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Franz Werfel: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen: Neue überarbeitete Auflage
Franz Werfel: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen: Neue überarbeitete Auflage
Franz Werfel: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen: Neue überarbeitete Auflage
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Franz Werfel: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen: Neue überarbeitete Auflage

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About this ebook

Franz Viktor Werfel (1890-1945) war ein österreichischer Schriftsteller jüdisch-deutschböhmischer Herkunft. Er ging aufgrund der nationalsozialistischen Herrschaft ins Exil und wurde 1941 US-amerikanischer Staatsbürger. Er war ein Wortführer des lyrischen Expressionismus. In den 1920er und 1930er Jahren waren seine Bücher Bestseller. Seine Popularität beruht vor allem auf seinen erzählenden Werken und Theaterstücken, über die aber Werfel selbst seine Lyrik setzte. Mit seinem Roman Verdi. Roman der Oper (1924) wurde Werfel zu einem Protagonisten der Verdi-Renaissance in Deutschland. Besonders bekannt wurden sein zweibändiger historischer Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh 1933/47 und Das Lied von Bernadette aus dem Jahr 1941. Sein letzter Roman Stern der Ungeborenen von 1945 offenbart Werfels Dante-Rezeption.
INHALTSVERZEICHNIS:
NICHT DER MÖRDER, DER ERMORDETE IST SCHULDIG
VERDI
DER TOD DES KLEINBÜRGERS
DIE ENTFREMDUNG
GEHEIMNIS EINES MENSCHEN oder DAS GEHEIMNIS DES SAVIERO
DAS TRAUERHAUS
KLEINE VERHÄLTNISSE
DER ABITURIENTENTAG
BARBARA oder DIE FRÖMMIGKEIT
DIE GESCHWISTER VON NEAPEL
DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH
JEREMIAS
DIE ARGE LEGENDE VOM GERISSENEN GALGENSTRICK
EINE BLASSBLAUE FRAUENSCHRIFT
DER VERUNTREUTE HIMMEL
DAS LIED VON BERNADETTE
DIE WAHRE GESCHICHTE VOM WIEDERHERGESTELLTEN KREUZ
GÉZA DE VARSANY oder WANN WIRST DU ENDLICH EINE SEELE BEKOMMEN?
STERN DER UNGEBORENE
ERZÄHLUNGEN (23)
LanguageDeutsch
Publisherl'Aleph
Release dateSep 19, 2020
ISBN9789176377482
Franz Werfel: Gesamtausgabe - Sämtliche Romane und Erzählungen: Neue überarbeitete Auflage

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    Book preview

    Franz Werfel - Franz Werfel

    Franz Werfel

    Gesamtausgabe

    Franz Werfel

    Gesamtausgabe

    ~Sämtliche Romane und Erzählungen~

    l’Aleph

    Franz Werfel

    Gesamtausgabe—Sämtliche Romane und Erzählungen

    Edition l’Aleph — www.l-aleph.com

    © Wisehouse — Schweden 2020

    Alle Rechte vorbehalten.

    Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm, datenverarbeitende Prozesse oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    ISBN 978-91-7637-748-2

    INHALTSVERZEICHNIS

    INHALTSVERZEICHNIS

    NICHT DER MÖRDER, DER ERMORDETE IST SCHULDIG

    ERSTER TEIL

    ZWEITER TEIL

    DRITTER TEIL

    …EPILOG

    VERDI

    VORBERICHT

    ERSTES KAPITEL  Ein Konzert im Teatro la Fenice

    ZWEITES KAPITEL  Der Hundertjährige und seine Sammlung

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ~VI~

    ~VII~

    DRITTES KAPITEL  »König Lear« im Koffer

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ~VI~

    VIERTES KAPITEL  Der Gesang des Krüppels

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    FÜNFTES KAPITEL  Den Ghibellinen Guelfe, den Guelfen Ghibelline

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ~VI~

    SECHSTES KAPITEL  Mathias Fischböck

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    SIEBENTES KAPITEL  Der Augenblick

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ACHTES KAPITEL  Die Verbrennung des Karnevals

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ~VI~

    ~VII~

    ~VIII~

    ~IX~

    NEUNTES KAPITEL  »Die Macht des Schicksals«

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ~VI~

    ~VII~

    ZEHNTES KAPITEL  Der Ausbruch der Melodie

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    ~IV~

    ~V~

    ~VI~

    ~VII~

    ~VIII~

    ~IX~

    NACHSPIEL

    ~I~

    ~II~

    ~III~

    DER TOD DES KLEINBÜRGERS

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    DIE ENTFREMDUNG

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    8

    9

    10

    11

    12

    13

    GEHEIMNIS EINES MENSCHEN oder DAS GEHEIMNIS DES SAVIERO

    1

    2

    3

    4

    5

    DAS TRAUERHAUS

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    8

    9

    10

    KLEINE VERHÄLTNISSE

    DER ABITURIENTENTAG

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    BARBARA oder DIE FRÖMMIGKEIT

    ERSTES  LEBENSFRAGMENT

    ~1~  Woher? Wohin?

    ~2~  Das innerliche Leben

    ~3~  Der Oberst

    ~4~  Ein Bild und seine Kränkung

    ~5~  Die Erweckerin des Feuers

    ~6~  Der achtzehnte August

    ~7~  Die Trauer des Mannes

    ~8~  Jähes Erwachen

    ~9~  Typhus

    ~10~  Die Selbstmörderin im Kinderteich

    ~11~  Spiegel und Tod

    ~12~  Generaldecharge

    ~13~  Das Museum der Wallfahrtskirche

    ~14~  Räuber Janetschek, die Schlange und der Fluß

    ~15~  Die Neige des Tages

    ~16~  Bahnhofsgefühl

    ZWEITES  LEBENSFRAGMENT

    ~1~  Alfred Engländer und die Intelligenz

    ~2~  Chronik

    ~3~  Fortsetzung der Chronik

    ~4~  Ferdinand tritt auf die Straße

    ~5~  Die Erkennungskapsel

    ~6~  Champagner

    ~7~  Das Sterben der Pferde

    ~8~  Schleier über der Landschaft

    ~9~  Eine Vision vom Papst

    ~10~  Der Bademeister

    ~11~  Dienstreglement erster Teil, Abschnitt XIV, Paragraph ~97~, Punkt ~708~

    ~12~  Der ewige Widersacher

    ~13~  Richtgang

    ~14~  Feldwache Ferdinandowka III

    ~15~  Schlafhüterin

    DRITTES  LEBENSFRAGMENT

    ~1~  Spätsommer des Untergangs

    ~2~  Schattenreich

    ~3~  Gebhart und die Zerstörung

    ~4~  Der Aufruhr in Gott

    ~5~  Engländers Sendung

    ~6~  Der Tanz des Wunderrabbi

    ~7~  Das Grauen des Lebens

    ~8~  Phöbus, der Hahn

    ~9~  Babylonisches Zwischenspiel

    ~10~  Führerwahl

    ~11~  Das bucklichte Männchen

    ~12~  Der Ruf nach Blut

    ~13~  Der Verfolger wird verfolgt

    ~14~  Die Masse und der Einzige

    ~15~  Dem Bettler wird sein Name genommen

    VIERTES  LEBENSFRAGMENT

    ~1~  Plötzlicher Aufbruch

    ~2~  Heimkehr in die Fremde

    ~3~  Barbara lebt

    ~4~  Gold, tiefe Ohnmacht, Flucht

    ~5~  Woher? Wohin?

    DIE GESCHWISTER VON NEAPEL

    1  Domenica Pascarellas Sonntagsgesang

    2  Die Welt draußen

    3  Ein Tag des Zornes

    4  Ein Abend der Gnade

    5  Zufällige Begegnungen

    6  Der Sündenfall

    7  Aschermittwoch

    8  Der Camposanto

    9  Die Schwestern ohne Brüder

    10  Die heilige Nonne

    11  Weißes Blut

    12  Die Flaschenpost im Ozean  (Placido und Grazia)

    13  Ein dreizehnter November

    14  Der Retter am Ende des Weges

    15  Das Blutopfer

    16  Der neue Bund

    17  Aufrichtung und Verzicht

    18  Und wieder ein Sonntag

    DIE VIERZIG TAGE DES MUSA DAGH

    ERSTES BUCH

    ~1~  Teskeré

    ~2~  Konak Hamam Selamlik

    ~3~  Die Notabeln von Yoghonoluk

    ~4~  Das erste Ereignis

    ~5~  Zwischenspiel der Götter

    ~6~  Die große Versammlung

    ~7~  Das Begräbnis der Glocken

    ZWEITES BUCH

    ~1~  Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe

    ~2~  Die Taten der Knaben

    ~3~  Die Prozession des Feuers

    ~4~  Satos Wege

    DRITTES BUCH

    ~1~  Zwischenspiel der Götter

    ~2~  Stephans Aufbruch und Heimkehr

    ~3~  Der Schmerz

    ~4~  Zerfall und Versuchung

    ~5~  Die Altarflamme

    ~6~  Die Schrift im Nebel

    ~7~  Dem Unerklärlichen in uns und über uns

    Nachbemerkung des Autors

    JEREMIAS

    1  Gespräche am Toten Meer

    2  Eine Fahrt nach Jerusalem

    3  Auf dem Tempelplatz

    4  Im Tempel

    5  Die Stimme Außen und Innen

    6  Der Prophet im Vaterhaus

    7  Die Schule der Gesichte

    8  Wanderung und erstes Ärgernis

    9  Der König ruft

    10  Der Taumelbecher

    11  Meggiddo

    12  Das große Rechten

    13  Unter den blühenden Säulen von Noph

    14  Zenua

    15  Zenua wird angenommen

    16  Der Gang durch die Amenti

    17  Das Schicksal vor dem Scherbentor

    18  Die Füße im Block

    19  Jojakim und Konjah

    20  Das Werk der Verborgenheit

    21  Glühende Kohlen und giftiger Wein

    22  Melech Babilu

    23  Eselsbegräbnis und Himmelsschlüssel

    24  Die Fahrt durch den Sternhimmel

    25  Das Rinderjoch

    26  Zidkijah und sein Haus

    27  Der Gefangene des Bundes

    28  Der Triumph Zidkijahs

    29  Zwischen den Mauern, in den Gewölben, auf dem Wachthof

    30  Aus der Tiefe und aus der Höhe

    31  Durch die Finsternis

    32  Der Rest

    33  Im Tempel

    EPILOG  Auf dem Tempelplatz

    DIE ARGE LEGENDE VOM GERISSENEN GALGENSTRICK

    I

    II

    III

    IV

    V

    VI

    EINE BLASSBLAUE FRAUENSCHRIFT

    1  April im Oktober

    2  Die Wiederkehr des Gleichen

    3  Hoher Gerichtshof

    4  Leonidas wirkt für seinen Sohn

    5  Eine Beichte, doch nicht die richtige

    6  Vera erscheint und verschwindet

    7  Im Schlaf

    DER VERUNTREUTE HIMMEL

    1  Das Heiligenbild

    2  Ein Lebensplan

    3  Ohne Vorzeichen

    4  Wir müssen Abschied nehmen

    5  Der letzte Brief

    6  Der Pfarrer von Hustopec

    7  Ein Vater der Lüge

    8  Fingerzeige

    9  Madonnen und Nelken

    10  In den Katakomben

    11  Der Pilgerfahrt letzte Station

    12  Kleiner Epilog in einem Park

    DAS LIED VON BERNADETTE

    Ein persönliches Vorwort

    ERSTE REIHE

    ~1~  Im Cachot

    ~2~  Massabielle, ein verrufener Ort

    ~3~  Bernadette weiß nichts von der Heiligen Dreifaltigkeit

    ~4~  Café Progrès

    ~5~  Kein Reisig mehr

    ~6~  Das Wut- und Wehgeheul des Gave

    ~7~  Die Dame

    ~8~  Die Fremdheit der Welt

    ~9~  Frau Soubirous gerät außer sich

    ~10~  Bernadette darf nicht träumen

    ZWEITE REIHE

    ~11~  Ein Stein saust nieder

    ~12~  Die ersten Worte

    ~13~  Boten der Wissenschaft

    ~14~  Eine geheime Beratung, die unterbrochen wird

    ~15~  Die Kriegserklärung

    ~16~  Die Dame und die Gendarmerie

    ~17~  J.B. Estrade kommt von der Grotte

    ~18~  Dechant Peyramale fordert ein Rosenwunder

    ~19~  Anstatt des Wunders ein Ärgernis

    ~20~  Wetterleuchten

    DRITTE REIHE

    ~21~  Der Tag nach dem Ärgernis

    ~22~  Der Tausch der Rosenkränze oder: Sie liebt mich

    ~23~  Ein Louisdor und eine Ohrfeige

    ~24~  Das Kind Bouhouhorts

    ~25~  Du spielst mit dem Feuer, o Bernadette

    ~26~  Nachbeben oder Äffen des Mirakels

    ~27~  Das Feuer spielt mit dir, o Bernadette

    ~28~  A. Lacadé wagt einen Staatsstreich

    ~29~  Ein Bischof ermißt die Folgen

    ~30~  Der Abschied aller Abschiede

    VIERTE REIHE

    ~31~  Sœur Marie Thérèse verläßt die Stadt

    ~32~  Der Psychiater greift in den Kampf ein

    ~33~  Digitus Dei oder Der Bischof gibt der Dame eine Chance

    ~34~  Eine Analyse und zwei Majestätsbeleidigungen

    ~35~  Die Dame besiegt den Kaiser

    ~36~  Bernadette unter den Weisen

    ~37~  Eine letzte Versuchung

    ~38~  Die weiße Rose

    ~39~  Die Novizenmeisterin

    ~40~  Das ist meine Stunde noch nicht

    FÜNFTE REIHE

    ~41~  Feenhände

    ~42~  Viel Besuch auf einmal

    ~43~  Das Zeichen

    ~44~  Nicht für mich fließt diese Quelle

    ~45~  Der Teufel bedrängt Bernadette

    ~46~  Die Hölle des Fleisches

    ~47~  Der Blitz von Lourdes

    ~48~  Ich habe nicht geliebt

    ~49~  Ich liebe

    ~50~  Das fünfzigste Ave

    DIE WAHRE GESCHICHTE VOM WIEDERHERGESTELLTEN KREUZ

    I

    II

    III

    IV

    V

    VI

    VII

    VIII

    IX

    X

    GÉZA DE VARSANY oder WANN WIRST DU ENDLICH EINE SEELE BEKOMMEN?

    I

    II

    III

    IV

    V

    STERN DER UNGEBORENE

    ERSTER TAG

    ~1~

    ~2~

    ~3~

    ~4~

    ~5~

    ~6~

    ~7~

    ~8~

    ~9~

    ZWEITER TAG

    ~10~

    ~11~

    ~12~

    ~13~

    ~14~

    ~15~

    ~16~

    ~17~

    ~18~

    DRITTER TAG

    ~19~

    ~20~

    ~21~

    ~22~

    ~23~

    ~24~

    ~25~

    ~26~

    ERZÄHLUNGEN

    Die Katze

    Die Diener

    Der Dichter und der Kaiserliche Rat

    Revolution der Makulatur  (Ein Märchen)

    Das traurige Lokal

    Die Geliebte I

    Die andere Seite

    Geschichte von einem Hundefreund

    Die Geliebte II

    Traum von einem alten Mann

    Zwei Legenden

    ~I~  Die Erschaffung des Witzes

    ~II~  Die Erschaffung der Musik

    Blasphemie eines Irren

    Der Dschin

    Spielhof

    Der Tod des Mose

    Die Hoteltreppe

    Die tanzenden Derwische

    Anläßlich eines Mauseblicks

    Par l’amour

    Weißenstein der Weltverbesserer

    Manon

    Ein wichtiges Erlebnis beim Hochschwebenden

    NICHT DER MÖRDER, DER ERMORDETE IST SCHULDIG

    MOTTO:

    Nun sind wir entzweit!

    Wie wir einst im grenzenlosen Lieben

    Späße der Unendlichkeit getrieben

    Ahnen wir im Traum.

    Und in einer wunderbaren leisen

    Rührung stürzt der Raum.

    (Werfel: Vater und Sohn)

    ERSTER TEIL

    Wie habe ich immer die Knaben beneidet, deren Väter in den Portierlogen oder auf den Türbänken gelassen und freundlich an Sonntagnachmittagen ihre Pfeife rauchten, und wie erst die Buben in den Bürgerzimmern, wo der Hausherr behaglich gerötet, in Hemdsärmeln, die Virginier im Munde und ein halbgeleertes Bierglas vor sich, an dem weißen Tisch saß. Ich will von der Erschütterung schweigen, die ich einmal, noch als ganz kleiner Kadettenschüler empfand, als ich an dem offenen Fenster einer Parterrewohnung vorbeiging und dahinter einen älteren Mann am Klavier sah, der aus einem aufgeschlagenen Notenbuch die Arie des Cherubim: »Neue Freuden, neue Schmerzen« spielte, die sein Sohn, ein wunderschöner, elfjähriger Junge, mit der reinen heiligen Stimme des Kirchensopranisten sang. – Bitterlicher als damals habe ich nie mehr geweint, denn mein Weg führte aus der Kaserne, wo ich allsonntäglich meinem Vater über die Ergebnisse der Woche Rechenschaft ablegen mußte, in die Kadettenanstalt zurück.

    Ja, mein Vater rauchte Zigaretten und spielte nicht Klavier. Er rauchte Zigaretten, und zwar solche, die ihm meine Mutter, seine verschüchterte, harte Dienerin traurigen Angedenkens, allabendlich bis in die Nacht hinein mit der Maschine stopfte; denn sein Tagesbedarf war groß. Mit nobel zitternden, gelbspitzigen Fingern führte er diese Zigaretten zum Mund, ob er nun in der Bataillonskanzlei saß, über den Exerzierplatz ritt, oder gelangweilt nach der Ursache eines Zornesausbruchs sinnend in seinem Zimmer auf und ab ging. Schon als achtjährigem Buben war es mir klar, daß der kein guter Mensch sein könne, der immerfort solche Rauchstöße durch die Nüstern der Nase blies. Alles an diesem Vater war: Von oben herab! Und Rauch durch die Nüstern stoßen, das taten doch nur die Drachen, die es jetzt nicht mehr gab. Wir waren um diese Zeit in einer der großen Landeshauptstädte mit starker Garnison stationiert. Ich erinnere mich, daß mein Vater anfangs, als Hauptmann, dem Hausregiment zugeteilt gewesen ist. Ich selbst war Zögling der Kadettenanstalt dieser Stadt, also schon als Kind zu schwerer Zuchthausstrafe verurteilt. Doch noch härter war mein Los als das der anderen Offizierssöhne!

    Wer nicht in einem unerbittlichen Institut aufgewachsen ist, wird sein Lebtag die Bedeutung des Wortes »Sonntag« nicht ermessen. Sonntag, das ist der Tag, wo die erdrosselnde Hand der Angst um den Hals sich lockert, Sonntag, das ist ein Erwachen ohne bangen Brechreiz, Sonntag, das ist der Tag ohne Prüfung, Strafe, erbitterten Lehrerschrei, der Tag ohne Schande, ohne zurückgewürgte Tränen, Erniedrigungen, der Tag, da man in einem süßen Glockenmeer erwacht, die Bäume des armseligen Anstaltsgartens sind Bäume und nicht fühllose Gefangenenwächter wie sonst, der Tag, wo jeder mit dem weißen Erlaubnisschein die Wache am Tor passiert und in die Freiheit und Freude tritt.

    Ach, selbst der Sonntag konnte mich nicht froh machen, dieser Tag, den die Kameraden in aller Frühe schon mit unterdrückten Jubelschreien begrüßten, wenn sie aufsprangen und ihre Köpfe unter die mager tröpfelnde Waschgelegenheit hielten. Sie durften den ganzen Tag über ausbleiben bis neun Uhr abends, ja, manche sogar bis zehn, bis elf; dann erst, zu solch später Stunde, warf sich das furchtbare Montagsgespenst mit der Wucht der Versäumnisse und ungelösten Aufgaben über sie.

    Aber am Morgen entflohen sie zitternd und rot vor Glück dem Kerker, kehrten in ein Heim ein, wo sie, wenn auch spärlich, so doch eine Spur von Liebe und Betreuung empfingen; sie wurden am Nachmittag in eine Konditorei geführt, oder durften mit ihren Eltern auf der Terrasse eines Cafés sitzen, oder in einem Restaurationsgarten in den schneidigen Blech- und Paukendonner der Militärmusik tauchen.

    Was war mein Sonntag? Um zehn Uhr morgens verließ ich die Kadettenschule mit entsetzlichem Herzklopfen und einer schweren Übelkeit im Magen, ohne daß ich vermocht hätte, den Frühstückskaffee aus der verbeulten Soldaten-Blechschale herunterzutrinken. Denn ich mußte Punkt halb elf in der Bataillonskanzlei vor meinem Vater stehen, der mich mit dienstlich verächtlichem Blicke maß und anfuhr:

    »Korporal, wie stehn Sie da?«

    Das wiederholte sich jedesmal. Meine Knie schlotterten dann, und mit Anspannung aller Kräfte nahm ich strammer Stellung. Es folgte das Verhör über die Noten und Zensuren, die ich in der abgelaufenen Woche davongetragen hatte. Niemals ein Lob, immer aber flogen mir Kommisschimpfworte an den Kopf, und ich pries den Gottestag, an dem es mir so gut erging, daß ich »nur mit Hohn« bedacht worden war.

    Während dieser Hinrichtungen blies der Vater den Rauch der Zigaretten ohne Aufhören durch die Nase. (Ich habe in meinem Leben keine Zigarette berührt, und das ist wohl das einzige Laster, dem ich nicht verfiel.) Der Rapport schloß damit, daß der Vater sich über ein Dienststück beugte, den Rechnungsfeldwebel, der in der Ecke der Kanzlei die ganze Zeit über stramm stand, zu sich heranwinkte, und ohne aufzublicken mir befahl: »Abtreten!«

    Auf der Straße wurde es mir ganz bitter im Mund. Ich konnte mit meinen kleinen Beinen kaum mehr weiter.

    Von Sonne und Furcht waren mir die Augen ganz betäubt, und dennoch mußte ich mit gestreckten Knien vorwärts schreiten, den Kopf salutierend nach rechts und nach links werfen, um ja keinen Offizier zu übersehen.

    Und noch eins! Alle meine Mitschüler trugen am Sonntag eigene Uniformen aus Kammgarnstoff und von gutem Schnitt. – Ich allein mußte in der plumpen ärarischen Montur meinen Ausgang machen, und wie oft schämte ich mich der blauen, die Beine verunstaltenden Hosen.

    Todmüde kam ich so gegen die Mittagsstunde zu dem Hause, wo meine Eltern wohnten. Doch auch dieses Haus war im Bann meines Schicksals gelegen, es stand in der Hörweite der Retraite und Hornsignale.

    Jedesmal mit neuem Herzklopfen läutete ich an. Meine Mutter öffnete mir selbst; denn Offiziersfrauen können sich ja keine Dienstboten halten. Ich küßte ihr die Hand, sie fuhr mir kurz mit ihren bigotten trockenen Lippen über die Stirne. Dann mußte ich den Waffenrock ablegen und ein ausgewachsenes kurzärmeliges Lüsterjäckchen anziehn, eines meiner Schulbücher nehmen und still dasitzen, während die Mutter mit kurzen merkwürdigen Rucken in der Küche hantierte. Wie sie hin und her ging, dachte ich oft: »Warum trägt meine Mutter so große, gerade Stiefel mit breiten platten Absätzen, ganz anders als die geschwungenen Schuhe, welche die hellgekleideten Frauen auf der Straße tragen? – Warum empfinde ich bei ihrem Schritt nicht dasselbe wohlige Gefühl, das mich angesichts der schönen klappernden Frauenschritte da draußen durchrieselt?«

    Mittags kam der Vater nach Hause. Seine Lackstiefeletten blitzten. Er brachte es fertig, durch den ärgsten Staub und Kot zu gehn, ohne daß sein tadelloses Schuhwerk auch nur von dem kleinsten Fleck verunstaltet wurde. Es geschah regelmäßig dasselbe. Er hing den Tschako und frischvernickelten Salonsäbel an den Haken, zog sein Bartbürstchen und kämmte sich zurecht, schlug in der Türe leicht die Sporen aneinander und begrüßte meine Mutter und mich, die schon mit der Suppe warteten, mit einem förmlichen »Servus«, wie er es von Kameradschaftsabenden her gewohnt war, wenn er unter rangsjüngere Kameraden trat.

    Beim Essen wurde wenig gesprochen, denn einen schweigsameren Menschen als meine Mutter habe ich nie gesehen, die nur ein Gegenstand völlig in Schwung zu bringen vermochte: Der Judenhaß. Mein Vater machte zwischen zwei Bissen dann und wann eine Bemerkung über einen Offizier. Den Untergebenen und Gleichgestellten pflegte er schlechtweg mit seinem Zunamen zu nennen, den Vorgesetzten bezeichnete er mit der Charge, wobei er niemals vergaß, das Wort »Herr« voranzusetzen.

    Er war ein ausgezeichneter Offizier. Das Dienstreglement war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

    Wenn er das Wort an mich richtete, so war es immer eine Prüfungsfrage. Einmal zog er sogar, während ich in meinem verflachsten Rindfleisch stocherte, eine zusammengefaltete Generalstabskarte aus der Tasche und verlangte von mir, ich solle die Karrenwege im Raume von Jezierna, das ein unbedeutendes galizisches Nest ist, genau beschreiben. Das war selbst meiner Mutter zu viel. »Laß das Kind essen, Karl!« sagte sie. Und ich habe ihr dieses gute Wort – »Kind« – nie vergessen.

    Diese Mahlzeit war der Höhepunkt meines Sonntags. Um fünf Uhr mußte ich schon wieder in dem weißgetünchten Zimmer mit den zehn Eisenbettgestellen sitzen und über einer arithmetischen Aufgabe brüten, verzehrt von Montagsangst und Sodbrennen.

    Nur in den Ferien war es etwas anders. Zwar unterließ es mein Vater nicht, die Schule zu ersetzen und alltäglich mir einen Rapport zu verordnen, wo er das Pensum, das er mir tags vorher aufgebürdet hatte, abhörte, – aber ich durfte doch eine Stunde länger im Bett liegenbleiben, das nicht ganz so hart war als das der Kadettenanstalt; auch blieb mir Zeit, ein wenig zu flanieren, mit dem Hund zu spielen oder eine Indianergeschichte zu lesen.

    Vollends erträglich wurde der Zustand, wenn die Zeit der Manöver heranrückte und der Vater mit seinem Regiment ins Sommerquartier ging. Von dem ersten Augenblick seiner Abwesenheit an war meine Mutter wie verwandelt. Sie ging mit mir viel spazieren, erzählte von ihrem Vater, der Rechnungsrat im Finanzministerium gewesen war und ein berühmter Schachspieler – selbst ihre Schuhe, die meinen Schönheitssinn immer beleidigt hatten, bekamen eine weniger strenge und angenehm weibliche Form; ich mußte mir nicht mehr selbst die abgerissenen Knöpfe annähen, sie wusch mir auch den Kopf und zog mir mit Sorgfalt den Scheitel.

    Eines Tages kehrten wir sogar in eine Konditorei ein, und zum erstenmal im Leben durfte ich Schokolade mit Schlagobers genießen.

    Einmal in dieser Ferienzeit erwachte ich in der Nacht. Da sah ich meine Mutter mit einer Kerze vor meinem Bett stehen. Sie hatte das Haar geöffnet, und ich konnte erkennen, daß es sehr schön war.

    Über ihr Gesicht liefen viele Tränen. Sie setzte sich zu mir und küßte mich in einem wilden plötzlichen Überschwang. Da fing auch ich an, unaufhaltsam zu weinen. Am Morgen erwachte ich und hatte das erstemal in meiner Jugendzeit wirklichen Appetit.

    In den ersten Tagen des September kam der Vater von den Manövern zurück. Doch diesmal hatte ich ein ungeahntes Glück. Er schien nicht derselbe zu sein. Sein Gesicht war freundlicher und wohl gerötet, seine Gestalt weniger infanteriepedantisch, fast die eines Reiters. Er trug keine gelben Waschhandschuhe, als er eintrat, sondern weiße dünne Glacés, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Nun, Bub, wie waren die Ferien?« Ich traute meinen Ohren nicht und wurde maßlos rot.

    Die Veränderung im Benehmen meines Vaters hatte einen guten Grund. Die Manöver waren für ihn außerordentlich günstig abgelaufen. Bei der Kritik hatte ihn der Thronfolger dreimal höchst schmeichelhaft erwähnt, er war fast außertourlich mit Überspringung von sieben älteren Hauptleuten zum Major avanciert, und was die seltenste Auszeichnung ist, ihm war der Adel mit dem Prädikat »Edler von Sporentritt« verliehen worden. Es war vorauszusehen, daß er, trotzdem er das Studium der Kriegsschule einst hatte unterbrechen müssen, zum Generalstab versetzt werden würde. Die letzten acht Tage dieser Ferien waren die glücklichsten meiner ganzen Kindheit. Der Vater war jovial und eifrig bestrebt, die Gewohnheiten eines Frontsoldaten mit denen eines militärischen Diplomaten zu vertauschen.

    Hausrapporte, Prüfungen, Gespräche über Kasernenfragen verschwanden ganz. In unser Hinterzimmer zog eine Hausschneiderin ein; für meine Mutter sollte ein Straßenkostüm nach der Mode angefertigt werden. Ihr Gesicht glühte in mädchenhafter Erregung, wenn sie mit der alten Jungfer über ein Schnittmuster gebeugt stand oder selbst an der Nähmaschine saß. Es konnte auch geschehen, daß mein Vater, der jetzt eine weniger vorschriftsmäßige feinere Uniform trug, in das Kabinett trat, um einer Anprobe beizuwohnen. Wenn er seine Meinung über eine Falte oder Rüsche aussprach, vergaß er nicht, seinen Worten einen näselnden, leichtfertigen Ton zu geben.

    Eines Abends hatten wir sogar Gäste. Der Regimentskommandant und der Brigadier mit ihren Damen. Es gab vor dem Braten eine Vorspeise, französischen Salat in Muscheln. Ich, der bei Tisch dabei sein durfte, erstarb in Ehrfurcht vor dieser geheimnisvollen edlen Speise.

    Meine Mutter bewegte sich in ihrem guten Seidenen, das heute ganz ungewohnt vornehm wirkte. Ihr schönes Haar trat gut zutage. Sie trug eine dünne Goldkette, an der ein Türkiskreuz hing, um den Hals, an den Handgelenken klirrende Silberarmbänder.

    Es wurde Wein und Bier getrunken. Der Brigadier gab wohlwollend jüdische Anekdoten zum besten, der Oberst Kasernenhofblüten. Beide nannten meinen Vater: »Lieber von Sporentritt!« Sie waren bürgerlichen Namens und nicht wenig stolz, daß ein so hochqualifizierter Offizier in ihrem Dienstbereiche stand. Als sie aufbrachen, zwickte mich der General freundlich in die Wange. Ich stand starr wie eine Ordonanz an der Türe. Meine Eltern waren mit diesem wohlgelungenen Souper sehr zufrieden. Was ich bisher noch nie gesehen hatte, ich sah meinen Vater mit unterm Kopf verschränkten Armen sich in einem Schaukelstuhl wiegen. Das war für mich eine überaus aristokratische Geste.

    Vor dem Schlafengehen küßte der Vater meiner Mutter die Hand. Ich glaube, das war der glücklichste Augenblick ihres Lebens.

    So nahte für mich der letzte Sonntag dieser wunderbaren Ferien heran, und der Zufall wollte es, daß dieser Tag gerade mit meinem dreizehnten Geburtstag zusammenfiel. So durfte auch ich einmal im Leben ein Sonntagskind sein.

    Am Morgen dieses Tages trat ich zu meinem Vater ins Zimmer, der gerade beim Frühstück saß. Er ließ mich niedersetzen und teilnehmen. Trotz seiner Freundlichkeit in den letzten Tagen hätte ich in meiner Verschrockenheit doch nicht gewagt, dieser Aufforderung zu folgen.

    »Es ist ja heute dein Geburtstag«, sagte er, »setz dich nur!« Ich trank zaghaft aus der Tasse, die er mir hingestellt hatte. Er schwieg lange still, und ich fühlte, daß er über mich nachdachte.

    »Du bist heute dreizehn Jahre« – begann er plötzlich – »und die Jugend geht rasch vorbei! Gerade an meinem dreizehnten Geburtstag, erinnere ich mich, hatte mir mein Vater, der Oberstleutnant, ein besonderes Vergnügen zum Geschenke zugedacht. Ich will dir das gleiche Geschenk machen, und du magst ebenso an deinem Sohne handeln. Du wirst es einmal verstehn, daß die Tradition den Wert einer Familie bedeutet. Halte dich heute nach Tisch bereit und jetzt geh!«

    Nach dem Essen, das besser war als sonst, gebot mir der Vater noch einmal, mich anständig zurechtzumachen. Er selbst aber stand auf und ging in sein Zimmer. Nach einer halben Stunde kam er zurück. Aber was war geschehen? Er hat Zivilkleidung angelegt – und so wenig ich damals davon verstehen konnte, so sehr fühlte ich doch die Verwandlung ins Armselige, die mit diesem sonst so steifen und klirrenden Menschen vor sich gegangen war. Das war nicht mehr die erdrückende Erscheinung von vorhin, so sahen die vornehmen Herren auf der Straße nicht aus, dieser Vater glich jetzt den mageren Gestalten hinter den Postschaltern.

    Unter den allzu kurzen Ärmeln traten viel zu weit die angeknöpften Manschetten vor, der Kragen schien eng und von einer veraltet unerfreulichen Fasson zu sein. Die genähte Krawatte ließ den gelben Kragenknopf sehn. Die Hosen, überaus gebügelt, spiegelten hinten, was dadurch besonders sichtbar wurde, daß der Rock ebenso kurz wie alles andere war.

    Tadellos allein wirkten Frisur, Stock, Hut und Handschuhe, die der Vater, als wäre er das sehr gewohnt, leichthin in der Hand trug.

    Wie wach ist doch ein Kinderherz!

    Ich verstand so viel!

    Der Mann, der mein Vater war, jetzt hatte er sich enthüllt.

    Armut, Engbrüstigkeit und Schäbigkeit; nun traten sie als Wahrheit hervor, nachdem Glanz und Planz im Kasten hingen! Und doch!

    Eine ungeheure Welle von Wärme und Mitleid für ihn stieg in mir auf.

    Wir gingen über die Straße, beide mit dem dummen und kniewerfenden Schritt der Soldaten.

    »Wohin gehen wir?« wagte ich zu fragen.

    »Das wirst du schon sehen.«

    Als wir mitten auf der großen Brücke standen, wußte ich plötzlich, und das Blut stockte mir vor wunderbarem Entsetzen: »Es geht auf die Hetzinsel.« Die Hetzinsel war gleichsam der Wurstelprater unserer Stadt.

    Meine Kameraden, die sie hatten besuchen dürfen, berichteten das Tollste. Panoptikum, Grotten – und Bergbahn, verzaubertes Schloß, Fotograf, Schießstätten, rasende Karusselle, elektrische Theater, daß diese Entzückungen nicht fehlen durften, war ja selbstverständlich. Daß aber ein wirkliches bodenständiges Stück Wüste da wäre, mitten auf dieser Flußinsel, ein Stück wahrer Sahara, auf dem echte Beduinen ab halb vier Uhr alltäglich ihre »Fantasia« ritten, das hatte mir ein besonders glücklicher und gewiegter Besucher versichert.

    Mein Vater und ich stiegen die breite Treppe, welche die große Brücke seitlich unterbrach, hinab, traten durch ein hochgebautes Torgerüste, von dem hundert brennende Fahnen niederwallten, und standen schon im Wunder.

    Im ersten Augenblick verging mir der Atem vor dem gigantischen Lärm, der auf mein Ohr eindrang, das angstvoll nur an das Schrillen der Exerzierpfeife und die Bosheit des Lehrerworts gewöhnt war. Selbst die Furcht vor meinem Vater schwand für eine Sekunde. Ich wollte die Hand ausstrecken, um die seine anzufassen, aber durchblitzt fuhr ich noch im letzten Augenblick zurück.

    Unzählige Menschen in unzähligen Gruppen wogten durch-, mit-, gegeneinander und bildeten doch eine gleichgerichtete gemeinschaftliche Strömung, gerade so wie die vielen durcheinandertanzenden Wirbel des Wassers einen Strom. Die irrsinnige Musik, der Triumph der Menge schloß mich ein wie etwas ungeahnt Gütiges, mein kleiner zertretener Mut begann zu wachsen, ich sah diesen Vater neben mir fast klar beobachtend an und fühlte: »Was ist denn der Mächtige da heut im grauen, nicht mehr neuen Röckchen anderes, als einer unter vielen!? Wem kann er heute was kommandieren, wer würde ihm gehorchen!? Keiner schert sich um ihn, keiner grüßt ihn, kein Soldat salutiert, ja – sie schauen ihn ruhig frech an und scheuen sich gar nicht, ihn zu puffen.«

    Mein Vater schien ähnliche Gedanken zu hegen.

    Wenn ihn jemand berührte oder gar auf den Fuß trat, knirschte er mit den Zähnen und stampfte auf. Das Gesicht war verzerrt und verfallen. In seinen vor der übermäßigen Sonne zusammengekniffenen Augen blitzte Haß. Sein heute unvorteilhaft zur Schau getragener Körper kämpfte um die Möglichkeit, plötzlich luftleeren Raum um sich zu haben, aus dem Bann der Menge zu fallen, eng und goldverschnürt mitten in einer tausendfältigen Stille dazustehen.

    Oh, wie sollten kurz und scharf aus seiner Kehle die Kommandoworte fahren: »an!« und »Feuer!«

    Wir aber wurden im unbesiegbaren Strom von Leibern, Gelächtern, Gekreischen vorwärts gestoßen, und je mehr ich fühlte, daß mein Vater darunter litt, um so mehr genoß ich die süße Rache, ihn zu dieser Ohnmacht verurteilt zu sehen. Seltsam! Ich erlebte den ersten Sieg gegen diesen Vater in der Stunde, da er mir die erste Güte entgegenbrachte.

    Indessen waren wir der schmalen Gasse zwischen schreienden Buden, dem Schweißgeruch der in einer Flußenge zusammengezwängten Menge, der Unzahl von Kindertrompeten und bunten Luftballons entkommen und standen im Strudel eines großen Platzes.

    Viele gewaltige Orchestrions und elektrische Orgeln donnerten.

    Dreizehn Jahre alt!

    Es war das mächtigste Erlebnis, das ich bisher empfangen hatte, und dieses Erlebnis wurde vielleicht nur von einem noch übertroffen, als ich von Bord des »Großen Kurfürsten« die vielen Begrüßungsorchester durcheinandertoben hörte, die uns mit einer nie geschriebenen Dämonsmusik im Lande der Hoffnungen empfingen, wo ich jetzt diese Geschichte aus meinem Leben aufzeichne.

    Die elektrischen Orgeln brüllten, die langgezogenen Schrecknisse ihrer Opernmelodien zu einem fabelhaften Chaos verschlingend.

    Ich stand erschöpft in diesem Platzregen von harmonischen Felsen. Mein Körper war eingeschlafen, ich konnte mich kaum rühren.

    Der Vater zog mich in ein Ringelspiel. Ich mußte mich auf ein Pferd mit übertrieben geschnitztem Hals setzen und die Zügel in die Hand nehmen. O welch ein eigentümlicher Geruch von Holz, Leder und warmen Roßhaaren! Die Farben- und Gestaltenfülle waren zu groß, als daß ich hätte noch unterscheiden können. Hohl setzte die Orgel ein: »Müllerin du Kleine!« Das Spiel begann sich langsam zu drehen. Ein Mann in kurzen Hosen und schwarzem Trikot avancierte und retirierte schneidig auf der rotierenden Scheibe. Oben wehten rote Vorhänge über Kinderjuchzern. Die Bewegung wurde schneller, immer schneller, die Drehscheibe, auf der die Pferde, Wagen, Drachen, Königstiger, Löwen, Traumtiere liefen, schien einen Trichter bilden zu wollen – ich lehnte mich mit glühenden Wangen zurück, um mich dem Rausch der Schnelligkeit hinzugeben. Da aber sah ich meinen Vater, groß, wie über alle anderen gewachsen, dastehen, scharfen Blicks, vorgestellt den rechten Fuß, und den Stock, wie eine Longierpeitsche in der Hand. Er rief mir im Ton des Reitlehrers zu:

    »Gerade sitzen! Oberkörper zurück!«

    Doch – schon war ich vorbei und nahte voll Angst in der neuen Tour. Unbeweglich stand er da. Ich hörte seine Stimme:

    »Sattel auswetzen!«

    Vorüber! Während der nächsten Tour hatte ich schon den bitteren Geschmack im Munde. Des Vaters Stellung war um keinen Zoll verändert.

    Und wieder die Stimme.

    »Schenkel an den Sattel, Fußspitzen auswärts.«

    Als ich von meinem Holzpferd stieg, war ich traurig und zerschlagen wie nach einer Prüfung.

    Mein Vater hatte sich für den kurzen Augenblick meines Sieges von vorhin bitter gerächt. Doch gab er sich damit zufrieden, tadelte mich nicht weiter und löste Karten für die Grottenbahn, deren Geheimnisse ein Zwerg im Kostüm der Hofnarren und eine Riesendame mit der Pauke ausriefen. Diesmal nahm der Vater teil, doch zeigte sein Gesicht keine Regung. Die Orgel, die hier spielte, war mächtiger als die der anderen Unternehmungen. Es ging von ihren Tonungeheuern ein Luftzug aus, der mir wie Zauberei erschien. Wir fuhren knarrend in den schwarzen Schacht ein. Da es ganz finster war, hatte Gott den Vater von mir genommen. Ich sah ihn nicht. Die Beklommenheit fiel und ich überließ mich dem Traum. Aber es waren viele Träume:

    Hexen ritten, während der Winterwind die Tannen entwurzelte, dürr, nackt und mit flatternden Strähnen auf wippenden Ästen. Schweigend, grün, unendlich tat sich der Meerboden auf. Algen sanken wie Schleier nieder, langsam schwebten Riesenquallen, namenlose Fische zogen in Scharen durch eine warme Strömung, ein Tier, das bläuliche Strahlen warf und wie eine Lampenkugel mit Schwanz und Flossen aussah, stieg majestätisch empor. Auf dem Grunde, der ein Gebirge, gebaut aus Muscheln, Korallen, Riesenkrebsen, rostigen Ankern und verstreuten Edelsteinen war, faulte die von Fischen angefressene Leiche eines Steuermannes, und ganz in der Ferne, wo der Schein der Tiefe glasig wie unnatürlicher Schlaf erschien, schwankte das Wrack einer Fregatte mit hohem Kiel, gekipptem Mast und quadratischen Kabinenluken im langsamen Rhythmus des unsichtbaren Wogengangs. Vom Bugspriet schimmerte eine winzige Laterne seit Jahrhunderten unerloschen mitten im Leib des Wassers. Doch nicht genug damit. Auch die Wolfsschlucht erlebte ich. Der Wind stürzt die Brücke ein, die über den Wasserfall führt, Eulen schweben, das Wildschwein ist zu hören, zwei Töne grunzt es ununterbrochen wie ein Fagott, Kaspar gießt im Flammengeprassel die Freikugeln, Samiel fährt im roten Feuermantel aus einer Höhle.

    Ich kannte diese Geschichte sehr gut. Ein Kamerad, der einzige, mit dem ich mich verstand, hatte sie mir oft erzählt.

    »Samiel hilf!« schallte es durch den Wind. Wir rasselten weiter ins Dunkel. Ich vernahm die Stimme des Vaters.

    »Was war das?« fragte er, nicht wie einer, der prüft, sondern wie einer, der selbst nichts weiß. Da wir uns ja nicht sahen, durfte er sich etwas vergeben.

    »Das war Freischütz«, gab ich zur Antwort.

    »Was ist das, Freischütz?« hörte ich seine Stimme, diesmal aber ohne Nachdruck.

    »Freischütz ist eine Oper«, dozierte ich, Wort für Wort setzend wie ein Lehrer.

    »Eine Oper – so?«

    Der Vater meinte das verdrießlich und gleichgültig, aber es war nicht zu vertuschen, es gab eine Welt, wohin er mir nicht folgen konnte; ich hatte ihn überwunden. Stolz straffte mich. – Jetzt hätte ich reiten können!!

    Das Größte aber, was es gab, war das Erdbeben von Lissabon. Trotzdem einer der Mitschüler mir vorgeschwärmt hatte, in der Grottenbahn wäre der ganze Weltuntergang zu sehn, war ich nicht enttäuscht.

    Wie die Häuser der Stadt dastanden grell und weiß in dem blauesten aller Tage, wie das Meer voll roter und gelber Segel den Horizont hinanstieg, wie jetzt nach und nach das wilde Gezwitscher der Vögel verstummt, und – die Sonne steht hoch am Himmel – es langsam immer dunkler und toter wird! Wie man fühlt, daß die Menschen vor der grauenhaften Erscheinung dieser Dunkelheit mitten am Tag sich in die Häuser flüchten und in den Kellern verstecken! Da ist es auf einmal ganz finster und plötzlicher Sturm wirbelt eine ungeheure Staubhose in die Schwärze, der das Tosen von Millionen Donnern, Kanonenschlägen, Hagelwettern und Explosionen folgt. Unsichtbar das Meer mit einer Riesensturzflut überschwemmt die Nacht und tritt sogleich zurück. Und diese Finsternis? Dauert sie tagelang, jahrelang oder nur die halbe Minute, die sie wirklich dauert? Jetzt hellt sie sich ein wenig auf. Feuerschein immer mehr, und der Riesenbrand der Stadt leckt mit Millionen Flammen und Schatten den Himmel aus, während heiser und schwach – denn wie ferne in Zeit und Raum geht dies alles vor sich – Zischen, Sud und Geprassel das Züngeln begleitet.

    Gleich als wir ins Freie traten, wurde es mir in der Seele warm und gut. Daß ich gewußt hatte, daß es »Freischütz« und überhaupt ein Ding gab, das sich Oper nannte, und daß ich meinen Vater hatte belehren können, richtete mich auf. – Einst würde ich Rapport halten, und sein Mund, der nur den harten Akzent des Dienstes kennt, wird stocken müssen.

    »Nun wollen wir uns restaurieren«, sagte der Vater. Wir kehrten in einen Kaffeegarten ein. Ach, wie gütig war doch heute der Gestrenge. Er fragte mich sogar: »Was wünschest du zu nehmen, Karl?«

    Ich brachte kein Wort heraus. Er aber kaufte dem Kuchenpickolo drei Leckereien ab, legte zwei davon zu der Tasse Schokolade, die er mir bestellt hatte, und behielt selbst nur eine. Mein Herz schämte sich.

    Das war der Papa, der vor mir saß. Der Große, Bewunderte, Alleswissende, Alleskönnende! Wen hatte ich denn sonst noch auf der Welt als ihn? Ich liebte ihn ja! Ich sehnte mich in bitteren Nächten nach seiner Liebe, und der Schmerz aller Erniedrigungen war nichts gegen die Qual jenes oft geträumten Traums, da ich ihn in Pulverdampf gehüllt, seinem Bataillon voraussprengend in die Luft greifen und fallen sah!

    Wohin sollte meine kleine Seele mit den hin und her gerissenen Gefühlen? Der Vater winkte einen Kellner heran! »Wo ist hier die Schießstätte?« Der Mann gab Auskunft.

    Das väterliche Auge sah mich scharf an. »Wir werden jetzt etwas Nützliches tun! Ich will sehen, ob du zum Plänkler taugst.« Ich war aus dem Himmel meiner Zärtlichkeit geworfen, und sogleich kehrte der bittere Geschmack zurück.

    Auf dem Wege zur Schießstätte aber erlebte ich das Furchtbare, das meine ohnehin schon zerstörte Kindheit noch mehr zerstören sollte.

    Vor einer großen Bude drängte sich eine Menge von Leuten. Eine gemütliche, etwas fette Stimme war zu hören: »Fürchten Sie sich nicht, meine Herrschaften! Nur immer heran! Was kann man Besseres an seinen Feinden tun, als ihnen den Hut vom Kopf werfen! Man muß nur geschickt sein. Man muß nur gut zielen können! Immer nur heran, meine Herrschaften! Lernen Sie, ihren Feinden den Hut vom Kopf werfen! Das ist gut für alle Parteien: gut für Klerikale, Agrarier und Sozialisten!«

    Wir traten näher. Auf dem Ladenbrett der Bude waren große Körbe mit roten, blauen und weißen Filzbällen zu sehen. Hinter dem Brett stand der Budenbesitzer, ein Mann von schlau-gutmütigem Aussehn, der eine Militärkappe und einen roten Kaiserbart trug. Er zwinkerte vielsagend mit den Augen, wenn er die Bälle ausgab und die Münzen einstrich; dann sagte er wohl: »Nur gut zielen, mein Herr, Sie werden schon den richtigen treffen!« Und die Leute zielten und warfen, daß die Bälle sich nur so in der Luft kreuzten. Das Gelächter wollte gar nicht aufhören.

    Wohin aber zielten und warfen sie? Mein Entsetzen war grenzenlos! Auf lebendige Menschen! Lebendige Menschen wurden von ihnen gesteinigt. Nein, das war ja nur eine Täuschung. Gott sei Dank, es sind ja nur Puppen, nur Figuren, denn solche Menschen hätte die Erde niemals tragen können.

    Und welche Bewegung? Auf und nieder! Auf und nieder!

    Mir schwindelte.

    Der tiefe Hintergrund der Bude war dreifach geteilt. Rechts und links sah man hintereinander erhöht je zwei Bänke; aus jeder dieser Bank tauchten in hypnotischer Regelmäßigkeit auf und nieder, auf und nieder je drei Gestalten! Zwölf durch alle Höllen gehetzte Grimassen stiegen in magnetischem Rhythmus aus den Bänken auf und versanken wieder. Stiegen auf – versanken.

    Die verzerrten Physiognomien, die zynisch aus dem Abgrund auffuhren, um wieder dahin zurückzukehren, waren so genial voneinander unterschieden, daß ich keine von ihnen je vergessen könnte. Da war ein unerbittlicher chinesischer Mandarin, ein unsagbar jüdischer Jude, ein Offizier mit Pferdezähnen in der Uniform einer phantastischen Fremdenlegion, ein scheußlich rotwangiger Henker in Frack, ein Jesuit, wie ein schwarzer und böser Strich, ein knopfblanker Bauer mit einer zerfressenen Nase, die ihm wie eine Traube von roten Beeren aus dem Gesichte hing, ein Neger, ein Gehenkter, ein Mensch im Zuchthauskittel, eine besoffene Teerjacke, ein Spitalsbruder, ein Brigant und ein lebendig Begrabener.

    Um das ungerührt erscheinende und verschwindende Grinsen dieser Zwölf flogen die Bälle – trafen mit dumpfem Hall Brust, Aug’ und Stirn. Hie und da gab es einen Treffer. Dem Mandarin fiel dann seine Mütze, dem Offizier sein Tschako, dem Bauer sein Dreispitz in den Nacken.

    Manchmal – und ich erinnere mich oft an diese Puppen – kommt mir der Gedanke: Es sind zwölf Höllensträflinge, von Gott verurteilt, als Holzfiguren ihr grauenhaft irdisches Wahnbild weiter zu bewohnen und hier in den Schulbänken des Budenbesitzers zu einer ewigen Turnstunde verdammt, ihr Leben nachzusitzen.

    Mögen sie erlöst werden!

    Ganz anders aber war die Gesellschaft, die sich im Kreise auf der großen Scheibe drehte, welche die Mitte des Budenhintergrundes einnahm. Es waren wiederum zwölf! Aber zwölf, die eine solche unnachahmlich schäbige Würde auszeichnete, daß sie kaum auseinanderzuhalten waren. Der Beruf dieser zwölf Holzmenschen war klar. Was denn anders konnten sie sein als Leichenbitter, Wucherer, Zeremonienmeister der Begräbnisse dritter bis siebenter Klasse, Tanzlehrer letzter Sorte, Klavierspieler bei den Unterhaltungen der Armen!

    Alle waren sie in Trauer gekleidet, trugen lange, schwarze, ausgefranste Bratenröcke, hohe, blinde Zylinder, von denen Flore niederhingen. Sie drehten sich langsam und gemessen im Kreise, so, daß ich weniger ihre todernsten, starren Gesichter sehen konnte, als den Rücken, der das Traurigste von der Welt war.

    In ihrer schleichenden Haltung schienen sie einem unsichtbaren Sarge zu folgen oder verflucht zu sein, dort, fern im Schatten, eine Türe zu sehn, der sie ewig zustreben, die sie doch nie erreichen durften, immerdar an der Möglichkeit des ersehnten Abgangs vorbeigedreht. Die alten traurigen Männer, mehr als die Teufelsbilder rechts und links, waren Zielscheiben der sausenden Steinigung. – Trat eine Pause im Bombardement ein, so erschien hinter einem Vorhang des Hintergrundes ein Junge und setzte den Greisen die Zylinder auf, die ihnen die Bälle vom Kopf geschlagen hatten.

    Er war nicht älter als ich. Vielleicht feierte er heute auch seinen Geburtstag. Sein Antlitz war ebenso mager und blaß wie das meinige; seine schwarzen Augen leuchteten aus tiefen Höhlen.

    Und doch! Wie gut hatte er es – wie schlecht hatte ich es! Er trug an seinen Gliedern keine vorschriftsmäßige Uniform, er ging wohl in die Bürgerschule, wo die Buben zu spät kommen, ausbleiben und Allotria treiben dürfen, soviel sie nur wollen. Sein Vater lachte während der Arbeit viel und aus Herzensgrund, war beredt, behaglich, und jetzt – jetzt zündete er sich die Pfeife mit dem Türkenkopf an und begann wohlig keuchend zu paffen.

    Die Bälle schwirrten, die haßerfüllten Fratzen tauchten auf und nieder, die schäbig würdigen Greise wandelten hoffnungslos an der Türe ihrer Erlösung vorbei.

    Auch der kleine Junge hatte mich gleich entdeckt. Wir waren die einzigen Kinder hier. Sofort spann sich eine starke Beziehung von mir zu ihm, – von ihm zu mir.

    Er winkte mir, einen Ball zu werfen, kniff bedeutsam die Augen ein, pfiff mir ein Signal zu, schnitt eine Fratze und winkte mir immer wieder.

    Oft sah ich nichts als seine Hand, die wie ein Gespenst mit Daumen und Fingern hinter dem Vorhang hervorgestikulierte.

    Ich machte schüchtern meinerseits Zeichen, deren Sinn ich selbst nicht verstand.

    Verloren starrte ich diesen hohläugigen Knaben an, der mir glücklich wie die Freiheit selbst erschien!

    Ich fuhr zusammen. Denn die kommandierende Stimme meines Vaters schnarrte: »Karl, nun zeig, ob du eine sichere Hand hast und ob du einmal das Recht haben wirst, des Kaisers Rock zu tragen!«

    Er gab mir einen Ball in die Hand. Was sollte ich damit anfangen? Auf und nieder tauchten die Bösen; die Leichenbitter schlichen an dem Jungen vorbei, der immer wieder den Kopf vorbeugte und mir mit fünf gespreizten Fingern winkte und winkte.

    Alle Puppen hatten ihre Hüte auf – denn kein Mensch warf mehr einen Ball, so scharf war die Stimme meines Vaters gewesen. Die Leute sahen ihn erstaunt und feindlich an. Alle Blicke waren auf uns beide gerichtet. Zitternd hielt ich den Ball in meiner Hand. Alles schwieg, und nur der Budenbesitzer sagte: »Nun, junger Mann!?«…

    Mein Vater richtete sich auf. Die Bedrückung, einer nur unter Tausenden zu sein, war von ihm gewichen. Er stemmte die Hand in die Hüfte, wie es der tut, der endlich das Übergewicht über andere gewonnen hat, wie der geblähte Leutnant es macht, der vor seine Rekruten tritt. Das Schweigen um uns tat ihm sichtlich wohl.

    »Wird’s bald!? Wirf!« sagte er mit lauter Kasernenhofstimme.

    Mein ganzer Körper brannte vor Scham und Angst. Ich hob den Ball und warf ihn kraftlos ins Ungewisse hinein. Er fiel schon in der Mitte der Bude zu Boden. Nichts unterbrach das Schweigen, nichts als die kleine Lache, die der Junge aus seinem Versteck hervor anschlug.

    »Tolpatsch!« Der Vater reichte mir streng einen zweiten Ball.

    »Wähle dir eine Figur, ziele gut, und dann erst wirf!«

    Alles tanzte vor meinen Augen! Auf und nieder tauchten die Höllensträflinge. Ich nahm alle Kräfte zusammen, meinen Blick zu sammeln. Mir war, als müßte mein Kopf sogleich in Flammen aufgehen. In den Gelenken der Hand, die den Ball hielt, spielte ein süßlich giftiges Gefühl. Immer furchtbarer wurde der Rhythmus des Auf- und Niedertauchens. Da! – Eine Gestalt löste sich aus den andern, wurde deutlicher, die Grimasse fletschte mir eindringlich entgegen, ein ewig verschlossener Mund schien mir zurufen zu wollen: »Ich! Ich!« Es war der Offizier in Phantasieuniform.

    Ich sah ihn – ich sah ihn! – Die Pferdezähne meines Vaters waren entblößt, seine Schnurrbartspitzen starrten, an seinen Epauletten blitzten die Messingknöpfe.

    Ich beugte mich weit über das Brett und warf, einen kurzen Schrei ausstoßend, den Ball – der aber ganz nah von mir in irgendeine sinnlose Ecke fuhr.

    Jetzt lachte der Knabe im Hintergrund laut und höhnisch auf.

    Der Vater trat dicht an mich und zischte mir ins Ohr:

    »Rindvieh! Du blamierst mich! Jetzt wirf und triff, sonst…!«

    Ich fühlte einen neuen Ball in der Hand.

    Dort! Auf und nieder raste der Legionsoffizier. Von Mal zu Mal immer klarer offenbarte er sich. Wo stand mein Vater? Nicht neben mir!

    Dort stand er! Dort…!

    Er blies Rauch durch die Nase, so wenig ermüdete ihn die furchtbare Bewegung. Ohne Falte blaute sein Waffenrock.

    »Korporal! Korporal!« rief er.

    Gott! Gott!

    Ich will es tun!

    Er selbst befiehlt es mir ja!

    Er selbst – er selbst…

    Ich spannte alle Muskeln an, und, indem ich wild aufschrie, schleuderte ich den Ball mit solcher Kraft, daß es mich umriß und ich zu Boden stürzte…

    Sogleich erwachte ich aus meiner kurzen Bewußtlosigkeit. Menschen standen um mich, die auf mich einredeten.

    Abseits erblickte ich den Vater, ohne Hut, ein blutiges Taschentuch an die Nase pressend.

    In einem entsetzlichen Augenblick erkannte ich alles. Ich hatte nicht jenen Offizier, ich hatte meinen Vater getroffen!! Ich sah das Blut, das aus seiner Nase stürzte. Ein ungeheures Weh überspülte mich. Dieses Weh wuchs und wuchs. Das Herz vermochte es nicht mehr zu tragen. Mein letzter Blick traf das merkwürdig starrende und neugierige Gesicht des Budenbesitzerjungens, der sich über mich beugte.

    Dann versank ich in eine Ohnmacht der Träume und Fieberschreie, aus der ich erst drei Monate später zum Leben erwachen durfte. Diese drei Monate aber waren eine einzige Nacht, in der im Schein einer teuflischen Lampe verdammte Chinesen, Neger, Henker, Gehenkte, Bauern, Verbrecher riesenhaft aus Gebirgen von Schulbänken auf und nieder schwebten, gebrechliche Greise mit Fackeln in der Hand durch eine schwarze Türe davonschlichen und durch eine helle wiederkamen und steif, lang und streng der fremde Offizier, mein Vater, unbeweglich unter den bewegten Erscheinungen stand.

    ZWEITER TEIL

    Es waren dreizehn Jahre vergangen. Ich hatte meine Fähnrichszeit bei einem detachierten Bataillon an der Ostgrenze des Reiches abgedient und war nun zum Leutnant vorgerückt und in eine größere galizische Garnison versetzt worden.

    Daß ich es nur gleich gestehe, mein Leben, das durch keine gute Stunde, keine liebe Erinnerung, keine Wärme von mir und zu mir, keinen Besitz und keine Hoffnung erleuchtet war, ekelte mich so sehr an, daß ich mich oft ganz ernsthaft fragte: »Warum höre ich nicht einfach auf, zu atmen?« Ich hielt dann auch, solange es nur ging, den Atem zurück, als könnte ich so ein Ende machen.

    Die Zeit, die hinter mir lag, war schrecklich. Nächte des angestrengtesten Studiums kalter, gleichgültiger Lehrfächer, Examen über Examen; zerrüttenden Blick des Vorgesetzten ewig in der Seele; das Vaterhaus, andern ein Asyl, mir war es nur die schärfere Wiederholung des Instituts und der Kaserne gewesen. Niemals eine freie Stunde, und wenn ich mir endlich eine – unter Demütigungen, Meldungen, Bitten, Vorschriften, die Legion waren –, wenn ich mir endlich eine freie Stunde erkämpft hatte, so wußten meine zerstörten Nerven mit ihr nichts anzufangen, und ich litt unter der kleinen Freiheit noch mehr als in der Tretmühle. Nein! Ich war nicht zum Soldaten geboren! Jedes Kommandowort empfand ich wie einen Messerstich, jede Ausstellung wie eine Mißhandlung, jedes militärische Gespräch, jede dienstliche Handlung lähmt mich – so war ich viel zu elend und unglücklich, um auch nur Erbarmen mit mir selbst haben zu können.

    Einsam wie keiner.

    Wenn ich nur einen meiner Kameraden ansah, ergriff mich Langeweile und Gleichgültigkeit wie eine Pest, und ich brachte kein Wort heraus.

    Mich an eine Frau oder an ein Mädchen heranzutrauen, dieser Mut schien mir eine Gnade zu sein, die mir nicht gegeben war. Fünfzehn Jahre Einschüchterung und Angst hatten meine Seele gebrochen, die nicht so widerstandsfähig war wie die der andern. Wenn die polnischen Gräfinnen Sonntags zur Kirche fuhren, schwärmte ich sie von Ferne an, die Düsterkeit meiner Träume genießend, in denen ich den Herrn der Welt spielte. Die jüngeren Herren unseres Offizierkorps hatten längst schon die Bekanntschaft einer oder der anderen Schloßbewohnerin gemacht, es geschah sogar, daß sie mitunter zum Diner, ja sogar zur Jagd eingeladen wurden.

    Mich kannte niemand; – niemand lud mich ein.

    In aller Frühe trat ich alltäglich den Dienst an. Die starke Sonne der Steppe machte mich krank und schlaff. Wir exerzierten, bildeten Schwarmlinien, hielten Gefechtsübungen ab – ich redete und tat nur das Notwendigste und das unvollkommen, lässig. Ich vermied jedes Kommandieren, jedes Scheltwort, jeden scharfen Ton, aber die mir zugeteilte Menschenherde, diese Sklaven, nahmen mir die Feinfühligkeit übel, und ich spürte, daß sie sich über mich lustig machten.

    Ja – der Leutnant Ruziè, der Oberleutnant Cibulka, der Hauptmann Pfahlhammer, diese Kujone, die die Langgedienten anspuckten und die Rekruten während des Menagierens mit Ohrfeigen traktierten, die waren beliebt. Woher das kam, fragte ich mich oft! Doch nur zu bald lernte ich begreifen, was die körperliche Schönheit und Wohlbildung im Leben bedeuten.

    Diese Offiziere waren fesche Herren. Sie trugen des Abends oder Sonntags, wenn sie über den Ringplatz flanierten, ihre schlanken langen Beine in ausgezeichnet gemachten, scharfgebügelten schwarzen Hosen, ihre kleinen Lackstiefel blitzten nicht minder als die meines Vaters, ihre Waffenröcke waren sehr in die Taille gearbeitet und persönlich geschnitten. Ihre Gesichter waren blond, jung, brutal und von jener frischen Dummheit, die in der Welt so angenehm berührt.

    Und ich? – Ich war klein, mager – unansehnlich. Mein Gesicht verlitten und früh gealtert. Ich mußte bei meiner Kurzsichtigkeit eine Brille tragen, denn ich war ungeschickt und hätte ein anderes Augenglas viel zu oft zerbrochen.

    Einmal befahl mich der Oberst zu einem privaten Rapport.

    »Herr Leutnant«, begann er scharf, »das geht nicht so weiter. Es ist vom Oberstbrigadier nun zum zweitenmal ein Dienstzettel gekommen, in dem er Ihre Adjustierung beanstandet. Man muß Sie ja nur ansehen, und es wird einem übel. Rasieren Sie sich besser und öfter!«

    »Jeder Gefreite sieht adretter aus als Sie. Wollen Sie dem Herrn Feldmarschalleutnant (er meinte meinen Vater) Schande machen?«

    »Lieber Duschek«, fuhr der Kommandant begütigend und außerdienstlich fort – »du mußt mehr auf dich halten. Geh zum Schneider! Equipier’ dich! Herrgott, wenn ich noch einmal so jung sein könnte!«

    Solche Reden machten trotz der gehässigen Nervosität, die ich immer angesichts eines Vorgesetzten empfand, wenig Eindruck auf mich.

    Unter guten Figuren – eine gute Figur zu sein, das war mein Ehrgeiz nicht. Was aber war mein Ehrgeiz?

    Ich wohnte in der Wirtschaft einer Frau Koppelmann, über deren Höhleneingang auf einer Tafel das viel verheißende Wort »Restauracya« geschrieben stand. Ich vermied es am Abend, den Gelagen in der Offiziersmesse beizuwohnen. Nach dem Dienst um fünf Uhr setzte ich mich in die »Herrenstube« der Frau Koppelmann. Selbst hier, unter hustenden und spuckenden polnischen Fuhrleuten, unter den die Heiligen beschwörenden ruthenischen Bauern, unter schreienden und haareraufenden Juden, fühlte ich mich glücklicher als unter den Kameraden. Bei dem grünen Pfefferminzschnaps der Wirtin starrte ich, der Herr Offizier, um dessen Tisch die Bauern und Juden mit »ai« und »oi« und tausend Bücklingen dienerten – ja ich starrte in erregter Beobachtung auf diese freien vielbewegten Gestalten und fühlte mit einem gewissen Triumph in der Seele: Hierher, zu diesen da gehörst du! Um sieben Uhr leerte sich die Stube, und ich blieb allein mit den surrenden Völkern der galizischen Fliegenplage.

    Das kleine schmutzige Fenster bräunte sich in der Abendröte. Draußen schnatterten die Gänse, und die Schritte der barfüßigen Bäuerinnen patschten in dem ewigen Sumpf der Straße.

    Nun kam meine Stunde. Ich setzte mich an das zerbrochene Klavier der Frau Koppelmann und siehe, es waren dennoch Töne, dennoch Akkorde, Verzückungen der schwingenden Luft, die meine Hand griff. Wenn nichts meine renitente Gleichgültigkeit lösen konnte, jetzt stürzten nie gefundene Tränen aus meinen Augen, Boten und Herolde einer Heimat, die ich nicht kannte, meine Seele dehnte sich, als empfange sie Liebe und Mütterlichkeit. Der Zustand steigerte sich fast zur Epilepsie, denn die verhemmte Leidenschaft pochte an alle Tore meiner Verschlossenheit. Damals wußte ich noch nicht, daß mein natürlicher Beruf die Musik sei!

    Wie hätte ich das auch wissen sollen, ich, der Sprößling einer ärarischen Familie, Sohn eines Generals, Enkel eines Oberstleutnants, Urenkel eines Stabsprofossen, ich, dem die Scheu vor Anmut und Geist schon seit dem sechsten Lebensjahr eingeprügelt worden war.

    Mit meinem Vater wechselte ich jedes halbe Jahr einen Brief. Meine Mutter war schon lange gestorben. Ihr dumpfes und kleines Licht, vor der Zeit war es zugrunde gegangen. In ihren letzten Jahren soll sie recht seltsam gewesen sein. Sie wurde von zwei krankhaften Trieben beherrscht. Der eine war ein Reinlichkeitstrieb ohnegleichen. Sie schmierte und putzte die Türklinken bis tief in die Nacht, sie wusch die Fenster zwei- und dreimal des Tages, sie lag immer auf dem Boden und scheuerte die Dielen, die vom vorigen Tage noch blank waren. Immer spähte sie nach Flecken und Schmutzspuren, auf die sie sich stürzen konnte. Ihre zweite Krankheit war eine Art Beichtfieber. Sie ging täglich in drei Kirchen zur Beichte und wird gewiß schreckliche Sünden erfunden haben, die Arme, um ja ihr Leben nur mit etwas auszufüllen.

    Oft dachte ich an jene Nacht, wo meine Mutter mit offenem Haar, die Kerze in der Hand, wie aus schwerem Schlaf erwacht, weinend an mein Bett getreten war und mich leidenschaftlich umarmt hatte. Damals und niemals mehr, ist sie mir als Frau erschienen. Heute verzeihe ich ihr, der Unerweckten, alle Härte. Sie hatte gelitten, ohne zu wissen, daß sie leidet.

    Die Briefe, die ich an meinen Vater richtete, begannen mit der Anrede »Lieber Vater«, enthielten einen trockenen Abriß über Dienstverhältnisse, Veränderungen, Avancements, taktische Aufgaben, die mir gestellt worden waren, und schlossen mit der Floskel: »Verehrungsvoll grüßt Dich Dein dankbarer Sohn Karl.«

    Diese Briefe zu schreiben war eine Qual, die mir regelmäßig Kopfschmerzen machte. Hingegen mochte es geschehen, daß, wenn ein Brief meines Vaters fällig war, ich in Unruhe und erwartungsvolle Aufregung geraten konnte; kam dann dieser Brief, so wirkte er wie ein kalter Guß. Auch er brachte nur trockene Daten, aber aus seinem Ton spürte ich eine ärgerliche Mißachtung. Alles, was der Vater schrieb, jede harmlose Aussage, klang wie ein Befehl. Die Briefe waren in die Schreibmaschine diktiert und trugen nur die eigenhändige Unterschrift: »Dein Vater Karl Duscheck, Edler von Sporentritt, Feldmarschalleutnant.«

    Der frühere Frontoffizier hatte eine glänzende Karriere gemacht. Die Stufenleiter des Generalstabs, spielend war sie von ihm erstiegen worden. Als Befehlshaber einer der glänzendsten Divisionen zum Frontdienst zurückgekehrt, war er neuerdings zum Korpskommandanten der Residenz ernannt worden.

    Er gehörte zu den einflußreichsten Militärs des Reiches, hatte den starräugigen, jägerbösen Thronfolger zum Freund, ohne deshalb am greisenhaft eigensinnigen Hofe mißbeliebt zu sein, und es war ein offenes Geheimnis, daß im Kriegsfalle ihm die Führung einer Armee zuteil werden würde.

    Von allen Seiten hörte ich, daß die Stellung meines Vaters die beste Prognose meiner eigenen Laufbahn sei und daß ich ein Schlemihl und Schwachkopf sein müßte, wenn ich nicht vorwärts käme.

    Schon sieben Jahre hatte ich den General nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen – doch dafür verging keine Nacht, in der ich ihn nicht (allerdings war er da fast immer nur Hauptmann) in meinen qualvollen Träumen sah. Ein Traum kehrte oft wieder.

    Es ist Krieg. Ich liege schwer verwundet mit aufgerissener Bluse auf der Erde. Mein Blut dringt langsam durch den dicken Stoff. Die Generalität ist um mich versammelt. Grüne Federbüsche wehen. Da tritt ein knieweicher Greis in purpurroten Hosen und schneeweißem Galarock, eine goldstrotzende Feldbinde um die Hüfte, auf mich zu und heftet mir ein großes weißes Kreuz (Maria Theresienorden) an die Brust. Auch mein Vater kommt auf mich zu. Er trägt die Uniform eines Feldwebels und raucht eine Pfeife. Kaum sieht er mich, so wird er blaß, schwankend, durchsichtig und fällt auf den Rücken. Er liegt nun da, und ich erhebe mich. Furchtbare Wonne durchströmt mich. Versöhnung! Versöhnung! Von diesem Begriff bin ich ganz durchtönt. Ganz allein sind wir nun.

    Klein und gelb in einer Mulde liegt er hingestreckt. Von Schluchzen durchschüttelt reiche ich ihm die Hand.

    Donnerschlag! Weltuntergang!

    Wir beide schweben im formlosen, grauen Raum. Stimmen zirpen von allen Seiten:

    Vater, Sohn und Geist. Geist, Sohn und Vater.

    Dies ist noch der gelindeste meiner Träume. Dennoch ist mir der Tag, der ihm folgt, ein rasselndes Gespenst.

    Der Vater, der inzwischen eine zweite Frau, eine sehr begüterte Dame der hohen Aristokratie geheiratet hatte, schickte mir keine Zulage zu meiner Leutnantsgage. So lebte ich schlechter als die andern Herren unseres Regiments, dessen Offizierkorps nicht zu den armseligen Kommisschluckern der übrigen Infanterie gehörte und an Geltung den Artilleristen gleichkam. Nur zu meinem Geburtstag erhielt ich ein väterliches Geschenk, eine Hunderternote, auf den Tag, ohne Glückwunsch und Brief, mit Postanweisung zugestellt. Dagegen schrieb ich zum Geburtstag des Vaters einen Brief, der mit jener Phrase anfing, die mich die Mutter gelehrt hatte, wenn ich auf einen großen, glänzenden Bogen, dessen Kopf einen gemalten Alpenblumenstrauß zeigte, meinen Glückwunsch schreiben mußte:

    »Lieber Vater, zu Deinem Wiegenfeste…«

    So begann die lange, stereotype Formel!

    Da geschah es, daß ich in eine höchst peinliche Geschichte hineingezogen wurde. Ich hatte, schwach und leicht zu überreden, wie ich bin, für die Ehrenschuld eines mir im übrigen recht widerlichen Kameraden gebürgt. Der Mann, ein Intrigant und Feigling, hatte sich vor der Zeit aus dem Staube gemacht und in kurzer Frist zu verschiedenen Truppenkörpern versetzen lassen. Der Zahltag kam, ich stand mittellos und ohne Freund, der mir hätte beistehen können, da. Die Verwicklungen mehrten sich. Es stellte sich heraus, daß bei einem reichen polnischen Zivilisten Bank gehalten wurde, an welche die Kavalleristen der Garnison fabelhafte Summen verspielt hatten und die jungen Herren unseres Regiments nach ihrem Vermögen bestrebt gewesen waren, ihnen nachzueifern. Falschspielerei, Dokumentenfälschung, gebrochene Ehrenwörter kamen nach und nach ans Tageslicht. – Zu alledem war die vierzehnjährige Tochter eines Gutsbesitzers geschwängert worden und, ohne zu gestehen, wer der Verführer gewesen, im Kindbett gestorben. Der Hauptverdacht in diesem Rattenschwanz von Schmutzereien fiel auf mich – auf mich, der ich weder eine Karte noch ein Weib je berührt hatte.

    Denn ich bin zum Sündenbock wie geschaffen.

    Systematisch zerstörten Selbstbewußtseins war ich gesonnen, wenn in der Gegend irgendein Mord begangen worden war, mich selbst für den Mörder zu halten. Ich identifizierte mich mit jedem Angeklagten, dessen Verhandlung ich im Gerichtssaalsbericht las. Auf meiner Seele lastete die Überzeugung meiner Mitschuld an jedem Verbrechen. Bei allen Verhören, und mochte es sich auch nur um einen entwendeten Federstiel in der Kadettenschule handeln, war ich verstockt, und eine unüberwindliche Selbstzerstörungslust in mir zog wie ein Blitzableiter den Verdacht an. So war es auch in den Verhören, die der Oberst und seine Kommission mit mir pflogen. Ich war verstockt und bösartig, besonders dann, wenn die Vorgesetzten mir gütig zuredeten, obgleich in solchen Augenblicke mein Gemüt in heiße Tränen sich auflöste. Gänzlich unschuldig, ja gar nicht fähig, den Fall zu übersehen und zu verstehen, erfand ich in krankhaftem Zwang Lügen, phantasierte von Beziehungen, die ich niemals gehabt hatte, und spann so mit eigenen Händen ein irrsinniges Netz, in dem ich endlich ganz bedenklich zappelte.

    Man schüttelte bedeutsam die Köpfe, man nahm die Gelegenheit der Rache an einem häßlichen Sonderling wahr – diejenigen, die am meisten Butter am Kopf hatten, begannen mich zu schneiden, ja im Grunde waren alle zufrieden, den Sohn eines in Fachkreisen und in der Gesellschaft berühmten Generals als Hauptperson in einer üblen Angelegenheit agieren zu sehen, denn das bedeutete einen doppelten Vorteil: Erstens war die Ehre des Regiments weniger in Gefahr – und zweitens gönnt man einem Erfolgreichen stets Beschämung.

    Es kam immer ärger. Protokolle häuften sich, der Urheber des Schmutzes, jener Leutnant, der sich hatte versetzen lassen, war verschwunden und trotz aller dienstlichen Anfragen unauffindbar – ich selbst in meinen eigenen tollen Widersprüchen gefangen, war nicht mehr in der Lage, die einzige vernünftige Wahrheit zu sagen: Ich weiß von nichts!

    Meine Situation wurde immer schiefer. Man schnitt Grimassen, zuckte die Achseln, und schon wurde die Ansicht laut, daß ein ehrenrätliches Verfahren nicht genüge, einen kriminellen Fall auszutragen.

    Da brachte eines Tages der Postunteroffizier drei Briefe. Einer davon wanderte in die Kanzlei des Kommandanten. Das große weiße Dienstkuvert trug die Absenderadresse: Militärkanzlei Seiner Majestät!

    Die beiden anderen Briefe waren an mich gerichtet. Der eine kam von meinem Vater, der andere von seinem Adjutanten. Der Brief des Vaters enthielt keine Anrede und lautete so:

    »Ich werde es nicht dulden, daß ein Name, der Generationen hindurch der k. und k. Armee zur Ehre gereicht hat, durch Dich in Verruf gebracht wird. Die Militärkanzlei Seiner Majestät hat die Akten und Protokolle über das unverantwortliche Treiben, dessen Hauptschuldiger Du bist, eingefordert und wird selbst die Entscheidung treffen.

    Du hast sofort abzugehen, hierorts einzurücken und innerhalb von achtundvierzig Stunden Dich bei mir zu melden.

    Duschek von Sporentritt, Fmlt.«

    Der Brief des Adjutanten enthielt diesen persönlichen Befehl in dienstlicher Fassung.

    Jetzt erst, nachdem mein Vater mir Unrecht getan hatte, empfand ich die ganze lächerliche Tragik, der ich unschuldig verfallen war. Ich ging nach Hause, und in dem Loch der Frau Koppelmann, das ich bewohnte, befiel mich ein stundenlanges Zittern, so daß ich das Teegeschirr, meinen Wasserkrug und den Handspiegel zerbrach, aus dem mich mein leichenhaft spitzes Gesicht mit den übertriebenen Backenknochen angeblickt hatte.

    Ich lag die ganze Nacht auf dem unsagbar dreckigen Fußboden ausgestreckt. Ungeziefer kroch langsam über meine Stirne, eine große Ratte, schwer wie eine trächtige Katze, lief über meinen Bauch. Ekel ließ mich den Tod ersehnen. Aber ich stand nicht auf. So war es recht. In den Abgrund gehörte ich. In die Schlangenhöhlen, in die Nester der Ratten in die sumpfigen, stinkigen Schlupfwinkel der verfluchten Geschöpfe Gegen Morgen sah ich meinen Vater im Traum. Er trug jenen windigen Zivilanzug, in dem er wie ein Postassistent aussah, und hatte starkes Nasenbluten, das er durch ein vorgehaltenes Taschentuch zu stillen suchte. »Du meinst immer?« sagte er mit einer recht umgänglichen Stimme, die nicht die seine war. »Du meinst, daß ich an nichts anderes denke, als dich zu züchtigen. Weit gefehlt! Ich habe mehr Gnade – als Züchtigung an dir geübt. Schau nur!«

    Er hielt mir ein paar Handfesseln entgegen, pfiff sich eins, wie ein Arzt der zu spät zu einem Kranken geholt wird, und sieht, daß nicht mehr zu helfen ist. Dann rief er noch, während sein Bild schon zu schwanken begann:

    »Habt acht, Korporal! Was sich liebt, das neckt sich!«

    Er verschwand, und ich begann im Gänsemarsch hinter trauertragenden Zivilisten einherzugehen, deren gerötete Stiernacken von Ausschlag und Furunkeln entstellt waren.

    Plötzlich bemerkte ich, daß ich mich nicht selbst bewege, sondern gedreht werde, immer schneller – und – da erwachte ich.

    Mittags meldete ich dem Oberst mein Abgehen vom Regiment. Er schüttelte mir um einen Grad zu kameradschaftlich die Hand, wünschte mir Glück und versicherte, er sei überzeugt, daß die unangenehme Affäre sich zu allgemeiner Zufriedenheit aufklären werde, zumal die allerhöchste Stelle ein unbezweifelbares Interesse an den Tag lege. Er selbst zweifle keinen

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