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Ermordete Armenier in Aleppo 1919: „Links am Weg liegt eine junge Frau, nackt, nur braune Strümpfe an den Füßen“
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igranui Asartjan wird diese Woche rinenbäume. Weit unten ist das Mittel- selbst seiner Katastrophe zu vergewissern.
100 Jahre alt. Vor zwei Jahren hat meer zu sehen. Erst in den sechziger Jahren, nach lan-
sie Messer und Gabel weggelegt, Im Juli 1915 marschierten türkische ger Debatte mit der Führung in Moskau,
denn sie schmeckt nichts mehr, vor einem Gendarmen zum Dorf hinauf. „Mein Va- wagten die Armenier, ein Mahnmal zu
Jahr die Brille, denn sie sieht nichts mehr. ter hat mich auf den Rücken geschnallt, errichten.
Sie lebt im sechsten Stock eines Hoch- als wir flüchteten“, sagt Demirci, „so Die Türkei, auf deren Boden das Ver-
hauses in Eriwan und hat seit Monaten haben es mir meine Eltern erzählt.“ Mit brechen stattfand, leugnet die Taten der
ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Sie frös- Jagdgewehren und Pistolen verschanzten osmanischen Führung bis heute. Deutsch-
telt, die Kälte dringt durch die graue Woll- sich die Menschen aus seinem und sechs land, im Ersten Weltkrieg mit dem Osma-
decke auf ihrem Schoß. „Ich warte auf anderen Dörfern am Musa Dagh, dem nischen Reich verbündet, und die Sowjet-
den Tod“, sagt sie. Mosesberg. 18 Jahre später beschrieb der union, der jungen türkischen Republik
Vor 92 Jahren wartete sie in einem österreichische Schriftsteller Franz Werfel freundlich gesinnt, hatten kein Interesse,
Dorf auf der türkischen Seite der heuti- in seinem Roman „Die vierzig Tage den Genozid öffentlich zu machen.
gen Grenze, im Keller eines Hauses. Auf des Musa Dagh“ den Widerstand der Bis heute hat Deutschland den Völker-
der Straße lag ein armenischer Junge, er- Dörfler gegen die heranrückenden Uni- mord an den Armeniern nicht offiziell
schlagen. In einem Nachbarhaus wurden formierten. anerkannt. Der Deutsche Bundestag for-
Frauen vergewaltigt, die Achtjährige hör- „Die Geschichte stimmt“, sagt Demirci. derte die Türkei 2005 lediglich auf, sich
te sie schreien. „Es gibt gute und böse „Ich habe sie erlebt, auch wenn ich sie zu ihrer „historischen Verantwortung“ zu
Türken“, sagt sie. Die Bösen hatten den selbst nur aus Erzählungen kenne.“ bekennen – der Begriff „Genozid“ wird
Jungen erschlagen. Die Guten halfen ihr Werfels Buch und der Blick vom Zizer- vermieden.
und ihrer Familie, den abziehenden rus- nakaberd, dem Mahnmal bei Eriwan, auf Das politische und strategische Ge-
sischen Truppen hinterherzufliehen. den ewig schneebedeckten, ewig uner- wicht Ankaras im Kalten Krieg machte
Der Bauer Avadis Demirci ist 97, und reichbaren Berg Ararat hinüber – viel eine Debatte des Völkermords auch bei
soweit in seinem Land über so etwas mehr erinnert nicht an den Genozid an seinen westlichen Verbündeten nicht op-
Buch geführt wird, ist er wohl der letzte den Armeniern, dessen letzte Überleben- portun. Und das – gemessen am Holo-
Armenier in der Türkei, der den Völker- de jetzt dem Tode nahe sind. caust und späteren Genoziden – wenige
mord überlebt hat. Demirci schaut aus Zwischen 800 000 und 1,5 Millionen Bild- und Filmmaterial hat die Aufarbei-
dem Fenster auf das Dorf Vakifli hinaus, Menschen wurden zwischen 1915 und tung der armenischen Katastrophe zusätz-
dort blühen Oleanderbüsche und Manda- 1918 im Osten der heutigen Türkei ermor- lich erschwert. „Die Entwicklung der mo-
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dernen Medien“, sagt der deutsche Do- geschickt wurden. „Am 28. Juni 1915 wur- schwester vor; Hannah Herzsprung und
kumentarfilmer Eric Friedler („Das de öffentlich ausgerufen“, berichtet er, Ludwig Trepte die Aussagen zweier Über-
Schweigen der Quandts“), „kam für die „dass sämtliche Armenier die Stadt inner- lebender; Peter Lohmeyer das Tagebuch
Aufarbeitung dieses Völkermords um 20 halb von fünf Tagen zu verlassen hätten. des deutschen Konsuls Wilhelm Litten,
Jahre zu spät.“ Ein Massaker wäre, so schrecklich sich eines der erschütterndsten Dokumente
Doch es gibt Zeitzeugen, vor allem das anhört, im Vergleich zur Deportation jener Zeit.
deutsche und amerikanische, deren Schil- human gewesen.“ Am 31. Januar 1916 befindet sich Litten
derungen und Korrespondenzen in Ar- Der Film- und Fernsehschauspieler auf der Straße zwischen Deir al-Sor und
chiven liegen und bislang vor allem Spe- Friedrich von Thun („Schindlers Liste“) Tibni im heutigen Syrien und notiert: „Ein
zialisten bekannt sind. Zum 95. Jahrestag stellt den US-Botschafter Henry Morgen- Uhr nachmittags. Links am Weg liegt eine
des Völkermordes sendet die ARD am thau dar. Er berichtet von Begegnungen junge Frau, nackt, nur braune Strümpfe
Freitag unter dem Titel „Aghet“ (Arme- mit dem osmanischen Innenminister Ta- an den Füßen, Rücken nach oben, Kopf
nisch für „Katastrophe“) eine aufwendig laat Pascha, der ihn zu Beginn der Ope- in den verschränkten Armen vergraben.
recherchierte Dokumentation, die die ration mit der „unwiderruflichen Ent- 1.30 Uhr nachmittags, rechts in einem
Aussagen dieser Diplomaten, Ingenieure scheidung“ konfrontierte, die Armenier Graben ein Greis mit weißem Bart, nackt
und Missionshelfer lebendig macht. „unschädlich machen“ zu müssen. Nach auf dem Rücken liegend. Zwei Schritte
Ein Ensemble von 23 deutschen Schau- vollzogenem Völkermord lädt er ihn er- weiter ein Junge, nackt, Rücken nach
spielern spricht deren Originaltexte – neut vor und stellt einen Antrag, der, so oben, linkes Gesäß herausgerissen.“
nicht im Stil eines Doku-Dramas, das die Morgenthau, „vielleicht das Erstaunlichs- Eisig auch die Replik des damaligen
Ereignisse in halbfiktionalen Dialogen te war, was ich jemals gehört hatte“: Ta- Reichskanzlers Theobald von Bethmann-
und historischen Kostümen nachstellt, laat verlangte die Listen armenischer Kun- Hollweg auf den Vorschlag des deutschen
sondern in schlichten Interviews, die den der amerikanischen Versicherungs- Botschafters, die osmanischen Verbün-
mehr von der Auswahl der Texte und ih- gesellschaften New York Life Insurance deten öffentlich für die Verbrechen zu
rem Vortrag leben als von nachträglicher und Equitable Life of New York. Die Ar- tadeln: „Unser einziges Ziel war, die
Dramatisierung. menier seien nun tot und hinterließen Türkei bis zum Ende des Krieges an un-
Als Erster tritt der Schauspieler und keine Nachkommen mehr. Anspruchsbe- serer Seite zu halten, gleichgültig, ob dar-
Autor Hanns Zischler („Im Lauf der rechtigt sei also die Regierung. Morgen- über Armenier zugrunde gingen oder
Zeit“) auf; er trägt die Eindrücke von Les- thau: „Ich habe selbstverständlich dieses nicht.“
lie Davis vor, der bis 1917 US-Konsul in Ansinnen abgelehnt.“ Die Fülle der aus Archiven von Mos-
der ostanatolischen Stadt Harput war, wo Martina Gedeck und Katharina Schütt- kau bis Washington zusammengetrage-
Tausende Armenier zusammengetrieben ler tragen die Erinnerungen einer schwe- nen Bild- und Filmdokumente, berichtet
und auf den Todesmarsch nach Südosten dischen und einer Schweizer Missions- Autor und Regisseur Friedler, habe selbst
die Historiker überrascht, die ihn bei sei-
nem 90-Minuten-Film wissenschaftlich be-
GEORGIEN ASERBAI-
Schwarzes DSCHAN Kaspi- rieten. Manches, wie etwa die pompöse
Meer ARMENIEN sches Überführung des 1921 in Berlin ermorde-
Ararat Meer ten Talaat Pascha 1943, werde zum ersten
Eriwan Berg- Mal in bewegten Bildern gezeigt; auf an-
TÜRKEI Karabach
deren Dokumenten werden Figuren iden-
Harput Van tifiziert, welche die Archivare dort vorher
Ankara Urfa noch nicht wahrgenommen hatten.
IRAN
Beklemmend schildert der Film auch
Vakifli
AGATA SKOWRONEK
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Ausland
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