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Peacewiki

Reflexionen über eine virtuelle Lernumgebung


Christina Schachtner
und
Monika Neumayer
mone@mone.at

(Working Paper – Do not cite – worked out version published under:


Neumayer, Monika / Schachtner, Christine (2007): Peacewiki - Reflexionen über eine virtuelle Lernumgebung
IN: MERZ Zeitschrift für Medien + Erziehung: 2007-01, S. 51-57
(http://www.jff.de/merz/detail.php?beitrag_id=3959)

Die Hörsäle, Seminarräume und Bibliotheken unserer Universitäten als herkömmliche Räume
der Wissensvermittlung erfahren durch den virtuellen Raum eine Erweiterung und Ergänzung.
Das Internet eröffnet der institutionellen Wissensvermittlung neue Umgebungen und
Interaktionsmöglichkeiten. Integriert in formelle Bildungsveranstaltungen und eingerichtet als
Lernumgebungen folgen sie methodisch-didaktischen Konzepten, die diese Interaktivität mit
dem Ziel einsetzten, dem Lernenden praktisch relevante Kompetenzen und
situationsübergreifende Qualifikationen zu vermitteln.

Die Neuen Medien ermöglichen neue Formen der Kommunikation und des
Zusammenwirkens und so auch neue Formen des Lernens. Lernen in multimedialen
Umgebungen ist heute interaktiv – interaktiv im Sinne eines gemeinsamen Wissensaufbaus
im sozialen Miteinander. Die digitalisierte Form von Bild, Schrift und Sprache erfordert
andere Werkzeuge und findet andere Ausdrucksformen als herkömmliche Lehr- und
Lernmedien. Die Vernetzung der digitalisierten Informationen erweitert unsere
Interaktionsmöglichkeiten nicht nur, sie verändert sie auch. Diese Virtualisierung ist heute
selbstverständliche Alltagserfahrung in vielen Lebensbereichen.

Das Internet, als gängigster Agent dieser Virtualisierung vollzieht derzeit einen raschen
Wandel mit einem klaren Innovationstrend hin zu einer direkteren Partizipation der
NutzerInnen. Die technologische Entwicklungen im Zusammenspiel mit einer veränderten
Wahrnehmung und Nutzung des Internets (vgl. Kerres, 2006) bringt eine Vielzahl neuer
Anwendungen und Services hervor, die alle auf die Erschließung eines neuen breiten
Spektrums an Interaktivität abzielen. Speziell Social Software Anwendungen - also
Anwendungen und Internetservices, die es sich zur Aufgabe machen, soziale Tauschprozesse
zu unterstützen, erweisen sich für die Wissensvermittlung und das Wissensmanagement als
besonders interessant und vielversprechend.
Wikis, Weblogs und e-Portfolios sind die in diesem Zusammenhang bisher am häufigsten
eingesetzten Formate. Sie bilden eine offene Lernumgebung und bieten somit eine Alternative
zu bisherigen webbasierten Trainingseinheiten (WBT) oder auch zu kostspieligen
Lernmanagementsystemen, die sich an stark instruktionspsychologischen Implikationen
orientierten.

Die hier vorgestellte Lernumgebung nutzt als technische Grundlagen ein Wiki-System, also
eine Software, die zur kollaborativen Textgestaltung, als Wissensaggregator und
Diskussionsplattform programmiert wurde und später auch die technische Plattform der
Online-Enzyklopädie Wikipedia1 wurde.

1.1 Was ist ein Wiki?

Die kursierende Legende, wie Wikis zu ihrem Namen kamen, wird auch von „Wiki-Erfinder“
Ward Cunnigham in Interviews regelmäßig bestätigt2. Sein erstes Wikisystem 3(1995)
benannte er WikiWiki nach der Flughafen-Shuttle Buslinie wiki-wiki Chance RT-524 am
Honolulu International Airport in Hawaii. "I chose wiki-wiki as an alliterative substitute for
'quick' and thereby avoided naming this stuff quick-web." 5 In der hawaiianischen Sprache
bedeutet wiki wiki so viel wie schnell schnell oder eifrig, wird aber auch als Diskurspartikel
für So weit ich weiß… bzw. was ich weiß, ist... verwendet6 . Und das erfasst bereits treffend
die Funktion von Wikis: Rasch und einfach kann zur Diskussion gestellt werden, was der/die
Schreibende zu wissen glaubt oder zu glauben weiß und im Wiki beitragen will.
Das Prinzip des webbasierten Content-Management-Systems erlaubt allen Besuchern neue
Wikiseiten zu erstellen, zu verlinken, zu löschen oder zu korrigieren, wobei alle Änderungen
abrufbar und nachvollziehbar bleiben. „The simplest thing that probably works”7 – wie
Cunnigham kommentierte. Trotzdem bedienen sich Erklärungsversuche bisher einer ganzen

1
http://www.wikipedia.org
2
http://www.gridsummit.com/Multimedia/WardC_24K.mp3
3
http://c2.com/cgi/wiki
4
Bo Leuf, Ward Cunningham: The Wiki way: quick collaboration on the Web. Addison-Wesley, London 2001
5
http://en.wikipedia.org/wiki/Wiki
6
http://en.wikipedia.org/wiki/Wiki
7
http://www.gridsummit.com/Multimedia/WardC_24K.mp3

2
Reihe hinkender Vergleiche, um zu vermitteln, was ein Wiki ist oder sein könnte. Wikis seien
wie eine leere Tafel, auf die alle InternetnutzerInnen schreiben dürfen, wie eine Wandzeitung
auf der jeder Veröffentlichen dürfe, eine Art riesiger Schmierzettel und die Welt halte den
Rotstift bereit, eine Strandgutsammlung kollektiver Intelligenz u.s.w.
Wesentlich an allen diesen Metaphern ist die Perspektive einer internetgestützten globalen
Zusammenarbeit. Für diese Zusammenarbeit bieten Wikis eine brauchbare Tauschplattform
für Meinungen und Erkenntnisse, deren Besonderheit vor allem darin zu sehen ist, dass sie
institutionelle, politische und nationale Grenzen durch die Distribution via Internet
überwinden kann.
Diese technischen Voraussetzungen eröffnen ein Interaktionspotential, gewährleisten jedoch
nicht ihre Nutzung als solche. So gibt Cunnigham bereits von der ersten Stunde an zu
bedenken: „...it probably works“, denn „it's a web of people, projects and patterns“8 – das
Gelingen eines Wiki-Projekt steht und fällt also mit den Menschen, die sich daran beteiligen.

Wiki bedeutet das jede/r alles schreiben darf. Wenn jede/r alles darf, entwickeln sich mitunter
Missbrauchstendenzen (Wiki-Spam, Edit-Wars, Vandalismus etc.). Die durch den Fall von
Zugangshürden beinahe uneingeschränkte Möglichkeit, im Internet zu publizieren und Inhalte
kreativ mitzugestalten, macht Wikisysteme fragil und anfällig für Missbrauch. Ihre „Soft
Security“ – Philosophie, der zu Folge jede/r in der Gemeinschaft korrigierend eingreifen und
das Projekt wieder auf Kurs, in Richtung des gemeinsamen Zieles setzten kann, erfordert eine
wache und engagierte Gemeinschaft von Mitwirkenden. Natürlich können Schreibrechte auf
eingeschränkte Benutzerkreise reduziert werden. Im hier vorgestellten Projekt wurde dies
auch ausdrücklich von den Lerngruppen gefordert und durch Abstimmung beschlossen.

Inzwischen sind zahlreiche und vielfältige Software-Applikationen erhältlich, die mit dem
Wiki-Prinzip operieren. Die meisten verstehen sich als Open Source Projekte und sind unter
freien Lizenzen erhältlich. Das hier dargestellte Wiki-Projekt verwendet Media-Wiki©
Software und ist ab der Version 1.4. mit einem einfach handzuhabenden und sicheren
Userright-Management ausgestattet.

Für Wikis als technische Plattform einer konstruktivistischen Lernumgebung spricht vor
allem, dass sie einfach handhabbar, leicht zugänglich und offen für dynamische

8
E-Mail von Ward Cunningham an seinen Freund, Benachrichtigung über das erste laufende Wiki-System
http://c2.com/wiki/mail-history.txt-

3
Veränderungen der Inhalte und Inhaltsstrukturen sind. Wikis fordern von den UserInnen
kreatives Engagement, sie ermöglichen lebendige Kommunikation und unterstützen somit
kollaboratives Lernen im Netz (CSCL).

2. Theoretische und pädagogische Verankerung des Projekts


Das Peacewiki ist ein Bildungsprojekt, dem ein pädagogisches Konzept zugrunde liegt, das
gesellschaftspolitisch und konstruktivistisch ausgerichtet ist und in dessen Mittelpunkt die
Herstellung eines öffentlichen virtuellen Raumes zum Thema Frieden steht. Im Folgenden
sollen die theoretischen und pädagogischen Implikationen des Projekts erläutert und
begründet werden.

2.1 Peacewiki als alternative Öffentlichkeit


Die im Rahmen von Peacewiki und der Fortsetzung im österreichisch-amerikanischen Diskurs
hergestellte virtuelle Öffentlichkeit basiert auf dem von Jürgen Habermas (Habermas)
ursprünglich formulierten und von Nancy Fraser (1996; 2001) kritisch relativierten, ergänzten
und modifizierten Begriff von Öffentlichkeit.

Öffentlichkeit beschreibt laut Jürgen Habermas einen allen BürgerInnen zugänglichen Raum,
in dem diese über ihre gemeinsamen Angelegenheiten beraten. Sie ist ein Ort der Produktion
und Zirkulation von Diskursen, die dem Staat prinzipiell kritisch gegenüberstehen (Habermas
1990, 54). Die Sphäre der Öffentlichkeit ist strikt von der Sphäre der Privatheit getrennt;
öffentliches Leben spielt sich auf dem Marktplatz, der agora, ab, ist aber, was im Hinblick auf
virtuelle Diskurse von Bedeutung ist, nicht lokal gebunden (a.a.O., 56). Öffentlichkeit
konstituiert sich Habermas zufolge im Gespräch und im gemeinsamen Tun.

Nancy Fraser setzt mit ihrer Kritik am Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriff an zwei


Punkten an, ohne diesen Begriff grundsätzlich in Frage zu stellen: an der Zugänglichkeit zum
öffentlichen Leben und an der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit. Ihre kritische
Auseinandersetzung mit dem Habermas’schen Öffentlichkeitsegriff führt zu einer
Erweiterung und Modifikation des Begriffs. Fraser zufolge ist das Ideal des freien Zugangs
niemals in Realität umgesetzt worden. Die herrschende Öffentlichkeit ist nach Fraser eine
bürgerliche Öffentlichkeit, aus der benachteiligte Gruppen wie ArbeiterInnen, Farbige,
Schwule, Frauen tendenziell ausgegrenzt sind (Fraser 1996, 158 f.). Die bürgerliche
Öffentlichkeit basiert auf und verstärkt soziale Ungleichheit. In ihrer Kritik an der Trennung

4
von Öffentlichkeit und Privatheit führt Fraser aus, dass das, was als öffentliche Angelegenheit
gilt, Ergebnis eines diskursiven Prozesses ist und nicht etwa per se feststeht, wie der
Habermas’sche Begriff suggeriert (Fraser 2001, 137 ff.). Die Art und Weise der Grenzziehung
hat Fraser zufolge politischen Charakter, denn öffentliche Angelegenheiten genießen
öffentliches Interesse und öffentliche Unterstützung, während die Regelung privater Dinge in
den Privatbereich verwiesen ist.

Das E-Learning-Projekt Peacewiki schließt insofern am Habermas’schen


Öffentlichkeitsbegriff an, als in der strukturellen und inhaltlichen Konzeption des Projekts,
im Prozess der Ermittlung von Friedenskonzepten, durch die Vorbereitung und Durchführung
von Interviews und durch die begleitende Reflexion der Forschungsarbeiten im Seminar
Diskurse z.B. zum Begriff und zu den Bedingungen von Frieden und zum Charakter von
Öffentlichkeit sowie zur Eignung des Netz-Mediums als Öffentlichkeitsmedium initiiert
wurden. Peacewiki erlaubt offene Diskurse, die den daran Beteiligten die Möglichkeit geben,
die sie gemeinsam betreffenden und interessierenden Themen zu definieren. Diese Diskurse
werden, wenngleich in anderer Form und mit anderen Beteiligten, in dem österreichisch-
amerikanischen Projekt zu den Themen Friedensstrategien und aktuelle kriegerische Konflikte
fortgesetzt. Die Studierenden erschließen sich in beiden Projekten den virtuellen Raum als
zusätzliche öffentliche Sphäre, die sich im Sinne von Fraser in mehrfacher Hinsicht als eine
alternative Öffentlichkeit erweist.

Ein wichtiger Faktor, der erlaubt, von einer Alternative zu sprechen, ist das in der virtuellen
Öffentlichkeit verhandelte Thema Frieden. Der in den beiden Online-Projekten initiierte
Friedensdiskurs kontrastiert zur Kriegsberichterstattung in den etablierten Massenmedien.
Während dort die Veröffentlichung aggressiven Handelns dominiert, werden im Peacewiki
und im österreichisch-amerikanischen Diskurs Strategien und Modelle der Friedenssicherung
vorgestellt und bewertet. Die Alternative entwickelt sich einerseits als kritische Position
gegenüber dem Staat, aber auch – dies in Abweichung vom Habermas’schen
Öffentlichkeitsbegriff – gegen die mediale bürgerliche Öffentlichkeit. Mit Hilfe der Neuen
Medien können solche Diskurse eine bislang so nicht gekannte globale Dimension erreichen,
was ich anhand des threads ‚Pax Americana’ aus dem österreichisch-amerikanischen
Friedensdiskurs exemplarisch verdeutlichen möchte. Ausgangspunkt des Diskurses war ein
Aufsatz von Sorensen, in dem dieser die Friedensstrategie des ehemaligen amerikanischen
Präsidenten John F. Kennedy als eine Strategie der Diplomatie beschrieb (Sorensen 2003).

5
Der Diskus fokussierte zwei Themen: die Rolle der USA in der Welt und die Legitimität des
Einsatzes von Waffen zur Friedenssicherung. Es war von deutlichen Differenzen zwischen
den österreichischen und amerikanischen DiskutantInnen gekennzeichnet. Während die
amerikanischen DiskutantInnen zwar durchaus Kritik am gegenwärtigen Engagement der
USA im Irak hatten, sahen sie tendenziell den Einsatz von Waffen unter bestimmten
Bedingungen als mögliches Mittel zur Herstellung von Frieden an; die österreichischen
Studierenden sprachen sich dagegen strikt gegen Waffen aus und setzten allein auf
Diplomatie als Mittel der Konfliktregelung. Während die österreichischen Studierenden den
USA die Verfolgung ökonomischer Interessen als Motor bei den aktuellen Kriegshandlungen
unterstellten, werden für die amerikanischen Studierenden diese Kriege zumindest auch im
Interesse der Verbreitung von Freiheit geführt. In den Positionen der österreichischen
Studierenden zeigte sich kaum Veränderung, während die amerikanischen Studierenden
teilweise ihre Positionen unter dem Einfluss der entstandenen Kontroverse relativierten.

Es ist neu, dass weltpolitische Ergebnisse auf der Ebene des Diskurses zwischen BürgerInnen
verschiedener Länder eine öffentliche Kommentierung erfahren. Dies zeigt nicht nur eine
Erweiterung der Teilhabe an Öffentlichkeit auf, sondern auch neue Möglichkeiten
interkultureller Auseinandersetzung und Verständigung, unabhängig von den jeweiligen
Regierungen eines Landes und unabhängig von den etablierten Medien Fernsehen, Rundfunk,
Print.

Von einer alternativen virtuellen Öffentlichkeit kann man im Zusammenhang mit dem
Peacewiki-Projekt auch deshalb sprechen, weil Themen als öffentliche Themen verhandelt
werden, wie z.B. Training von Friedenskompetenz sowie die Lebenssituation von
MigrantInnen, Roma und kriegstraumatisierten Kindern, die sonst allenfalls an der Peripherie
als Randthemen öffentlicher Diskurse erscheinen, aber weitgehend aus der öffentlichen
Sphäre verbannt sind. Die Grenze zwischen öffentlich und privat erfährt im virtuellen Diskurs
eine Verflüssigung. Schließlich werden, und auch das begründet den alternativen Charakter,
Frauen als politische Aktivistinnen vorgestellt, die als solche in den etablierten politischen
Arenen unterrepräsentiert sind und deren Tätigkeit oft nur Schattenarbeit unter caritativem
Vorzeichen bleibt.

2.2 Gesellschaftspolitische orientierte Bildung

6
„Was benötigt ein Mensch, der heute geboren wird, an Kompetenzen, um mit den Problemen
einer Gesellschaft des ausgehenden Jahrhunderts im Interesse einer befriedigenden eigenen
Lebensgestaltung zurechtzukommen?“, fragt Oskar Negt im Jahre 1998. Mit dieser Frage
wird Bildung mit einem gesellschaftspolitischen Anspruch konfrontiert, der auch nach der
Jahrhundertwende seine Gültigkeit hat und deshalb in den beiden hier vorgestellten virtuellen
Bildungsprojekten als Leitlinie dient. Bildung ist Negt zufolge doppelsinnig anzulegen. Sie
soll den Erwerb instrumenteller Qualifikation und die Entwicklung von
Orientierungskompetenz im gesellschaftlichen und individuellen Sinn fördern. Menschen, die
sich in der Gegenwartsgesellschaft zurecht finden müssen, benötigen
Schlüsselqualifikationen, eine Forderung, die auch Wolfgang Klafki (1998) vertritt. Wir
werden im Folgenden unter Bezug auf Klafki und Negt Schlüsselqualifikationen definieren
und zeigen, wie diese im Kontext von Peacewiki und Global Modules erworben werden
können.

Orientierende Zusammenhänge stiften


Laut Negt sehen sich die Menschen der Gegenwart einer fragmentierten und komplexen Welt
gegenüber, die schwer durchschaubar geworden ist (Negt 1998, 27). Nicht zu wissen, wie die
Dinge miteinander zusammenhängen, macht orientierungslos und behindert die
Handlungsmöglichkeiten. Die Fähigkeit, Zusammenhänge aufzudecken und herzustellen,
stellt daher eine wichtige Bedingung für erfolgreiches Agieren dar. In welcher Weise das
Peacewiki-Projekt den Beteiligten die Möglichkeit eröffnet hat, Zusammenhänge zu
erkennen, machen Aussagen in einem Reflexionsgespräch mit Studierenden deutlich. Darin
verwies eine Studentin beispielsweise darauf, dass ihr im Gespräch mit einem
Friedensforscher klar geworden sei, dass der äußere gesellschaftliche Frieden etwas mit dem
inneren Frieden der Menschen zu tun habe. Eine andere stellt einen Zusammenhang zwischen
Frieden, dem Verhältnis zum Frieden und Identität her. Ein Weg zum Frieden könnte sein, so
überlegt sie, wenn man in der Lage ist, das Fremde zu akzeptieren, ja, dieses vielleicht sogar
als Bereichung zu erleben, ohne das Eigene aufzugeben. Wenn das oft so schwierig ist, dann
liegt das ihrer Ansicht nach daran, dass das Fremde Angst macht, weil es als Bedrohung
empfunden wird und das wiederum sei auf eine nicht gefestigte Identität zurückzuführen, in
ihren Worten: „Wenn ich ein Mensch bin, der seine Identität nicht kennt, der ist vielleicht
weniger tolerant einem Anderen gegenüber, weil er selbst keine fixe Basis hat“ (Auszug aus
Reflexionsgespräch).

7
Identitätskompetenz
Das Argument der eben zitierten Studentin korrespondiert der Überlegung von Oskar Negt,
dass Identitäten im Zuge der Vertreibung aus gewachsenen Lebensverhältnissen, wie sie für
moderne Gesellschaft typisch sei, brüchig und instabil werden (Negt 1998, 34).

Anerkennung ist der zentrale Mechanismus für die Entwicklung eines Identitätsgefühls, wie
wir von Jessica Benjamin wissen, denn Anerkennung sagt mir, dass ich bin und wer ich bin
(Benjamin 1990, 24 ff.). Wechselseitige Anerkennung spielte beim kollaborativen Arbeiten
im Zuge der Erstellung des Peacewiki eine zentrale Rolle, wie die Studierenden berichten:
‚ Supi Idee, N.!’. das war ein Lob, über das sich eine Studentin aufgrund der ungewöhnlichen
Formulierung besonders freute. Anerkennung drückte sich im österreichisch-amerikanischen
Dialog in Reaktionen aus wie ‚great point, Lauren!’ oder ‚that’s an interesting question.’.
Anerkennung manifestiert sich schließlich auch im Peacewiki, dem selbst geschaffenen, für
alle sichtbaren Produkt. Es sagt den einzelnen, ich bin jemand, der über kognitive, ästhetische,
kommunikative Kompetenzen verfügt, mit denen ich etwas zustande bringen kann.

Technologische Kompetenz
Wir leben in einer durch Technik konstituierten Welt und nicht nur in einer von Technik
geprägten Welt, konstatiert Negt (19gt 1998, 35). Antitechnische Effekte, die sich leicht in
moralische Widerstandshaltungen verwandeln, helfen uns nicht, das Vermögen auszubilden,
zwischen technischen Gefährdungen und dem technischen Nutzen zu unterscheiden.
Technologische Kompetenz umfasst die Fähigkeiten, technische Entwicklungen kritisch zu
reflektieren und zugleich Technik menschlich handhabbar zu machen und zur Verbesserung
von Lebensverhältnissen zu nutzen.

Sowohl das Peacewiki als auch das österreichisch-amerikanische Kommunikationsprojekt


sind Versuche, die neuen IuK-Technologien mit eigenen Interessen zu besetzen und
entsprechend dieser Intention zu gestalten. Insbesondere das Peacewiki, das als virtuelle Lern-
und Kommunikationsplattform von den Studierenden selbst geschaffen wurde, erforderte ein
hohes Maß an medientechnischen Kompetenzen, die mit kollaborativen und ästhetischen
Kompetenzen zu verknüpfen waren.

Zukunftsphantasie

8
Menschen der Gegenwart befinden sich in einer Situation, in der tradierte Werte und
etablierte Strukturen obsolet geworden sind und in der es folglich darauf ankommt, Neues zu
entwickeln. Kreativität, verstanden als Mut und Fähigkeit, sich etwas Neues einfallen zu
lassen, querzudenken, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen, stelle laut Wolfgang Klafki
wichtige Schlüsselqualifikationen dar (Klafki 1998, 246). Eindrucksvoll schildern zwei
StudentInnen, wie sie im Gespräch mit einer Friedensaktivistin in diesem Sinn ermutigt
wurden. Sie beziehen sich auf eine slowenische Aktivistin, die in Kriegsgebieten wie Bosnien,
Tschechien und im Irak mit traumatisierten Kindern arbeitet und der es gelungen ist, eine
diese Arbeit unterstützende Organisation unter Beteiligung von Nationalregierungen
aufzubauen: „Ich glaube, je mehr Anfänge gewagt werden, umso besser. Und die können auch
scheitern, das ist kein Problem, wichtig, wie wir schon früher gesagt haben, zu sagen: Das hat
geklappt, das ist anders sowie ich bin anders und das zu akzeptieren. Und was Neues
auszuprobieren.“ (Auszug aus Reflexionsgespräch).

Es ist den beiden Studierenden am Beispiel der Biografie dieser Ärztin vorgeführt wurden,
dass es möglich ist, aus dem Gewohnten auszuscheren und dass dies eine positive Erfahrung
sein kann, die Begeisterung erzeugt, die auch andere ansteckt. Sie sind, mit Robert Musil
ausgedrückt, auf den Möglichkeitssinn gestoßen.

2.3 Konstruktivistisch orientierte Bildung


In beiden Bildungsprojekten wurden Kommunikationsstrukturen, Gestaltungswege, Optionen
und Content offeriert, die die Aneignung der beschriebenen Schlüsselqualifikationen
unterstützen sollten, doch dies waren lediglich Angebote. Die Projekte orientierten sich an
einem konstruktivistischen Bildungsbegriff, wonach
1. Lernen kein normativer Prozess sein kann, in dem bestimmte Inhalte und Positionen
vermittelt werden,
2. Lernprozesse nur angestoßen, nicht aber gesteuert werden können. (Siebert 2003, 24).
Lernen wurde als eine selbstgesteuerte, biografisch geprägte, lebensdienliche, kognitive,
emotionale und soziale Tätigkeit verstanden, die sich innerhalb folgender Eckpunkte eines
Dreiecks entfaltet: Rekonstruktion, Dekonstruktion, Konstruktion (Siebert 2003, 13 ff.).

Dekonstruieren meint den Abbau alter, nicht mehr tauglicher Deutungsmuster.


Rekonstruktion meint die Transformation existierenden Wissens in das eigene kognitive
System und Konstruieren meint das Erzeugen neuer Wirklichkeiten (Siebert 2003, 20).

9
Rekonstruktive Akte vollzogen sich z.B. bei der Erstellung der Enzyklopädie des Friedens im
Rahmen des Peacewiki-Projekts in der Auseinandersetzung mit existierenden
Friedensbegriffen, im Versuch, deren Sinn zu erfassen und sie in das eigene Begriffs- und
Deutungsreservoir zu integrieren. Im Rahmen von Global Modules waren die
TeilnehmerInnen gefordert, Argumente und Positionen von Menschen einer anderen Kultur
nachzuvollziehen und dazu Stellung zu nehmen. Dekonstruktive Akte, die darauf abzielen,
Wirklichkeit aus ihrer Umhüllung zu wickeln, nicht sofort offensichtliche Strukturen
aufzudecken, zeigten sich in den beschriebenen Versuchen, sich die Entstehung von Kriegen
einerseits und die Genese von Friedensfähigkeit andererseits zu erklären. Dekonstruktivistisch
agierten die TeilnehmerInnen in dem österreichisch-amerikanischen Diskurs, wenn sie
versuchten, den Ursachen für den aktuellen Krieg im Irak auf die Spur zu kommen. Als
KonstruktivistInnen waren sie beim Recherchieren, Bündeln, Systematisieren von
Informationen und als GestalterInnen der virtuellen Lernplattform tätig.

Die Studierenden haben sich im Zuge von Rekonstruktion, Konstruktion, Dekonstruktion eine
Wirklichkeit erschlossen und wurden dadurch selbst für diese Wirklichkeit erschlossen, was
sich nicht nur in ihrer Begeisterung zeigt, sondern auch in Entscheidungen, sich im Rahmen
von Qualifikationsarbeiten noch intensiver mit dem Thema Frieden zu beschäftigen.

3. Die Übersetzung des gesellschaftspolitischen und konstruktivistischen Ansatzes in den


Arbeitsprozess und in die virtuelle Lernumgebung

Ein gesellschaftspolitisch orientiertes konstruktivistisches Bildungsverständnis verlangt nach


einer diesem Verständnis entsprechenden Didaktik sowohl im Hinblick auf die Gestaltung des
Arbeitsprozesses und der Kommunikationsstrukturen als auch für das Produkt dieses
Prozesses, in diesem Fall das Peacewiki, das als Lernumgebung neue Lernprozesse auslöst.
Im Folgenden werde ich Merkmale einer konstruktivistischen Didaktik diskutieren, die die
bislang dominierende Vermittlungsdidaktik durch eine Ermöglichungsdidaktik ablösen soll,
in der das Rekonstruieren, Konstruieren und Dekonstruieren im Zentrum steht.

3.1 Didaktik des Produktions- und Kommunikationsprozesses


Subjektive Relevanz der Lern- und Kommunikationsinhalte

10
Wir lernen umso engagierter und erfolgreicher, wenn wir unser Thema gefunden haben, ein
Thema, für das wir „brennen“. Dies sollte bei der Entwicklung des Peacewiki dadurch
gefördert werden, dass die Studierenden wählen konnten, mit welchen Aspekten des
Friedensthemas sie sich beschäftigen wollten und welche inhaltlichen Akzente sie setzen
wollten. Sie waren darüber hinaus völlig frei bei der Art und Weise der Bearbeitung der
gewählten Themen und bei der Auswahl der Materialien, die sie für die Darstellung des
Themas benutzten. Auch im österreichisch-amerikanischen Friedensdialog online gab es
Wahlmöglichkeiten, auch wenn den Ausgangspunkt dieses Dialoges zwei vorgegebene Texte
bildeten. Die Dynamik der daran anknüpfenden Kommunikation konnte sich jedoch frei
entfalten, zudem machten die TeilnehmerInnen des Diskurses von der Möglichkeit Gebrauch,
neue Kommunikationsmodule zu eröffnen.

Unterschiedliche Zugänge und Lernwege


Die subjektive Relevanz wird gefördert, wenn die Lernenden frei darin sind, sich auf
unterschiedlichem Weg ihrem Thema zu nähern. Bei der Entwicklung des Pacewiki bezogen
sie Informationen aus Büchern, aus dem Internet, aus Gesprächen mit Friedensforschern, aus
audiovisuellen Medien sowie aus Interviews mit FriedensaktivistInnen. Sie machten sich auch
körperlich auf den Weg z.B. in andere Städte, um dort ihre Interviews zu führen. Insbesondere
diese leibhaftig beschrittenen Lernwege wurden als wichtige Lernerfahrung hervorgehoben
und mit Bildern im Peacewiki dokumentiert wie die Fahrt einer studentischen Gruppe nach
Ljubljana. Wahlmöglichkeiten gab es auch bei der Bearbeitung der Teilaufgaben, wodurch die
jeweiligen Kompetenzen ins Spiel gebracht werden konnten, wie diese Studentin ausführt:
„Der eine bringt gute Contents, der andere verfügt über technisches Know-how (...).“
Schließlich konnten sie im Rahmen vereinbarter Fristen ihre Lernwege und Lernzeiten selbst
bestimmen. (Kilian , 57) Diese unterschiedlichen Zugänge erhöhten die Chancen,
Individualität zu entfalten, was die Vielfalt der Perspektiven unterstützt und
Vergleichsmöglichkeiten erweitert, und dies wiederum stößt dekonstruktive Akte an.

Kooperative Lernformen
Lernen ist, konstruktivistisch betrachtet, ein höchst individueller, eigenwilliger Prozess und
zugleich erfolgt Lernen in sozialen Kontexten (Siebert 2003, 15). Eine an der Erstellung von
Peacewiki beteiligte Studentin sieht dies genauso und nannte die Vorteile kooperativen

11
Lernens: „Wenn ein Mensch allein etwas erarbeitet, das ist auch interessant. Aber es ist nie
von so vielen Perspektiven her beleuchtet, als wenn man das in einer Gruppe macht, wenn
einfach jeder einen anderen Zugang dazu hat“. Die im kooperativen Lernen gegebene
Perspektivenvielfalt erhöht die Chancen, ein Thema, eine Entwicklung von verschiedenen
Seiten zu betrachten, wodurch nicht offenkundige Zusammenhänge erkennbarer werden.
können. Die Lernenden können darüber hinaus im Sinne der Rekonstruktion die Perspektiven
anderer ganz oder teilweise adaptieren und dadurch ihre Deutungs- und Erklärungsbasis
erweitern oder sie können existierende eigenen Perspektiven in der Abgrenzung von anderen
Perspektiven schärfen. Im Rahmen des Peacewiki-Projektes wäre es technisch möglich,
Meinungen, die einem nicht passen, zu löschen; dies nicht zu vernichten, nicht zu bekriegen,
sondern einfach zu sagen ‚Okay, das ist seine/ihre Meinung’ und sie stehen zu lassen,
bedeutet, Friedenskompetenz zu erwerben.

Im österreichisch-amerikanischen Online—Projekt waren die Möglichkeiten zur


Differenzerfahrung aufgrund der häufig kontrovers geführten Diskussion besonders
ausgeprägt. Sie zeigten sich z.B. in der Auseinandersetzung mit der Frage, was Macht sei und
ob Visionen eine politische Relevanz zukomme. Die Differenzerfahrung stellt eine
Perturbation, eine Störung dar, die im Konstruktivismus als ein unverzichtbarer Stimulus
betrachtet wird, der Lernprozesse in Gang setzt.

Aktive Rolle der Lernenden


In den genannten Merkmalen eines konstruktivistischen Arbeits- und Konstruktionsprozess ist
der/die Lernende als aktiv Handelnder angesprochen, der/die eingreift, auswählt, vergleicht,
interpretiert, kurz, der/die im Kopf Wirklichkeiten erzeugt, die erfolgreich projekt- und
lebensdienliche Handlungen ermöglichen. (Siebert 2003, 13) Im Rahmen des Peacewiki-
Projekts war Aktivität nicht nur zugelassen, sie war vielmehr eine Voraussetzung für das
Projekt und wurde deshalb gefördert, z.B. durch die individuellen Spielräume bei der
Materialsammlung und der Gestaltung der Lernplattform, durch reflexive Phasen, in denen
die subjektive Relevanz des Projekts erörtert wurde, durch die Forcierung des
Perspektivenwechsels im Zuge der Übernahme verschiedener Rollen z.B. der
InterviewerInnen, der ForscherInnen, der MediengestalterInnen, der Entwerfenden und
Nutzenden des medialen Produkts. Die in den unterschiedlichen Rollen erforderliche Aktivität
verlangte kognitive, emotionale, soziale und ästhetische Kompetenzen. Komplexe Aktivität
im Lernprozess forcierten die konstruktive Dimension des Lernens.

12
Sollen sich Konstruktion, Rekonstruktion, Dekonstruktion im Lernprozess lebendig entfalten,
so ist hierfür die Ergänzung der Online-Kommunikation durch Präsenzsitzungen in
zweifacher Hinsicht eine wichtige Bedingung: Die Face-to-face-Begegnung umfasst im
Unterschied zur Online-Begegnung die Körpersprache, die erweiterte Informationen über die
Befindlichkeit und Motivation der beteiligten KommunikationspartnerInnen liefert, was das
Ingang-Setzen eines Lern- und Kommunikationsprozesses erleichtert, weil Unterschiede,
Verständnisschwierigkeiten, ungleiche Beteiligungen rascher erkennbar sind und dadurch
ansprechbar werden.

Die Informationen, die Mimik, Gestik, körperliche Haltung liefern, unterstützen die
Herstellung von Vertrauen und Verbindlichkeit, auf die im Gemeinschaftsprojekt nicht
verzichtet werden kann. Aus diesem Grund hatte z.B. das Peacewiki-Projekt einen langen
zeitlichen Vorlauf an Präsenzsitzungen, in denen die theoretischen Grundlagen und die
Grundlagen des Miteinander-Kooperierens erarbeitet wurden. Diese Sitzungen nahmen
während der Durchführung des Projekts etwas ab, wurden aber dennoch fortgesetzt. Im
österreichisch-amerikanischen Projekt war die Möglichkeit der Präsenzsitzungen aufgrund der
großen geografischen Entfernung nicht möglich. Dass die geplante Videokonferenz, die eine
Kompensation darstellen sollte, aufgrund mangelnder technischer Voraussetzungen auf
amerikanischer Seite ausfallen musste, haben die Studierenden sehr bedauert.

3.2 Didaktik der virtuellen Lernumgebung


Wie eingangs erwähnt, ist das Peacewiki lediglich ein vorläufiges Endprodukt, denn als
virtuelle Lernumgebung soll es weitere Lernprozesse anregen, die das Produkt verändern.
Unter einer virtuellen Lernumgebung verstehen wir mit Rekurs auf Markus Walber alle
digitalen, am Bildschirm eines Computers erzeugten Kontexte, mit deren Hilfe Lernprozesse
ausgelöst, begleitet und evaluiert werden (Walker 2003, 211). Struktur, Themen und
Gebrauch von Peacewiki sind so angelegt, dass sie ebenfalls ein konstruktivistisches,
gesellschaftspolitisches Lernen unterstützen, wie wir im Folgenden erläutern.

Das auf der Lernplattform zusammengetragene Wissen in Form von Text, Bild, Sound kann
von den mit Unterstützung dieser Lernplattform Lernenden erweitert und modifiziert werden;
neue thematische Bereiche und Funktionen können in die Lernplattform integriert werden.
Die Lernenden haben es nicht mit einer abgeschlossenen Wissenseinheit zu tun, sondern mit

13
einem veränderbaren Wissensfeld, das einen schöpferischen Umgang mit den einzelnen
Wissenspartikeln anregen soll. Sie können ihre eigenen Lernwege kreieren, was ein
exploratives, an der eigenen biografischen Erfordernissen anschließendes Lernen fördert.
Aktives Handeln ist daher nicht nur bei der Erstellung der Lernumgebung, sondern auch bei
ihrer Nutzung erforderlich. Durch Handeln, das auch ein Sprechen oder Schreiben sein kann,
legen sich die Lernenden fest, denn Handeln kann zwar widerrufen, aber nicht rückgängig
gemacht werden (Klafki 1979, 51 f.). Dadurch lernt man, Verantwortung zu übernehmen.
Handeln ist eine Form der Aktivität, in der der Mensch, wie Wolfgang Klafki bemerkt, in den
Raum des Mit-anderen-Menschen-Seins hineinwirkt (ebd.). Die das Peacewiki Nutzenden
wirken in einen existierenden sozial hergestellten Wissensraum hinein, indem sie sich das
Wissen aneignen, modifizieren und erweitern, sind sie rekonstruktiv, dekonstruktiv oder
konstruktiv tätig. Die Wiki-Technologie setzt dem Konstruktionsspiel keine Grenzen, und
kommt damit einem konstruktivistischen Bildungsverständnis in besonderer Weise entgegen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Lerneffekte konstruktivistischen


Lernens, wie sie im Kontext der Erstellung und Nutzung des Peacewiki und im Kontext des
österreichisch-amerikanischen Dialogs geschildert wurden, auch der Ausbildung von
Schlüsselqualifikationen dienen, die dem eingangs beschriebenen gesellschaftspolitischen
Anspruch an Bildung korrespondieren. Die Lernenden trainieren in der Nutzung der
computergestützten Instrumente ihre Medienkompetenz, sie brauchen Zukunftsphantasie,
wenn sie diese Instrumente inhaltlich und funktional weiterentwickeln wollen, sie erwerben
Identitätskompetenz in der kommunikativen Positionierung im virtuellen Raum und sie lernen
im Umgang mit Perspektivenvielfalt und Differenzerfahrung, Zusammenhänge zu
durchschauen und Zusammenhänge zu stiften.

Konstruktivistisches selbstgesteuertes Lernen desillusioniert eine normative Pädagogik, die


davon ausgeht, Lernen ereigne sich als ein linearer kontrollierbarer Prozess, indem
vorgegebene Lerninhalte, didaktisch sinnvoll verpackt, zu konsumieren sind. Eine
konstruktivistisch orientierte Bildung folgt dagegen der Annahme, gelernt wird nicht das, was
gelehrt wird, sondern das, was lebensdienlich erscheint.
LehrerInnen werden im Kontext selbstgesteuerten Lernens nicht überflüssig; allerdings
verändert sich ihre Rolle. Ihre Aufgabe besteht weniger darin, das richtige Wissen zu
präsentieren, sondern darin, Lernprozesse anzustoßen und als pädagogische ExpertInnen zu
begleiten. Das schließt nicht aus, Wissensangebote zu machen; wichtig ist der offene

14
Lernhorizont, in dem sich ein neue Perspektiven eröffnendes Konstruktionsspiel entfalten
kann. Lehren bedeutet aus konstruktivistischer Sicht aber vor allem, Strukturen und
Arrangements bereit zu stellen, die das Lernen anregen sowie ein intensives Beobachten des
Lernprozesses und der einzelnen Lernenden, um im richtigen Augenblick lernstimulierend zu
intervenieren.

4. Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Peacewiki wurde konzipiert, um ein traditionelles Seminar durch praktische Erfahrungen im


virtuellen Raum kontextuell und didaktisch zu unterstützen. So dient Peacewiki den
Studierenden als technisches Werkzeug virtueller Kommunikation, als Publikationsfläche im
virtuellen Raum, als Dokumentationscontainer und als intersubjektiver Informations- bzw.
Wissensspeicher. Peacewiki stellt eine Art offenen Raum dar und ist ein Experimentierfeld, in
dem lebendige Erfahrung von virtuellen Räumen vermittelt wird.

4.3 Was wirft das für mögliche weiterführende Forschungsfragen auf, in welche Richtung
könnte weitere Forschung daher fortsetzten, (=Schlussbemerkung)

4.1 Lerneffekte für Studierende und Institution


Im Projekt Peacewiki stellen die Studierenden selbst Öffentlichkeit(en) her. Sie übertragen
theoretisches Wissen in die Praxis und gewinnen durch praktisches Handeln neue
Erkenntnisse. Zugleich stellt der Einsatz des Peacewiki eine Ausdifferenzierung und
Erweiterung des didaktischen Instrumentariums in der (universitären) Lehre dar.
Die Verwendung eines Wikis - wie im vorgestellten Projekt – realisiert mehrere Formen der
Interaktivität. Ein solcher Einsatz von Wikitechnologie in der Hochschullehre fördert
kommunikativen und kollaborativen Austausch zwischen den Lernenden, und forciert die
Kommunikation zwischen den Lernenden und den Lehrenden/Tutoren, die somit nach der
Seminarsitzung nicht abreißt, sondern ihre inhaltlich Fortsetzung im Peacewiki findet.
Diese Formen der Interaktivität können von traditionellen Lehrformen in dieser Weise nicht
geleistet werden. Interaktivität erwächst aus dem Austausch der Lernenden und Lehrenden
untereinander, als transparentes kommunikatives Handeln im virtuellen Raum.
Daraus erwächst sowohl den Lernenden als auch der Institution eine Chance zur
Weiterentwicklung. Innerhalb des institutionellen Rahmens Universität werden Strategien
informellen Lernens vermittelt (Kompetenzlernen). Die Ebene, auf der dies ansetzt, entspricht

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insofern der Verhaltensdisposition der Studierenden, als die Durchführung des Projekts
Peacewiki auf Potentiale zurückgreift, die in der Alltagskultur bzw. Lernkultur der Lernenden
bereits vorhanden sind: Die Verwendung von virtuellen Interaktionsformen ist
selbstverständlicher Bestandteil des Alltags der Internetgeneration. Zumal diese
Fruchtbarmachung von vorhandenem Potential von traditionellen Lehrmethoden nicht
geleistet werden kann, kann auch in Hinblick auf die Institution von einem Lerneffekt
gesprochen werden. Die Institutionen sehen sich nicht mehr als die alleinigen Exekutanten
eines Lehrplans, sondern schaffen durch konkrete Anwendungskonzepte von Neuen Medien
die Vorraussetzungen, Bildung und Lernen als einen lebenslang fortschreitenden,
selbstgesteuerten Prozess zu vermitteln, den sie gezielt anstoßen. Aus institutioneller
Perspektive erwächst der Eisatz von Wikis wie im hier beschriebenen Konzept zusätzlich
insofern eine Bedeutung, als sie einen Wissenstransfer ermöglichen. Da Peacewiki öffentlich
zugänglich ist, schafft es Transparenz, wo sich sonst Türen und Mauern um den
wissenschaftlichen Diskurs in Seminaren schließen.

4. 2 Transferierbarkeit

Da Wikisysteme wie auch Peacewiki hinsichtlich technischer Medienkompetenz eher


niederschwelligen Zugang erlaubt, lässt sich dieses didaktische Konzept auf sämtliche Aus-
und Weiterbildungsunternehmungen umlegen, die die genannten Fähigkeiten anstreben und
die nötige Infrastrutkur bieten.

Die Überlegungen zur Transferierbarkeit des Wikikonzeptes konzentireren sich auf folgende
Bereiche:
• Intersubjektive Wissensfindung durch lebendige Erfahrung in virtueller Öffentlichkeit
• Prädestiernierung für die Anwendung in der interkulturellen Kommunikation,
• praktische Umsetzung theoretischer Inhalte und
• Organisation von sozialem Miteinander im virtuellen Raum.
Diesen Merkmalen erwächst der Nutzen dieser Konzeption, der auch für andere Lehr- bzw.
Lernunternehmungen fruchtbar gemacht werden kann.

Ein wesentliches Einsatzgebiet des Peacewiki-Konzeptes eröffnet sich im interkulturellen


Lernen. Die besondere Eignung für diesen Kontext ergibt sich aus den Eigenheiten der
computergestützten Kommunikation als solcher. Vituelle Identitäten sind bewußt(er)

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konstruierbar und flexibler (Turkle, u.a. ...) . Indem sie sich Zuschreibungen entziehen,
begünstigen sie eine Verflüssigung von kulturellen, sozialen und emotionale Grenzziehungen
(Hering u. a. ..), die dazu führt, dass Barrieren, die in der non-virtuellen Kommunikation
Befangenheit verursachen können, nicht in dieser Weise auftreten. Dem Umgang mit
Diversität werden so neue Perspektiven verliehen. Darüber hinaus vereinfacht die
Ortsungebundenheit virtueller Kommunikation, wie im österreichisch-amerikanischen
Friedensdiskurs bestätigt, die Organisation interkulturelle Kontakte.

Ein Wiki als Lernumgebung eignet sich besonders für Lehrveranstaltungen mit Seminar- bzw.
Workshopcharakter, die die intersubjektive Wissensfindung zum Ziele haben. Unsere
Konzeption verschränkt sich zwar mit der Friedensthematik, kontextuelle Synergien sind aber
auch mit anderen Themengebieten denkbar. Nicht nur in den Sozial- und
Geisteswissenschaften, sondern auch in anderen Bereichen und hier vor allem unter dem
Aspekt der Vermittlung arbeitsorganisatorischer Vernetzungsleistungen ( im Sinne von
computergestütztem, kollaborativem Arbeiten CSCW) finden konstruktivistisch orientierte
Wiki-Konzepte in vielen Wissenschafts- und Arbeitsgebieten ihr ideales Anwendungsgebiet.

Wird ein Wikisystem im allgemeinen oder die Peacewikikonzeption im speziellen in


Lehrveranstaltungen implementiert, sollte der zu vermittelnde theoretische Inhalt im Idealfall
dadurch eine praktische Umsetzung erfahren können, im hier beschriebenen Fall: Das bloße
Lernen von und über Demokratie und Öffentlichkeit wird durch das Agieren damit ergänzt.
Diese praktische Erfahrung zielt auf die Förderung der Fähigkeit zur Analyse, zum Verstehen
und Bewerten und artikuliert sich dann direkt zugänglich und online in der Arbeit an Texten.

Der praktische Umgang mit virtuellen Öffentlichkeiten (Agieren in der virtuellen


Öffentlichkeit, Stellung beziehen, Meinung äußern, Multiperspektivität erfahren) steht zwar
im Kontext zu den zu vermittelnden Inhalten, die in der Adaption des Konzepts genutzt
werden kann, bildet jedoch keine definitive Themenbeschränkung. Modelle in denen für den
Einsatz von Wikisystemen stark strukturierte Instruktionskonzeptionen (Jardin 2005) oder in
meist unidirektionale Drill&Practice Übungen empfohlen werden, gibt es zwar, schöpfen aber
nicht aus, was ein Wikiweb an Potentialen des lehrreichen Miteinanders wirklich offeriert.
Wikisysteme spielen durch ihre Interaktivität der konstruktivistischen Didaktik den Ball zu,
mit dem sie eine zeitgemäße Umsetzung erfahren kann.

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Peacewiki ist in dieser Form nur dort oportune wo Wissen, Standpukte und Ergebnisse zur
Diskussion gestellt werden, also die Interaktivität der Plattform für themenbezogenen Diskurs
genutzt wird. Es ist Fehl am Platz, wo definierte Inhalte in einem Wissenscontainer gepunkert
und dem Lernenden nur distribuiert werden sollen. Nicht der vordefinierte Inhalt bestimmt
das gemeinsam Geschaffene, die Lernumgebung sammelt Diskussionsstandpunkte und
dokumentiert die Genese eines Wissen konstruierenden Prozesses, den die beteiligte
Community auf ihrem Erkenntnisweg zurücklegt. In welchen Aus- und
Weiterbildungsbestrebungen dies anwendbar ist, bestimmt auch die institutionelle
Verankerung. So determinert das didaktische Konzept bereits die Organisation von Lernen als
“Lernen in einer Gemeinschaft” und impliziert die Bildung einer Learning-Community die
entsprechend in die institutionellen Gegebenheiten eingebettet sein muß. Das entscheidet
letzlich ob Peacewiki als adaptionsfähige Konzeption in Aus- und
Weiterbildungsunternehmen dienen kann oder nicht.

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