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KvaFlzZeitung
Festi
# 2 ng
1.Jahrga
2010
n d? W i e w a r i c h?
U Re zensionen
Jede Menge
d? W e r b i n i c h?
U n estivalpsych
os
rF
Ratgeber fü
n d? A u c h n a ss?
U Theater
Schwitzen im
Editorial
Liebe Kinder, liebe Affen, hochverehrtes Publikum!
Kaum gestartet, schon mittendrin. KALTSTART ist von Anfang an ein ziemlich heißes Festival. Nicht nur, weil
man sich in vielen Vorstellungen kaputtschwitzt (siehe Seite 3). Sondern auch, weil es an den vielen Spielorten
viel Aufregendes zu gucken gab. Es gab so viel zu gucken, dass wir in diese KFZ-Ausgabe gleich drei dicke,
fette Doppelseiten (8 bis 13) voller Rezensionen, Reaktionen, Analysen und doofer Witze über die Stücke der
ersten beiden Aufführungsabende gepackt haben. Fast alles geguckt! Ging nur mit viiieeel Gatorade bzw.
Astra. Phew. Weil wir aber natürlich immer auch verrückt in die Zukunft schauen, gibt es Ausblicke auf kom-
mende Festivalhöhepunkte (Seiten 4 und 5), ein Interview zur theatralen Parallelgesellschaft (Seite 7) und das
Porträt einer fast echten Hexe (rothaarig, Seite 6) -- auf dem Scheiterhaufen braucht man ja auch keinen Pulli.
(Und auch der coolste Walkman würde schmelzen, aber das hat jetzt eigentlich mit gar nix was zu tun, außer
vielleicht nochmal mit der Seite 3.)
Was noch? Die tollsten Sachen. Weil sich einerseits so viele KALTSTART-Stücke mit der Konstruktion von
Identität beschäftigen und die KFZ andererseits das Selbsterkenntnisblatt Number One ist, haben wir einen
Psychotest entwickelt, der Euch eindeutig einer Festivalsparte zuordnet. Wenn Ihr Euch traut, ihn zu machen.
Hä, wer ist denn „Ihr“? Na, Du! Oder wer man eben so ist. Eigentlich sind das ja auch Luxusprobleme. Anderen
geht es viel schlechter! Um den verkrachten Existenzen und am Leben gescheiterten 18-Jährigen unter den
KALTSTART-Theaterfiguren doch noch die eine oder andere Perspektive zu bieten, haben wir einen Gastex-
perten eingeladen, der so schlaue Tipps gibt, dass es schon fast nicht mehr lustig ist. Aber nur fast.
Und das ist doch alles toll. So toll, dass die ganze Welt es wissen soll! Das „Gorilla-Marketing“ in der Schanze
(vgl. Coverfoto) war ein Mittel zu diesem Ziel. Wobei wir wieder bei der Hitze wären.
Unter den Flokatis muss es ziemlich mollig gewesen sein. Glücklicherweise
hatten die Darsteller reichlich Schlauchäpfel zur Erfrischung dabei. DISKUR S ZUR
HAND #2
Jede Ausgabe
gibt es einen
Bananige, ereignisreiche Abende wünscht Euch aus dem Heft Diskurs
zum Nachspie
Zuhause. Einf len für
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Die Red. Streifen hinten
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Heute:
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Meese vs. M
ichelangelo
02 / 03
KFZ
Hotness I Was Only Joking Thema
hwitzens im Theater
Über die Schwierigkeiten des Sc
von Laura Naumann
Juli 2002. Sommerferien mit MTV. Der Mann mit dem Pfla- weil sie spontan so was machen für uns. Dabei sind sie die, die
ster im Gesicht und Frauen mit kurzen Tops. Sie bouncen und am meisten schwitzen, in diesem Raum. Die gerade bei der
schwitzen. Schweißfilme auf den Körpern. Und immer: it‘s Arbeit sind außerdem. Die nicht mal wedeln können. 57
getting hot in here so take off all your clothes. Und sie genie- Grad. Ich kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren
ßen. Sie ziehen was aus. Schwitzen weiter. Bouncen. Ziehen als aufs Schwitzen. Das eigene und das fremde Schwitzen.
das aus. Schwitzen. Und nie war das so hot. Also hot-hot. Das Fremde vor allem.
Juli 2010. Pressehaus Kaltstart Festival. Balkon vom LOKAL. Ich erinnere mich ein Aufführungsanalyse-Seminar und
36 Grad. Wir so vor den Laptops. Theaterkritik zum Beispiel. lange Diskussionen über Erika Fischer-Lichtes Theorie vom
Katy Perry und Snoop Dogg singen von Californian Gurls und phänomenalen Leib und semiotischen Körper des Schau-
ich denk so, ja, wieder Zeit für Sommerhits, Bikinis, Bikinis, spielers, also vom gegebenen, „echten“, präsenten Körper
Martinis, ja, geil, aber wir schwitzen leider sogar im Sitzen, des Schauspielers und dem Körper der Figur, die der Spieler
haben nicht mal Kraft, den Swimmingpool aufzubauen, nix darstellt und wie diese vor allem in einander übergehen. Zum
Bikinis. 42 Grad. Schon drei Mal geduscht. Das Kleid klebt am Beispiel: die hochschwangere Schauspielerin. Wie gehe ich
Arsch, die Finger an der Tastatur fest. Es ist so heißt, aber nie als Zuschauer mit der um? Offensichtlich ist sie schwanger.
war es weniger hot. Darum freu ich mich schon aufs Theater. Aber der Franz Mohr, den sie heute Abend gibt, ist es wohl
Da gibts wenigstens keine Sonne. Da kann ich mal schön drin nicht. Kann ich den Babybauch ausblenden? Oder befruchtet
sein, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ja Sommer der eventuell irgendwie die Rolle? Gleiches Prinzip, wenn
ist. Aber andere freuen sich auch aufs Theater scheinbar. Wir ein Schauspieler bei 60 Grad auf der Bühne gekocht wird. Er
gehen rein. An der Kartentheke werden Wedelpappen verteilt. besteht nur noch aus Schweiß, er tropft, er atmet schwer,
Die Klimaanlage ist in Deutschland außer im Auto noch nicht während er diesen Eskimo aus „Eine Reise zum Polar“ spielt.
so richtig angekommen. Eine Studiobühne. 80 Leute auf Und obwohl wir alle schwitzen, ist das komisch, dass er so
Stühlen. In der Mitte ein Steg. Zwei Schauspieler. Sie begin- schwitzt, weil das plötzlich sein ganz privater Körper ist, der
nen zu sprechen und der Schweiß bildet sich auf ihrer Stirn. sich da aufdrängt. Das private Schwitzen zieht meinen Fokus.
Der Schweiß bildet sich in meinen Kniekehlen. Mein Nachbar Oder kann man vielleicht auch mal semiotisch schwitzen?
klebt. Der Block uns gegenüber wedelt. Ich wedele. Irgendwo Sicher, aber dann wäre das eingebettet. Wie im Videoclip von
am Rand steht ein Ventilator, er grinst. Er singt: sun-kissed Nelly. (Redaktions-Kollege Jo sagt gerade: „Schließt ein eri-
skin we‘ll melt your popsicles oh oooh oh. Eine Weile geht gierter Körper aus, semiotischer Körper zu sein) Ich meine:
alles gut. Dann schließen mein Nachbar und ich einen stum- nein!“)
men Pakt. Wenn er wedelt, wedele ich nicht, wenn ich wedele, Die große Schwierigkeit des Schauspielers, nur einen Körper
muss er nicht wedeln. Das geht gut. Aber irgendwann wedelt zu haben. Mit dem alles gemacht werden muss. Der muss
er gar nicht mehr, und ich übernehme die Arbeit für uns beide. dienen, dienen, dienen, der muss sich besetzen lassen, aber
Weil ich aber ja so schwitze. 52 Grad. Ich hasse es, wenn sich trotzdem ist er noch ganz normaler Standard-Körper. Der
meine Beine berühren, meine Augen brennen, mein Hals dann schwitzt oder schwanger wird oder Bikinistreifen hat.
klebt, ich kann nicht mehr zuhören. Dabei bewege ich mich Und die große Schwierigkeit des Berufs, da hoch zu gehen
nicht mal. Die beiden Schauspieler auf der Bühne dagegen und es klar zu machen, trotz 63 Grad, trotz Skianzug, no
gehen und springen und klopfen und schmeißen sich hin und matter what. Große Geduld, große Leidensfähigkeit ist hier
müssen dann wieder hoch kommen. Sie tragen lange Hosen erforderlich, bitte Augen auf bei der Berufswahl, das muss
und Hemden und Jacketts. Die Kostüme weichen durch. Der man erstmal leisten können und wollen, wieder und wieder.
Schweiß tropft ihnen das Kinn runter. Es spritzt, wenn sie Ich gehe recht demütig aus den Vorstellungen raus in diesen
hart auftreten. Jetzt zückt einer der Spieler einen Pflanzen- Festivaltagen. Und dann direkt in den Keller.
sprüher, sprüht sich damit ins Gesicht. Und dann uns. Später
wird der Ventilator angestellt. Mal in jede Richtung gehalten.
Erleichterung für Sekunden in den Gesichtern der ersten Rei-
hen. Wir verehren die beiden Männer, weil sie uns mitdenken,
Kaltstart
Termine KFZ
MITTWOCH 12. Juli 2010 Zeisehallen //Finale // 20:30 >The- Vorschau Was ist eigentlich
19:00 >Musiktheater Don Giovanni ater Die ultimative Show - Wilde dieses Theater?
o sia … // Theaterakademie Zeise- Ponys ausser Rand und Band / Akademiestudenten suchen nach
Ponydressing // Waagenbau //
hallen // Finale // ihrer eigenen Sprache
20:00 >Theater Der Du / Düsseldor- Fringe // 21:30 >Performance das
beste dass sich an diesem festival
von Laura Naumann
fer Schauspielhaus // Haus III&70
anmeldet (wirklich) // Theatera-
Studenten der Akademie über das Studie-
Saal // Kaltstart Pro //
kademie Zeisehallen // Finale //
ren an der Akademie. In „das beste dass
20:00 >Performance E.C.F.C.
22:00 >Theater Ein bisschen Ruhe
sich an diesem festival anmeldet (wirk-
– eravamo così folli che / AKR //
vor dem Sturm / Stadttheater Bern
lich)“ zeigt das Ensemble Cobratheater.
monsun theater // Fringe //
// Terrace Hill // Kaltstart Pro //
Cobra, eine Auseinandersetzung mit der
20:30 >Theater The Amok Society
Ausbildung zum Beruf des Regisseurs.
// Theaterakademie Zeisehallen //
Freitag 16. Juli 2010 Akademiker werden. Eine Sprache finden,
Finale //
13:00 >Performance Rebecca – eine eine Handschrift. Regeln lernen, um dann
20:30 >Theater Die ultimative Show
48 Stunden Performance / DAP einer zu werden, der alle Regeln bricht.
– Wilde Ponys ausser Rand und
// siehe www.kaltstart-hamburg. Sich reiben, sich befreien. Eine Unter-
Band / Ponydressing // Waagenbau
de // Fringe // 18:00 >Theater Die suchung des Systems und die Konflikte
// Fringe //
Nacht kurz vor den Wäldern / Kam- damit. Ein Ausloten der Möglichkeiten und
21:30 >Theater After the End /
merspiele Paderborn // Haus III&70 Unmöglichkeiten. Die Performance ist Teil
Schauspielhaus Bochum // Haus
Club // Kaltstart Pro // der Suche. Ebenso vielleicht die Schreib-
III&70 Club // Kaltstart Pro //
18:00 >Performance Today i am weise im Titel. Probieren. Suchen. Fehler
21:30 >Theater Ilias / Heimathafen
willing to understand / Maria machen.
Neukölln (Berlin) // Terrace Hill //
Isabel Hagen // monsun theater
Kaltstart Pro //
– Werkstattraum // Fringe // Do, 15.07. | 21.30 | Theaterakademie
21:30 >Theater India Simulator™
19:00 >Theater Komm, süsser Tod /
Zeisehallen
/ Flinntheater / Dock 4 Kassel //
Schauspiel Frankfurt // Haus III&70
Haus III&70 Anbau // Kaltstart Pro
Anbau // Kaltstart Pro // 19:00
21:30 >Kabarett Erstmal schön
>Performance dis-oriented / Julia
hinsetzen / Susanne Plassmann //
Blawert // Waagenbau // Fringe //
Hamburger Botschaft // Fringe //
19:00 >Theater Maria Stuart // The-
21:30 >Theater Reiher // Theatera-
aterakademie Zeisehallen // Finale
kademie Zeisehallen // Finale //
// 19:00 >Gespräch Kick-Off Junge
23:00 >Szenische Lesung Im Zug
Dramatik // Terrace Hill //
// Theaterakademie Zeisehallen //
20:00 >Autorenlounge Abend 1 /
Finale //
Syha-Naumann-Steinbuch /
Glücklichet Gesicht
Donnerstag 15. Juli 2010 Mansmann-Hierzegger-Finger //
18:00 >Lecture-Performance Das Terrace Hill / Im Anschluss große Wer ist eigentlich
Erfolgsprojekt / dummet face / Party mit Überraschungskonzert, dieser Erfolg?
Theaterhaus Hildesheim DJ usw. / www.kaltstart-hamburg.
Dummet Face aus Hildesheim
de // Terrace Hill // 20:00 >Theater
// Haus III&70 Anbau // Kaltstart suchen nach dem Weg nach oben
Pro // 19:00 >Theater Ce que j‘ai Das Schwert / Alsomirschmeckt´s!-
fait ce soir-là… // Theaterakademie Theater // Schule Altonaer Straße von Jan Fischer
Zeisehallen // Finale // // Fringe // 20:00 >Theater Die „Wir wollten den Zuschauern ein Rezept
20:00 >Theater Die Nacht kurz Unterrichtsstunde / Das Hambur- für den Erfolg im Theaterbetrieb liefern“,
vor den Wäldern / Kammerspiele gische Kulturkontor // Foolsgarden sagt Maike Tödter von Dummet Face. Die
Paderborn // Haus III&70 Club // Theater e.V. // Fringe // 20:30 Gruppe hat Größen aus verschiedenen
Kaltstart Pro // 20:00 >Theater keep >Performance Today I am willing to Theatersparten zum Thema Erfolg in-
on searching for a heart of gold / understand / Maria Isabel Hagen // terviewt. Der Plan sei gewesen, aus den
bigNOTWENDIGKEIT / Sophiensae- monsun theater – Werkstattraum Interviews einen Plan für den Erfolg zu
le Berlin // Haus III&70 Saal // // Fringe // 20:30 >Arbeitsproben destillieren. „Aber das hat natürlich nicht
Kaltstart Pro // 20:00 >Performance Werkstatt // Theaterakademie Zei- geklappt.“ Ihre Ergebnisse stellt die Grup-
E.C.F.C. - eravamo così folli che / sehallen // Finale // 21:00 >Theater pe trotzdem in einer Lecture Performance
AKR // monsun theater // Fringe // Vom Schlachten des gemästeten vor, in der es darum geht, was dieser
20:00 >Theater Das Schwert / Lamms und vom Aufrüsten der Erfolg eigentlich ist, warum Erfolg wichtig
Alsomirschmeckt´s!-Theater // Aufrechten / vorschlag:hammer / ist oder nicht und wie es eigentlich um
Schule Altonaer Straße Universität Hildesheim&Hochschule den Erfolg des Publikums steht. „Au-
// Fringe // 20:00 >Theater Der Kick der Künste Bern (CH) // Haus ßerdem“, sagt Maike Tödter, „treten die
/ Anika Lehmann // Foolsgarden III&70 Saal // Kaltstart Pro // 22:00 Beatles auf.“ Kreisch!
Theater e.V. // Fringe // 20:15 >Performance Alte Sehnsucht / Per-
Donnerstag, 15. Juli | 18.00 Uhr |
>Theater Terrorgraphie – all change formanzART – Vieux|Maram // 13ter Haus III&70, Anbau
please // Theaterakademie Stock (Bar Rossi) // Fringe //
04 / 05
Um sein Leben reden
Die Kammerspiele Paderborn suchen
nach der Einsamkeit des Einzelnen und
ihren Geschichten
Kaltstart
KFZ
Magelone unter Vorschau choreographie zeigt. Jede halbe Stunde lassen zwei
Vor der Inquisition: In „Rebecca“ erlebt und mit Blicken Kontakt. Es geht ihr um persönliche
Momente. Die Zuschauer treten nach der Reise ins Dun-
die Performerin Stefanie Miller die letz-
kle zurück ins Licht. Sie sollen etwas Positives mitneh-
ten 48 Stunden im Leben einer Hexe nach
men, nicht nur geteilten Schmerz. Stefanie Miller sieht
sich als Projektionsfläche. Das Leid, zumindest das
physische, kann man nur erahnen.
Und was gibt es dann für eine Entsprechung, heute?
von Stephanie Drees Wenn Stefanie Miller erzählt, dann fixieren ihre grünen
Augen den Gesprächspartner: Psychische Folter in
Form von Mobbing, von Leistungsdruck und Konkur-
renz, von engen gesellschaftlichen Korsetts, das sind
Themen, die ihr am Herzen liegen. Niemand wird mehr
auf dem Scheiterhaufen verbrannt, aber es gibt andere
Formen der Unterdrückung, noch immer. Unterschwel-
lig zwar, doch präsent. Darauf möchte sie hinweisen,
06 / 07
P a r a lle l g e s e lls ch a f t“ KFZ
„Stichwort
Interview
KFZ Das gilt sicher auch für die beiden Produktionen, die
heute Abend liefen. In beiden geht es um junge Menschen in
Neukölln.
NO Unser Motto ist ja: Berlin hat wieder Volkstheater. Erst- verbreitern.
mal heißt das, Theater für die Stadt zu machen, aber auch KFZ Kulturarbeit wird im Heimathafen großgeschrieben, im
Theater mit der Stadt: Eine Art Zusammensein. Gleichzeitig Sinne von: Auf die Leute zugehen. Was kann ein Festival wie
soll ermöglicht werden, dass verschiedene Genres zusam- KALTSTART da leisten?
menkommen. Das Theater als Ort mit Platz — für Konzerte,
NO Es ist gut, dass es eine Plattform gibt, eine Bestandsauf-
Sprechtheater, Kabarett, Boxkämpfe hatten wir auch schon.
nahme, was so los ist im jungen deutschen Theater. Was ich
Ich will, dass man immer hinterfragt: Was hat man für ein
sehr gut finde, ist, dass es über die Theatergrenzen hinaus-
Anliegen? Und dann danach, ob es die Leute überhaupt
geht. Also, dass man sich nicht als Stadttheaterfestival oder
interessiert.
Festival für die Off-Off-Szene festlegt.
KFZ Neukölln ist da bestimmt kein leichter Ort. Zwar ist es
KFZ Du warst dieses Jahr auch beim Berliner Theatertreffen
nicht mehr der „Problembezirk“, der vor ein paar Jahren in
und beim Festival 100° Berlin, das so ähnlich funktioniert
den Medien zirkulierte, aber ein idyllisches Dorf ist dieser
wie Fringe. Wo bewegt sich das gesamte Kaltstart-Festival?
Teil Berlins auch nicht gerade.
NO Es ist wie ein Brückenkopf dazwischen. 100° ist, sag
NO Es ist vor allem ein inspirierender Bezirk. Die Ge-
ich jetzt mal, ein buntes Spektrum von allem. Jeder kann
schichten liegen eigentlich auf der Straße. Wir als Theater
mitmachen, der Lust hat, auf der Bühne zu stehen und eine
müssen dann herausfinden, wo ein Impuls sein könnte.
Melone zu zerschneiden. Das Theatertreffen ist der extrem
Unsere Arbeit hat weniger mit Sendungsbewusstsein zu tun,
andere Pol, sehr elitär, sehr auf Stadt- und Staatstheater
als damit, zuzuhören. Das kann man dann theatral weiter-
fixiert, sehr prestigeträchtig. Ich finde es notwendiger und
entwickeln.
wichtiger, dass man gerade so etwas macht wie KALTSTART.
Kaltstart
KFZ
Hauptsache exotisch!
Kritik
und Requisiten zu Räumen strukturiert ist, Transparenz sug- verloren zwischen denen, die einmal seine Bezugspersonen
geriert und trotzdem unübersichtlich wird — wie bald auch waren, und die ihn nun, abwechselnd spüren lassen, wie
das Bühnengeschehen: Was als chorisches Schleef-Spre- wenig sie noch mit ihm, dem Traumatisierten, anzufangen
chen von Schülern der Hamburger Schauspielschule beginnt, wissen. Clownesk marschiert Danny zu Militärmusik auf die
nimmt bald eine unangekündigte Wendung. Bühne, später wird er immer wieder sein Heil in Monologen
suchen (die der Regisseur aus Briefen britischer Soldaten
Intermedialität ist Pflicht klug in die Stückvorlage eingefügt hat). Als er am Ende in sei-
Aus dem Chor, der engagiert die Qualen der Kindheit beklagt,
ner Verzweiflung Bühnenaufbau und Vorhang niederreißt und
allen voran das Leiden des Kindes an der Mutter, löst sich
dahinter doch nur ein größeres Gefängnis vorfindet, ist das in
eine Gruppe, die selbst zur Mutter wird. Und eine Tochter
seiner Klarheit ein so unsagbar starker Moment, wie er nur
sucht, die sie unterdrücken, gängeln und verderben kann.
aus planvoller Reduktion resultieren kann.
Sie findet sie in der großartigen Cornelia Dörr, die vom Chor
der Mütter Erika genannt wird, und die ihrerseits in ihrer Was haben wir da eigentlich gerade gesehen?
Klavierschülerin Anna (Marie Seiser) eine Projektionsfläche Schade, dass die letzte Inszenierung des Abends das auf
für Hass und in ihrem Verehrer Herrn Klemmer (Bastian unterschiedliche Arten hohe Niveau nicht ganz halten kann -
Dulisch) eine für Perversion findet. vielleicht ist es aber auch schlicht unfair, das junge Ensemble
Fortan ist Grünewalds Abend nicht nur ein Schleef-, sondern um Regisseurin Grete Michel im Anschluss an zwei derart
auch ein Elfriede-Jelinek- und Michael-Haneke-Abend. Und fordernde Ereignisse auftreten zu lassen. Zumal mit einem
auch sonst konsequent übervoll: Die Schauspieler werden weiteren, weniger eindeutigen Stück von Simon Stephens:
gegen zeitgleich verlesene Regieanweisungen aus Hanekes Wie in „Port“ die Geschichte des nordenglischen Working-
Drehbuch zur Filmadaption von Jelineks „Klavierspielerin“ Class-Mädchens Racheal (Julia Goldberg) und ihres Bruders
geführt, zwischendurch gibt es Chor-Ausbrüche, Porno- Billy in schlaglichtartigen Szenen erzählt wird, ertrinkt in
filmsequenzen flackern auf Wänden und Folien, per Beamer traurig-melodischen Popsongs, in Fernweh und Melancholie.
werden Dinge gezeigt, die live gefilmt werden — Interme- Immerhin ergibt sich daraus die Frage, mit der man den
dialität ist Pflicht. Im Publikumsgespräch zeigt der Overkill Abend verlässt: Wieviel Exotismus ist nötig für gutes Theater
Wirkung: Die Zuschauer, obschon spürbar beeindruckt, tun - und wann beginnt er zu schaden? Müssen Inszenierungen
sich schwer, einen speziellen Moment der Aufführung in derart mit Referenzen, Intermedialitäten und Intertextuali-
08 / 09
Zitatenscheiß-
konstruktionswichse
Reckless Factory fragen nach dem
Ich in Zeiten der Persönlichkeits-
dekonstruktionsfickscheiße
„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“, fragt Richard
David Precht in seinem populärphilosophischen Best-
seller. Reckless Factory bleiben da einfacher: „WER
... [binichich]“. Die Inszenierung in Zusammenarbeit
Ist das Kunst oder
kann das weg?
mit dem Schlachthaus Theater Bern basiert auf dem
Stück „Wer ...“ des Niederländers Oscar van Woensel:
Fünf Geschwister treffen zur Beerdigung ihrer Eltern
zusammen. Sie alle arbeiten im Kulturbetrieb, sie alle
Jan Cristoph-Gockel driftet in „Kunst“ vom
knabbern an ihrer Kindheit. Vernachlässigung, Drogen- ironischen Sozialdrama in die Comedy
missbrauch und Vergewaltigung —die Liste trauma- von Jan Fischer
tischer Erlebnisse wird immer länger.
Serge kauft sich für 200.000 Euro ein Ölbild: Weiße
Ob sich wirklich alles so zugetragen hat, wie die
Streifen auf weißem Grund. Marc findet es scheiße.
Figuren behaupten, ist allerdings nicht klar. Der Text
Ivan hat keine Position, trinkt aber viel Bionade. Das
deutet an, dass die Fünf gerne Rollen spielen. Reckless
ist die Ausgangslage, von da aus knallen die Neurosen
Factory nehmen die Tragödienkonstruktion als Aus-
der drei Jugendfreunde aufeinander, die nicht zuge-
gangsthese des Abends: Wo sich Schauspieler, Lite-
ben wollen, dass sie nichts mehr eint. Es ist natürlich
raten und Fernsehmacher treffen, bleibt die Frage nach
supermegaironisch, dass die Freundschaft ausgerech-
der Inszenierung des Selbst nicht aus. Der Text van
net an einem Gemälde zerbricht, das im Grunde nichts
Woensels wird zerhackt, neu angeordnet und als Inspi-
zeigt: Nicht das Bild macht alles kaputt, sondern ganz
ration genutzt. Die Figuren sind zwiebelhaft angelegt.
andere, ältere Konflikte. So weit, so tolles Figurenthea-
Unter ihren vordergründigen Rollen liegen Schichten,
ter, so toll auch der Text: Die Drei spiralen sich in einer
die sich mal in Dialektwechseln, mal in bizarren Ver-
endlosen Diskussion immer tiefer in ihren Stellungs-
renkungen, mal im völligen Ausstieg aus dem Bühnen-
krieg hinein, von dem sie glauben, es sei ein Streit über
geschehen entblättern. Zum Beispiel Tochter zwei, eine
Kunst. Aber als sie in einer sinnlosen, romantischen
„mittelmäßige Schauspielerin“. Sie wird von Gunther
Geste das Bild mit einem Edding bemalen, ist auch
Kaindl als schlacksige Trans-Schönheit interpretiert.
nichts gewonnen. Irgendwo in der Mitte kippt das alles.
Unter der mädchenhaften Spielweise schlummert
Klar, es ist heiß in der Privatwohnung, in der das Stück
Frustration: In einem wortgewaltigen Monolog bricht
stattfindet, die Zuschauer schwitzen, die Schauspieler
alles aus der Figur heraus, inklusive der Figur selbst:
schwitzen, da kann es schonmal mit einem durchge-
Kaindl wälzt und wütet auf dem Bühnensofa, persifliert
hen: Was am Anfang ein böse-ironischer Kommentar
Theatergesten und beschwert sich über die „MTVfick-
zu selbstreferentieller Kunst und den dazugehörigen
dreckVivawichskulturzitatenscheißdreckskonstruk-
Möchtegernbohèmiens wären, wird in improvisiert wir-
tionswichse“. Kurz wird hier ein alter Theaterdiskurs
kende Comedy ausgeflöst. Der Zusammenhang weicht
fühlbar: Ein Schauspieler spielt eine Schauspielerin,
dem schnellen Gag, der schnelle Gag dem ausgemach-
die andere Schauspieler spielt — der Text wirkt impro-
ten Blödsinn, die Diskussion versucht ins Absurde zu
visiert, mit einem Hauch echter Empörung. Umso mehr
spiralen und verspiralt sich.
markiert er sich als Spiel, weil da immer noch ein Mann
in Faltenmini steht, gleich neben einem Dixi-Duschklo.
Es passiert was, auf der Bühne und im Kopf.
Sonst passiert leider wenig, was unter anderem der
schlechten Akustik anzulasten ist. Aber auch einem
Mangel an Dramaturgie: Starke Szenen werden flan-
kiert von flüchtigen Materialsammlungen. Ideen und
Bilder werden oft zu schnell aufgelöst, weniger starke
Momente in die Länge gezogen. Die Inszenierung findet
sich nicht selbst, zerfällt in Einzelteile. Inhaltlich ist das
vielleicht ein Verweis auf die fragmentierten Identitäten
im „global village“. Als Theaterabend aber nicht beson-
ders überzeugend.
Kann eigentlich weg. Foto: Jan Fischer
Kaltstart
King Kong kommt! Ins Theater!
Der Riesenaffe, das Ur-Monster, der Meta-
Mythos! Wir wissen, wovon wir reden: Wir
sind am Set gewesen, live beim Making-Of!
Wir haben durchs Schlüsselloch geschaut,
um das erste Blubbern der kreativen Ur-
suppe zu verfolgen, aus der das Kunstwerk
hervorgehen wird.
08 / 09
Neukölln ist auch
„Ihr fucking Flehen keine Lösung
fand Gehör“ „ Arabboy“ reproduziert die alte
Geschichte vom Aufstieg und Fall
Ralph Reichel und das Theater Schwerin
eines Jungen in Verbrecherkreisen
mixen Schiller neu zusammen
von Jan Fischer
von Clara Ehrenwerth Brechen wir einmal eine journalistische Re-
Bevor irgendwas losgeht, bevor überhaupt irgendwas gel. Lösen wir mal den neutralen Beobachter
angefangen hat auf diesem Festival, fünf Minuten vor auf: Ich habe keine Ahnung vom Leben libano-
der allerersten Kaltstart-Aufführung 2010, kracht ein türkischer Einwanderer der zweiten Gene-
Scheinwerfer von der Decke. Ein Techniker springt in ration. Ich bin eine verwöhnte Mittelstands-
letzter Millisekunde zur Seite, die Scherben splittern Weißnase. Ich habe nie in Berlin gelebt. Und
ausdrucksstark, der beinahe Erschlagene holt ein nun erzählt mir der Heimathafen Neukölln die
Kehrblech, der Regisseur Ralph Reichel rettet sich ver- Geschichte des „Arabboy“, eigentlich Rashid
legen in den Witz, dass es sich bei der eben gesehenen A., geboren und aufgewachsen in irgendeinem
Aktion um einen von langer Hand geplanten Spezial- Neuköllner Kiez. Da verprügelt und vergewal-
effekt gehandelt habe, drei Wochen sei lang intensiv tigt er Leute. Da gibt es Prostituierte, einen
dafür geprobt worden. Eine donnernde Ouvertüre. Kiezkönig, ein Mädchen mit ruinierter Ehre,
Aufgang der drei Schauspieler, ein Musiker stellt sich außerdem Drogen. Ich kenne die Geschichte,
ans Keyboard, und dann beginnt „Schiller feiern“, ein ich habe sie tausendmal gehört, sie spielt
Remix aus „Kabale und Liebe“, „Die Räuber“ und „Maria zwar immer in anderen Städten mit Protago-
Stuart“, entwickelt am Theater Schwerin. Schnell nisten, immer anderer Nationalitäten, aber
ist eine lang verschollene Ur-Trilogie erfunden, ein im Grunde genommen ist das „Scarface“, die
frühes Fragment des jungen Dichters, das erst jetzt Geschichte eines Heimatlosen, eines Glück-
von einem Wissenschaftler wiederentdeckt wurde. Da
fließen dann alle Hauptfiguren ineinander, und plötzlich
heißt jemand Karl-Ferdinand-Elisabeth der Erste. Die
Schauspieler (Brit Dehler, Bernhard Meindl und Bettina
Schneider) wechseln rasant zwischen den Rollen, den
Geschlechtern, zwischen Ironie und Ernst, zwischen
Naturalismus und Stilisierung. Bei dieser Frequenz,
diesem Schredderumgang mit Schiller ist es erstaun-
lich, dass es dem Ensemble gelingt, nicht dem Klamauk
zu verfallen, sondern immer wieder Momente von groß- Rashid. Der Nachname tut nichts zur Sache.
er emotionaler Klarheit zu schaffen. Dabei sind weder losen, eines netten Jungen, der in falsche
die Modernisierungsideen noch die darstellerischen Kreise gerät, auch, weil die Gesellschaft
Mittel besonders originell, mitunter sind die Versuche, ihm keinen anderen Weg bietet. „Arabboy“
Schiller „cool“ zu machen, sogar gehörig missraten thematisiert das: Gleich in der zweiten Szene
-- die Räuberbande wird zur Räuberband (am Key- spielt Rashid mit ein paar Freunden den
board: John R. Carlson) und hat hinter eddingbemalten Film nach, er ist dabei die Hauptfigur Tony
Strumpfmasken einen Auftritt mit ihrem Technohit Montana. Und die Frage nach seiner Hei-
„Stehlen, morden, huren, balgen“, der trotz nicht über- mat ist die einzige, die ihn in Verlegenheit
einstimmender Grundstimmung und Silbenzahl auf die bringt. „Arabboy“ basiert auf einem Buch
Melodie von „Hier fliegen gleich die Löcher aus dem der Journalistin Güner Balci, die behauptet,
Käse“ gepresst wird. dass Rashid im richtigen Leben existiert. Das
Doch Schillers Sprache, und das ist immer wieder Problem ist nun nicht, dass es nicht gut und
erstaunlich, hält so ziemlich allem stand, was man mit richtig wäre, Geschichten von Einwanderern
ihr anstellt. Man kann sie rappen, man kann sie säch- zu erzählen, die eigentlich gar keine mehr
seln, man kann sogar anbiedernde Jugendwörter in sie sind, aber trotzdem keine Heimat haben. Das
reinbohren (Zufallsbeispiel: „Ihr fucking Flehen fand Problem ist auch nicht, dass das Stück nicht
Gehör“). Alles das ist zur Genüge in den dicht aufeinan- gut inszeniert wäre, dass die Schauspieler
der folgenden Schillerjahren 2005 und 2009 geschehen, schlecht wären oder der Text holprig. Das
auch in Schwerin. Und trotzdem macht dieser Abend Problem ist, dass die Geschichte von Arabboy
Spaß, weil die Darsteller sich mit Witz, mit Ernst, mit schon so oft erzählt worden ist. Da kann die
Schmackes und Spielfreude dem Schillerschen Sprach- Geschichte so wahr sein, wie sie will: Klischee
reichtum und seiner Wandlungsfähigkeit hingeben. bleibt Klischee.
Kaltstart
Libellen im Netz rithmen:
KFZ
Androiden und Algo Kritik
a Zic verlagert
Die Regisseurin Ivn
stalt
„Woy zeck “ in die An
von Jan Berning
Sommer, zw i-
h ver irr t. Aus dem
Eine Libelle hat sic das kühlere
und Steinboden, in
schen Glas und Beton La ufstege, die
n, surrt sie über die
Foyer der Zeisehalle der Zuschau-
ter über den Köpfen
dort einen halben Me einer Anstalt
Es ist, als sei man in
er aufgestellt sind.
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Pophuren
„Wir Zwei“ aus Mainz covert die Songs In Indien nichts Neues
einer verlorenen Bandjugend In India Simulator geht es um kulturelle
von Jan Fischer Differenzen. Schmeckt, sättigt nicht.
Vorweg: „Wir Zwei“ lohnt sich allein schon wegen
von Khesrau Behroz
der zweistimmigen Akustik-Coverversion von
Radioheads „Creep“. Die Story geht so: Rob und In einem kleinen Raum mit wenig Luft ist jeder Mensch
Roland, zwei Jungs, die den Wert eines guten AC/DC- ein potentiell gesundheitsschädliches Moment und je-
Shirts kennen, hatten in der Schule eine Band, eine der Synapsen-Schulterschluss eine Bedrohung für das
von denen, die auf Träumen durch Provinzgigs glei- geistige Wohl. Sehr lobenswert also, wenn man einem
tet. Nach zehn Jahren wollen sie ein nostalgisches Kammerspiel beiwohnen kann, das diesen Umständen
Reunion-Konzert spielen. „Wir Zwei“ spielt im den nötigen Respekt zollt: „India Simulator“ vom Flinn-
Proberaum, es gibt immer wieder großartig geco- theater hat man rasch durchschaut, es geht eben um
verte Chart-Klopper aus den letzten zwanzig Jahren, kulturelle Missverständnisse, um Indien und Deutsch-
und das Publikum bekommt die Geschichte der Band land, um Gestik und Mimik, um das Aufeinanderschauen
und das Danach erzählt: Die Träume, den Schmerz, und das Übereinanderurteilen — alles in kleine Häpp-
die Trennung. Aber das ist nicht wichtig: Wichtig chen unterteilt. Das ist zwar nicht besonders nahrhaft,
ist, dass da zwei Jungs auf der Bühne quer durch man verlässt den Raum eher ungesättigt und mit den
die Popgeschichte Spaß haben, wichtig ist, dass sie Gedanken schon beim nächsten großen Mahl, aber
super Pophuren sind. Das sagen wir mit dem größten zumindest hat man zwei gut aufgelegte Schauspieler
Respekt. dabei beobachtet, wie sie von einem Klamauk zum
nächsten gesprintet sind. Klar, dass da irgendwann
auch mal die Luft wegbleibt.
serviert Getränke. Irgendwann läuft Morcheeba: Der wispert aus den Ecken des Raumes, ein Stimmenchor
fiese Mann ist der Typ hinterm DJ-Pult, er trennt sich formiert sich schließlich, um das Abtauchen tief in die
erstmal von seiner Freundin. So geht es weiter: Tren- Gewölbe des menschlichen Bewusstseins anzusagen,
nungen, Störungen, ein bisschen Lacan, ein Quentchen den Moment zu greifen, in dem Traum und Wirklich-
Foucault, ein Holocaust-Vergleich: Christiane Filla und keit beschließen, sich gegenseitig für eine Liebesnacht
Markus Frank sprechen die „Kurzen Interviews“ abzuschleppen. Das Publikum sitzt im Zentrum einer
—eigentlich Monologe unterschiedlicher Männer —mal Geschichte, in der das Bewusstsein ein schlüpfriges
zusammen, mal alleine, mal hinter dem DJ-Pult, mal Ding ist: Von Sequenz zu Sequenz werden wir von einem
auf dem Balkon, und bis auf einige Kostümwechsel Synapsenchor auf Märchenstaub-Speed unterhalten,
war es das eigentlich auch: Regisseurin Anna Schildt die mal koboldhaft, mal mit ethnologischem Drang, See-
inszeniert zurückgenommen. Zugegeben, die Monologe lenlandschaften der Wünsche und Träume erkunden.
werden teils in Dialoge aufgelöst, manchmal ist der Die Vorlage dient nur als grobes Motivgeflecht: O'Neills
fiese Mann eine fiese Frau — aber eigentlich schrammt expressionistischer Trip in die Gesellschaftsordnung
der Abend scharf an einer szenischen Lesung vorbei. eines Dampfers ist hier ein Ballett der Hirnströme. Kei-
Aber was solls: Es geht um das Verhältnis zwischen ne haarigen Heizer, sondern schwitzende Tänzer. Das
Männern und Frauen, und dieses „Hohoho, das kenne Publikum kann Orte auf Zettel schreiben, die die Cho-
ich!“ zusammen mit der Inszenierung destilliert das reografie beeinflussen. Es mutet zu Anfang ein wenig
Mario-Barthige aus David Foster Wallace — nur, dass wie eine Adaption der „Es war einmal das Leben“-
Mario Barth normalerweise nicht Foucault zitiert. Serie aus den Achtzigern und wird dann leichtes, atmo-
Schildt hat erkannt, dass man diese Texte einfach nur sphärisches Bewegungstheater. Eine Feier des neuro-
ohne zu stocken sprechen muss, damit sie knallen wie nalen Chaos.
Kaltstart
.. [ b i s t d u d u ] ?
Psy chotest - WER.
Oh weh ... es ist Kaltstart-Festival und du weißt nicht, Wer ist dein absoluter Held auf der Bühne?
welche Produktion du dir anschauen sollst? Fringe oder A - Ich finde viele der klassischen Figuren spannend. Sie
doch lieber Finale? Bist du mehr der Kaltstart-Pro-Typ berühen einfach einen gesamtgesellschaftlichen Kern. Aber
oder doch ein klassischer Youngster? Die KFZ- er- wenn ich mich festlegen muss: Hamlet.
leichtert dir die Qual der Wahl: Einfach den Psychotest D - Eine der komplexesten Figuren, die gleichzeitig Vergan-
machen. genheit nach- und die ganze Postmoderne vorschreibt, ist die
die Hamlet-Figur aus Müllers „Hamletmaschine“.
Es ist ein gemütlicher Sonntag, endlich Zeit zum Lesen. Was B - Ich häng nicht so an Figuren. Die Kids haben ihre ganz
nimmst du dir vor? eigenen Vorstellungen auf der Bühne, das find ich viel span-
A - Das Spielzeitheft! Die neue Saison startet bald. Eventuell nender.
schaue ich in den neuen Kehlmann, auch wenn die FAZ ihn C - Auch, wenn Rimini Protokoll schon fast Mainstream sind,
nicht so gut besprochen hat. finde ich immer noch die Experten des Alltags am geilsten.
B - Sorry, keine Zeit zum Lesen. Sonntags arbeite ich mit
Problemkids. Im Publikum erspähst Du Dein Traumgirl/Deinen Traumboy.
C - Ich surfe ne Weile auf Watchblogs. Und stecke immer Wie gehst Du auf sie/ihn zu?
noch in McLuhans „Understanding Media“ fest. Shit. A - „Sind Sie auch öfter hier?“
D - Erika Fischer-Lichte hält heute Nachmittag einen Vor- D - „Selbstredend ist mir bewusst, dass Geschlecht nur eine
trag. Darauf muss ich mich vorbereiten. Konstruktion ist, die durch die unserer Gesellschaft inne-
wohnenden ökonomischen und physisch-biologistischen
Stell dir die perfekte Bühne vor. Wie sieht sie aus?
Zwangsstrukuren paradigmatisch determiniert ist, aber,
C - Leer, ein Beamer.
äh ... ficken?“
A - Ich sehe ... eine von Anna Viebrocks phantastischen
B - „Bist Du auch mit jemandem von den Darstellern be-
Bühnenwelten. Christoph Marthaler begrüßt mich mit Hand-
freundet?“
schlag und führt mich auf meinen Stammplatz in der ersten
C - „Lust zu kiffen?“
Reihe ... Oh, hab ich geträumt?
B - Joar ... ein graffitibespraytes Laken ... in der Ecke ein
paar Requisiten aus Pappe oder so. Hauptsache selbstge-
macht. Mit diesem ganzen überfinanzierten Shit kann ich
nichts anfangen.
Platz. Abstraktion ist Deine Leidenschaft.
Was ist dein absoluter Lieblingsspielort? sind keine Fremdworte für dich. Im Gegenteil.
D - Meine Kommilitonen und ich wir bevorzugen Wodka, Du bleibst Deinem Stadttheater treu. Dort kannst Du Dich noch darauf
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KFZ
Auf der C ouch!
Ratgeber
Kaltstart
KFZ
Kolumne:
Affektierte
Venceremops! Effekte II
Von Jo Schneider
Eigentlich wollten wir an dieser Stelle ja immer „die Obercheckerin Alex M., als hätte sie selbst im Leben
Anderen“ verhohnepiepeln; die, die uns - der bo- jemals mehr besetzt als eine Toilettenkabine.
denständigen KFZ-Redaktion aus der Provinz - zu In diesem Stil geht es weiter: Ein handschriftlich ein-
manieriert, zu campy, zu gewollt, kurz: zu theatermä- gefügtes Binnen-I bei „HausbesetzerInnen“ sorgt für
ßig erscheinen; jene, die gerade hier - in der Schanze große Heiterkeit, der Satz „Jegliche Versuche selbst-
- den schmalen Grad verfehlen zwischen progressiver verwaltet zu leben werden im Keim erstickt“ erntet
Off-Kultur und „Kunstkacke für so Gentrifizierungs- eine Vielzahl an „Ooooh“s und „Eine Runde Mitleid“s.
schickiyuppielohadinknrollpeople“, wie es der Chef Die gefettete Signatur wird zielsicher als Angebot der
ausdrückt. Nun wissen wir: Wir sind die Schlimmsten autonomen Linken zum Liedermachen aufgefasst.
von allen, die herzlosesten und ironischsten PoMo- Das KFZ-Ukulelenorchester holt seine Instrumente
Wichser des ganzen Festivals. „Schaut euch das hervor, alle anderen ihre glockenhellen und von kei-
mal an“, grölt „Mr. Gonzo“ Jan II. In seinen Händen: nem antifaschistischen Kampf rau gewordenen Stim-
ein Din-A-5-Flyer. „Solidarität mit dem geräumten men. Eine schmalzige Joan-Baez-Gedächtnis-Kadenz
Hausprojekt Eichenstraße 9 in Wien“, buchstabiert (G-Emoll-C-D) ist schnell gefunden, alle singen:
Jan III die gefettete Überschrift, nur um direkt anzufü- „Doch wir sind viele und wir werden immer mehr,
gen: „Times New Roman geht ja mal gar nicht.“ je mehr wir gedrückt werden, um so entschlossener
„Wien ist mir entschieden zu weit weg für Solidarität“, werden wir wieder vor Euch stehen.“ Der Kater folgt
herzlost Redaktionszynikerin Clara E. fadenscheinig am nächsten Morgen. „Du, wir sollten uns echt ernst-
hinterher und beginnt zu lesen: „Seit dem Abend des hafter mit den internationalen Befreiungsbewegungen
2. Juli ist das Hausprojekt in dem bis dahin leer- auseinandersetzen“, sagt die Zonen-Linke Laura N.,
stehenden Gebäude in der Eichenstraße 9 eröffnet. während sie aktionistisch die Klotüren der Redakti-
Schon am 6.7.2010 forderte die Eigentümerin ÖBB onskommune aus den Angeln hebt. Bei der anschlie-
(Österreichische Bundesbahn) den freiwilligen Auszug ßenden Redaktionssitzung wird sodann einstimmig
bis Freitag früh.“ An dieser Stelle sind ihr die ersten der basisdemokratische Entschluss gefasst, die
Lacher sicher: „Wer ist denn so blöde und besetzt Rote Flora zu besetzen.
ein Haus von einer öffentlichen Institution?“, kichert Venceremops!
IMPRESSUM
Die Festivalzeitung KFZ zum KALTSTART HAMBURG 2010 wird herausgegeben vom
Kaltstart e.V.
Redaktion: Khesrau Behroz, Jan Berning, Stephanie Drees, Clara Ehrenwerth,
Jan Fischer, Alexandra Müller, Laura Naumann, Jan Oberländer (V.i.S.d.P.),
Johannes Schneider.
Auflage: 500.