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TITEL
Straßenkampf
Eltern, Schüler und Lehrer demonstrieren gegen die Bildungsreform in Hamburg. Die schwarz-grüne Regierung möchte eine
Kampf ums Gymnasium
Radikalreformer wollen den Bildungstempel zur
Einheitsschule
 umbauen, zugleich drängt eine immer schwierigere Klientel in die höchste Schulform. Das Abi wird entwertet
 
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F
OCUS
28/2010
19992008
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Gymnasium
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 Verteilung der Schüler auf die Schularten in Klassenstufe 8in den Jahren 1999 und 2008
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E
s gab eine Zeit, da war Mareile Kirsch ganz
auf der Linie jener, die sie heute erbittert bekämpft. Viele Jahre engagierte sich die Hamburger Hausfrau und Mutter zweier Gym-nasiasten als Mitglied der CDU im Bildungsaus-schuss. Das Thema lag ihr am Herzen – inzwi-
schen ist es der Grund, warum die 50-Jährige
ihrer Partei den Rücken gekehrt hat. Heute sieht man Kirsch auf Marktplätzen der Hansestadt stehen, sie spricht Passanten an und verteilt Flugblätter. Kirsch und ihre Mitstreiter, die meisten aus der bürgerlichen Mitte, schicken
sich an, die größte Schulreform in der Geschichte
der Hansestadt zu kippen – und den schwarz-grünen Senat von Bürgermeister Ole von Beust (CDU) womöglich gleich mit.Am 18. Juli stimmen die Hamburger darüber ab, ob ihre Kinder künftig sechs Jahre lang auf den vom Senat geplanten Primarschulen zusam-
menbleiben oder, wie bisher, nach der vierten
Klasse auf weiterführende Schulen wechseln. Das Gymnasium, fürchten die Reformgegner, verkomme so zur sechsjährigen „Rumpfschule“.
„Wenn zwei weitere Jahre wegfallen, wird den
Primarschule einführen, auf die alle Kinder gemeinsam bis zur sechsten Klasse gehen müssten
Neue Volksschule
Das Gymnasium besuchen inzwischen mehr Kinder und Jugendliche als jede andere Schulart
Höhere Bildungfür alle
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 -   M  a  g  a  z   i  n ,   M .   H  a  n  s  e  n   /  a  c   t   i  o  n  p  r  e  s  s
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Schülern noch mehr Stress zugemutet“, glaubt Aktivistin Kirsch. Schon jetzt gebe es wegen der Verkürzung auf acht gymnasiale Jahre bei ihrer
16-jährigen Tochter Tage, „an denen sie von mor-
gens acht bis abends acht in der Schule ist“. Er ist schicksalhaft, dieser Sonntag. Nicht nur für Ole von Beust und seine Koalition. Auch des-halb, weil die Bürger der Kaufmannsstadt darü-ber abstimmen dürfen, wie denn generell mit der höchsten deutschen Schulform zu verfahren sei. Das Gymnasium, einst der Deutschen heiligste
Bildungsikone, es soll geschliffen werden. Am Fundament presslufthämmern die Egalitätsro-
mantiker. Der Leistungsgedanke ist ihnen sus-
pekt, eine Einheitsschule soll die Eliteeinrich-tung ersetzen. Mindestens zwei Jahre wollen
sie dem Gymnasium für längeres gemeinsames Lernen abgraben. Von oben drückt rentenkassendienernder Re-formeifer – Abi bitte jetzt in zwölf Turbo-Jahren, egal zu welchem Preis. Zugleich drängt eine im-
mer schwierigere Schülerschaft in die vormals
heiligen Hallen, von Eltern geschubst, von der Wirtschaft gefordert. Und kaum ein Tag, an dem
nicht in irgendeinem Kultusministerium eine neue Reformidee zur Zwangsbeglückung und weiteren Verbürokratisierung des gymnasialen
Lehrbetriebs geboren wird. In Nordrhein-Westfalen will die neue rot-grü-ne Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft (SPD) ein Drittel der weiterführenden Schulen zu Gemeinschaftsschulen umbauen, in denen min-destens bis zur sechsten, wahlweise auch bis zur
zehnten Klasse gemeinsam gelernt wird – was der
Demontage vieler Gymnasien gleichkommt. Nach dem Willen der Reformer soll der Umbau möglichst unumkehrbar sein. Die Fraktionsvorsit-zende der Grünen, Sylvia Löhrmann, als Schulmi-nisterin in dem bevölkerungsreichsten Bundesland
avisiert, ist überzeugt, dass die „Zusammenführung
der Bildungsgänge nicht aufzuhalten sein wird“.
Bei den Linken steht das Gymnasium unter Privileg-Verdacht
Thüringen will die Gemeinschaftsschule auf freiwilliger Basis einführen, das Saarland die
Grundschule bis zur Fünften verlängern. In Ber-lin schafft der rot-rote Senat noch in diesem Jahr Real- und Hauptschulen zu Gunsten sogenann-ter Sekundarschulen ab, die Schüler zu allen Ab-
schlüssen führen – Abitur inklusive. Den Ansturm
auf das Gymnasium will man per Losverfahren
umverteilen. Auch weniger leistungsstarke Schü-
ler sollen auf diese Weise einen Platz an attrakti-
ven Abi-Schmieden erhalten, die sich bislang ihre
Schüler selbst aussuchen konnten.
Die Linken würden das unter Privileg-Verdacht
stehende Gymnasium gern durch eine Einheits-schule ersetzen. 17 Modellschulen erproben der-
zeit in der Stadt das gemeinsame Lernen bis Ende
der zehnten Klasse, ohne Sitzenbleiben, ohne
Bildungs-Stürmer
 Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust könnte am Widerstand gegen seine Schulpläne scheitern
 64
Prozent
der Eltern wünschen sich, dass ihr Kind auf das
Gymnasium geht.
 Nur drei Prozent würden frei-willig die Hauptschule wählen

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