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Johannes Tauler Predigt 64

Diese Predigt vom Feste des hl. Apostels Matthäus zeigt uns zwei Wege, auf denen wir über
die Gewinnung der drei den niederen Kräften angehörigen Tugenden Demut, Sanftmut,
Geduld und der drei den oberen Kräften zugehörigen Glaube, Hoffnung, Liebe zur
Überwindung und Loslösung von äußeren Dingen und inneren Hindernissen gelangen
können. Entscheidend ist, daß wir wie der hl. Matthäus Christus nachfolgen.
UNSER HERR SP R ACH zu Sankt Matthäus: "Folge mir nach!" Und er verließ alles
und folgte ihm.
Dieser liebenswerte Heilige ist ein Vorbild für alle Menschen gewesen; Zuvor aber war
er ein großer Sünder, wie die Schrift von ihm berichtet, und ward danach einer der
allergrößten Gottesfreunde, denn unser Herr sprach ihn innerlich an, in seinem
Grunde; und da verließ er alles und folgte ihm. Daran liegt alles, daß man Gott in der
Wahrheit folgt; und dazu gehört ein ganz wahres Lassen all der Dinge, die nicht Gott
sind, das sei, was es sei, was der Mensch in seinem Grunde vorfindet und wovon er
besessen ist, das sei, was auch immer, Lebendes oder Totes, er selbst oder irgend etwas
des Seinen. Denn Gott liebt die Herzen; und es geht ihm nicht um das, was man außen
sieht, sondern um die innige, lebendige Einwilligung, die eine bereite Neigung zu
allem, was göttlich und tugendhaft ist, besitzt, wo und an wem das immer sei; darin
steckt mehr aufrichtige und treue Gesinnung, als wenn ich ebensoviel betete wie alle
Welt zusammen oder wenn ich so hoch sänge, daß es zum Himmel reichte, oder als
alles, was ich nach außen durch Fasten, Wachen und andere fromme übungen tun
könnte.
Nun sprach unser Herr: "Folge mir nach!" Durch Übung folgender sechs Stücke folgt
der Mensch unserem Herrn nach : drei gehören dem Bereich der niederen, drei dem
der höheren Kräfte an: jene sind Demut, Sanftmut und Geduld ; diese erheben sich
über alle Kräfte: es sind Glaube, Hoffnung und Liebe. -
Nun aber spricht unser Herr: "Folge!" . Diese Nachfolge kann in einer Weise nach dem
liebreichen Vorbild unseres Herrn geschehen in Begehren, Dank und Lob ; zuweilen
aber auch einen kürzeren Weg einschlagen, ohne all dies: ohne sich Gedanken zu
machen oder sonst etwas, nur in einem inneren, ganz gelassenen, stillen Schweigen, in
einem nach innen gekehrten Seelengrund und einem lauteren Erwarten Gottes, auf
das hin, was er in einem Menschen wirken wolle an Reinstem und Höchstem, wie es
ihm gefällt oder nach seinem Willen sein mag. Wohl findet man Leute, die großen
Gefallen finden an äußeren Übungen und denen nichts von all dem haftenbleibt.
Am Gebet und Fasten, am Wachen und allen anderen derartigen Übungen haben sie
so große Lust, daß Gott daran viel weniger hat. Und ihre Lust könnte so groß sein, daß
Gott gar nichts mehr an ihren Übungen liegt und er sich davon abkehrt.
Das kommt daher, daß diese Leute ihr Werk aus Ihrem eigenen Selbst tun, mit
Eigenwillen und als ob es gar von. Ihnen selbst käme; und dabei ist alles Gute von
Gott, und kein bißchen davon gehört dir zu eigen.
Nun könnte man fragen, wie man das Wohlbehagen trennen soll von dem, was gut ist.
Dafür ein Gleichnis! Im Alten Bund war den Priestern verboten, das Fett von dem für
das Opfer bestimmten Fleisch zu essen; sie sollten es verbrennen und Gott opfern. Das
Fett aber, das sich innen in dem ihnen (für den Genuß) erlaubten Fleische befand, das
durften sie essen. So soll man alles Behagen, das man an allen Tugendübungen und
guten Werken haben kann, in das Feuer der Liebe werfen und es Gott wieder
darbieten, dem es ja doch gehört. Das eigene Wohl gefallen aber und die Befriedigung,
die von Natur an den Werken haften, insofern sie gute Werke sind, die darf der
Mensch in argloser Weise haben, ohne daß sich darin Anmaßung verbirgt.
Nun das Wort: "Folge mir!" und wie Sankt Matthäus alles verließ und Gott nachfolgte.
Der Mensch, der alle Dinge verlässt und sich selbst in allen Dingen, soll Gott über alle
Dinge hinaus folgen mit dem äußeren Menschen, mit jeglicher Tugendübung und der
allgemeinen Liebe und mit dem inneren Menschen in rechter Gelassenheit seines
Selbst in jeder Weise, wie es gerade kommt und Gott es ihm schickt, von innen oder
von außen. Versteht mich recht! Was ich von mir sage, das gilt von allen Menschen.
Ich habe durch Gottes Gnade und von der heiligen Kirche meinen Orden empfangen,
diese Kutte und dieses Gewand, mein Priestertum und den Auftrag, zu lehren und
Beichte zu hören.
Käme es nun so, daß der Papst mir dies nehmen wollte und die heilige Kirche, von der
ich es habe, so sollte ich, wäre ich ein gelassener Mensch, ihnen alles miteinander
überlassen und nicht fragen, warum sie es mir nehmen; ich sollte, könnte ich ihn
haben, einen grauen Rock antun, niemals mehr bei meinen Brüdern im Kloster sein, es
verlassen, nie mehr Priester sein noch Reichte hören oder predigen, alles in Gottes
Namen, nichts mehr von alledem, denn sie haben es mir gegeben und können s mir
auch nehmen; ich habe sie nicht zu fragen, falls sie es tun1, sofern ich nicht Ketzer
wollte geheißen werden oder in den Bann getan werden wollte.
Wollte mir aber jemand anders eines dieser Dinge nehmen, so sollte ich, als wahrhaft
gelassener Mensch, eher den Tod auf mich nehmen, als es mir nehmen zu lassen. Auch
wenn die heilige Kirche uns den äußeren Empfang des heiligen Sakramentes nehmen
wollte, so sollten wir uns darein ergeben. Aber es auf geistliche Weise zu empfangen,

1
Vetter 255,21 ist mit Corin, Sermons HI, 101, Anm. 1 besser „obe“ statt “oder" zu lesen.
das kann uns niemand nehmen. Alles, was die heilige Kirche uns gegeben hat, kann sie
uns wieder nehmen. Und das alles sollte geschehen ohne irgendein Murren oder einen
Widerspruch.
Das betrifft aber (nur) das Äußere; ebenso und noch mehr sollte es mit dem Inneren
bestellt sein. Was besitzen wir, das uns Gott nicht gegeben hätte? Und darum soll man
all das, was er uns gegeben hat, ihm in rechter Gelassenheit überlassen, so als ob man
es nie empfangen hätte. Euch, meine lieben Leute, die ihr mit heiligen Vorbildern,
Gedanken, Werken und Weisen umgeht, meine ich hier nicht, zu euch spreche ich hier
nicht, ihr braucht meine Worte nicht auf euch zu beziehen. Aber ich denke an jene
besonderen Menschen, die finstere Wege gehen und durch enge Pfade
hindurchscl1lüpfen müssen: das ist nicht jedermanns Sache. Diese Menschen müssen
sich ganz anders vorwärtsbewegen als die, von denen wir bis jetzt gesagt haben, wie sie
die Dinge betreiben sollen. Jene haben manches zu tun, anderes zu unterlassen: in dem
Bereich der (unteren) Kräfte soll man die Dinge bewahren, doch ohne allen
Eigenwillen; in dem, was die (unteren) Kräfte übersteigt, soll man weder die Dinge
besitzen noch die Anhänglichkeit an ihren Besitz2. Es liegt indes in der Natur aller
Menschen, zu haben, zu wissen und zu wollen; darin besteht die Tätigkeit der Kräfte.
Hier nun müssen wir von den sechs Stücken sprechen (mit deren Hilfe man dem
Herrn nachfolgen soll), die wir oben bereits erwähnt haben. Drei von ihnen gehören
zu den niederen, drei zu den oberen Kräften. Jene sind Demut, Sanftmut und Geduld;
zu den oberen zählen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Da ist nun der Glaube; er raubt
und nimmt der Vernunft all ihr Wissen hinweg und macht sie blind. Und ihr Wissen
muß sie verleugnen. Die Kraft der Vernunft muß beiseite geschoben werden. Dann
kommt die Hoffnung und nimmt uns die Sicherheit und die Gewißheit des Besitzens.
Dann kommt die Liebe und beraubt den Willen allen Eigensinnes und Besitzes.
Sprechen wir jetzt von den drei Tugenden im Bereich der niederen Kräfte: der Demut,
der Sanftmut, der Geduld: diese entsprechen den drei Tugenden im Bereich der
höheren Kräfte. Die Demut versinkt gänzlich in einem Abgrund; sie verliert ihren
Namen, steht auf ihrem lauteren Nichts und weiß nichts (mehr) von Demut.
Die Sanftmut hat die Liebe alles Eigenwillens beraubt, derart, daß ihr alle Dinge gleich
gelten und nichts ihr zuwider ist. Darum weiß sie nichts von Tugendbesitz und
betrachtet alle Dinge in gleich friedvoller Weise. Die Tugend hat ihren Namen
eingebüßt und ist zum Sein geworden. So auch ist es mit der Geduld. Die geduldigen
Menschen lieben, und es dürstet sie nach Leiden, und sie wissen nichts von ihrer
Geduld.

2
Die Stelle - Vetter 256,4 - ist nicht recht klar. Die übersetzung Corins", Sermons 111, 102, dazu Anm. 2, scheint mir den
wahrscheinlichen Sinn besser zu erfassen als Lehmann 2,59.
Und doch kann dir bei all dieser Gelassenheit (einmal) ein hartes Wort entfahren:
darüber darfst du nicht erschrecken. Gott hat es für dein größeres Wohl geschehen
lassen, damit du noch tiefer in dein Nichts versinkst. Und du kannst auch einmal in
Zorn geraten: das alles soll dich zu stärkerem Verleugnen führen. Das verweist dich
alles gar sehr auf dein Nichts, so dass du dich dessen unwürdig hältst, daß Gott dir
einen guten Gedanken sende. Daran liegt alles: in einem abgründigen Entsinken in ein
unergründliches Nichts. Das Wirken dieser Leute beruht nicht mehr auf äußerer
Tätigkeit, weder in festen Formen noch in Bildern.
In diesen sollt ihr euch, liebe Leute, die ihr jene Stufe (noch) nicht erreicht habt,
fleißig üben. Gott wird euch eure Sünden vergeben und das Himmelreich schenken,
wenn ihr eure Strafe im Fegefeuer abgebüßt habt. Aber wisset: mit euren Formen der
Frömmigkeit könntet ihr nicht einmal die Knechte der Knechte jener Leute werden.
Wenn es mit diesen Leuten aber gut vorangeht, wird ihr Leben köstlich über alle
Maßen. Aber gefährlich ist ein solches Leben, ebenso gefährlich wie das Leben des
wildesten Menschen, der in der Welt nach seiner Weise lebt; denn der Weg jener
Leute ist gar finster und unbekannt. Es ist, wie es bei Job heißt, essen Wort ich nannte:
"Dem Menschen ist der Weg verborgen und mit Finsternis umgeben." Auf diesem
Wege müssen die Menschen, (die ihn gehen) stets auf all das verzichten, was sich
Ihnen darbieten mag. Und stets sagt unser Herr: "Folge mir; schreite durch all das
hindurch; ich selbst bin das nicht; geh zu, folge mir, nur vorwärts!" Der Mensch
könnte da wohl antworten: "Herr, wer bist du, daß ich (dir) so in die Tiefe, die
Wildnis, die Einsamkeit folgen soll?" Der Herr aber könnte ihm erwidern: "Ich bin
Mensch und Gott, ja weit mehr als Gott!" Könnte ihm der Mensch nun aus seinem
(als) wesenhaft (nichts)3 erkannten Grunde antworten:
"Ich aber bin nichts, weit weniger als das!", so wäre das Werk bald vollendet, denn die
jenseits aller Namen stehende Gottheit hat keine zum Wirken geeignetere Statt als im
Grunde der allertiefsten Selbstverleugnung.
Die Lehrmeister schreiben: Soll eine neue Form entstehen, so muß notwendigerweise
die alte ganz zunichte werden; sie sagen auch: Wenn ein Kind im Mutterleibe
empfangen wird, so ist es zuerst bloße Materie; dieser wird dann eine tierische Materie
eingegossen, so daß sie wie ein Tier lebt. Darauf, nach Ablauf einer bestimmten Zeit,
erschafft Gott eine vernünftige Seele und gießt sie hinein; dann vergeht die erste Form
völlig im Hinblick auf das, was sie in ihrem Sosein kennzeichnete: nach ihrer Tätigkeit,
Denkfähigkeit, Größe, Farbe; all das muß weg; nur eine ledige lautere Materie bleibt
übrig.

3
Vetter 257, 10: in Übereinstimmung mit dem folgenden Text erläuternd eingefügt.
In gleicher Weise müssen - soll der Mensch überformt werden mit dem jenseits allen
Seins liegenden Sein: - all die Formen zunichte werden, die er je im Bereich aller Kräfte
empfing: Können, Wissen, Wollen, Wirksamkeit, Gegenstandsempfinden,
Empfindlichkeit, Eigentümlichkeit. Als Sankt Paulus nichts sah, sah er Gott. Darum
bedeckte Elias seine Augen mit dem Mantel, als der Herr kam.
Hier werden alle starken Felsen (der Eigenliebe) zerbrochen; alles" worauf der Geist
ausruhen könnte, muß entfernt werden. Und sind all diese Formen verschwunden, so
wird der Mensch in einem Augenblick überform~. Und so mußt du voranschreiten;
darum spricht der himmlische Vater zu diesem Menschen: "Ich wähnte, du würdest
,mein Vater' mich rufen und niemals dich von mir wenden" (Jer. 3, 19). Du sollst
immer weiter voranschreiten, dich um so höher erheben, je tiefer du in ' den unb
bekannten und unbenannten Abgrund versinkst. Sich selber verlieren, sich ganz und
gar entbilden jenseits aller Weisen, Bilder und Formen, jenseits aller Kräfte: in dieser
Verlorenheit bleibt (dann) nichts als ein Grund, der wesentlich auf sich' selber steht,
ein Sein, ein Leben, ein über-alles-(Hinaussein). Von diesem Zustand läßt sich sagen,
daß man losgelöst werde von aller Erkenntnis, jeglicher Liebe, allem Tun, ja sogar vom
Geist. Das geschieht nicht auf Grund natürlicher Eigentümlichkeit, sondern (als
Folge) der überformung, die der Geist Gottes dem geschaffenen Geist zuteil werden
läßt in einem Akt freiwilliger Güte, entsprechend auch der unergründlichen
Verlorenheit des geschaffenen Geistes und seiner abgrundtiefen Gelassenheit. Von
solchen Menschen kann man sagen, daß Gott sich in ihnen erkenne, sich liebe, sich
seiner (in ihnen) erfreue; denn er ist nur ein Leben, ein Sein, ein Wirken4. Wollte aber
jemand diesen Weg in mißbräuchlicher Freiheit und in falscher Erleuchtung
beschreiten, das wäre wohl die gefährlichste Art, sein Leben in dieser Zeitlichkeit zu
führen.
Der Weg, der zu diesem Ziel bringt, muß über das anbetungswürdige Leben und das
Leiden unseres Herrn Jesus Christus führen, denn er ist der Weg, und diesen Weg muß
man einschlagen. Er ist die Wahrheit, die diesen Weg erleuchten muß; und er ist das
Leben, zu dem man gelangen soll. Er ist die Tür; und wer durch eine andere Tür
eintreten will, ist ein Räuber. Durch diese liebenswerte Tür soll man eingehen, indem
man seine Natur bezwingt und sich in den Tugenden übt, in Demut, Sanftmut und
Geduld. Wisset in Wahrheit: wer nicht diesen Weg wählt, geht schließlich irre.

4
Zur Stelle 258,4 bei Vetter wird auf Coriits Darlegung in Sermons III, 107, Anm. 4 verwiesen.
Gott geht vor den Leuten her, die diesen Weg nicht einschlagen, ja er geht (mitten)
durch sie hindurch: aber sie bleiben dennoch blind. über die' jedoch, die diesen Weg
beschreiten, hat der Papst keine Gewalt, denn Gott selbst hat sie "freigesprochen"5.
Sankt Paulus sagt: "Die, welche vom Geist Gottes getrieben oder geführt werden, sind
keinem Gesetz mehr unterworfen.« Diesen Leuten wird die Zeit niemals lang, und
Verdruß kennen sie nicht. Das gilt nicht für alle die, welche die Welt lieben, daß sie
keinen Verdruß kennten und ihnen die Zeit nicht lang würde.
Aber jene, von denen wir sprechen, leben, was den oberen Teil ihres Wesens betrifft,
oberhalb der Zeit, und sind, was den niederen Teil angeht, ganz frei und gelassen; die
Dinge mögen kommen, wie immer es sei, sie bleiben in wesentlichem Frieden. Sie
nehmen alle Dinge von Gott an und bringen ihm alle in Reinheit wieder dar; sie
bewahren den Frieden, wie Gott auch alle Dinge fügt, wenn auch der äußere Mensch
gar sehr leiden muß und erschüttert wird. Das sind selige Menschen! Wo immer man
sie findet, soll man sie loben. Aber ich fürchte, solche Art ist sehr selten anzutreffen .
Bitten wir also unseren Herrn, daß wir ihm folgen können, daß wir dieses lautere Gut
in Wahrheit erlangen.
AMEN.

5
Gedacht ist bei der Wahl dieses Wortes - Vetter 258,17 - an „die Freisprechung" des Lehrlings, der Geselle wird.

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