kaum vertraut.
Um die Angelegenheit anders auszudrücken: Um spezielle
Gesprächsformen verstehen zu können, reichen oberflächliche
Kenntnisse in derjenigen Sprache, in der das Gespräch geführt
wird, nicht aus. Man muss vielmehr neben der Sprache selbst
auch die Kultur, in der die betreffende Sprache verwurzelt ist,
in gewisser Weise verstehen. Diejenigen, die mit der Emerging-
Church-Bewegung in Verbindung stehen, versuchen, unsere sich
wandelnde Zeit zu verstehen. Danach wollen sie die notwendigen
Anpassungen vornehmen, um imstande zu sein, das Evangelium
einer Kultur vermitteln zu können, die in erheblichem Maße eine
neue Kultur darstellt. Das postmoderne Ethos tendiert dazu, ge-
gen absolute Sachverhalte gerichtet, Wahrheitsbehauptungen ge-
genüber misstrauisch und für den Relativismus sehr aufgeschlos-
sen zu sein. Es neigt dazu, Ansätze des »Heilwerdens« auf spiri-
tuellem Gebiet zu übernehmen – ob nun trotz oder vielleicht ge-
rade wegen des Individualismus westlicher Tradition – und steht
oft im Bannkreis gemeinschaftlicher Ganzheitlichkeit. Natür-
lich werden oft auch andere Elemente der Gegenwartskultur von
führenden Persönlichkeiten der Emerging Church in den Mittel-
punkt gestellt. Ich habe nur ein paar allgemeine und für sich ste-
hende Merkmale angeführt.99 Mir geht es nämlich um Folgendes:
Unabhängig davon, wie jemand die Gegenwartskultur analysiert,
99 Ich will ein weiteres Werk anführen: Ein kürzlich durchgeführtes D.Min.-
Projekt (Anmerkung des Übersetzers: Projekt für diejenigen, die den akademi-
schen Titel eines »Doctor of Ministry« erwerben wollen. Ein solcher Doktoran-
dentitel wird oft an Mitarbeiter in gemeindlicher Führungsverantwortung verlie-
hen und umfasst häufig den Bereich der angewandten Theologie [z.B. Missiologie,
Evangelisation, Pastoralpsychologie, Gemeindewachstum, Homiletik usw.].) arbei-
tete mit Gymnasiasten in einem bedeutenden Großstadtvorort als Probanden. Es
schlussfolgert, dass sie mit visuellen Hilfsmitteln lernen, erfahrungsorientiert sind,
bedeutungsvolle Beziehungen haben wollen und außerordentlich tolerant gegen-
über anderen sind. Siehe Richard P. Wager, »Hearing with Their Eyes and Seeing
with Their Hearts: Ministry to the Senior High Bridger Generation« (D.Min.-Pro-
jekt, Trinity Evangelical Divinity School, 2001).
65
räumen praktisch alle Beteiligten ein, dass sie sich schnell wan-
delt. Angesichts dieser Realität ist es sicher genauso empfehlens-
wert, die sich wandelnde Kultur als unser Lebensumfeld zu ver-
stehen und angemessene Veränderungen vorzunehmen, wie dies
Missionare tun, die nach der Ankunft in einer neuen Kultur diese
verstehen wollen. Auch Paulus verstand die kulturellen Verände-
rungen, als er verschiedene Schauplätze im gesamten römischen
Reich bereiste. Zweifellos ist diese Haltung weitaus empfehlens-
werter als eine konservative Einstellung gegenüber der Kultur, die
so tut, als sei die Kultur, mit der wir uns am stärksten identifizie-
ren (gewöhnlich diejenige, in der wir aufgewachsen sind), die ein-
zige, die für denkende Christen infrage kommt (und vielleicht so-
gar die einzige gottgewollte).
66
und empfinden: »Wir sind gewiss dem lebendigen Gott begeg-
net!« Wir fangen an, gewohnheitsmäßig Veranstaltungen zu besu-
chen, oder weil es angemessen ist, dies zu tun – vielleicht auch,
weil wir wissen, dass die Gnadenmittel bedeutsam sind. Dies ge-
schieht jedoch nicht deshalb, weil es uns ein Herzensanliegen ist,
mit den anderen Gotteskindern zusammen zu sein und uns von
Gottes Wort nähren zu lassen. In Predigten kommen zig Klischees
vor. Uns fehlt weitgehend die Bekennerkraft, die Freude über die
Sündenvergebung, die Freude am Evangelium, die Dringlichkeit
beim Evangelisieren, das Gespür für unsere Vorrechte, die Dank-
barkeit beim Zeugnis sowie die Leidenschaft im Einsatz für die
Wahrheit, das Mitgefühl für andere, die Demut in unseren Be-
urteilungen, die Liebe in unserem Umgang mit anderen. Eine der-
artige mangelnde Authentizität zu entlarven, ist etwas Gutes. Ein
starkes Verlangen nach Echtheit in unserem ganzen Sein, nicht zu-
letzt in unserem Leben mit Gott und mit anderen Christen, zahlt
sich ebenfalls aus.
Auch ist es nicht nur eine Frage im Blick darauf, was wir von der
Gemeinde halten. Tatsache ist, dass die neue, heranwachsende Ge-
neration eine geringere gemeindliche Bindung als früher hat. Dar-
aus ergibt sich ein sehr geringes Pflichtbewusstsein bzw. Pflicht-
gefühl hinsichtlich des weiteren Besuchs gemeindlicher Zusam-
menkünfte, solange kein brennendes Verlangen für die gemeind-
lichen Anliegen entfacht wird. Dies ist das Thema einiger kürzlich
erschienener Bücher, die von vielen gelesen werden sollten. Ob-
wohl »Vorkämpfer der reinen Lehre« bei diesem oder jenem theo-
logischen Aspekt die Stirn runzeln mögen, vermitteln diese Bücher
etwas, das man zur Kenntnis nehmen sollte. »Führt euren Wandel
unter den Nationen gut«, schreibt der Apostel Petrus, »damit sie,
worin sie gegen euch als Übeltäter reden, aus den guten Werken,
die sie anschauen, Gott verherrlichen am Tage der Heimsuchung«
(1. Petrus 2,12). Das Thema eines dieser Bücher besteht darin, dass
Gemeinden in gewisser Hinsicht bewusst provokativ auftreten
sollten, um in Menschen ein Verlangen nach Gott zu wecken.100
67
»Eines der Hauptthemen dieses Buches befasst sich mit Fol-
gendem: Solange es im Blick auf Gemeinde, Christen oder
christlichen Glauben nichts gibt, das fasziniert, provoziert oder
lockt, wird alle Evangelisation in der Welt auf taube Ohren sto-
ßen. Wenn Gemeinden keinen »Realitätssinn« vermitteln kön-
nen, dann zählt unsere ganze ›Wahrheit‹ gar nichts … Gemein-
den müssen provokativ werden, indem sie Orte in Beschlag
nehmen, die den Suchenden, den zufälligen Besucher veranlas-
sen wiederzukommen, um mehr zu erfahren.«101
68
ßen – in der Kultur – stattfinden, aber nicht in uns vor sich gehen.
Kurz gesagt: Viele Christen haben sich noch nicht ernsthaft mit
der Tatsache beschäftigt, dass wir selbst Teil dieser sich rasch wan-
delnden Kultur sind und nicht verhindern können, dass wir von
ihr beeinflusst werden.
Indem wir den Bibeltext lesen und die Kultur verstehen, sind
wir selbst sozial verortet. Die aus postmoderner Hermeneutik ge-
speisten radikaleren Formen der Rezeptionstheorie (auch als »Re-
zeptionsästhetik« oder »Wirkungsästhetik« bezeichnet) betonen
nachdrücklich, dass die soziale Verortung der Leser der alleinige,
bedeutsamste Faktor ist, wenn es darum geht, deren Schlussfol-
gerungen während des Lesens zu bestimmen. Derart Eingestellte
vertreten die Meinung, dass jede Interpretation – ob eine Textaus-
legung oder eine kulturelle Deutung – mehr über die gesellschaft-
liche Verortung der Leser als über den Text oder die Kultur aus-
sagt. Meine Kritik an dieser ziemlich extremen Einstellung folgt
umgehend, und zwar in Kapitel 4 und 5 dieses Buches. Das Be-
harren der Postmoderne darauf, dass die Leser selbst sozial ver-
ortet sind und dass diese soziale Verortung zur Art und Weise der
entsprechenden Auslegungen mit beiträgt, zeugt dennoch von ei-
ner gewissen Einsicht. Es gibt – wie wir sehen werden – Möglich-
keiten, mit denen dieser Beitrag vermindert bzw. unter Kontrolle
gehalten oder sogar nutzbar gemacht werden kann. Es ist jedoch
nicht möglich, ihn völlig auszuklammern. Wir sind begrenzte We-
sen, wobei unser Wissen stets unvollständig ist. Selbst die Tatsa-
che, dass ich dies auf Englisch schreibe und Sie die deutsche Über-
setzung lesen, verrät einen kleinen Teil unserer sozialen Verortung.
Wir sprechen/schreiben in unserer jeweiligen Landessprache, wo-
bei die Sprache zu unserem kulturellen Hintergrund gehört.
Es gibt natürlich einen Aspekt, den diese Beobachtung mit
sich bringt: Er besteht darin, dass wir der objektiven Wahrheit
des Textes wahrscheinlich dann am nächsten kommen, wenn wir
Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschie-
denen sozialen Milieus ermutigen, ihre Beiträge zu geben, wenn
die Textbedeutung erörtert wird. Indem wir unser jeweiliges Um-
feld und unsere verschiedenen Grundannahmen in den Text hin-
69
eintragen, ist es eher möglich, dass jede einzelne Gruppe dasjeni-
ge erkennt, was sie hermeneutisch immer wieder übersehen hat.102
Dies bedeutet nicht, dass alle Lesarten gleichermaßen berechtigt
sind – ein Standpunkt, den der radikale Flügel des Postmodernis-
mus mit Nachdruck darlegt (ein Punkt, auf den ich ebenfalls zu-
rückkommen werde). Es bedeutet aber, dass all unsere Auslegung
von Sachverhalten innerhalb eines besonderen Rahmens erfolgt.
Führende Persönlichkeiten in der Emerging-Church-Bewegung
gehören zu denjenigen, die diesen Punkt mit Recht wahrnehmen
und sich immer wieder darauf berufen. Obwohl ihre Bezugnahme
auf die soziale Verortung aller Erkenntnisansprüche einige Risiken
mit sich bringt, vermeiden sie es dennoch, in eine hermeneutische
Falle zu tappen: Sie sind nämlich nicht der Meinung, dass ihr ei-
genes Verständnis dieses oder jenes biblischen Sachverhalts unbe-
dingt mit der ewigen Wahrheit verknüpft ist, nur weil dies nach
ihrem Verständnis die entsprechende biblische Aussage ist.
102 Diese Frage ist in der Literatur ausführlich diskutiert worden. Dabei geht
es um das, was Kevin Vanhoozer gefälligerweise als »pfingstliche Pluralität« be-
zeichnet. »Diese behauptet, dass man der einen wahren Auslegung immer dann am näch-
sten kommt, wenn eine Vielfalt besonderer Methoden und Lesezusammenhänge berücksicht
wird. Das Wort bleibt der Auslegungsmaßstab, wobei keine Kultur bzw. kein Aus-
legungsschema seine Bedeutung, geschweige denn seinen tieferen Sinn, erschöp-
fend erschließen kann« (Is There a Meaning in This Text? [Grand Rapids: Zondervan,
1998], S. 419, Hervorhebung im Original).
103 Siehe S. 13-23.
104 Siehe S. 31-32.
105 Siehe S. 27-30.
70
Dieser Aspekt ist viel umfassender als die entsprechenden Ver-
suche einiger Einzelpersonen innerhalb der Bewegung. Er um-
schließt einen Sachverhalt, welcher der Bewegung eigen ist. Wenn
solche Leute aus den ihrer Meinung nach »frommen Kreisen« des
traditionellen Evangelikalismus ausbrechen wollen, ist ihre Trieb-
kraft zumindest teilweise im evangelistischen Anliegen zu suchen
– insbesondere in den Evangelisationsbemühungen in einer neuen
Generation Heranwachsender, die von postmodernen Annahmen
geprägt werden. Aufgrund dieser postmodernen Annahmen ha-
ben viele unserer Zeitgenossen den Eindruck, dass ihnen die Ge-
meindekultur der traditionellen evangelikalen Bewegung völlig
fremd ist. Dies sind gerade diejenigen Menschen, an die sich die
Emerging-Church-Bewegung besonders wendet.
Diese Stärke lässt sich leicht dokumentieren. Dan Kimball be-
schäftigt sich, wie wir gesehen haben, damit, biblische Begriffe
zu erklären, die sonst vielen unserer Zeitgenossen unverständ-
lich sind. Er setzt sich leidenschaftlich dafür ein, dass die gottes-
dienstlichen Zusammenkünfte authentisch werden.106 Die von
mir erwähnte Gemeinde im Raum Chicago bietet einen durchaus
weitverbreiteten Bevölkerungsquerschnitt an, der aus drei Grup-
pen besteht: Die erste Gruppe umfasst Christen, die sich im Blick
auf all das Drum und Dran traditioneller christlicher Gemein-
den wohlfühlen; zur zweiten Gruppe gehören Menschen, die be-
reits einen gewissen Kontakt zu Christen gehabt haben, sodass
ihre Entfremdung gegenüber dem traditionellen christlichen Bei-
werk nicht zu groß ist, auch wenn sie selbst keine Christen sind.
Zur dritten Gruppe zählen diejenigen, die überhaupt keine Bibel-
kenntnisse besitzen und daher das herkömmliche Christentum
bestenfalls als eigenartig und schlimmstenfalls als ziemlich anstö-
ßig empfinden. Diese dritte Gruppe ist es, die am meisten evan-
gelisiert werden muss. Brian McLaren hat ein Buch geschrieben,
um die Evangelisation unter Angehörigen dieser Gruppe voranzu-
treiben.107
71
In gewisser Hinsicht erinnert dies an die Bewegung der Je-
sus People im Amerika der späten 60er- und der 70er-Jahre. Nur
sehr wenige traditionelle Gemeinden erreichten im großen Stil die
Zehntausende von Hippies mit dem Evangelium, die in die Städ-
te insbesondere an der Westküste strömten und in Kommunen
lebten. Diese Lebensweise stellte gleichzeitig einen Protest gegen
einige der Trends in der Mehrheitskultur und eine schier endlose
Party mit Sex und Drogen dar. Plötzlich gab es Tausende von Be-
kehrten, die sich den Jesus People anschließen wollten, aber (zu-
mindest anfangs) weiterhin in Kommunen lebten. Allerdings rie-
fen sie Menschen zum Glauben an Jesus, studierten die Bibel und
bestanden auf Heiligkeit und Disziplin. Die Bewegung zerfiel
zwangsläufig in verschiedene Strömungen. Ein Teil der Anhän-
ger wurde von exzentrischen Selbstdarstellern geführt, die großen
Schaden anrichteten und dann gewissermaßen ausbrannten. Ein
anderer Teil glitt ins Sektiererische ab und verlor jegliche geist-
liche Substanz. Doch vieles von dem, was in der Bewegung ge-
schah, war geistgewirkt. Die Bekehrungen waren echt, wobei die
Jesus-People-Bewegung nun selbst jene Gemeinschaft wurde, mit-
tels derer sich viele Menschen im Laufe der Zeit noch stärker in
den geschichtlich überlieferten christlichen Glauben einbinden lie-
ßen. So mancher Pastor, der diese Zeilen liest, hat sich durch das
Zeugnis der Jesus People bekehrt.
Ebenso erinnert die Emerging-Church-Bewegung in gewisser
Hinsicht an die frühen Jahre der sucherorientierten Bewegung.
Diese versuchte, Vorstadtbewohner zu erreichen, die sich hinsicht-
lich der Interessen, der Sprache und der Lebensgewohnheiten vom
traditionellen Christentum weithin entfernt hatten. Auch hier ist es
leicht, Fehlentwicklungen anzuführen: Gemeindespaltungen, zu
formelhafte Ansätze, Formen von Götzendienst (»Das Evangelium
muss fortwährend mir und meinen wahrgenommenen Bedürfnis-
sen dienen!«). Man kann aber auch Zehntausende von Männern
und Frauen finden, die unter dem Einfluss der sucherorientierten
Bewegung zum Glauben kamen.
Aufgrund dieser durchwachsenen Ergebnisse muss sich einer-
seits jede derartige Bewegung einer gründlichen Beurteilung un-
72
terziehen lassen. Andererseits dürfen sie nicht dazu dienen, die
ganze jeweilige Bewegung in den untersten Kreis von Dantes
Hölle zu verdammen (Anmerkung des Übersetzers: Nach Vor-
stellung des italienischen Dichters Dante besteht die Hölle aus
verschiedenen konzentrischen Kreisen.). Diese Ergebnisse er-
innern uns daran, dass Bewegungen vielschichtig sowie komplex
sind und häufig (mit allen Vor- und Nachteilen) ins Leben geru-
fen werden, weil die traditionellen Gemeinden in gewisser Wei-
se versagen oder als Versagergemeinden wahrgenommen wer-
den. In jedem Fall ist die Bewegung als solche eine »Gemeinschaft
auf dem Weg«, wobei die Bewegung schwierig zu beurteilen ist,
wenn man ihre sich ändernde Sichtweise nicht berücksichtigt. So
sind die Jesus People als Bewegung letztendlich verschwunden,
wobei die meisten ihrer wirklich bekehrten Anhänger in größe-
ren Konfessionen Aufnahme fanden. Die sucherorientierte Bewe-
gung ist noch immer im Umbruch. Ein Teil der Bewegung hat sich
etablierten Kirchen angeschlossen und trägt mittlerweile sogar
Züge »traditioneller« Gemeinden, während andere Teile fortwäh-
rend versuchen, sich neu zu definieren. Wieder andere Teile sind
gar von der Emerging-Church-Bewegung angezogen worden, wo-
bei sie in dieser letztgenannten Bewegung eine neuere Erschei-
nungsform des eigenen Konzepts sehen.
Die Parallelen zur Emerging-Church-Bewegung liegen auf der
Hand. Der Protest gegen die alteingesessene Kultur und die Über-
zeugung, auf der Höhe der Zeit zu sein, umfassen vielleicht nicht
immer ihre attraktivsten Merkmale, doch selbst diesbezüglich hat
sie nicht ganz unrecht. Ja, noch mehr, sie ist eine Bewegung mit
evangelistischen Anliegen, auch wenn sie von der traditionellen
evangelikalen Bewegung weiter größtenteils beargwöhnt wird.
Und da die meisten derjenigen, die von der Emerging-Church-
Bewegung erreicht werden, zu anderen Gemeinden keinen Kon-
takt haben, kann man Gott für echte Bekehrungen und geistliche
Frucht nur dankbar sein.
73
Tief greifende Verbindungen mit der Tradition
So sehr die Emerging-Church-Bewegung von Protest gekenn-
zeichnet ist, gibt es in ihren Reihen offensichtlich tief greifende
Verbindungen mit vielen Praktiken derjenigen Gemeinden, die
traditioneller eingestellt sind. Wie wir gesehen haben, werden
zahlreiche Aspekte des Dienstes einiger konservativer Vorstadt-
gemeinden von ihr rundweg abgelehnt, wie z.B. hierarchische
Mitarbeiterstrukturen, Parkplatzdienste, die offensichtliche Selbst-
distanzierung von der dominierenden Kultur bzw. das widerwär-
tige Beharren auf absoluten Werten in deren Verbindung zur Mo-
derne. Einige der führenden Persönlichkeiten der Bewegung wer-
fen Fragen bezüglich mehrerer theologischer Haltungen, wie z.B.
die Frage nach dem Abendmahl oder der Homosexualität, auf.
Im Gegensatz dazu experimentieren viele ebendieser Gemein-
den der Emerging Church mit Kerzen, Kreuzen, liturgischen For-
men, schauspielerischen Elementen, Stillefreizeiten und derglei-
chen. Mit anderen Worten: Während sie einerseits einige her-
kömmliche Formen moderner evangelikaler Gemeinden ablegen,
tendieren sie andererseits dazu, manche Praktiken zu überneh-
men, die zu anderen Traditionen gehören.
Es ist demnach offensichtlich, dass die Haltung der Emerging-
Church-Bewegung zu dem eigenartigen Sachverhalt namens »Tra-
dition« ziemlich komplex ist. Sicher kann man infrage stellen, ob
es klug war, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Dennoch be-
lebt es einerseits ungemein, nicht traditionsverhaftet zu sein. Soll
nämlich nicht die Schrift selbst letztlich unsere einzige Richtschnur
sein? Andererseits belebt auch der Gedanke, dass wir mit der
Christenheit aller Generationen und nicht nur mit dem Christen-
tum der letzten zwanzig Jahre verbunden sein wollen.
Ich will dieses Kapitel abschließen, indem ich die Geschichte einer
bestimmten Ortsgemeinde erzähle. Wie jede andere örtliche Ge-
meinde ist auch sie nicht über jeglichen Vorwurf erhaben. Aber in
ihr finden sich zahlreiche Merkmale, die in jeder Beziehung aner-
kennenswert sind.
74
Die Anfänge dieser Gemeinde reichen gerade einmal etwas
mehr als zwanzig Jahre zurück, als sich eine kleine Gruppe von
Christen in einer Wohnung traf. Sie lebten hingegeben als diejeni-
gen, die Christus gehorchten und an ihn glaubten. Ihr tiefstes Ver-
langen bestand darin, die Unbekehrten im großstädtischen Bal-
lungsraum ihres Umfelds auf wirksame Weise zu erreichen. Der-
jenige, der sich zum Dienst als Pastor in ihren Reihen bereitfand,
besaß nicht nur ein hervorragendes Verständnis biblischer Theo-
logie, sondern bewies auch ungewöhnlichen Scharfsinn in der Be-
urteilung der großstädtischen, weithin postmodernen Kultur in
ihrer Umgebung. Viele Gottesdienstbesucher waren zutiefst da-
von überzeugt, dass der von diesen Gemeindegliedern ausgelebte
christliche Glaube echt war. Die Botschaft erfasste die Lebens-
wirklichkeit der Zuhörer, die Gottesdienste (die am Sonntagmor-
gen mehr traditionell waren und am Sonntagabend neue Wege be-
schritten) waren voller Dynamik und Ehrlichkeit, in denen echte
Buße und wahrer Lobpreis zum Ausdruck kamen.
Obwohl diese Christen einer besonderen theologischen Tradi-
tion verhaftet waren, traten sie nicht überheblich auf, selbst wenn
sie die Besonderheiten ihrer Konfession stark betonten. Ihre Glau-
bensgemeinschaft war in der Bevölkerungsstruktur ihrer Stadt
nur unzureichend vertreten, sodass das Wachstum, das sie er-
lebten, nicht auf Abwerbung von Gläubigen aus Gemeinden glei-
cher Prägung beruhte, sondern weithin auf Bekehrungen zurück-
zuführen war. Die in sich geschlossene Kultur der Wohnblock-
bewohner und der jungen, karrierebewussten Leute einer Groß-
stadt zu durchdringen, ist nie einfach. Es kamen jedoch Hunderte
und schließlich Tausende zum Glauben, die eine Gemeinde bil-
deten, in der das Durchschnittsalter bei Ende zwanzig bzw. An-
fang dreißig lag: Es waren Angehörige der postmodernen Genera-
tion, die überaus nachhaltig beeinflusst worden waren. Über zwei
Jahrzehnte hinweg gründeten die Glieder dieser Gemeinde in ih-
rem großstädtischen Ballungsraum zahlreiche andere Gemeinden
und waren darüber hinaus evangelistisch aktiv, um die Gründung
von noch anderen Gemeinden in weiteren Ballungsräumen zu un-
terstützen.
75
Auch wenn sich dies wie ein hervorragendes Beispiel aus der
Emerging-Church-Bewegung anhört, so ist diese Gemeinde iro-
nischerweise die Redeemer Presbyterian Church in New York
City. Dieser Gemeinde würde es nie einfallen, sich in die Kandi-
datenliste der Emerging Church einzutragen. Dennoch sollte klar
sein, warum ich über diese Gemeinde rede: Sie lässt alle Stärken
der Emerging-Church-Bewegung erkennen, während sie die meisten ih-
rer Schwächen vermeidet. Mit anderen Worten: Die Bewegung der
Emerging Church besitzt zahlreiche Stärken – Sachverhalte, für
die wir dankbar sein sollten. Allerdings sind sie nicht ihr alleiniges
Gut. Ja, ich könnte eine beträchtliche Anzahl von Ortsgemeinden
aufführen, welche die Stärken dieser Bewegung ebenfalls besitzen,
aber sich nicht damit identifizieren lassen würden. Dies zeigt, dass
diese aufbrechende Bewegung etwas verstanden hat. Es bedeutet,
dass immer mehr Gemeinden die Notwendigkeit einer Verände-
rung spüren, um auf die neue Kultur zu reagieren, selbst wenn es
innerhalb der Gesamtgemeinde Meinungsverschiedenheiten dar-
über gibt, wie diese Veränderung aussehen sollte.
Diese nüchterne Realität legt nahe, dass wir uns auch die
Schwächen der Emerging-Church-Bewegung ansehen müssen,
nachdem wir ihre Stärken betrachtet haben.
76
Emerging Church:
Analyse der Gegenwartskultur
77
Haltung, weil sie es abgelehnt hat, den grundlegenden Relativis-
mus in Bezug auf alle menschliche Erkenntnis einzugestehen. Mit
anderen Worten: Ob der Begriff gebraucht wird oder nicht: Die
Moderne ist im Denken der Emerging Church mit bestimmten er-
kenntnistheoretischen Ansätzen verbunden. (Die Erkenntnistheo-
rie untersucht, wie wir Dinge erkennen oder sie zu erkennen mei-
nen.) Wir dürfen die Erkenntnistheorie nicht als spezielles The-
ma ansehen, das nur für fortgeschrittene Studenten im Fachbe-
reich Religionsphilosophie geeignet ist. Sie ist damit verknüpft,
wie Menschen denken, und damit, was sie gemäß ihren Behaup-
tungen wissen oder nicht wissen. Daher hat sie notwendigerwei-
se zu tun mit Beziehungen, Gefühlen, mit Sozialgeschichte, vie-
len Elementen in jeder Kultur, der Funktion und den Leistungen
unterschiedlicher Sinne (z.B. mit dem Gesichtssinn im Gegensatz
zum Gehörsinn). Sie hat zu tun mit dem linearen Denken im Ge-
gensatz zu Bild und Metapher sowie mit dem Gedankensprung,
verschiedenen Analysen, die sich an der Zuverlässigkeitsachse
orientieren und bis zur Wahrscheinlichkeit bzw. Möglichkeit rei-
chen, und vielen weiteren gleichartigen Aspekten.108
Einige Anhänger der Emerging Church wollen, wie wir in Ka-
pitel 1 gesehen haben, sich auf Wirtschaft und Materialismus kon-
zentrieren, wobei in diese Richtung gehende eindringliche Mah-
nungen gewiss weitergegeben werden müssen. Aber im Großen
und Ganzen richtet sich der Brennpunkt der entstehenden Bewe-
gung auf die wahrgenommenen Veränderungen in der Erkennt-
nistheorie, einschließlich der Auswirkungen dieser Veränderungen
auf das Kräftespiel gesellschaftlicher Gruppen. Wenn z.B. Brian
McLaren über moderne Evangelisation spricht, dann betont er
nachdrücklich, dass viele Evangelisationsformen ausgedient hät-
ten, weil die Moderne vergangen sei. Vorbei sei die Evangelisation
als Verkaufstaktik, als Kreuzzug, als geistliche Kriegsführung, als
Ultimatum, als Drohung, als apologetisches Unterfangen, als Argu-
mentation, als Unterhaltung, als Show, als Monolog, als etwas, das
108 Vor allem damit, dass er nicht erkennt, wie umfassend die Erkenntnistheorie
ist, lässt sich David Mills’ eigenartiges Verhalten erklären: Er berücksichtigt kaum
die Bedeutung des Themas (siehe Kap. 1, Anm. 97).
78
man tut. Evangelisation sei vielmehr Jüngerschaftsschulung und
als solche verbunden mit Gespräch, Freundschaft, Einfluss, Einla-
dung, Gemeinschaft mit Gefährten, Herausforderung, Möglichkeit,
überschäumender Freude und etwas, das man tun dürfe.109
Aber all diese Eigenschaften hängen in erheblichem Maße da-
von ab, wie Menschen unserer Ansicht nach das Evangelium ken-
nenlernen oder erfahren – wie sie nach und nach ihr ganzes Ver-
trauen auf Christus setzen. Hier befinden wir uns im Bereich der
Erkenntnistheorie. Genau das Gleiche gilt für Mike Yaconelli,
wenn er den Übergang vom »Absoluten« zum »Authentischen«
anspricht: Seine Antithese ist auf erkenntnistheoretische Kennzei-
chen gegründet – ungeachtet dessen, ob er sie so bezeichnet oder
nicht.110 Das Gleiche gilt praktisch für alle Antithesen, die Robert
Webber darlegt.111 So ist z.B. der vorgebliche Übergang von der
lehrsatzbezogenen Weitergabe biblischer Inhalte zum Erzähle-
rischen eng damit verbunden, wie jemand den Bibeltext darbie-
tet (und hört). Dazu zitiere ich zwei seiner Kapitelüberschriften:
»Apologetik: Vom Rationalismus zur Verwirklichung christlicher
Werte«. Dieser Untertitel ist zwangsläufig mit erkenntnistheore-
tischen Fragen verbunden. Das gilt auch für »Pädagogen: Von der
Informationsvermittlung zum ganzheitlichen Lernen«.
Dies soll nicht heißen, dass diese Antithesen keinerlei Bedeu-
tung haben. Ob sie aber angemessen und überlegt formuliert sind,
hängt in erster Linie von der Beurteilung der Moderne und dann
natürlich von der Bewertung der Postmoderne selbst ab.
109 Siehe insbesondere sein Buch More Ready Than You Realize: Evangelism as
Dance in the Postmodern Matrix (Grand Rapids: Zondervan, 2002).
110 Beachten wir den Untertitel: Mike Yaconelli, Hrsg., Stories of Emergence: Mov-
ing from Absolute to Authentic (Grand Rapids: Zondervan, 2003).
111 Robert E. Webber, The Younger Evangelicals: Facing the Challenges of the New
World (Grand Rapids: Baker, 2002).
79
ne scheint zu sehr auf Einzelelemente fixiert und lebensfremd zu
sein. Die Zeit der Moderne wird so beurteilt, als hätte sie durch-
gehend die gleichen Merkmale besessen und als sei sie durchweg
auf das Rationale, das rein Intellektuelle, das Lineare, das Absolu-
te und Objektive ausgerichtet gewesen. Doch Geschichte ist nicht
so einfach geartet. Inmitten der Moderne findet sich Immanuel
Kant, der vielleicht einflussreichste Philosoph dieser Zeit. Er hob
nachdrücklich hervor, dass der Verstand die von den Sinnen auf-
genommenen Daten in eine Ordnung bringe und ihnen eine Struk-
tur gebe. Aufgrund dessen erfolgt eine weitreichende Trennung
zwischen der phänomenalen Welt und der noumenalen Welt (d.h.
der Welt des bloß Gedachten und objektiv nicht Wirklichen). Au-
ßerdem leugnet er damit indirekt, dass Menschen auf irgendeine
Weise direkten Zugang zu objektiver Erkenntnis haben.
Hier ist auch der Nihilismus von Friedrich Nietzsche zu nen-
nen, der die Wahrheit als Metapher verstand, lange bevor Jacques
Derrida und Richard Rorty ins Blickfeld traten. Und wie sollen
wir die Geistesströmung der Romantik, nicht zuletzt deren Dich-
ter, beurteilen? Als Schulkinder lernten wir die uns aufgegebenen
Gedichte von Wordsworth (Anmerkung des Übersetzers: William
Wordsworth [1770-1850], englischer Dichter der Spätromantik)
und Shelley (Anmerkung des Übersetzers: Percy Bysshe Shelley
[1792-1822], englischer Dichter der Romantik) auswendig. Dabei
ließen wir uns von der Vorstellung faszinieren, dass die Begeiste-
rung für Schönheit und Natur der sicherste Weg zur Wahrheit sei
und dass man Wahrheit letztendlich nicht erkennen könne. In der
Zwischenzeit betonte Arthur Schopenhauer nachdrücklich, dass
die sogenannte »Realität« nichts weiter als eine Vergegenständ-
lichung unserer Triebe und aus unseren (häufig unvernünftigen)
Begierden hervorgegangen sei. Während viele am rechten Glau-
ben festhaltende Christen für die Richtigkeit diverser Glaubens-
bekenntnisse kämpften, nahmen andere Denker wie Friedrich
Schleiermacher und Søren Kierkegaard den Existenzialismus vor-
weg. Im Zentrum der verschiedenen Formen des Existenzialismus
liegt die Überzeugung, dass wir unsere Existenz durch unsere Ta-
ten und Entscheidungen ausgestalten.
80
Dennoch können einige hilfreiche Gegensätze zwischen der
»Moderne« und der »Postmoderne« beschrieben werden. Man
könnte beispielsweise folgendermaßen argumentieren: Während
die von mir soeben erwähnten Geistesgrößen viele Einstellungen
der heutigen Postmoderne vorweggenommen haben, neigten sie
zwar dazu, Kollegen im wissenschaftlichen Bereich und andere
Akademiker zu beeinflussen, fanden aber nie jene öffentliche An-
erkennung, welche die Postmoderne in Fach- und Medienkreisen
heute (besonders in Amerika) genießt. So gesehen entspricht die
Postmoderne nichts als einer allgemein verbreiteten Facette moder-
nen Denkens, die seinerseits eine Reaktion auf andere Richtungen
des modernen Denkens darstellt. Für mich scheint die Analyse der
eigentlichen Moderne innerhalb der Emerging-Church-Bewegung
ohnehin derart auf Einzelelemente ausgerichtet zu sein, dass es zu
weitreichenden historischen Verzerrungen kommt.
Würden wir nur über Geschichtsauffassungen mit geringen
Auswirkungen auf das Denken der Christen reden, würden die
Verzerrungen keine so große Rolle spielen, wenn man einmal von
intellektuell radikal eingestellten Kreisen absieht. Aber die verzerr-
te Darstellung der Moderne erstreckt sich im Falle einiger Denker
der Emerging Church auf ein entstelltes Bild des konfessionellen
Christentums im Rahmen der Moderne. Nach meinem Verständ-
nis der Emerging-Church-Literatur ist das Christentum in der Mo-
derne verstandesmäßig, rein intellektuell und nicht emotional aus-
gerichtet. Auch neige es aufgrund seiner Betonung des Absolu-
ten zur Überheblichkeit. Obwohl man Beispiele für solche Fehl-
haltungen zweifellos finden kann, lasse ich mich auch weiterhin
kaum davon überzeugen, dass die vorherrschende Ursache dafür
jene Variante der Moderne ist, an die die Vertreter der Emerging
Church denken. Im Rahmen der Moderne findet man nämlich
auch ein Christentum, das Gebete wie das folgende formuliert hat:
81
diesem Morgen vor deinen Thron. Dabei ist unser von Sünde
und Tod gezeichneter Leib Teil unseres Menschseins, sodass
wir schwer sündenbelastet sowie mit Sorgen erfüllt und viel-
leicht voller Schmerz sind. Doch vor deinem Gnadenstuhl wird
uns die Last abgenommen. Im Blick auf unsere Sorgen sind
wir beschämt, dass wir uns damit beschweren, weil wir erken-
nen, dass du für uns sorgst. Wir haben dir bisher viele Jahre
lang vertraut, und deine Treue war über jeden Zweifel erha-
ben, während deine Liebe nie infrage gestanden hat.
Dort am Gnadenstuhl überlassen wir alle Sorgen in Bezug auf
unsere Familien oder uns selbst, unser Geschäftsleben oder un-
sere Seelen völlig unserem Gott. Und was unsere Sünde be-
trifft, so preisen wir dich dafür, dass du das kostbare Blut Jesu
anblickst: Wenn du es siehst, gehst du an uns vorüber. Kein En-
gel der Gerechtigkeit vollbringt sein todbringendes Werk, wo
das Blut gesprengt worden ist. Oh, lass auch uns das Blut Jesu
anschauen und uns ruhen, weil du auf ewig unsere Sünden
weggenommen hast und weil wir an Jesus glauben.
Oh, mögen die Menschen noch scharenweise kommen und
Christus suchen: Mögen auf diese oder jene Weise, unter die-
sen oder jenen Umständen, die Ohren der Menschen erreicht
und dann ihre Herzen angerührt werden! Mögen sie hören, da-
mit ihre Seelen leben! Möge der Herr, der in ewiger Bundes-
treue seinen Sohn kundmacht, ihn inmitten der Nationen ver-
herrlichen! Mögen alle Völker den Christus Gottes erkennen!
Aber Herr, uns beschwert noch eine andere Last – nämlich
jene, dass wir selbst dich nicht gemäß unserer Bestimmung lie-
ben. Oft werden wir lau und verlieren unseren geistlichen Ei-
fer. Dann beschleicht uns Zweifel, während Unglaube unser
Vertrauen trübt. Wir sündigen und vergessen unseren Gott. O
Herr, hilf uns! Wir wollen nicht nur Vergebung, sondern auch
Heiligung. Wir bitten dich inständig: Reiße das Unkraut, das
auf dem Acker unserer Seele wuchert, mit der Wurzel aus! Wir
wollen dir dienen. Uns verlangt danach, dass jeder Gedanke
unseres Geistes und jedes Wort unseres Mundes oder jedes zu
Papier gebrachte Wort ganz dir gehören soll.
82
Du allerherrlichster Herr und Gott, in unseren Augen ist es
wunderbar, dass du Mensch geworden bist und dass dein Sohn
Fleisch und Blut angenommen hat. Es erstaunt uns über die
Maßen, dass der Herr des Lebens sich herabgelassen hat, um
zu sterben, und dass der Unverwesliche ins Grab gelegt worden
ist. Wir sind von Liebe und Dankbarkeit erfüllt, wobei wir auch
nur anbetend staunen können. Wir haben am Grab gestanden,
hineingesehen und daran gedacht, dass Jesus dort hingelegt
worden war. Dann haben wir es geöffnet gesehen und wussten,
dass es leer war. Daher preisen wir deinen Namen, und zwar
dafür, dass er starb und begraben wurde. Wir verherrlichen
dich dafür, dass er aus den Toten wiederauferstanden ist.
Diese großen Tatsachen im Blick auf unseren göttlichen Herrn
sind die Grundlage unseres Vertrauens zu ihm. Wir preisen dich,
dass sie durch ein solches vierfaches Zeugnis bestätigt worden
sind. Ja, damit nicht genug: Danach erschien er als Lebender
einer so großen Zahl derer, die ihn kannten, dass die Tatsache
seiner Auferstehung aus den Toten nie wieder in Zweifel gezo-
gen werden kann. Wir stellen sie nicht infrage, sondern unser
Herz schenkt dieser Tatsache aufrichtig Glauben. Dennoch wol-
len wir, Herr, diese Tatsachen durch deinen Geist in ihrer Auf-
erstehungskraft kennenlernen. Wie sehr verlangt uns danach,
Gemeinschaft mit unserem Herrn, der unser Haupt in alledem
ist, zu haben! Oh, dass wir doch erkennen könnten, wie wir mit
ihm in Neuheit des Lebens sterben und auch leben sollen!
Wir beklagen, dass es in diesem todgeweihten Leib vieles gibt,
das uns zuwider ist. Wir befinden uns zuweilen in der Versu-
chung, träge zu sein. Trotz unseres geschäftigen Treibens in
dieser Welt geben wir uns dem geistlichen Müßiggang hin. Au-
ßerdem sind wir versucht, andere zu beneiden, weil sie uns
übertreffen. Wir sind zutiefst bekümmert und bekennen, wie
niederträchtig unser Geist in dieser Angelegenheit ist. Ferner
müssen wir unseren Hochmut beklagen. Wir können auf nichts
stolz sein. Wir verdienen den Platz der tiefsten Erniedrigung,
aber, Herr, wir meinen häufig, etwas zu sein, obwohl wir doch
nichts sind. Wir bitten dich, dass du uns all diese Laster un-
83
seres Wesens vergibst, ihnen aber gleichzeitig auch den Todes-
stoß versetzt, denn wir hassen unser Ich, wenn wir daran den-
ken, dass wir solchen Übeln verfallen können. Erbarme dich
unser besonders wegen unseres Unglaubens. Du hast uns ge-
genüber bewiesen, dass du wirklich da bist, dass du uns liebst
und für uns sorgst: Du hast uns insbesondere deinen eingebo-
renen Sohn, das beste Unterpfand deiner Liebe, gegeben. Und
dennoch gestehen wir ein, dass wir zweifeln. Unglauben be-
mächtigt sich unserer Seele. Wir schämen uns abgrundtief da-
für. Wir müssten völlig in den Staub sinken, wenn wir daran
denken, dass es so ist. Herr, habe Erbarmen mit uns, aber hilf
uns auch, damit wir künftig im Glauben erstarken, indem wir
dir, Gott, die Ehre geben.
Wir befehlen uns nun wiederum deiner Obhut, o treuer Schöp-
fer, an – deiner Bewahrung, o Heiland, dessen Hände durch-
bohrt wurden – deinem Schutz, o ewiger Geist, der du imstan-
de bist, uns vor dem Straucheln zu bewahren und uns völlig zu
heiligen, damit wir passend gemacht werden mögen, unter den
Heiligen im Licht zu stehen. O Gott, wir können und werden
dir vertrauen. Unser Glaube ist im Laufe der Jahre erstarkt. Je-
des Mal, wenn wir ein Lebensjahr vollenden, bestärkt uns hof-
fentlich die Tatsache, dass unser Glück und unsere Kraft dar-
in liegen, uns auf Gott zu verlassen. Dies wollen auch wir wei-
terhin tun, mag selbst die Erde weichen und die Berge mitten
ins Meer stürzen. Wir werden uns nicht fürchten, weil Gott auf
ewig treu bleibt und sein Bund nicht hinfällig werden kann.«112
112 All diese Zitate sind entnommen aus C.H. Spurgeon, The Pastor in Prayer (Ed-
inburgh: The Banner of Truth Trust, 2004 [1893]): Seiten 14, 17, 29-30, 41-42.
84
lich kann auch der hier betende Pastor, C.H. Spurgeon, von »Tat-
sachen« reden und davon, dass etwas »bewiesen« worden ist. Wie
wir aber in Kapitel 7 sehen werden, scheut sich auch das Neue
Testament nicht, auf solche Kategorien zurückzugreifen. Und of-
fenbar kann Spurgeon ebenso zahllose Anspielungen auf Bibel-
stellen machen und von seinen Hörern/Lesern erwarten, dass sie
diese als solche wahrnehmen, denn aufs Ganze gesehen waren die
Christen in jener Zeit viel bibelkundiger als heute.
Doch am auffälligsten im Blick auf diese Gebete ist die Ganz-
heitlichkeit ihrer Texte. Hier finden wir heißes Verlangen, Freude,
Liebe, Zweifel, Furcht, Hoffnung, Vertrauen – und über allem eine
intensive und facettenreiche Beziehung zwischen Christen und
dem dreieinen Gott. Diese Gebete sind von den Klischeevorstel-
lungen, welche die Emerging-Church-Bewegung hinsichtlich des
Christentums der Moderne entwirft, weit entfernt.
»Schön und gut!«, sagen Sie vielleicht, »doch dies war Spur-
geon – und Spurgeon kann man gewiss nicht als Maßstab neh-
men.« Doch obwohl er begabter war als die meisten seiner Mit-
streiter und öfter als sie zitiert worden ist, verkörpert Spurgeon ei-
nen erheblichen Teil der Angehörigen evangelikaler Konfessionen.
Eine Vielzahl von Pastoren, Lehrern und ganz gewöhnlichen Chris-
ten, die ich entweder persönlich kenne oder die mir anhand der
gelesenen Bücher unwillkürlich in den Sinn kommen, umspannen
die Jahrhunderte seit der Aufklärung und damit den Zeitraum der
Moderne. Sie strafen die auf einzelne Aspekte ausgerichtete Be-
trachtungsweise der Emerging-Church-Bewegung Lügen, die das
Christentum in Verbindung mit der Moderne einseitig darstellt.
Ich erinnere mich an ein gemeinsames Mittagessen mit J.I. Packer
vor etwa zwölf Jahren. Dabei fragte ich ihn, wie sein Buch Knowing
God aufgenommen werde. Meiner Ansicht nach ist es eines der we-
nigen, Ende des 20. Jahrhunderts erschienenen Bücher, die – wenn
der Herr noch verzieht – auch in hundert Jahren noch gelesen wer-
den. Er nannte die Verkaufszahlen und fragte dann leise: »Weißt
du, warum es noch immer so guten Absatz findet?«
Daraufhin beantwortete er seine eigene Frage: »Weil es ein
Buch über geistliches Leben ist.«
85
Ja, es ist ein Buch über geistliches Leben – obwohl es natürlich
auch ein Buch über die Lehre von Gott ist. Und erneut passt die
garstige, stereotyp vorgebrachte Antithese nicht: Lehre oder geist-
liches Leben, Wahrheit oder Beziehungen. Man braucht nicht lan-
ge zu überlegen, um weitere Namen – aus vielen Ländern und aus
allen Jahrhunderten der Neuzeit – aufzulisten. Hat irgendjemand
von den Kritikern tatsächlich die erbaulichen Schriften von Benja-
min Warfield oder B.F. Westcott gelesen? Zwar haben viele christ-
liche Denker der Spätmoderne die Bedeutung der Wahrheit her-
ausgestellt, doch dies geschah nicht deshalb, weil sie in erkennt-
nistheoretisch absoluten Kategorien dachten, sondern weil sie in
einer Zeit lebten und wirkten, da die Wahrheit des Evangeliums
durch die klassische liberale Theologie zunehmend geleugnet
wurde, die immer mehr dem Diesseits verhaftet war. Natürlich
haben diese führenden Persönlichkeiten in der Rückschau manch-
mal Sachverhalte nicht ausgewogen genug gesehen. Doch statt sie
herablassend zu verurteilen, sollten wir sie in Ehren dafür halten,
dass sie in ihrer Zeit treu waren. Und auf jeden Fall haben sich die
besten von ihnen nach Kräften bemüht, Sachverhalte nicht zu ein-
seitig zu betrachten. Es lohnt sich nach wie vor, all die Schriften
von J. Gresham Machen zu lesen. Selbst wenn man mit diesem
oder jenem Detail nicht übereinstimmt, war sein Denken derart
umfassend, dass es heute mehr Vorbildwirkung entfalten als Ge-
genstand der Kritik sein sollte. Er hat zahlreiche Abhandlungen
über Christentum und Kultur (darunter einen Artikel über christ-
liche und menschliche Beziehungen!), einen anderen mit dem Ti-
tel »Mountains and Why We Love Them« (Anmerkung des Über-
setzers: Diese Veröffentlichung, deren Originaltitel mit »Berge und
warum wir sie lieben« wiedergegeben werden kann, bringt ausge-
hend von der wörtlichen Bedeutung eine Anwendung im übertra-
gen-geistlichen Sinne.) und vieles mehr geschrieben.113
113 Zu dieser letztgenannten Rubrik gehören Themen, die sich in einem kürzlich
erschienenen Sammelband überaus leicht lesen, J. Gresham Machen: Selected Shorter
Writings, Hrsg. D.G. Hart (Phillipsburg: Presbyterian & Reformed, 2004). »Moun-
tains and Why We love Them« kann man im Internet finden unter http://www.opc.
org/books/Mountains.html.
86
Eine nahezu allumfassende Verurteilung des
konfessionellen Christentums
Dies führt mich zu meinem zweiten Kritikpunkt. Einige führende
Vertreter der Emerging Church haben ihre auf Einzelelemente aus-
gerichtete Betrachtungsweise hinsichtlich der Moderne und des
konfessionellen Christentums, das seinen Weg durch die Zeit der
Moderne nahm, auf die Spitze getrieben. Doch es geht nicht nur
darum, dass sie die Bedeutung dieses Christentums verkennen.
Sie vermitteln fast allumfassend auch den Eindruck, dass sie es
ablehnen. Bestenfalls könnten sie in aller Bescheidenheit den mo-
dernen Konfessionalismus kritisieren und dankbar anerkennen,
dass viele von uns heute Christen sind, weil unsere Vorfahren als
von der Gnade Getragene dem Evangelium treu waren. Stattdes-
sen neigen sie dazu, sich an den schlechtesten Beispielen zu orien-
tieren, wobei sie diese scheinbar geringschätzig behandeln.
Selbst wenn die gemäßigteren Verfasser der Emerging Church
vorgeben, eine ausgewogene Haltung einzunehmen, finden sich
auch bei ihnen fast immer beißende Bemerkungen in der entspre-
chenden Darbietung. Als Beispiel sei hier dasjenige angeführt, was
Neo ( = Neil Oliver Edward) an Casey schreibt:
»Nach der Bibel leben Menschen nicht nur mithilfe von Sys-
temen und abstrakten Begriffen, sondern auch mittels Ge-
schichten, Poesie, Sprüchen (Sprichwörtern) und Geheimnis-
sen. … Das soll nicht heißen, dass wir keine Theologen brau-
chen, deren Arbeitsgrundlage Worte sind. Damit soll aber ge-
sagt werden, dass wir wie bisher an die Menschwerdung des
Wortes glauben und als solche den Schwerpunkt unserer Worte
auf der Schaffung von Gemeinschaften legen sollen, die unsere
gute Nachricht verkörpern.«114
114 Brian D. McLaren, A New Kind of Christian: A Tale of Two Friends on a Spiritual
Journey (San Francisco: Jossey-Bass, 2001), S. 159 bzw. 163.
87
punkt fast ausschließlich auf Geschichten, Sprüchen und Geheim-
nissen. Selbst dort, wo er den »Systemen« und »abstrakten Begrif-
fen« vielleicht eine gewisse Berechtigung zugesteht, sind sie mit
drei negativen Merkmalen behaftet:
(1) Was Neo betont, hat in unserer Welt einen positiven Bei-
klang: Geschichten, Poesie, Sprüche (Sprichwörter) und Geheim-
nisse. Was Neo nur notgedrungen einräumt, wird in negativer
Form dargestellt: Menschen »leben nicht nur mithilfe von Syste-
men und abstrakten Begriffen«. Ist das wirklich der Fall gewesen,
wer immer dies gesagt haben mag (Anmerkung des Übersetzers:
Hinter dem Kürzel »Neo« verbirgt sich einer der Protagonisten
aus McLarens Buch.)? Warum sollte man nicht sagen, dass Men-
schen »nicht nur mittels der kostbaren Wahrheit und mithilfe ge-
offenbarter Lehrsätze leben« oder etwas in dieser Art? Mit ande-
ren Worten: Selbst wenn hier Ausgewogenheit zur Schau gestellt
wird, kommt man nicht umhin, den Eindruck zu gewinnen, dass
Wahrheit und Lehrsätze bestenfalls gleichgültig abgelehnt wer-
den.
(2) Die angebliche Ausgewogenheit ist stets mit jenen offen-
kundigen Zugeständnissen verbunden, die nur in eine Richtung
weisen. Man stolpert nie über Textstellen, die im Grunde besagen,
dass Menschen nicht nur mittels Geschichten, Poesie, Sprüchen
(Sprichwörtern) und Geheimnissen, sondern auch durch geoffen-
barte Wahrheiten leben, denen wir unseren Glauben, unser Ver-
trauen, unser Verständnis und unseren Gehorsam entgegenbrin-
gen sollen – dennoch hebt die Schrift diesen Punkt an zahllosen
Stellen hervor. Man kann damit beginnen, indem man über Psalm
119 nachsinnt. Oder noch ein anderer Aspekt: Während Neo ein-
räumt, dass wir »Theologen brauchen, deren Arbeitsgrundlage
Worte sind«, behauptet er dennoch, »dass wir wie bisher an die
Menschwerdung des Wortes glauben und als solche den Schwer-
punkt unserer Worte auf der Schaffung von Gemeinschaften le-
gen, die unsere gute Nachricht verkörpern sollen«. Dies scheint ei-
ner unechten Antithese zu gleichen. Während die Arbeitsgrund-
lage von Theologen tatsächlich »Worte« sind, so sind die besten
unserer Theologen zugleich auch Verkündiger, Lehrer und Evan-
88
gelisten gewesen. Dabei beinhalten die »Worte«, die ihre Arbeits-
grundlage sind, Gottes Worte, deren verkörperte Botschaft vor
allem mit Jesus Christus zu tun hat. In der Bibel wird (wie wir
später in diesem Buch sehen werden) »Wort« bzw. »Wort Gottes«
viel häufiger mit der in Worten festgehaltenen Botschaft verbun-
den als mit dem menschgewordenen Wort. Damit will ich nicht
die Menschwerdung, deren zentrale Stellung in jeder Beziehung
entscheidend ist, herunterspielen. In der Emerging-Church-Lite-
ratur wird die Existenz der Worte oder Schriftstellen bzw. Lehr-
sätze jedoch bestenfalls notgedrungen zugestanden, während fast
durchweg Christus als das menschgewordene Wort hervorgeho-
ben wird. Nirgends verläuft die Argumentation in der umgekehr-
ten Richtung. Natürlich ist Christus das menschgewordene Wort
– derjenige, der genau im Mittelpunkt steht und an den wir glau-
ben. Doch nie wird uns in diesen Werken gesagt, dass unser Zu-
gang zu ihm und unser Verständnis seiner Identität sowie sei-
nes Werkes für uns zuallererst in Worten festgehalten ist, die Gott
selbst geoffenbart hat.
(3) Trotz der formellen Zugeständnisse ist es schwierig, in ir-
gendeiner Schrift der Emerging Church einen Abschnitt zu fin-
den, der irgendetwas Positives oder irgendeine dankbare Aner-
kennung im Blick auf die Moderne bzw. die christlichen Kirchen
enthält, die sich im Rahmen der Moderne weltweit ausgebreitet
haben. Ich will damit nicht andeuten, dass die Moderne über jede
Kritik erhaben ist. Ich möchte lediglich sagen, dass für die Autoren
der Emerging Church die Moderne schlecht und die Postmoderne
entweder gut ist oder eine fantastische Gelegenheit darstellt. Kurz
gesagt: Ich kann in den Schriften der Apologeten der Emerging-
Church-Bewegung nicht die Ausgewogenheit erkennen, mit der
sie vorgeblich schreiben.
Mitunter ist es recht amüsant, wenn einem dieser Autoren eine
solch unausgewogene Bemerkung herausrutscht. In dieser Hin-
sicht kann man Verfasser der Emerging Church durchaus mit an-
deren modernen Schreibern vergleichen, deren antithetische Kate-
gorien von einem wirklichkeitsfremden Denken zeugen. Zitieren
wir z.B. John Stackhouse:
89
»Die christliche Botschaft beinhaltet im Grunde genommen
eine Einladung, die an Menschen – und nicht nur an mensch-
liche Gehirne – gerichtet ist. Menschen sollen der Person Jesus
Christus begegnen, statt ein lehrmäßiges System oder eine Ide-
ologie zu übernehmen. Daher ist es nur zu offensichtlich, dass
sich derjenige, der die Glaubwürdigkeit und Schlagkraft dieser
Botschaft nachweisen will, auf mehr als auf die intellektuelle
Beweisführung stützen muss. Vielmehr hängt sie vom Heiligen
Geist Gottes ab, der durch das Licht all unserer guten Werke
weithin erstrahlt, die wir zur Ehre unseres Vaters im Himmel
auf den Leuchter stellen können.«115
90
ten. Worin bestand ihre Predigt? Nur in Worten oder nicht auch in
beispielhafter Hingabe, oft unter Tränen, indem sie auf einer der-
art umfassenden moralischen Erneuerung bestanden, dass aus die-
ser Bewegung z.B. die Abschaffung der Sklaverei, die Verabschie-
dung von Kinderschutzgesetzen, die Einführung von Gewerk-
schaften, die Fürsorge für die Alten und eine Gefängnisreform er-
wuchsen?
Was Stackhouse schreibt, ist beunruhigend – nicht nur, weil sei-
ne Konzessionen lediglich in eine Richtung gehen, sondern auch,
weil er anstelle des »mehr« ein »stattdessen« gebraucht. Er be-
hauptet zu Recht, dass die Schlagkraft der Botschaft von mehr als
nur der intellektuellen Beweisführung abhängt (und wahrschein-
lich würde weder ein ausdrücklicher Vertreter der Moderne noch
ein erklärter Postmodernist dies infrage stellen). Dann sagt er je-
doch, dass eine solche Schlagkraft stattdessen vom Heiligen Geist
abhängt, der durch das Licht guter Werke weithin erstrahlt. Meint
er damit, dass der Heilige Geist die verkündigte Botschaft nicht
hell erstrahlen lässt?
Selbstverständlich ist die Kritik, welche die Emerging-Church-
Bewegung am Christentum in der Zeit der Moderne übt, in einem
bestimmten Aspekt berechtigt. In der westlichen Welt werden
weitaus mehr Predigten anhand lehrmäßiger Bibeltexte gehalten
als anhand von erzählenden Bibelabschnitten. So sind z.B. ca. 70
Bücher mit Predigten veröffentlicht worden, die D. Martyn Lloyd-
Jones gehalten hat. Darunter legen nur eine oder zwei erzählende
Texte aus. Dennoch muss man selbst hier nachsichtig sein. Lloyd-
Jones benutzte nämlich innerhalb seiner Predigten Erzähltexte der
Schrift und bezog sich fortwährend auf Sprüche, Psalmen, Klagen,
apokalyptische Texte und all die übrigen Schriftgattungen. Dar-
über hinaus wandte sich Lloyd-Jones an Menschen seiner Genera-
tion. Rückblickend lässt sich sagen, dass nur wenige unter uns vor
50 Jahren eine große Auslegungsgabe für erzählende Texte besa-
ßen. Die auf diesem Gebiet erzielten Fortschritte schlagen als Ge-
winn der letzten zwei oder drei Jahrzehnte zu Buche.
Dennoch müssen wir diese Sachverhalte ins rechte Licht rücken:
Ich habe eine ansehnliche Zahl afrikanischer Verkündiger gehört,
91
die im Umgang mit Erzähltexten überaus versiert sind. Mir fal-
len jedoch nur drei oder vier afrikanische Prediger ein, die den Rö-
merbrief sehr gut auslegen können. Die Erzählkultur vieler Afrika-
ner (die sich gegenwärtig allerdings etwas verändert) brachte be-
stimmte Beschränkungen hervor. Das Erbe der westlichen Erkennt-
nistheorie und Kultur hat zu einer Reihe anderer Begrenzungen
geführt. Nur die begabtesten Verkündiger können eigene kultu-
relle Grenzen dieser Art ohne Weiteres überwinden. Somit ergibt
sich die offensichtliche Frage, die führende Vertreter der Emerging
Church stellen sollten: Welche Beschränkungen beschweren post-
moderne Menschen? Mit welchen Bibeltexten tun wir uns selbst
schwer? Was werden wohl unsere Kinder und Enkel über diejeni-
gen Stellen sagen, die wir selbst übersehen? Werden sie uns in ir-
gendeiner Hinsicht nachsichtiger behandeln, als wir mit denjenigen
umgegangen sind, die uns das Evangelium weitergegeben haben?
Überdies entspricht das Bild von der Christenheit der Moderne,
das einige Vertreter der Emerging Church zeichnen, nirgends an-
nähernd meinen Erfahrungen. Mein Vater war ein Gemeindegrün-
der. Obwohl er sein ganzes Leben in der westlichen Welt zubrachte,
musste er sich sprachlich und kulturell völlig umstellen, um die
Menschen zu erreichen, zu denen er sich berufen wusste. Die ers-
ten vier Jahrzehnte seines Dienstes umfassten eine Zeit, da es nir-
gends große evangelistische Durchbrüche gab – ganz gleich, wo-
hin er kam. Damals predigte er selten vor einer Zuhörerschaft, die
über vierzig Leute zählte. Oft waren es auch nur zehn oder zwölf
(die eigene Familie – d.h. die Frau und drei Kinder – schon mitge-
rechnet!). Er war so arm, dass er zu Kommentaren, theologischen
Ausgaben, poetischen Werken, belletristischen Veröffentlichungen,
wissenschaftlichen Publikationen und Büchern über Kultur, die ich
heute lese, selten Zugang hatte. Die Bücher jedoch, die er besaß,
kannte er gut, wobei er bis in die letzten Wochen vor seinem Tod
hinein sein griechisches Neues Testament und in gewissem Um-
fang sein hebräisches Altes Testament eifrig studierte. Bezog er sich
aber nur auf Lehrsätze? Hatte er nichts vom Heiligen Geist ver-
standen, der durch das Licht guter Werke weithin erstrahlt? Tatsa-
che ist: Er ging mit seinen begrenzten finanziellen Möglichkeiten
92
so großzügig um, dass schließlich meine Mutter die Kontrolle über
das Familienkonto übernehmen musste. Wir hätten sonst als Fa-
milie hungern müssen, weil Vater ungemein viel verschenkte. Soll
ich Ihnen von seinem Wirken für ein Waisenhaus erzählen? Soll ich
die merkwürdige Zeit erwähnen, in der er sich nach einem Gottes-
dienst mit einer Verkündigung vor dreißig Leuten in sein Studier-
zimmer zurückzog, auf seine Knie ging und betend für jene Men-
schen Tränen vergoss, zu denen er gepredigt hatte?
In gewisser Hinsicht war mein Vater ein in jeder Beziehung
normaler Pastor. Wenn ich je einige seiner Aufsätze herausgebe
und veröffentliche, wird der Titel Memoirs of an Ordinary Pastor (so
viel wie Lebenserinnerungen eines ganz normalen Pastors) lauten. Ich
könnte Ihnen viel von gewöhnlichen Pastoren aus jener Genera-
tion erzählen. Zwangsläufig waren sie in gewissem Maße Kinder
ihrer Zeit – so wie Burke, Sweet und McLaren. Aber sie neigten
nicht dazu, die vorhergehende Generation zu verurteilen.
93
zureichend beschaffen sind, irgendwo ein gewisses Maß an Ein-
sicht bewahren. Demgegenüber führt die Existenz unserer Sün-
de zwangsläufig dazu, dass sogar ein System, das weitgehend mit
der Schrift übereinstimmt, gewissen Verzerrungen unterliegt. Da-
her sollten sich umsichtige Christen weder mit der Moderne noch
mit der Postmoderne umfassend identifizieren und es andererseits
aber auch unterlassen, beide Systeme in Bausch und Bogen zu ver-
urteilen. Die Emerging-Church-Bewegung wird erst dann zu ei-
ner gewissen Reife gelangt sein, wenn sie ein wenig ausgewogener
wird, indem sie die der Moderne innewohnenden Stärken zum
Ausdruck bringt und vor den Gefahren der Postmoderne warnt.
Der Verurteilung der Moderne fehlt intellektuell gesehen auch
der logische Zusammenhang, da sich die meisten Veröffentli-
chungen der Emerging Church im Sinne der postmodernen Tole-
ranz sehr bemühen, positive Sachverhalte in Bezug auf jeden an-
deren »-ismus« zu finden. Dazu zählen z.B. Buddhismus, Islam,
Weltsichten der Indianer im Aztekenreich oder der Animismus di-
verser Stämme. Der eine »-ismus«, hinsichtlich dessen einige Au-
toren scheinbar so gut wie nichts Positives finden können (was
insbesondere für Publikationen führender Vertreter der Emerging
Church gilt), ist (nach ihrem Verständnis) der Modernismus bzw.
die Moderne. Dabei geht es um die intellektuelle Haltung derer,
die aufgeschlossener und weniger vom Absoluten geprägt sein
wollen: Sie bemerken gar nicht, wie sie die Moderne in quasi abso-
lutistischer Manier verurteilen.
Dies ist mit einer weiteren komplexen geschichtlichen Ent-
wicklung verbunden, die ich hier nur erwähnen kann. Allerdings
hoffe ich, ein knapp gehaltenes Buch über dieses Thema zu gege-
bener Zeit veröffentlichen zu können. Toleranz wurde ja immer
als diejenige Tugend verstanden, die jenen, mit denen wir nicht
übereinstimmen, gestattet und sie sogar ermutigt, sich offen zu
äußern und ihren Standpunkt zu verteidigen. Man wird an Vol-
taires berühmten Ausspruch erinnert: »Ich bin vielleicht nicht ein-
verstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tode
dafür streiten, dass Sie das Recht haben, es zu sagen.« Mit ande-
ren Worten: Erst wenn man mit jemandem oder etwas nicht über-
94
einstimmt, besteht die Möglichkeit, tolerant zu sein. Aber in un-
serer postmodernen Welt wird Toleranz immer mehr als Tugend
verstanden, die nicht die Ansicht vertreten will, dass irgendeine
Meinung schlecht, übel oder töricht ist. Man »toleriert« alles, weil
sich nichts jenseits des Erlaubten befindet – außer der Ansicht, die
diese Toleranzauffassung verwirft. Was dies betrifft, gibt es über-
haupt keine Toleranz.
Dies ist, offen gestanden, intellektuell zusammenhanglos. Ein
Kapitalist mag einen Marxisten tolerieren und umgekehrt. Ein
Muslim toleriert vielleicht einen Christen und umgekehrt. Aber
enthält die Aussage: »Es gibt meiner Ansicht nach hinsichtlich
Ihrer Haltung nichts Verkehrtes – ich toleriere Sie« irgendeinen
logischen Zusammenhang? Man kann erst tolerieren, wenn man
anderer Meinung ist.116 Aber das einzige Gebiet, auf dem die post-
modernen Toleranzbefürworter jedem entschieden widerspre-
chen, ist derjenige Bereich, der ihrer Beurteilung nach der Moder-
ne zuzuordnen ist: In diesem Fall wird der betreffende »-ismus«
als schlecht angesehen und ihm sehr wenig Toleranz entgegen-
gebracht. Wenn jemand argumentiert, dass eine andere Position
oder eine andere Religion falsch wahrgenommen wird, fehler-
haft ist bzw. sich in irgendeinem Punkt sogar verderblich auswirkt
(z.B. Kinderopfer unter den Azteken), erwidern sie: Sind wir be-
rechtigt zu kritisieren, wenn Kinderopfer den Azteken vermutlich
sehr viel bedeutet haben?
95
Somit erheben Vertreter der Postmoderne dort, wo sie mit nie-
mandem uneins sind, den Anspruch, tolerant zu sein (was un-
logisch ist). Dagegen erweisen sie sich in dem einen Hauptbereich,
wo sie anderen (nämlich Repräsentanten der Moderne) energisch
widersprechen, als intolerant. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin,
dass sie ihre von der Moderne geprägten Gegner als intolerant be-
zeichnen, selbst wenn diese lediglich das Recht einfordern, auf
höfliche Weise ihre Nichtübereinstimmung mit Haltungen zu be-
kunden, die ihrer Ansicht nach völlig verkehrt sind. Dabei wol-
len Vertreter der Moderne ihre Gegner gar nicht zum Schwei-
gen bringen. Wenn wir die Werke einiger führenden Vertreter der
Emerging Church über all die anderen »-ismen« (außer Modernis-
mus bzw. Moderne) lesen und vielleicht ihre Großherzigkeit be-
wundern, uns dann aber ihrer Behandlung dessen zuwenden, was
sie unter Moderne verstehen: Spüren wir da nicht einen Hauch in-
tellektueller Zusammenhanglosigkeit?
Man könnte folgern, dass ein beträchtlicher Teil des sogenann-
ten postmodernen Denkens (einschließlich der Gedankenwelt in-
nerhalb der Emerging-Church-Bewegung) dem erliegt, was Chris-
topher Shannon als »Tradition offenkundiger Kritik« bezeichnet.
Das bedeutet, dass man dem »bedenklichen Vorhaben« frönt, »alle
überkommenen Traditionen auszumerzen«. Soweit diese Kritik zu-
trifft, stellt die Postmoderne unter Beweis, dass sie an dieser ent-
scheidenden Stelle ihre Verwurzelung in der Moderne nicht hinter
sich gelassen hat. Indem man im postmodernen Denken, darunter
auch in der Emerging-Church-Bewegung, häufig auf die Tradition
Bezug nimmt, knüpft man fortwährend an eine ältere Tradition, eine
andere Tradition, eine unbekannte Tradition oder eine vielschich-
tige Tradition an. Alles ist zulässig außer der Tradition der Moderne
– eben weil das Hauptziel in der »bedenklichen Ausmerzung aller
überkommenen Traditionen«117 besteht. Ich werde auf einen Aspekt
dieses Punktes im nächsten Kapitel kurz zurückkommen.
96
Was die ersten drei Kritikpunkte im Detail bedeuten
Mit meinem vierten Kritikpunkt gehe ich hinsichtlich der ersten
drei ins Detail – er richtet sich nicht gegen die Emerging-Church-
Bewegung im Allgemeinen, sondern nur gegen einige ihrer Ver-
treter, die innerhalb der Bewegung zunehmend zu den kompe-
tentesten gehören. Ich habe oben erwähnt, dass Brian McLaren
kürzlich ein Seminar veranstaltete.118 Dort arbeitete er die Sozial-
geschichte auf – zumindest so, wie er sie versteht. Dabei gab er
dem Absoluten die Hauptschuld an der langen Liste der wich-
tigsten Missstände in den letzten Jahrhunderten – Nationalsozia-
lismus, Kommunismus, Sklaverei, das Massaker an den Azteken,
Kolonialismus, Imperialismus. Das Absolute, so argumentiert er,
sei aus der Aufklärung hervorgegangen – die Frucht des endlosen
Strebens der Moderne nach Gewissheit. Tatsächlich war die Zeit
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von durchdachten und so-
gar geistvollen Überlegungen etlicher europäischer (insbesondere
französischer) Denker gekennzeichnet. Sie versuchten zu verste-
hen, was mit dem »Projekt Aufklärung« (Anmerkung des Über-
setzers: Dieser Ausdruck bezieht sich hier und im Folgenden auf
das Anliegen jener geistesgeschichtlich-philosophischen Epoche,
die im 17. und besonders im 18. Jahrhundert vor allem in Groß-
britannien, Frankreich und Deutschland gegen Metaphysik so-
wie Dogmatik kämpfte, den Rationalismus betonte und den stän-
digen Fortschritt des Menschen zum obersten Ziel erhob.) falsch
gelaufen war. Sie erkannten schließlich nicht nur den furchtbaren
Machtmissbrauch durch eine vom Absoluten geprägte Geistes-
haltung, sondern auch deren intellektuelle Unbeständigkeit – ein
Sachverhalt, der wesentlich an der Entstehung der Postmoder-
ne beteiligt war. Somit hat die Moderne zumindest teilweise ent-
scheidend dazu beigetragen, dass alle Missstände globalen Aus-
maßes in den vergangenen Jahrhunderten entstehen konnten. Die
Reaktion darauf heißt Postmoderne.
Wiederum sei gesagt, dass wir eine grob verallgemeinernde
Verurteilung der Moderne vorfinden, deren Lösung die Post-
97
moderne ist. Wollte man eine ausführliche Analyse vornehmen,
müsste man mehrere Bücher schreiben. Dazu werde ich im nächs-
ten Kapitel dieses Buches einige Anmerkungen machen. Dennoch
will ich hier dieses Verständnis der Moderne und ihrer Missstän-
de in aller Kürze kritisch beurteilen.
(1) Wissenschaftler haben ganz andere Deutungen hinsichtlich
der Geschichte der Moderne vorgelegt, wobei einige einleuchten-
der sind als McLarens Interpretation. So ist z.B. Richard Bauck-
ham der Meinung, dass das charakteristischste Merkmal der Mo-
derne von der Aufklärung bis zur Gegenwart das Streben nach
Freiheit und die Suche nach menschlicher Selbstbestimmung sei.
Die meisten Denker der frühen Aufklärung waren Theisten (Be-
fürworter der Ansicht, dass es einen persönlichen, von außen auf
die Welt einwirkenden Schöpfergott gibt) oder zumindest Deisten
(Vertreter der Auffassung, dass Gott die Welt zwar geschaffen hat,
aber keinen weiteren Einfluss mehr auf sie ausübt), doch im wei-
teren Verlauf der Moderne wurde Gott zunehmend an den Rand
gedrängt. Somit schwand immer mehr das Verständnis dafür, was
Freiheit bedeutet. Dadurch wurde den willkürlichsten Analysen
oder der uneingeschränkt vergnügungsorientierten Selbstbehaup-
tung Tür und Tor geöffnet.119 Dieses Moderne-Verständnis und
nicht das Absolute selbst werden viele von uns als naheliegendere
Ursache der Missstände ansehen.
(2) Es gibt ein ernsthaftes Problem, wenn man das westliche
Denken unter dem Aspekt des Absoluten analysieren will. Es be-
steht darin, dass man dann außerstande ist, dort zu differenzieren,
wo es notwendig ist. Man setzt voraus, dass durch das Absolu-
te verursachte machtpolitische Handlungsweisen alle gleicherma-
ßen schlecht sind. Dies entsprach weitgehend der These von Mi-
chel Foucault (Anmerkung des Übersetzers: französischer Philo-
soph [1926-1984]). Er argumentierte, dass alle Aussagen (darunter
zugegebenermaßen seine eigenen) versuchen, indirekt oder direkt
Überzeugungen zu wecken. Ihnen müsse daher der Vorwurf ge-
119 Siehe insbesondere Richard Bauckham, God and the Crisis of Freedom: Biblical
and Contemporary Reflections (Louisville: Westminster John Knox Press, 2002).
98
macht werden, »alles unter einem Einzelaspekt zusammengefasst
zu betrachten«. Alle Ansprüche auf Wahrheit und Recht seien nur
versteckte Machtbekundungen. Lange bevor Foucault im Trend
lag, machte interessanterweise Virginia Woolf (Anmerkung des
Übersetzers: britische Schriftstellerin [1882-1941]) die berühmte
Aussage, dass sich Großbritannien und Hitler-Deutschland nur
wenig unterscheiden würden. Und dies war ein ziemlich gän-
giger Spruch der Linken während des Kalten Krieges: Moralisch
gesehen, so folgerte man, bestünden zwischen den USA und der
UdSSR nur geringe Unterschiede.
Eine derartige Analyse ist außerstande, Unterscheidungen vor-
zunehmen, die unbedingt gemacht werden müssen. Ich will damit
überhaupt nicht andeuten, dass Großbritannien oder die USA im-
mer im Recht waren. Doch Großbritannien versuchte nicht, alle Zi-
geuner und Juden zu vernichten, es richtete keine Todeslager ein.
Am Ende des Krieges kündigten die Wähler Winston Churchill
die Gefolgschaft auf, weil die Regierungsform noch immer demo-
kratisch war (welche Regierungsform hätte wohl Hitler entmach-
tet?). Großbritanniens größtes moralisches Versagen auf weltpo-
litischem Gebiet unmittelbar vor dem Krieg bestand nicht darin,
dass es brutal und gewaltsam Nachbarstaaten annektierte. Viel-
mehr verfolgte es eine kurzsichtige Beschwichtigungspolitik in
der vergeblichen Hoffnung, dass das zu allem entschlossene Böse
(Anmerkung des Übersetzers: d.h. in Gestalt Hitlers) durch Ent-
gegenkommen und lange Gespräche aufgehalten werden könne –
was grundverkehrt war. Mit anderen Worten: Großbritannien und
Frankreich hatten versagt, als sie sich Hitler nicht entgegenstellten,
während er das Rheinland einverleibte. Vor allem, weil sie nicht
auf absoluten Werten bestanden, trugen die Alliierten zum Aus-
bruch des Zweiten Weltkriegs bei. Lesen Sie hierzu ein gut recher-
chiertes Werk über Stalin120, und vergleichen Sie ihn mit Franklin
Roosevelt.
Auch übersehe ich nicht die Dezimierung der amerikanischen
120 Simon Sebag Montefiore, Stalin: The Court of the Red Tsar (New York: Knopf,
2004; deutsche Ausgabe: Stalin. Am Hof des roten Zaren [Frankfurt am Main: S. Fi-
scher Verlag, 2005]).
99
Ureinwohner – manchmal unter Gewaltanwendung und mitunter
aufgrund der Krankheiten, die weiße Siedler einschleppten. Wir
können ebenso der Sklaverei und deren Erbe nicht ausweichen.
Dennoch gilt: Wer dem Absoluten für all dies die Schuld gibt,
scheint zu sehr auf einzelne Aspekte ausgerichtet zu sein. Wo-
durch wurde der Sklavenhandel über den Atlantik aufgehalten?
Letztlich infolgedessen, dass England eine von absoluten Werten
geprägte Haltung gegen diesen Handel einnahm, nachdem Chris-
ten Gesetze zur Abschaffung der Sklaverei ins Parlament von
Westminster eingebracht hatten und englische Kanonenboote den
Sklavenhandel über den Atlantik und im Persischen Golf größten-
teils zum Erliegen brachten.
(3) Wir müssen die barbarischen Taten der vormodernen Welt
mit den Barbareien der modernen Welt vergleichen. Wir haben
unseren Hitler, Stalin und Pol Pot, während es damals Dschingis
Khan, Nero und Antiochus IV. Epiphanes gab. Wir könnten eben-
so mit anderen weltpolitischen Schauplätzen Vergleiche anstellen
– etwa mit der grausamen Stammespolitik von Idi Amin. Plötzlich
erkennen wir, dass entsetzliche Grausamkeit und Bosheit nicht
ausschließlich auf die Moderne zurückgehen.
(4) Wir sollten uns darüber hinaus an einige positive Sachver-
halte erinnern, die aus der Moderne hervorgegangen sind. Als Ers-
tes kommen uns moderne Medizin, Hygiene, blitzschnelle Ver-
kehrsmittel, unerhört rasche Kommunikation, eine beträchtliche
Erhöhung der Lebenserwartung und ein viel größeres Wissen hin-
sichtlich der physischen Welt in den Sinn. Mit diesen Erfolgen ha-
ben sich natürlich auch entsprechende Missstände eingestellt –
und zwar nicht, weil die Moderne das Böse in höchster Potenz mit
sich gebracht hat, sondern weil wir Menschen von Natur aus und
aufgrund eigenen Entschlusses aufbegehren. Wir können jedes Sys-
tem ins Verderben reißen. Wir können jede erkenntnistheoretische
Struktur auf pervertierte Ziele hin ausrichten. Wir können jede Ide-
ologie verdrehen. Wir können jede Erfindung bzw. Entdeckung
für verderbliche Zwecke missbrauchen. Daher berechtigt uns dies
nicht, allein das Absolute oder die Moderne damit zu verbinden.
(5) Ist Absolutheit das Problem? Gott erklärt: »Du sollst nicht
100
ehebrechen« (vgl. z.B. 2. Mose 20,14). Dies ist eine absolute Aus-
sage. Ist sie Ausdruck des Bösen? Gott ist der absolut souverän
Handelnde: Ist das an sich böse? Besteht das Problem in der Ab-
solutheit oder im menschlichen Verlangen, wie Gott zu wer-
den? Aber regt sich dieses Verlangen nicht im Rahmen jeder Welt-
anschauung, jedes gesellschaftlichen Systems und jeder Erkennt-
nistheorie? Das soll nicht heißen, dass daher jedes System bzw.
jede Erkenntnistheorie oder jede obrigkeitliche Struktur moralisch
gleichwertig ist. Es bedeutet lediglich, dass kein System, keine Er-
kenntnistheorie bzw. keine Staatsform den Entwurf einer idealen
Gesellschaft verwirklichen kann, weil wir Menschen wesensmä-
ßig böse sind. Oft wird Lord Acton zitiert: »Macht korrumpiert,
und absolute Macht korrumpiert absolut.« Das trifft in einer gefal-
lenen und aus den Fugen geratenen Welt natürlich zu. Als Grund-
satz, der für den neuen Himmel und die neue Erde gilt, ergibt dies
jedoch keinen Sinn. Daher ist nicht die Absolutheit der Macht der
springende Punkt, sondern die Frage, wer sie ausübt. Ja, mitunter
entsteht das Böse teilweise dadurch, dass man es unterlässt, sich
ihm entgegenzustellen.121
Edmund Burke sagte: »Die einzige Voraussetzung für den Tri-
umph des Bösen ist, dass gute Menschen nichts tun.« Wenn wir
daher annehmen, dass in einer gefallenen Welt alle Macht kor-
rumpiert, können wir jedoch zwischen den einzelnen Regierungs-
formen unterscheiden – je nachdem, wie die Betreffenden an die
Macht gekommen sind und sie verloren haben, wie die Gewalten
verteilt sind und wie sie kontrolliert werden oder wie man sich
der Machthaber entledigt. Eine Errungenschaft der verschiedenen,
in unserer Welt bestehenden Formen der gesetzlich verankerten
Mehrparteiendemokratie als Institution ist es, dass sie auf fried-
liche Weise dafür sorgen, die jeweiligen Machthaber alle paar Jah-
re ohne Blutvergießen abwählen zu können. Obwohl dies nicht au-
ßerordentlich effektiv sein mag, ist es für sich genommen gewiss
121 Wenn die Bedingungen für einen gerechten Krieg erfüllt sind, besteht nach
der Theorie des »gerechten Krieges« das moralische Versagen demnach darin, nicht
in den Krieg zu ziehen, da es mit mangelnder Nächstenliebe und der fehlenden Be-
reitschaft zu tun hat, für andere Menschen Opfer zu bringen.
101
besser als die betreffenden Alternativen.122 Und auch die Demo-
kratie ist aus der Aufklärung heraus entstanden – und zwar wohl
unter dem Einfluss der christlichen Lehre bezüglich der Trennung
von Kirche und Staat. Doch davon wird in McLarens Schriften oder
in den Werken früherer französischer Vertreter der déconstruction
(Anmerkung des Übersetzers: Neben dem bereits erwähnten Mi-
chel Foucault sind dies insbesondere Jean-François Lyotard [1924-
1998], Jacques Derrida [1930-2004] und Jean Baudrillard [1930-
2007].), auf die er Bezug nimmt, nichts sichtbar. Stattdessen lesen
wir, dass die Moderne das Absolute hervorbringe, das Absolute
eine Hauptursache all unserer Missstände sei und wir somit die
Moderne vollständig verdammen müssten.
(6) Ein anderes unlauteres Element in McLarens Schriften ist
seine Bereitschaft, alle Erscheinungsformen des Christentums
über einen Kamm zu scheren, ohne Überlegungen in Bezug auf
Theologie, Lebendigkeit, Bibeltreue oder Ausnahmen anzustel-
len. Pizarro (d.h. der bereits erwähnte spanische Eroberer des In-
kareiches) wird somit zum Prototyp. Sehen wir uns den Bereich
missionarischer Bemühungen an, in denen viel zu viel mit koloni-
alem Eifer verwechselt wurde oder zumindest damit einherging.
Selbst dort erfordern Ausgewogenheit und Unvoreingenommen-
heit, dass wir uns an William Carey erinnern: Für die East India
Company war er in Indien als Missionar unerwünscht. Sie lehnte
es ab, ihn zu befördern und ihm zu helfen. Ihre Vertreter behandel-
ten ihn im Allgemeinen geringschätzig und erschwerten ihm das
Leben, gerade weil er sich dort nicht aufhielt, um Menschen aus-
zubeuten, sondern um Menschen zu lieben und ihnen das Evange-
lium zu verkündigen. Jonathan Edwards trat den Behörden entge-
gen, als sie die Indianer misshandelten, denen er zu dienen suchte.
J. Hudson Taylor bestand darauf, sich den Chinesen, zu denen er
berufen war, im Blick auf Kleidung, Ernährung und Lebensstil
anzupassen. Und fast ein Jahrhundert vor der Zeit, da man da-
von sprach, dass man Mission »in einem Gesamtzusammenhang
122 Winston Churchill sagte: »Demokratie ist die schlechteste aller Regierungs-
formen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert
worden sind.«
102
sehen müsse«, legte Roland Allen (Anmerkung des Übersetzers:
Dieser Engländer lebte von 1868 bis 1947 und war von 1895 bis
1903 anglikanischer Chinamissionar. Nach seiner Rückkehr wirkte
er im Gemeindedienst.) die Grundsätze der Gründung »einheimi-
scher« Gemeinden dar. Sie sollten über eine eigene Leitung ver-
fügen, selbstständig sein und sich selbst tragen.123 Zwischen 1880
und 1910 starben mehr als ein Drittel aller Missionare, die nach
Zentralafrika gingen, innerhalb ihres ersten Einsatzjahres. Eini-
ge Missionsgesellschaften rieten Missionaren, den eigenen Sarg
mitzunehmen. Dennoch brachen sie auf. Kurz gefragt: Ist es an-
gebracht, die gesamte moderne Missionsbewegung abzuschreiben?
Wirkte das Evangelium nicht gerade deshalb so machtvoll, weil
zahlreiche Missionare an vielen Fronten den kulturellen Einflüs-
sen ihrer Zeit entgegentraten?
Wenn ich überdies heute rund um die Welt reise und verschie-
dene Missionare bei ihrer Arbeit sehe, stelle ich Folgendes fest:
Diejenige Nation, deren Missionare von den Bekehrten vor Ort
in Fragen der Gemeindezugehörigkeit, der geistlichen Lebens-
stile und der Kultur wohl am ehesten Anpassung an die Formen
des sendenden Landes fordern, ist Südkorea. Viele seiner eifrigen
und aufopferungsvoll tätigen Missionare haben meiner Befürch-
tung nach viel zu wenig aus den Fehlern der westlichen Welt ge-
lernt. Doch täuschen wir uns nicht: In diesem Fall ist nicht die Er-
kenntnistheorie der westlichen Moderne der Maßstab, sondern
eine auf dem Konfuzianismus fußende Grundstruktur (was viele
dieser Missionare bereitwillig eingestehen, zumindest im privaten
Bereich!). Wiederum sei gesagt, dass die stark verallgemeinernden
Anklagen, die von einigen Denkern der Emerging Church vorge-
bracht werden, bestenfalls auf einzelne Aspekte ausgerichtet und
oft historisch verzerrt dargestellt sind.
123 Roland Allen, Missionary Methods: St. Paul’s or Ours?, 6. Aufl. (Nachdr.:
Grand Rapids: Eerdmans, 1962). Natürlich ist dieses Werk in erheblichem Maße
überholt. Nachdem wir die Verwurzelung in der eigenen Kultur herausgearbeitet
haben, sind wir dazu übergegangen, den Gesamtzusammenhang hervorzuheben.
Dadurch kommt zu den genannten Merkmalen (Selbstverwaltung, Selbstständig-
keit und Selbstfinanzierung) die Bedeutung der andersgearteten, kontextbezoge-
nen theologischen Arbeit hinzu.
103
So viel demnach zu diesen vier Punkten hinsichtlich der Be-
urteilung der Moderne.
104
derne-Verständnis der Emerging Church jedoch in gewisser Weise
fragwürdig kurzsichtig und (wie vorauszusehen war) vom Abso-
luten her geprägt zu sein. Das ist bedeutsam, weil dasjenige, was
die Bewegung im Rahmen einer Reformation und Erneuerung be-
fürwortet, in großem Maße von der Genauigkeit dieser Deutung
abhängt. Da ein Großteil dieser Deutung mit der Reaktion dieser
Bewegung auf die Postmoderne verbunden ist, lässt sie sich am
besten in den nächsten beiden Kapiteln behandeln, obwohl ich
hier einige entsprechende Bemerkungen machen werde. Dabei be-
schränke ich mich auf vier Punkte.
105
Es gibt einen Aspekt, unter dem viele Menschen die Zugehö-
rigkeit zur Postmoderne mit dem »Wissen (verbinden), was gera-
de angesagt ist«, selbst wenn dies lediglich bedeutet, eine Art Ver-
bindung zur Tradition wiederherzustellen. Wenn ein Ausdruck
zum Schlagwort wird, dann entspricht der Kontext, in den ihn ein
Denker oder eine Bewegung stellen, nicht unbedingt dem, was je-
mand anders darunter versteht.
Etliche Autoren bekämpfen natürlich verbissen jede Form des
erkenntnistheoretischen Postmodernismus. Viele davon sind Wis-
senschaftler, die davon überzeugt sind, dass man zumindest auf
ihrem Fachgebiet objektive Wahrheit in gewisser Hinsicht erken-
nen kann. Einige davon führen einen erbitterten intellektuellen
Kampf, um die absurden Sachverhalte zu entlarven, die einem
Großteil der sogenannten »Postmoderne« innewohnen.124 Doch es
gibt auch gewisse Kreise in der jüngeren Generation, denen das
Thema »Postmoderne« leid ist. Einem anderen Teil dieser Genera-
tion wiederum ist diese Diskussion gleichgültig. Vor zehn Jahren
fand eine große Weiterbildungsfreizeit von InterVarsity Christian
Fellowship statt (Bezeichnung des US-amerikanischen Zweigs der
»International Fellowship of Evangelical Students« [IFES], einer
weltweiten Vereinigung von ungefähr 160 evangelikalen Studen-
tenbewegungen). Dort wurden die Teilnehmer von den Leitern
nachdrücklich darauf hingewiesen, dass sich ihnen aufgrund ver-
änderter gottesdienstlicher Formen neue Felder geistlichen Wohl-
124 Das vielleicht auffälligste Beispiel ist das sachkundig geschriebene und hu-
morvolle Buch von Paul R. Gross und Norman Levitt, Higher Superstition, The Aca-
demic Left and Its Quarrels with Science (Baltimore: John Hopkins University Press,
1994). Da Gross und Levitt Vertreter der säkularen Moderne sind, verfolgen sie
natürlich eigene Ziele. Dennoch bringen sie einige gute Argumente vor. Ich habe
festgestellt, dass an vielen Universitäten, in deren Umfeld sich stabile Gemeinden
befinden, das Verhältnis von christlichen Studenten und Professoren aus dem Be-
reich Naturwissenschaften, Mathematik, Computertechnik und Wirtschaftswis-
senschaften zu christlichen Studenten und Dozenten aus dem Bereich der schö-
nen Künste, Sozialwissenschaften, der Psychologie und der Literatur zwischen 6:1
und 18:1 variiert. Meiner Vermutung nach ist dies teilweise darauf zurückzufüh-
ren, dass die zuerst genannten Fachbereiche noch immer objektive Wahrheitskate-
gorien beibehalten. Teilweise liegt dies auch daran, dass viele derjenigen, die sich
in der Evangelisation an Universitäten engagieren, sich nur langsam auf Ansätze
einstellen, welche die erkenntnistheoretischen Strukturen der letztgenannten Dis-
ziplinen wirklich verstehen und darauf angemessen reagieren.
106
befindens erschließen würden. Sie glaubten, dass musikalisch teil-
weise ein härtere Rockmusik geboten werden würde, als man es
im christlichen Umfeld bisher gewohnt war. Kürzlich habe ich
eine weitere derartige Zusammenkunft besucht, auf der genau
auf das gleiche Thema – die Ausweitung der geistlichen Erfah-
rungsbereiche – Bezug genommen wurde, und zwar diesmal, um
eine Auswahl klassischer geistlicher Lieder voller altertümlicher
Formulierungen einzuführen. Ein Rezensent eines Buches von
McLaren125 schrieb dazu:
125 Brian D. McLaren, The Church on the Other Side (Grand Rapids: Zondervan,
2000). Dieses Buch war zuvor unter dem Titel Reinventing Your Church (Grand Ra-
pids: Zondervan, 1998) erschienen.
107
fassen. Ich glaube dies einfach nicht. Und das kommt nicht
daher, dass ich bereits ergraut bin und mit dieser schönen
neuen Welt nicht mehr zurechtkomme. Ich bin 24 Jahre alt;
ich lebe nach Art dieser schönen neuen Welt. Veränderung
ist kein Problem für mich. Ich liebe Veränderung. Ich freue
mich darauf, in eine neue Stadt zu ziehen, neue Menschen
zu treffen, neue Kulturen zu erleben und neue Dinge zu ler-
nen. Ich finde Gefallen an dem Gedanken, mich in die Welt
zu stürzen und Menschen zu dienen, die in der Wahrheit
nicht fest gegründet oder nicht einmal davon überzeugt
sind. Diesbezüglich sind sich McLaren und ich einig. Ich
mag seine gewagte Art. Doch im Gegensatz zu McLaren bin
ich ebenso davon überzeugt, dass der Dienst an Menschen
der Postmoderne nicht bedeutet, kopfüber in ihren Ozean
der Ungewissheit einzutauchen. Ich will sie nicht bemit-
leiden – nein, ich möchte ihnen etwas anderes anbieten, et-
was wie z.B. Wahrheit!«126
126 Die Rezension stammt von Greg Gilbert und ist unter http://www.9marks.
org/cc/article/0,,ptid314526|chid598026|ciid1562286,00.html veröffentlicht wor-
den. Die Worte, die Gilbert aus McLarens Buch anführt (dort auf S. 21), gehen auf
eine Aussage von William Easum zurück, der von McLaren zitiert wird.
108
letztendlich herabsetzt: Sie neigt dazu, jede gesellschaftliche Ver-
änderung unter der Überschrift »Postmoderne« einzuordnen und
Sachverhalte auf irgendeine Weise in Kausalbeziehungen mit-
einander zu verbinden. Kaum hat einer der führenden Vertreter
der Emerging Church die jüngste soziologische Analyse über ei-
nen Gesichtspunkt der westlichen Gesellschaft gelesen, streicht
er diese Angelegenheit in allgemein verständlicher und manch-
mal apokalyptischer Sprache heraus, um sie mit der Postmoder-
ne zu verbinden. Je öfter dies geschieht, desto mehr bedeutet Post-
moderne nichts weiter als kultureller Wandel. Alle Kulturen ver-
ändern sich – dies ist hinreichend bekannt. Mitunter gehen die
Veränderungen sehr langsam vonstatten, manchmal wie im Fal-
le bestimmter Kriege oder größerer Katastrophen erfolgen sie er-
staunlich rasch. Heute laufen die »normalen« Veränderungen
schnell ab, was in erheblichem Maße auf die Geschwindigkeit un-
serer modernen Nachrichtenübermittlung zurückzuführen ist.
Aber wenn jeder Wandel als entscheidender Bestandteil der Post-
moderne ausgegeben wird, dann beschränkt sich die Bedeutung
der Postmoderne lediglich auf Veränderung bzw. auf Geschwin-
digkeit von Veränderungen.
Es ist meiner Meinung nach besser, zwischen Postmoderne
und dem zu unterscheiden, was man als ergänzende Entsprechungen
der Postmoderne bezeichnen könnte. Mit anderen Worten: Es ist
zweckmäßiger, die Postmoderne genau zu definieren. Wenn sich
dann Veränderungen dieser Definition nicht zuordnen lassen, sind
sie demzufolge keine Bestandteile der Postmoderne. Damit kann
man dann eben keine entsprechenden Beweise für die Postmoder-
ne anführen oder irgendwelche besonderen Postmoderne-Thesen
rechtfertigen. Die einzige Alternative besteht, wie bereits gesagt,
in einem solch diffusen Ansatz, dass »postmoderne Kultur« dem-
zufolge nichts anderes als »sich wandelnde Kultur« bedeutet.
Das soll nicht heißen, dass die stattfindenden kulturellen Ver-
änderungen, die nach unseren Beobachtungen nicht zu einer ein-
deutig definierten Postmoderne gehören, überhaupt keine Bezie-
hung zu ihr haben. Zahlreiche dieser kulturellen Entwicklungen
kann man sich sinnvollerweise als ergänzende Entsprechungen der
109
Postmoderne vorstellen – d.h. als Entwicklungen, die durch die
Postmoderne vorangetrieben wurden oder ihrerseits der Postmo-
derne Impulse verleihen. So haben z.B. viele bemerkt, dass es im-
mer mehr biblisch Unkundige in der westlichen Gesellschaft gibt.
Man kann gewiss nicht behaupten, dass die Postmoderne einen
plausiblen Grund für eine solche fehlende Bibelkenntnis bietet.
Betrachten wir jedoch folgendes Szenario: Zunehmend ist man der
Ansicht, dass die Texte alle im Wesentlichen unter einem Einzel-
aspekt zusammengefasst betrachtet werden müssten. Man denkt
inzwischen, dass alle Glaubensrichtungen die gleiche erkenntnis-
theoretische Grundlage hätten, oder glaubt, dass alle religiösen
Ansprüche im Grunde nicht maßgebend seien – außer für diejeni-
gen, die bewusst in einer besonderen Tradition leben. Angesichts
dessen liegt es nicht mehr so nahe, die Bibel in Ehren zu halten,
geschweige denn, sie zu lesen, sofern man viele andere religiöse
Texte nicht ebenso als Lektüre heranzieht und ihnen allen dieselbe
Autorität zuweist. Umgekehrt hat die fehlende Bibelkenntnis die
Postmoderne nicht hervorgebracht. Dennoch ist es für die breite
Masse der Bevölkerung eindeutig einfacher, die postmoderne Er-
kenntnistheorie zu übernehmen, nachdem eine tief gehende Bibel-
kenntnis kein kulturbestimmendes Merkmal mehr ist.
Andere ergänzende Entsprechungen gibt es in Hülle und Fül-
le. Viele haben z.B. auf eine emotionale Heimatlosigkeit oder Ver-
einsamung hingewiesen127, oft in Verbindung mit der großstäd-
tischen Lebensweise und modernen Technologien. Einige wenige
Autoren sind der Meinung, dass diese Entwicklungen die Post-
moderne definieren würden. Doch wiederum finde ich darin kei-
nen Anhaltspunkt hinsichtlich dessen, was Postmoderne wirklich
bedeutet. Vermutlich ist es besser, die Schlussfolgerung zu ziehen,
110
dass die postmoderne Erkenntnistheorie ohne Weiteres diese Ten-
denz der zwischenmenschlichen Entfremdung verstärkt, da so viel
aus der Sicht einer besonderen Auslegungsgemeinschaft definiert
wird – wobei umgekehrt dieses Gefühl der Entwurzelung die emo-
tionale Grundlage der Postmoderne in gewisser Hinsicht verstärkt.
Somit gilt, was von uns gesagt wird: »In der postmodernen
Welt zeichnen wir uns immer mehr durch Post-Kolonialismus,
post-mechanistische und post-analytische Züge, Post-Säkularis-
mus und Post-Objektivismus aus. Wir sind zunehmend post-kri-
tisch, post-strukturell, post-individualistisch, post-protestantisch
und post-verbraucherorientiert.«128 Angesichts dessen fallen mir
mehrere Ängste ein. Trotz dieser durchaus anerkennenswerten Be-
mühungen um durchdachte Definitionen umfassen einige dieser
Kategorien wenig mehr als Schlagworte, deren Relevanz wir in-
frage stellen müssen.129 Eines oder zwei davon stehen im direkten
Widerspruch zu demjenigen Postmoderne-Verständnis, das an-
dere übernommen haben (siehe z.B. die Anmerkungen von Andy
Crouch in Kapitel 1).130 Ein oder zwei Kategorien, wie etwa »post-
protestantisch«, werfen ferner theologische Fragen von enormer
Tragweite auf, denen wir uns stellen müssen (vgl. Kapitel 5). Aber
fürs Erste sollten wir Folgendes beachten: Wenn Postmoderne le-
diglich »eine Zeit zahlreicher rascher, kultureller Veränderungen«
beinhaltet, dann trägt die Verwendung einer verwirrenden Viel-
falt von Etiketten wenig zum sorgfältigen Nachdenken über das
128 Brian D. McLaren, A New Kind of Christian: A Tale of Two Friends on a Spiritual
Journey (San Francisco: Jossey-Bass, 2001), S. 19.
129 Ebd., S. 16-19. Ist die postmoderne Welt z.B. postverbraucherorientiert? Die
US-Amerikaner häufen weiterhin Kreditkartenschulden auf, und jüngere Ameri-
kaner – diejenigen, die von ihrer Erkenntnistheorie her am ehesten postmodern
eingestellt sind – haben sich bekanntermaßen als weniger freigebig als ihre Eltern
und Großeltern in deren jungen Jahren erwiesen. Trägt die postmoderne Welt post-
mechanistische Züge? Wenn man zum Maschinenzeitalter Computer und die ge-
samte digitale Welt hinzurechnet, sollte man sich nur einmal Menschen der Post-
moderne beim Telefonieren mit ihren Handys anschauen. Ist die postmoderne
Welt postanalytisch geprägt? Alle führenden Vertreter der Emerging Church sind
damit beschäftigt, die Moderne und Postmoderne zu analysieren. Sämtliche Kate-
gorien von McLaren müssen erheblich eingeschränkt oder, in einigen Fällen, revi-
diert werden.
130 S. 33-35.
111
Wesen der postmodernen Kultur bei, wobei sie sich als emotions-
geladene und nicht als exakte Methode erweist.
Kurz gesagt: Ein Großteil der Analyse, welche die Emerging
Church bezüglich der Postmoderne vornimmt, würde uns mehr
überzeugen, wenn sie nicht solch ein Sammelsurium sozialer Ver-
änderungen wäre. Es lohnt sich, über alle diese Veränderungen
nachzudenken, doch bei einer entsprechenden Analyse sollte man
unbedingt genauer vorgehen, als dies gewöhnlich der Fall ist. Man
muss der Emerging-Church-Bewegung zugutehalten, dass sie hin-
sichtlich dieses Schwachpunkts nicht allein dasteht.
131 Das Werk trägt den Titel Christianisme: héritage et destins, Hrsg. Cyrille Mi-
chon (Paris: Librairie Générale française, 2001). Zu den Koryphäen auf der Kon-
ferenz gehörten u.a. Marie Balmary, René Girard, Julia Kristeva, Kardinal Ratzin-
ger (der heutige Papst Benedikt XVI.), George Steiner und Charles Taylor. Interes-
santerweise stand die Konferenz unter dem großspurigen Motto »2000 ans après
quoi?« [frei übersetzt etwa »2000 Jahre danach. Eine Bestandsaufnahme«]. Henri
Blocher schlussfolgert: »Ich werde, offen gestanden, allein schon angesichts des
Wortes ›postmodern‹ immer ungehaltener: Als Etikett passt es ausgezeichnet, es
steigert das Selbstwertgefühl, wobei es hinsichtlich des Buchabsatzes [zumindest
in den USA!] vorteilhaft ist, ›postmodern‹ im Titel zu führen! Tatsächlich handelt
es sich um die Spätmoderne. Meiner Ansicht nach greifen all die seriösen Autoren
nicht auf den Begriff ›postmodern‹ zurück – zumindest die übergroße Mehrheit von
ihnen.« Siehe das Interview mit ihm in Themelios 29/3 (2004), S. 37-42 (bes. S. 42).
112
pa entspricht nicht genau der Lage in Amerika. Dennoch hat man
– zumindest ein wenig – Bedenken, dass wieder einmal eine Be-
wegung, die vor einem halben Jahrhundert den Scheitelpunkt
ihres intellektuellen Strebens erreichte, in Europa vor ca. 40 Jahren
populär war und an US-amerikanischen Universitäten vor etwa 25
Jahren weite Verbreitung fand, heute von viel gelesenen evangeli-
kalen Autoren hofiert wird, die als eindringliche Mahner auftre-
ten wollen. Ich habe nichts dagegen, die Worte »postmodern« und
»Postmoderne« zu gebrauchen, zumindest solange ich Vorträge in
Nordamerika halte. Aber es geht nicht nur darum, dass die da-
mit verbundenen Begriffe und Vorstellungen angesichts fehlender
sorgfältiger Definition sperrig geworden sind. Vielmehr hat man
daraus auch Kapital geschlagen, um eine ganze Bewegung zu
rechtfertigen, die zu genau jener Zeit mit apokalyptischen Unter-
tönen versehen worden ist, da angesehene Denker die Beständig-
keit der Bewegung zunehmend infrage stellen.
Meiner Ansicht nach prägen uns nach wie vor diejenigen Än-
derungen hinsichtlich der praktischen Erkenntnistheorie, die in
den letzten Jahrzehnten in den USA allgemein verständlich dar-
gestellt worden sind – ungeachtet dessen, ob der Begriff »Postmo-
derne« in akademischen Kreisen weiterhin akzeptiert wird oder
nicht. Daher ist es noch immer lohnenswert, ernsthafte Gedanken
und Energie auf den Versuch zu verwenden, das Geschehene zu
verstehen. Außerdem sollte man versuchen zu lernen, wie man
das Evangelium neuen Generationen weitergeben kann. Aber in
einigen Kreisen stellt eine erkenntnistheoretische Gleichgültigkeit
in Verbindung mit einer neu aufgekommenen Erfolgsgier und ei-
ner Entschlossenheit, die Institutionshierarchie zu erklimmen,
wahrscheinlich eine Bedrohung dar, die zumindest ebenso groß
ist wie diejenige der postmodernen Erkenntnistheorie.132 In ande-
ren Kreisen wiederum tauchen verschiedene moderne Formen des
132 Siehe insbesondere die scharfsinnige Abhandlung von David Brooks, »The
Organization Kid«, Atlantic Monthly 287/4 (April 2001), S. 40-54. Sie geht auf Tie-
feninterviews zurück, die Brooks mit vielen Erstsemesterstudenten an der Prince-
ton University führte. Diese neue Generation, so behauptet er, ist eher bereit, Auto-
rität zu akzeptieren.
113
Pantheismus und Synkretismus auf. Die postmoderne Erkenntnis-
theorie kann natürlich mit diesen Entwicklungen (als Ausdruck
ergänzender Entsprechungen?) in Verbindung gebracht werden.
Doch so, wie die Prioritäten von Megagemeinden jetzt in einigen
Zusammenhängen den eigenartigen Eindruck des Überholten er-
wecken, kann man leicht voraussagen, dass die Schwerpunkte der
modernen Emerging-Church-Bewegung in 20 Jahren auf eigen-
artige Weise veraltet sein werden, wenn sie sich nicht ändern.
114
oder gleichermaßen leidenschaftlich hochzustilisieren.«134 Doch
dies bringt uns zum Thema des nächsten Kapitels.
134 Michael Horton, »Better Homes and Gardens«, in The Church in Emerging Cul-
ture: Five Perspectives, Hrsg. Leonard Sweet (El Cajon: emergentYS/Grand Rapids:
Zondervan, 2003), S. 107.
135 Vgl. Kap. 1, S. 49.
136 »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagte Humpty Dumpty in einem ziemlich
verletzenden Ton, ›bedeutet es genau das, was ich damit sage – nicht mehr und
nicht weniger.‹« »›Die Frage ist‹, sagte Alice, ›ob du Worten so viele Bedeutungen
115
andernehmen« im Sinne von »zerlegen« oder etwas Derartigem,
doch niemand im Bereich der postmodernen Wissenschaft ge-
braucht es auf diese Weise. Das Wort hat mit einem literarischen
Ansatz im Rahmen der Hermeneutik des Verdachts zu tun. Diese
Methode merzt Spannungen und Widersprüche in einem Text un-
erbittlich aus (diejenigen, die sich der Dekonstruktion bedienen,
betonen, dass sie in allen Texten vorkommen). Dabei will sie die-
se in Gegensatz zueinander stellen und somit den Text dekonstruie-
ren. Dies soll zu neuen Einsichten führen, die möglicherweise dem
widersprechen, was ein Text vorgeblich sagt.
Es hat den Anschein, als sei Kimball jegliche ernsthafte Post-
moderne-Diskussion völlig fremd, obwohl er sich eifrig bemüht,
ihr Wesen zu erklären, und darlegt, was wir angesichts dessen tun
sollten. Nach David Mills’ Ansicht ist eine derartige Kritik unfair,
da gemäß seiner Argumentation die meisten Christen »Dekon-
struktion« nicht genau definieren könnten.137 Das mag schon stim-
men, aber die meisten Christen versuchen nicht, die Postmoder-
ne zu definieren oder uns zu sagen, dass wir uns ihretwegen än-
dern sollten. Zumindest sollte sich Kimball in seiner Rhetorik et-
was mäßigen.
Ein gewisser Teil der Diskussion innerhalb der Emerging-
Church-Bewegung erfolgt auf einer differenzierteren Ebene. Da-
durch gelingt es einigen wenigen unter den strategischen Denkern
unserer Zeit, ihre Gedanken in den öffentlich geführten, intellek-
tuellen Meinungsaustausch einzubringen. Aber abgesehen von
gelegentlichen Zugeständnissen geht die Rhetorik bei diesen Dis-
kussionen nahezu immer zu weit: Die Gemeinde müsse sich an
die postmoderne Welt anpassen, weil sie sonst untergehen wer-
de. Wenn wir nicht auf den in Richtung Emerging-Church-Bewe-
gung fahrenden Zug aufspringen, sind wir als Vertreter der Mo-
derne vermutlich »von gestern« und obendrein Verfechter des Ab-
geben kannst‹« (Lewis Carroll, Alice im Wunderland, online abrufbar unter http://
www.hypies.com).
137 David M. Mills, »The Emergent Church – Another Perspective: A Critical Re-
sponse to D.A. Carson’s Staley Lectures«, abrufbar unter http://kevincole.blogspot.
com/2004_04_01_kevincole_archive.html.
116
soluten. Dabei wird die Argumentation in einer vom Absoluten
gekennzeichneten Sprache vorgetragen.
Darin besteht vielleicht die bittere Ironie, die sich inmitten die-
ser Bewegung bzw. im Zentrum dieser »Gesprächsebene« befin-
det. In ihrem Tonfall und ihrem Ansatz neigt sie dazu, die Welt
zutiefst in Schwarz-Weiß-Kategorien zu sehen. Von allen christ-
lichen Autoren, welche die Postmoderne erkunden, sind keine so
sehr von der Moderne – d.h. vom Absoluten – her geprägt wie die
führenden Vertreter der Emerging-Church-Bewegung bei ihrer
Verteidigung der postmodernen Ansätze.
Der Grund dafür lässt sich leicht verstehen. Die meisten theo-
logischen Abweichungen beziehen sich auf gewisse Kreise des
Christentums im Allgemeinen oder des Evangelikalismus im Be-
sonderen. So ist es z.B. Theologen, die für eine offene Theologie
eintreten, aus offenkundigen Gründen so gut wie nicht gelun-
gen, in der Gemeinschaft reformierter Kirchen Fuß zu fassen; sie
fanden fast ausschließlich unter Arminianern Anklang (Anmer-
kung des Übersetzers: Reformierte in der Tradition Calvins be-
tonen besonders stark die göttliche Souveränität bei der Erwäh-
lung des Menschen, während Arminianer stärker die menschliche
Entscheidungsfreiheit hervorheben. Die letztere Richtung ist nach
dem niederländischen Theologen Jacobus Arminius benannt.).
Obwohl sich die »Neue Perspektive auf Paulus« an einen umfas-
senderen Kreis christlicher Leser richtet, überrascht es nicht, dass
seine begeistertsten Verteidiger in der reformierten Tradition ste-
hen. Sie haben ein ziemlich festgefahrenes Verständnis hinsicht-
lich der theologischen Denkstruktur übernommen (mit der Bevor-
zugung der systematischen Theologie gegenüber der biblischen
Theologie) und ernsthaft über die Beziehungen zwischen Gerech-
tigkeit und eigener Identität sowie zwischen Rechtfertigung und
Heiligung nachgedacht. Die Disciples of Christ (im Deutschen un-
ter dem Namen »Kirche der Jünger Christi« bekannt; aus einer Er-
weckungsbewegung reformierter Tradition hervorgegangene Frei-
kirche, die sich ausgehend von den USA in vielen Ländern verbrei-
tet hat) wiederum bestehen darauf, dass die Taufe genauso heils-
notwendig wie der Glaube ist. Ihre Außenwirkung entfaltet sich
117
wahrscheinlich stärker unter denjenigen, die keine ausgeprägte
Tauftheologie haben oder denen sie ganz fehlt, als unter denen, die
sich in ihrer Tradition auskennen. Diejenigen, die Gottes Gesetz
als verbindliche Norm zwischenmenschlichen Zusammenlebens
einfordern (Anmerkung des Übersetzers: »Theonomisten«. Ange-
hörige dieser Gruppe, auch »Dominionisten« bzw. »Rekonstruk-
tionisten« genannt, fordern die Unterwerfung unter das göttliche
Gesetz. Das Wort leitet sich aus »Theos« [so viel wie »Gott«] und
»nomos« [so viel wie »Gesetz«] ab.), können sich in reformierten
Kirchen etablieren, während ihr Einfluss auf die Arminianer prak-
tisch null ist. Derartige Tendenzen darf man natürlich nicht im ab-
soluten Sinne sehen. Dennoch sind sie so weit verbreitet, dass man
sie kaum übersehen kann.
Und die Emerging-Church-Bewegung? Eine auffallende Ge-
meinsamkeit unter ihren führenden Persönlichkeiten ist die große
Zahl derer, die aus einem stark konservativen bzw. sogar funda-
mentalistischen Umfeld kommen.138 Wenn sie die Arten ihrer Her-
kunftsgemeinden beschreiben, wird deutlich, dass ein sehr hoher
Prozentsatz von ihnen aus einer Tradition hervorgegangen ist, die
sich im Grunde von der Gesellschaft abgesondert hat. Diese Ge-
meinden legen oft großen Wert darauf, lehrmäßig klar dazuste-
hen, was oft in fundamentalistischer Art dargestellt, fein säuber-
lich aufbereitet und in Bekenntnisaussagen formuliert wird. Im
Laufe der Zeit haben sich diese Gemeinden immer weiter von den
sehr unterschiedlichen Richtungen innerhalb der allgemeinen Ge-
sellschaft unserer Zeit fortbewegt. Sensible und besorgte Einzel-
personen innerhalb solcher Traditionen ziehen einen endgültigen
Schlussstrich, nicht zuletzt um des Evangeliums willen. Es wird
zum Zeichen der Freiheit, dass sie ein Glas Wein trinken und sich
einige Filme ansehen können, die unsere früheren Freunde in der
138 Dies soll nicht heißen, dass alle führenden Persönlichkeiten der Emerging
Church aus diesem Umfeld stammen. Das wäre nämlich offensichtlich genauso
falsch, als wollte man sagen, dass all diejenigen, die Gottes Gesetz als maßgebliche
Norm einfordern, von einem reformierten Hintergrund kommen. Dennoch ist die
allgemeine Zuordnung sowohl nachweisbar als auch beachtenswert.
118
Gemeinde nicht gutheißen würden. Verständlicherweise kann das
Pendel auch künftig weit ausschlagen.
Dieses Umfeld soll keineswegs maßgebend dafür sein, ob die
Emerging-Church-Bewegung recht oder unrecht hat, bibeltreu
oder anderweitig orientiert ist. Vielmehr lässt es erkennen, dass
sich ihr Eifer und ihre zu starken Verallgemeinerungen zu einem
erheblichen Teil auf die falsche Annahme zurückführen lassen, der
zufolge der größte Teil der traditionellen evangelikalen Bewegung
genau ihren konservativen Ursprungsgemeinden entspricht. Dies
verrät, wie eng begrenzt das bisherige Umfeld vieler ist. Anhand
dessen kann man u.a. erklären, warum ihre Rhetorik und ihre Be-
rufung auf die postmoderne Empfindsamkeit derart stark vom
Absoluten bestimmt ist: Dies entspricht der Sprache und Rhetorik,
mit der sie aufgewachsen sind.139
Diese kritischen Aussagen wollen keinesfalls die positiven Be-
wertungen der Emerging-Church-Bewegung relativieren, die
ich in Kapitel 2 vorgebracht habe. Wenn wir das Wesen und den
Schwerpunkt der Bewegung betrachten wollen, dürfen wir jedoch
nicht nur einschätzen, inwieweit sie die gegenwärtige Kultur ver-
steht, sondern müssen auch beurteilen, wie weise und bibeltreu
ihre Vorschläge für den zukunftsweisenden Weg sind. Und damit
kommen wir zu den nächsten drei Kapiteln.
139 Zwei oder drei haben – mitunter scharfe – Einwände vorgebracht. Ihrer
Ansicht nach bilde ich mir aufgrund dieser Ausführungen scheinbar ein, dass
ich selbst völlig neutral bin und mich gleichsam außerhalb der Auseinanderset-
zung befinde. Wer das aber behauptet, hat die Beweisführung völlig missverstan-
den. Ich würde am ehesten betonen wollen, dass keiner von uns – ich eingeschlos-
sen – je den Begrenzungen aufgrund unserer Endlichkeit und kulturellen Veror-
tung entkommen kann: siehe das nächste Kapitel. Doch sind wir damit alle zu den
schlimmsten Formen des Relativismus verurteilt? Wenn dem so ist, dann ist nicht
daran zu denken, das Evangelium erhalten zu können; wenn nicht, dann können
wir Lektionen dadurch lernen, dass wir die Geschichte umfassender verstehen,
enge Kontakte zu Christen in anderen Sprachräumen sowie Kulturen knüpfen und
die Grenzen unserer Leitkultur erweitern, innerhalb derer wir uns problemlos be-
wegen können. Wir werden dann viel eher selbstkritisch werden.
119
Persönliche Reflektionen
über Beiträge und Herausforderungen
der Postmoderne
140 Dieses Kapitel umfasst eine vereinfachte und aktualisierte Wiedergabe meh-
rerer Kapitel meines Buches The Gagging of God: Christianity Confronts Pluralism
(Grand Rapids: Zondervan, 1996).
120
Historische Überlegungen
Viele empfinden es als hilfreich, zwischen vormoderner, moder-
ner und postmoderner Erkenntnistheorie zu unterscheiden.
Vormoderne Erkenntnistheorie
Vormoderne Erkenntnistheorie ist bekanntlich ein allgemeiner Be-
griff, mit dem alles, was der jüdisch-christlichen Epistemologie
(Erkenntnistheorie) vor der Aufklärung gemeinsam war, lose zu-
sammengefasst wird. Die bedeutsame Tatsache besteht in der von
den meisten Menschen damals akzeptierten Annahme, dass Gott
existiert und alles weiß. Dies bedeutet, dass alles menschliche Er-
kennen zwangsläufig eine unendlich kleine Teilmenge der Er-
kenntnis Gottes umfasst. Anders ausgedrückt: Unsere Erkenntnis
ist auf Offenbarung angewiesen – d.h. darauf, dass Gott einen Teil
seiner Erkenntnis enthüllt –, ungeachtet dessen, wie diese Offen-
barung erfolgt. An dieser Stelle stimmten ein großer mittelalter-
licher Theologe wie Thomas von Aquin und ein großer Reforma-
tor wie Johannes Calvin überein. Dies bedeutet, dass für die Men-
schen der Vormoderne die Erkenntnistheorie nicht mit dem Ich,
mit mir, sondern mit Gott begann.
Wer sagt, dass die Vertreter der Vormoderne Gott als Aus-
gangspunkt sahen, meint damit nicht, dass Gott ihrer Ansicht
nach Dinge vor uns wissen müsse. Vielmehr ist damit Folgendes
gemeint: Menschen der Vormoderne wurden sich bewusst, dass
sie beim Nachsinnen darüber, wie sie Dinge kennenlernten, über
eine winzig kleine Teilmenge dessen sprachen, was Gott zuvor
bereits wusste (da die meisten von ihnen annahmen, dass es ei-
nen allwissenden Gott gibt). Sie konnten sich nicht vorstellen, wie
sie etwas kennenlernen sollten, ohne zunächst zu erkennen, dass
Gott es zuvor schon wusste. Dabei ging es bei der betreffenden Er-
kenntnis natürlich um ursprüngliches Wissen (d.h., es entsprach
dem, was tatsächlich der Fall ist). Somit konnte ihr Erkenntnispro-
zess nicht von Gottes Allwissenheit gelöst werden. Ja, man konn-
te ihn nicht von Gottes Allwissenheit und daher auch nicht von
der Tatsache trennen, dass Gott im Voraus ihr Leben plante. Man
121
konnte ihn nicht von der Offenbarung Gottes und somit von sei-
ner gnadenreichen Bereitschaft lösen, die Wahrheit bekannt zu
machen. Ferner konnte man ihn nicht von Gottes Wahrhaftigkeit
und damit von der Zuverlässigkeit dessen lösen, was Gott offen-
baren wollte – was auch immer es war. Die menschliche Erkennt-
nistheorie drehte sich um den »gegebenen Sachverhalt« der Exis-
tenz, der Eigenschaften und des Wesens Gottes.
Man darf nicht annehmen, Gott habe in der vormodernen Er-
kenntnistheorie die entsprechende Grundannahme, den »gege-
benen Sachverhalt«, so stark beherrscht, dass keiner je daran dach-
te, »Beweise« für die Existenz Gottes zu erbringen. Genau dies ta-
ten nämlich viele christliche Theologen und Philosophen. Das so-
genannte »ontologische Argument« für die Existenz Gottes gibt
es in vielen Formen, wobei einige davon in die ersten Jahrhun-
derte der christlichen Kirche zurückgehen. Immerhin gab es in je-
ner Zeit auch Atheisten, selbst wenn sie zahlenmäßig nicht über-
mäßig stark waren.141 Jedenfalls hatten christliche Theologen stets
ein Interesse daran, ein Konzept zu erarbeiten, wie man die gege-
benen Sachverhalte biblischer Offenbarung begrifflich in einheit-
liche Systeme bringen konnte.
Anfangs könnte man denken, dass dies ein außerordentlich ge-
nauer Ansatz ist, wenn es darum geht, über die Erkenntnistheorie
nachzudenken. Was hätten Christen an einer Haltung kritisieren
wollen, die den Ausgangspunkt in Gott sieht? In der Praxis gab es
jedoch eine Vielzahl von Stellen in der vormodernen Erkenntnis-
theorie, an denen sie sich als unzureichend erweisen konnte. Al-
lein die Tatsache, dass die meisten Menschen im kulturellen Um-
feld an Gott glauben, bedeutet nicht, dass dies für jeden zutrifft
(siehe den Atheisten Servet, der im calvinisch geprägten Genf ver-
brannt wurde; Anmerkung des Übersetzers: Michael Servet wur-
de als Gegner der Trinität 1553 hingerichtet.). Für unsere Fragen
141 Man denkt z.B. an Lukrez (Titus Lucretius Carus mit vollem Namen [geb.
vermutlich 98/96 v.Chr.; gestorben wahrscheinlich 55 v.Chr.]: römischer Dichter
und Philosoph. Da Lukrez im ersten vorchristlichen Jahrhundert lebte, kann man
davon ausgehen, dass hier sein Atheismus gemeint ist, der sich gegen den jüdischen
Monotheismus und dessen Ausschließlichkeitsanspruch richtete.). Tatsächlich war
es bei recht vielen Epikuräern nur ein kleiner Schritt bis zum Atheismus.
122
noch wichtiger ist diesbezüglich, dass die vormoderne Erkennt-
nistheorie gewöhnlich mit einem weithin »offenen« Universum in
Verbindung gebracht wurde:142 Die Beziehung zwischen dem of-
fenen Universum und dem Wirken Gottes ist in einer Weise »Ein-
griffen ausgesetzt«, dass eine solide, tatsachengestützte, schlüs-
sige und voraussagbare Wissenschaft der physischen Welt weitge-
hend Stückwerk bleiben muss.
Dies wird deutlicher, wenn wir die überzeugendste Alternati-
ve bedenken. Sie besteht in einem »geschlossenen« Universum, in
dem alles nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung in einem
vorgegebenen Rahmen – eben dem Universum – abläuft, ohne
dass irgendein Gott von außen eingreift. In einem geschlossenen
Universum sind die einzig annehmbaren Erklärungen diejenigen,
die mit Materie, Energie, Raum und Zeit zu tun haben. Gott ver-
körpert eine entbehrliche Hypothese oder bestenfalls eine Art Ge-
stalt, welche die geordneten Abläufe in einem geschlossenen Uni-
versum aufrechterhält bzw. in irgendeiner Weise deren Triebfeder
ist. Er greift aber nicht direkt oder fortwährend in die Welt ein.
Anders dagegen ein offenes Universum: Hier mag es unabläs-
sig und aus freien Stücken erfolgende Eingriffe geben – und zwar
im Sinne von Ursache-und-Wirkungs-Ketten, die wir heute als ge-
geben annehmen. Dies geschieht vielleicht so oft, dass dem Aber-
glauben, der Magie und der Angst Tür und Tor geöffnet wird.
Mit anderen Worten: Aus historischer Sicht hatte die Welt der vor-
modernen Erkenntnistheorie ihre eigenen Probleme.
Bis zur Spätzeit der Vormoderne (die wir aus Gründen der Ein-
fachheit auf das Ende des 16. Jahrhunderts datieren) wurde in in-
tellektuellen Kreisen jedoch die Vorstellung von einem anders-
artigen Universum entwickelt, das weder »offen« noch »geschlos-
sen« war. Wir könnten es als »gelenkt« bezeichnen. In einem ge-
lenkten Universum wirkt der souveräne Gott auf gewohnte Art
142 Ich gebrauche das Wort »offen« nicht in dem Sinne, wie es in der modernen
»Theologie des offenen Gottesbildes« verwendet wird. Dort ist Gottes Wissen hin-
sichtlich der Zukunft begrenzt, während die Zukunft andererseits von der freien
Entscheidung fühlender Geschöpfe abhängt. Vielmehr benutze ich es so, wie es
mitunter in der älteren philosophischen Debatte hinsichtlich des Wesens von Ur-
sache und Wirkung in einem materiellen Universum gebraucht wurde.
123
und Weise, sodass Naturwissenschaft nach unserem Wissen-
schaftsverständnis möglich wird – ja, wir nicht umhinkönnen, sie
zu betreiben. Wissenschaft (damals »Naturphilosophie« genannt)
gehört damit zu dem Bestreben, Erkenntnisse über Gott und über
die Art seines Wirkens zu gewinnen. Daher finden wir aufgrund
sorgfältiger Beobachtung des physischen Universums, mithilfe
von Experimenten unter kontrollierten Bedingungen, durch Ver-
such und Irrtum mehr über das All heraus. Somit erschließen sich
uns immer mehr die Grundsätze göttlichen Handelns. Dennoch
bleibt damit die Möglichkeit bestehen, dass Gott auf außerordent-
liche und außergewöhnliche Weise wirken kann. Nennen wir sol-
che Wirkungsgrundsätze Wunder. Angesichts dessen werden Ge-
schehnisse wie die Auferstehung Jesu nicht ausgeklammert.
Es sei nochmals gesagt: Natürlich war es möglich, diese Ein-
sicht in Bezug auf ein gelenktes Universum zu verzerren. Viele
vertraten damals die Ansicht, dass Gott den gesamten Welten-
mechanismus einem riesigen Uhrwerk gleich einmal aufgezogen
habe und nun laufen lasse, während er selbst so groß und weit
entfernt sei, dass er die Einzelheiten wenig oder gar nicht beachte.
Diese Form des Monotheismus ist als Deismus bekannt geworden.
Im Gegensatz dazu verwiesen Vertreter der mehr bibelorientierten
Tradition darauf, dass die biblischen Schreiber regelmäßige Ab-
läufe in der geschaffenen Welt wie den Wasserkreislauf kannten
(in Prediger 1,7 wird als bekannt vorausgesetzt, dass Wasser vom
Himmel fällt, dann in Bäche sowie Flüsse strömt und schließlich
ins Meer läuft, um anschließend als Wasserdampf in den Himmel
aufzusteigen, bevor der Kreislauf von Neuem beginnt). Aber sie
sprachen lieber davon, dass Gott den Regen schickt. Natürlich lie-
fern die Pflanzen die Nahrungsgrundlage für die Pflanzenfresser,
wohingegen Fleischfresser von anderen Tieren (darunter Pflan-
zenfressern) leben. Doch die Bibel spricht davon, dass Gott all die-
sen Geschöpfen Speise gibt (z.B. Psalm 104,21; 136,25; 145,15; 147,9;
Matthäus 6,26). M