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Johannes Tauler Predigt 43

Diese Predigt auf die Geburt des heiligen Johannes des Täufers spricht von zwei Arten
Leiden, wodurch die Gnade Gottes in jedem Menschen geboren wird, so daß er auf
geistliche Weise das Priesteramt auszuüben vermag; auch lehrt sie, das falsche Licht vom
wahren zu unterscheiden.
HEUTE BEGEHT MAN den ehrwürdigen Festtag des auserwählten heiligen
Johannes des Täufers; keines anderen Heiligen Geburt wird in dieser Weise
begangen. Der Name "Johannes" bedeutet, kurz gesagt, den, "in dem die Gnade ist".
Wo aber die Gnade geboren werden soll, da muß zuvor der Weg beschritten werden,
von dem ich gestern sprach. Ich sprach da von zwei Arten von Leiden: das eine liegt
in der Natur und rührt vom ersten Fall des Menschengeschlechtes her; das andere
ist ein Leiden in Pein.
Das erste Leiden besteht darin, daß der Mensch zu Gebrechen geneigt ist, und das ist
seiner Natur eingepflanzt, und diese Anfälligkeit soll dem Menschen allerwegen
zuwider sein, und er soll seinen Willen mit ganzer Kraft davon abkehren, soweit nur
immer dieses übel Gott widerwärtig ist.
Das andere Leiden ist aus dem ersten entstanden: das ist eine Pein und ein Schmerz,
der soll den Menschen bereitwillig finden und ihm willkommen sein; denn dieses
Leiden fällt auf ihn, damit er dem liebevollen Vorbild unseres Herrn Jesus Christus
nachfolge, der zeit seines Lebens großes und schweres Leiden erduldete.
Nun läßt Gott oft die Leiden menschlicher Gebrechlichkeit auf einen Menschen
kommen in der Absicht, daß dieser in schmerzlichem Fall sich besser erkenne, daß er
zu lieben lerne, sich bereitwillig auf den Weg der Pein führen lasse in seinen Leiden,
die auf ihn fallen oder auf ihn zukommen. Wer, ihr Lieben, sich diesem Weg
überlassen könnte, das wäre ein köstlich Ding, und auf diesem seligsten Weg des
Leidens soll der Mensch allzeit auf seine Schwäche herniedersehen, auf sein
Unvermögen, seine Unwürdigkeit, sein Nichts. Ja, wer diesen Weg (zu gehen) lernte
und ihn verstünde und sonst keine Übung (der Frömmigkeit) vornähme, als daß er
nur ohne Unterlaß niedersähe auf sein Nichts, sein Nichtssein, sein Unvermögen, in
dem würde wahrlich Gottes Gnade geboren.
Nun hat, meine Lieben, der Mensch gar nichts von sich selbst; alles gehört ganz und
ausschließlich Gott, Großes und Kleines, zu vollem und unmittelbarem Eigentum.
Der Mensch ist von sich aus nichts, als daß er ein Verderber alles Guten ist, in- und
auswendig; und wenn etwas in ihm ist, so ist das nicht des Menschen Eigentum.
Dessen sollte er stets gedenken und in sein Nichts blicken; und da er sehr zu allem
Bösen neigt, soweit die Natur frei ist, sollte er sehr trachten, sich selber zu erkennen,
zu sehen, wohin sein Grund ziele, seine Gesinnung, Zuneigung, sein Streben, ob kein
Unkraut darunter wachse. Denn der Grund muß lauter und einzig auf Gott gehen
und nichts anderes im Sinn haben als ihn.
Auch sollst du in jeder Weise deinen äußeren Wandel betrachten, dein Reden und
Tun, deine Sitten und dein Verhalten, deine Kleidung und deinen Umgang; und
findest du, daß du irgendwie gefehlt hast in all deinen Tagen, so sollst du es voll
Schmerz Gott klagen, dich ihm schuldig geben, ein innerliches Seufzen1 zu Gott
senden, und so ist alles bald in Ordnung gebracht.
Dieses inwendige Forschen von Grund aus ist sehr nützlich. Dies taten die heiligen
Apostel nicht ihrer Sünde wegen, sondern weil das Verbleiben im Irdischen bei allen
Menschen so stark ist und weil sie ohne Unterlaß ein Drängen zu Gott hin fühlten.
Wenn dem. Menschen gegeben wird, einen Blick in die Ewigkeit zu tun und ihrer
einen Vorgeschmack zu genießen, entsteht in ihm ein innerliches Seufzen, das die
äußeren Sinne durchdringt; das ist gleichsam der äußere Altar, der außen vor dem
Allerheiligsten2 steht, auf dem man Gott Böcke und Ochsen darbrachte. So opfert
hier der Mensch sein fleischliches Blut als Entgelt für das so teuere Blut unseres
Herrn Jesus Christus.
Bei diesem Blick in seine Gebrechlichkeit soll sich der Mensch sehr demütigen und
sich Gott zu Füssen werfen, daß er sich seiner erbarme. So darf er ganz und gar
hoffen, daß Gott (ihm) alle Schuld nachsieht. Und aus diesem Grunde der Demut
wird all sogleich Johannes, das heißt die Gnade, geboren; denn je niedriger die
Demütigung, desto höher die Erhebung: das ist ein und dasselbe.
Hiervon sprach Sankt Bernhard: "Alle äußere Übung der Frömmigkeit, die man nur
immer vernimmt, gleicht nicht dem Besitz tiefer Demut. In dem Tal der Demut
wächst Sanftmut, Gelassenheit, Stille, Geduld, Güte. Das ist der rechte, (der) wahre
Weg. Wer den nicht einschlägt, geht in die Irre. Und wie viele äußere Werke auch
einer tut, das hilft (ihm) doch gar nichts; solche Werke erzürnen Gott mehr, als sie
ihn versöhnen.
Werfen wir jetzt einen Blick ins Evangelium, so lesen wir da unter anderem, daß
Zacharias oberster Priester war und er und seine Frau unfruchtbar und daß dies für
sie eine große Schande bedeutete. Zacharias ging allein in das Allerheiligste, das
ganze Volk blieb draußen, und er sollte sein hohes priesterliches Amt ausüben.

1
Die Lesart der Drucke, des LT, AT, BT, KT .seufftzen" entspricht dem Sinn der Stelle; Corin, Wi 1, S. 65, 13 .süchten" ist
die niederrheinische entsprechende Form, die nichts mit „suchen" (Vetter 164,2) zu tun hat.
2
Hier ist an den Tempel zu Jerusalem zu denken.
Da sah er den Engel Gabriel beim Altar stehen, der ihm ankündigte, ein Sohn werde
ihm geboren, der Johannes heißen solle, welcher Name soviel bedeutet wie einen, "in
dem die Gnade wohnt".
Da Zacharias dieser Botschaft keinen vollen Glauben schenkte, verlor er die Sprache,
bis all dies vollendet war. Der Name Zacharias (aber) bedeutet soviel wie "an Gott
denken, sich Gottes erinnern". Dieser Mensch, dessen Gedanken bei Gott sind, ist
ein innerlicher Mensch; er soll Priester sein und darf das Allerheiligste betreten und
das ganze Volk außen stehen lassen.
Bedenkt nun, was das Wesen eines solchen Menschen sei und sein Amt, wodurch ein
Priester (wirklich) Priester ist. Sein Amt, wodurch ein Mensch Priester ist und heißt,
besteht darin, dass er den eingeborenen Sohn seinem himmlischen Vater für das
Volk zum Opfer darbringe.
Nun fürchte ich, und es zeigt sich auch (deutlich), daß nicht alle Priester
vollkommen sind und daß, stünden sie am Altar nur in eigener Person, anstatt in
dieser die (ganze) Christenheit darzustellen, manche (von ihnen) der Christenheit
mehr Schaden brächten als Nutzen und Gott mehr erzü rnten, als daß sie ihn
versöhnten. Aber sie üben ihr heiliges Amt aus anstelle der heiligen Kirche, und
darum üben sie ihr Amt sakramentalich aus. In dieser Weise können nur Männer
dieses Amt verrichten, den heiligen Leib konsekrieren und segnen und sonst
niemand.
Aber in geistiger Weise - was wahrhaft den Priester ausmacht und wodurch er
Priester ist (denn was recht eigentlich sein Amt ausmacht, ist eben das Opfer) -, in
geistiger Weise also kann eine Frau dieses Opfer ebenso darbringen wie ein Mann,
und das, wann immer sie will, des Nachts oder des Tages. Dann soll sie allein ins
Allerheiligste treten und das ganze niedrige Volk draußen lassen. Allein soll sie da
hineingehen, das bedeutet, dass sie mit gesammeltem Geist in sich selbst gehen und
alle sinnlich (erfaßbaren) Dinge außen lassen soll und da das liebliche Opfer dem
himmlischen Vater darbringen: seinen geliebten Sohn mit allen seinen Werken,
Worten und all seinem Leiden und seinem heiligen Leben, für alles, wofür sie es
begehrt, und für alles, was in ihren Gedanken ist; und mit aller Andacht soll sie da
einschließen alle Menschen, die armen Sünder, die Gerechten, und die Gefangenen
des Fegfeuers. Das ist eine sehr wirksame Übung.
Bischof Albrecht schreibt, daß der oberste Priester auf folgende Art seinen Dienst
versah: er betrat das Allerheiligste und nahm mit sich Blut von einem roten Kälblein
und brennendes Feuer. Und drinnen bestrich er all die goldenen Gefäße mit dem
Blut und zü ndete dann eine Mischung 'der alleredelsten Kräuter an, wovon ein
wohlriechender Rauch, einem Nebel gleich, entstand. Und in dem Nebel erschien
Gott und redete zu ihm.
Meine Lieben! Dieser oberste Priester, das ist ein jeder gute, innerliche Mensch, der
in sein Inneres geht und mit sich das hochwürdige Blut unseres Herrn. Jesus Christus
führt und das Feuer der Andacht und der Liebe, und alle die goldenen Gefäße
werden mit diesem Blut bestrichen.
Das sind alle, die in Gottes Gnade stehen und die noch zu seiner Gnade kommen
sollen, und die armen Seelen, die der Seligkeit harren. Alle diese werden getröstet
und bereichert durch das priesterliche Amt. Ihr, meine Lieben, wißt nicht, was für
ein liebliches Ding das ist, Und der Mensch soll sich selbst in das Herz des
(göttlichen) Vaters hinaufheben und in seinen väterlichen Willen, damit der Vater
mit ihm verfahre, wie ,es ihm gefällt, in Zeit und Ewigkeit. Nun wenden manche ein:
"Wenn wir uns solcher innerlichen Weise zuwenden, so geht uns das Bild des Leidens
unseres Herrn verloren." Nein, meine Lieben! Wendet euch zum Grunde: da allein
wird Gnade wahrhaft geboren. Und mit ihrer Hilfe blickt Leiden und Leben unseres
Herrn in dich hinein in völliger Liebe und Einfalt mit einem Blick der Einfachheit, wie
wenn alles vor dir stü nde, nicht in der Vielfalt einzelner Bilder, (sondern) so, wie
ich euch alle mit einem Blick sehe, als ob ein jegliches vor mir stünde3 - und so werde
es dem Vater dargeboten.
Und dieses Aufblicken ist weit nützlicher, als wenn du fünf Monate zubrächtest und
in getrennten Betrachtungen daran dächtest, wie Jesus sich an jedem Punkt seines
Leidens verhalten habe, an der Geißelsäule oder da und dort. In dieser liebevollen
Ausführung des priesterlichen Amtes, wenn der Mensch allein (das Allerheiligste)
betreten hat und mit gespannten Kräften dasteht und kein Wort fällt: da steht der
Engel Gottes, der Gabriel heißt, bei dem Altar, wo der würdige, heilige Dienst getan
wird. (Der Name) Gabriel bedeutet "göttliche Kraft". Diese Kraft wird dem Priester
gegeben, damit er alle Dinge im Namen unseres Herrn vollbringen könne. Der
Hohepriester legt wohlriechende Kräuter zuhauf, entzündet sie, und aus dem
entstehenden Dampf spricht Gott zu. ihm. Diese Kräuter sind eine Vereinigung
heiliger Tugenden, wie Demut, Gehorsam, Sanftmut und vieler anderer. Denn wer
die Tugenden nicht besitzt noch sie sammelt, es sei in dem niedersten, mittleren oder
obersten Grad, dessen Leben ist Unwahrhaftigkeit und taugt nichts.
In dieser Vereinigung der Tugenden geschieht die Entzündung des Feuers durch den
Brand der Liebe, und ein Nebel, eine Finsternis entsteht, in der dein Geist (dir)
geradewegs entzogen wird, etwa für die Dauer eines halben Ave-Maria, derart, daß
du deinen Sinnen und deiner Vernunft entrückt bist. Und in diesem Dunkel spricht

3
Die Lesart der Drucke, des LT, AT, KT "vor mir stunde" beseitigt eine Schwierigkeit an dieser Stelle - vgl. Lesarten zu Z.
12, S, 72 in Wi 1 (Corin), Corin, Sermons II, 240-241 gibt eine anspruchsvollere, doch vielleicht richtige Deutung; auch
Lehmann übersetzt entsprechend 1,175.
Gott in Wahrheit zu dir, wie geschrieben ,steht: "Als alles in völliger Ruhe lag und die
Nacht, das Dunkel seinen Lauf vollendet hatte, da ward dein göttliches Wort von
dem höchsten Königsstuhl herabgesandt. "Hier wird ein geheimes Wort gesprochen,
und die, welche Ohren haben, vernehmen den Hauch seines Flüsterns4.
Hier wird die Geburt verkündet, von der große und viele Freude ausgehen wird. Und
sie soll durch Elisabeth geschehen; dieser Name bedeutet soviel wie "göttliches
Vollbringen". Dann wird von der göttlichen Kraft verkündet (durch den Engel
Gabriel), daß dieses Werk der Liebe, diese frohe Geburt geschehen solle. Doch dies
alles geht noch in den niederen Kräften vor sich.
Da kommen die" Vernünftler" mit ihrer natürlichen Einsicht und leuchten mit ihrem
inneren natürlichen Licht in ihren ledigen, leeren, bilderlosen Grund und bedienen
sich da ihrer natürlichen Einsicht als ihres Eigentums, gerade als ob es Gott (selbst)
sei, und es ist doch nichts als bloß ihre natürliche Vernunft. Bei Gott (aber) ist mehr
Freude, als alle Sinne zu geben vermögen. Da jene aber bleiben wie sie sind und ihr
natürliches Licht mit Eigensinn besitzen, so werden sie die bösesten (Menschen), die
(da) leben, und die schädlichsten.
Man erkennt sie an folgenden Zeichen: sie sind nicht den Weg der Tugend gegangen,
und um die Übungen (der Frömmigkeit), die zum heiligen Leben und zur
Überwindung der Laster führen, kümmern sie sich nicht. Denn sie lieben ihre innere
falsche Willensträgheit, die nicht nach der Betätigung der Liebe strebt, weder innen
noch außen, und haben vor der Zeit auf die Bilder der Sinne, die sie zur Frömmigkeit
führen könnten, verzichtet.
Dann kommt der Teufel und flößt ihnen ein falsches Behagen und falsche
Erleuchtung ein, und damit verleitet er sie, so dass sie ewig verloren gehen. Wozu er
sie ihrer Natur nach geneigt findet, es sei Unenthaltsamkeit, Geiz oder Hoffart, dahin
fü hrt er sie. Und weil sie in ihrem Innern empfinden, sie seien erleuchtet - was
ihnen der Teufel vorspiegelt -, sagen sie, es komme von Gott, und wollen sich nichts
nehmen lassen von dem, was sie mit Eigenwillen besitzen; davon fallen sie in
ungeordnete Freiheit und treiben das, wozu ihre Natur sie zieht. Solche Menschen
soll man mehr fliehen als den bösen Feind, denn sie sind, soweit man sie sehen kann,
außen wie innen (den Gerechten) so ähnlich, daß man sie nicht leicht zu
durchschauen vermag.

4
Die bei Vetter unklare Stelle, 166,34 f., kann auf mehrfache Weise geklärt werden. Auch Corins Darlegungen, Wi 1, S.
74,13 mit Lesarten und Erläuterungen wollen nur ein Versuch sein.
Aber die Gerechten unterscheiden sich auf folgende Weise von ihnen. Sie haben den
Weg der Tugend durchlaufen: Demut, Gottesfurcht, Gelassenheit, Sanftmut. Und
diese sind in großer Besorgnis und wagen es nicht, sich der Freiheit zu überlassen,
trauen sich aus eigener Kraft nichts zu, befinden sich in großer Bedrängnis und
(schwerem) Druck und begehren, daß Gott ihnen helfe.
Aber jene, welche sich falscher Freiheit überlassen5 sind dreist, vermessen,
streitsüchtig und ungelassen, und wo man sie trifft, zeigen sie bald Bitterkeit, fallen
lästig in Benehmen und Worten, sind voller Hoffart und wollen nicht erniedrigt sein.
Ach, welch eine Überraschung, welch furchtbaren Jammer wird man erleben in
jener Welt, die man nicht mehr verlassen wo man sich nicht mehr bekehren kann,
mit dem, was nun so schön scheint. Und man muß dort immer bleiben und
furchtbare Schmerzen erdulden; Hütet euch davor, das rate im euch, kehret euch
zum wahren Grunde, wo die wahre göttliche Geburt stattfindet, von der der ganzen
Christenheit so viel Freude kommt, fürwahr Gottes heiliger Christenheit!
Nun braucht ihr mich nicht mehr zu fragen, ob ihr den rechten oder unrechten Weg
eingeschlagen habt; ihr habt die Unterschiede gehört, wenn ihr prüfen wollt, ob ihr
den geraden oder den krummen Weg geht. Seid ihr den sicheren Weg der Tugend
gegangen? Befindet ihr euch auf der untersten, der mittleren, der höchsten Stufe?
Das müßt ihr nachprüfen!
Diese Geburt (Gottes im Seelengrunde) wird große Freude mit sich führen. Wenn
sie geschieht, erzeugt sie im Geist eine solch große Freude, daß man es gar nicht zu
sagen vermag. Solche Menschen soll man nicht stören, indem man sie nach außen
zieht in die Mannigfaltigkeit (äußerer Werke); lasse man doch Gott sein Werk in
ihnen vollenden! Im Hohenlied sagt unser Herr: "Ich beschwöre euch, ihr Töchter
Jerusalems, bei den Hindinnen oder Gazellen auf freier Flur: weckt die Liebe nicht,
bis sie es selbst will!"6 Jene Menschen sollen auch selber keine Lehrmeister fragen,
die sie nicht verstehen würden; diese würden sie gar sehr verwirren, und es könnte
wohl gar so ausgehen7, dass sie auch innerhalb von zwanzig oder vierzig Jahren nicht
mehr an ihren Ausgangspunkt zurückgelangen könnten.

5
Gemeint sind die sog. „Freien Geister" jener Zeit.
6
Unter Heranziehung 'von Parsch und der Echter-Bibel, a. a. O. Hohel. 2,7.
7
Zu Vetter 168,17: dem Sinnzusammenhang nach wiedergegeben; Corin,

Sermons II, 244 gibt eine etwas andere, doch auch dienliche Obersetzung.
Diese Leute müssen auf sich selber sehr achten, denn jene Freude ist so groß, daß sie
innen quillt wie neuer Wein, der im Faß steigt. Es ist besser, daß (die Freude) nach
außen ausbreche, als daß die Natur die Spannung nicht mehr ertrage8. Denn dann
bricht das Blut aus Mund und Nase. Aber (auch) das ist vom höchsten Grad weit
entfernt und bleibt noch in der niederen Natur, im Bereim der Sinne.
Der Engel (der die Geburt des Johannes verkündete) sprach jedoch: "Diese wahre
Frucht (der Gnade Gottes) soll keinen Wein noch anderes berauschendes Getränk
zu sich nehmen." Das bedeutet, daß der Mensch, in dem diese Geburt vor sich gehen
soll in der obersten Weise und auf der höchsten Stufe, einen höheren Weg geführt
wird, denn es gibt (hierin) drei Grade: den höheren, den besseren, den
ausgezeichneten Weg. Die Menschen diees Weges dürfen nichts von dem trinken,
was in ihnen eine Trunkenheit erzeugen könnte, wie es bei denen der Fall war, von
deren Freude wir gesprochen haben, die ihnen in den Gegenständen (ihrer
Betrachtung) geschenkt wurde, es sei in wahrnehmender oder empfindender Weise,
beschauend .oder genießend.
Aber jene werden auf einen engen Weg gebracht und gezogen, der ganz finster und
trostlos ist, auf dem sie eine unendliche Drangsal verspüren und den sie doch nicht
verlassen können. Nach welcher Seite sie sich auch wenden, sie finden nur tiefes
Elend, wüst, trostlos, finster. Dahinein müssen sie sich wagen und sich dem Herrn
auf diesem Weg überlassen, solange es ihm gefällt. Und zuletzt9 tut der Herr, als ob
er von ihrer ual nichts wisse; da ist ein unleidliches Darben und großes Verlangen,
und doch (muß alles) in Gelassenheit (ertragen werden). Das nennt man eine
wesentliche Umkehr: ihr entspricht der allerwesenhafteste Lohn. Anderen Arten der
Umkehr folgt nur zufallender Lohn.
Hierüber schreibt Sankt Thomas, daß große äußere Werke, wie groß sie auch sein
mögen, insofern sie Werk sind, nur zufallenden Lohn erhalten. Aber die Einkehr des
Geistes innerlich zu Gottes Geist, aus dem Grunde ohne allen Zufall, die Gott allein
sucht, ledig und lauter, jenseits aller Werke und Weisen, jenseits aller Gedanken und
aller Vernunft - Sankt Dionysius sprach fürwahr:

8
Nach Corin, Wi 1, S. 79,15 : . Zu quait werde" , was dem gegebenen Wortlaut in etwa entspricht. Vgl. den AT zur
gleichen Stelle, S. 79, 12.
9
Hier scheint die von Corin, Wi 1, S. 80,25 vorgezogene Lesart . in deme leyst in der herre" (ebenso der KT) gegenü ber
Vetter 169,1, dem LT, AT nicht überzeugend : beide geben einen guten Sinn.
"Das ist eine unvernünftige, eine unsinnige Liebe", die ist eine wesentliche Einkehr;
ihr muß allerwege wesenhafter Lohn zuteil werden und Gott mit sich selber. Eine
andere Umkehr kann wohl auch in gewöhnlicher äußerer Weise eine wesenhafte
Kehr genannt werden: dann nämlich, wenn der Mensch nur Gott in Lauterkeit im
Sinn hat, nichts sonst, kein Warum als nur Gott durch sich selbst und in sich selbst.
Die erste Kehr besteht jedoch in einem form- und weiselosen, inneren Gefü hl der
Gegenwart (Gottes), in einem Hineintragen des geschaffenen Geistes jenseits alles
Seins in den ungeschaffenen Geist Gottes. Könnte der Mensch zeitlebens eine solche
Kehr erleben, ihm wäre wohl geschehen.
Dem Menschen, der Gott so folgsam ist und ihm in dieser Drangsal treu geblieben,
dem wird Gott dadurch vergelten10 , daß er sich ihm selber gibt und ihn so
unergründlich in sich selbst und seine eigene Seligkeit hereinzieht. Dahinein wird der
(menschliche) Geist in so köstlicher Weise gezogen, so ganz von der Gottheit
durchflossen und überströmt und so in die Gottheit entrückt, daß er in der
göttlichen Einheit alle (menschliche) Vielfalt verliert.
Das sind die Menschen, die Gott (schon) in der Zeitlichkeit für all ihre Not
entschädigt, und sie haben einen wahren Vorgeschmack dessen, was sie ewiglich
genießen sollen. Auf diesen beruht die heilige Kirche, und wären sie in der heiligen
Christenheit nicht vorhanden, so bestünde diese keine Stunde. Denn ihr Dasein
allein, die bloße Tatsache, daß sie sind, ist etwas, viel köstlicher und nü tzlicher als
alle Tätigkeit der Welt. Von ihnen sagte der Herr: "Wer sie angreift, greift mir ins
Auge." Darum hütet euch, ihnen Unrecht zuzufügen!
Könnten wir doch alle auf die schnellste und die für Gott löblichste Weise dahin
gelangen!
Dazu helfe uns Gott!

AM E N.

10
Zu Vetter 169,21: eine dem Sinne der Stelle entsprechende Wortwahl

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