Felder, Björn Michael: Lettland im Zweiten me und die folgende, mit Terror und umfang-
Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deut- reichen Deportationen einhergehende Sow-
schen Besatzern 1940-1946. Paderborn: Ferdi- jetisierung in Lettland – nicht nur in der
nand Schöningh Verlag 2009. ISBN: 978-3- Hauptstadt Riga. Hinterfragt wird in die-
506-76544-4; 404 S. sem Zusammenhang vor allem die sowjeti-
sche Rechtfertigungspropaganda, die bestrebt
Rezensiert von: Rayk Einax, Friedrich- war, Legitimität und Ordnung zu simulieren.
Schiller-Universität Jena Der sowjetische Einmarsch sei gerade unter
Nichtletten, das heißt den jüdischen und rus-
Erst war das Baltikum vor genau 70 Jah- sischstämmigen Einwohnern des Landes auf
ren Verhandlungsobjekt im Hitler-Stalin-Pakt, Zustimmung gestoßen. Vor allem diese eth-
und anschließend diente es als die Schau- nischen Minderheiten hätten die sowjetische
bühne der brutalen Auseinandersetzung zwi- Besatzer auf Grund unterschiedlicher Moti-
schen dem nationalsozialistischen und dem vationen zunächst für sich mobilisieren kön-
stalinistischen Regime. Dem Autor Björn Fel- nen. Dies führte zu einer augenfälligen Un-
der zufolge nahmen die von „nationalen terbesetzung der Partei- und Staatsorgane mit
Katastrophen“ (S. 15) heimgesuchten balti- Letten, wenn man den entsprechenden Mit-
schen Nationen jedoch kaum Unterschiede in gliedsstatistiken trauen kann. Im ethnischen
der Herrschaftspraxis der Okkupationsmäch- Verständnis Stalins bzw. der Bolschewiki ent-
te wahr. Beide Besatzer hatten totale gesell- wickelten sich Letten dagegen, neben anderen
schaftliche Umwälzungen samt der Mittel ih- Nationalitäten, schrittweise zu einer „Feind-
rer repressiven Umsetzung im Marschgepäck. nation“, was auch der in der Sowjetunion
Den neu an die Macht gekommenen Eliten, verbliebenen lettischen Bevölkerung in den
auf die beide ihre Herrschaft stützen konnten, 1930er-Jahren schmerzhaft bewusst gemacht
wurde hingegen die Selbstbestimmung wei- worden sei. Lediglich einige lettische Kom-
testgehend verweigert. Leidtragende der Auf- munisten, allesamt Sympathisanten der sta-
teilung Ostmitteleuropas sowie des anschlie- linistischen Ordnungsvorstellungen, dienten
ßenden Weltkrieges waren vor allem Zivilis- der Machtübernahme als Feigenblatt. Lett-
ten. land habe unter diesem Gesichtspunkt jeden-
In der vorliegenden Dissertationsschrift falls langfristig vor der Entwicklung zu einer
steht Lettland also als pars pro toto, das heißt, ethnisch separierten „sowjetischen Republik
es ist ein überaus anschauliches Beispiel für der Nichtletten“ (S. 99) gestanden.1
den von außen in die gesamte Region hin- Breiten Raum widmet der Autor den Er-
eingetragenen Furor ab 1939, der auch 1946 eignissen im „Jahr des Grauens“ 1940/412 ,
noch kein Ende fand. Der Vergleich zwischen denen im heutigen Lettland durchaus Quali-
der nationalsozialistischen und der stalinis- täten eines „Genozids“ bescheinigt werden.3
tischen Besatzungspraxis ist folgerichtig und Um politische Gegner verfolgen und po-
soll vor allem ethnische Raster in der Wahr- tentiellen Widerstand ersticken zu können,
nehmung des beherrschten Landes und den war die rechtzeitige Feinderkennung und
kolonialen Umgang mit der ansässigen Be- -vernichtung im stalinistischen Regime tradi-
völkerung sichtbar machen. Die „Okkupa- tionell von großer Bedeutung. Darunter fie-
tionen“ werden nicht zuletzt aus der Per- len eben auch pauschal verschiedene Ethni-
spektive der lettischen Bevölkerung sowie de-
ren Handlungsoptionen und -motiven dar- 1 Vgl. Daina Bleiere u.a. (Hrsg.), History of Latvia. The
gestellt. Der schnelle und unübersichtliche 20th Century, Riga 2006, S. 243-271.
2 Diese Bezeichnung ist auch Titel einer NS-
Wechsel der Herrschaft macht sinnfällig, dass
Propagandaschrift aus dem Jahr 1943, in der die
simple Täter-Opfer-Schablonen hierbei unge- sowjetischen Verbrechen in den Jahren 1940/41 ausge-
eignet sind. schlachtet werden sollten. Siehe: Das Jahr des Grauens.
Ausgehend vom Hitler-Stalin-Pakt und der Lettland unter der Herrschaft des Bolschewismus
anschließenden Kongruenz der Ereignisse 1940/41, hrsg. v. Paul Kovaļevskis u.a. Riga 1943.
3 Vgl. Markus Lux, „Das Jahr des Grauens“. Die Aus-
1939-1941 in Finnland, Estland, und Litauen einandersetzung mit der Vergangenheit in Lettland, in:
schildert Felder detailliert die Machtübernah- Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 807-
818.
ter Widerstand.6 Somit habe mit dem Sieg der suchung lettischer Erfahrungshorizonte unter
Sowjetunion der 2. Weltkrieg für Lettland am deutscher und sowjetischer Besatzungswill-
8. Mai 1945 noch lange nicht geendet, son- kür ist sie bis dato die zeitlich kompakteste
dern war lediglich Ausgangspunkt für erneu- und umfangreichste Darstellung.
ten Terror und für eine stetig zunehmende
Russifizierung der Gesellschaft. HistLit 2009-3-223 / Rayk Einax über Felder,
Die Ergebnisse der Studie bestätigen in vie- Björn Michael: Lettland im Zweiten Weltkrieg.
lerlei Hinsicht die Positionen der „Historiker- Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern
kommission Lettlands“ bzw. deren Publika- 1940-1946. Paderborn 2009, in: H-Soz-u-Kult
tionen.7 Dies gilt auch für den etwas infla- 23.09.2009.
tionären Gebrauch des Totalitarismusbegriffs,
ohne dass dies eingehender thematisiert wird.
Wenn aber durchweg und ganz beiläufig die
Rede von totalitären „Mächten“, „Okkupa-
tionen“, „Großmächten“, „Herrschern“ und
„Besatzungsregimen“ ist (zum Beispiel S. 15-
25), kommt der Leser hierzulande ohne eine
ausreichende Definierung oder Kontextuali-
sierung schon ein wenig ins Grübeln. Auffäl-
lig ist zudem die durchgängige Verwendung
der deutschen Ortsnamen (zum Beispiel Ro-
sitten statt Rēzekne), auch wenn es in Lettland
zu diesem Zeitpunkt kaum noch Deutschbal-
ten gab, und dies im sowjetischen Kontext erst
recht etwas seltsam anmutet. Gelungen sind
die vielfachen Querblenden auf das Schick-
sal der anderen baltischen Staaten oder auf
die gesamte Sowjetunion, deren Bevölkerung
in eben diesen Jahren gleichfalls unter Ter-
ror und Deportationen zu leiden hatte. Kom-
plettiert wird der Band von einigen Schwarz-
Weiß-Fotografien.
Um bei dem insgesamt wohlwollenden Fa-
zit zu bleiben: Im Vergleich zu den anderen
baltischen Ländern liegt mit dieser Monogra-
fie eine aufwändig quellenrecherchierte Stu-
die vor. Gerade durch die symbiotische Unter-
6 Vgl. Bleiere u.a. (Hrsg.), History, S. 323-371.
7 Vgl. The Hidden and Forbidden History of Latvia un-
der Soviet and Nazi Occupations 1940-1991. Selected
Research of the Commission of the Historians of Lat-
via, hrsg. vom Institute of the History of Latvia, Uni-
versity of Latvia, Riga 2005; zum Thema 2. Weltkrieg
und die aktuelle Erinnerungskultur in Lettland siehe
u. a. Latvijas Okupācijas Muzejs. Latvija zem Padomju
savienı̄bas un nacionālsociālistiskās Vācijas varas 1940-
1991, Museum of the Occupation of Latvia. Latvia un-
der the Rule of the Soviet Union and National Socialist
Germany 1940-1991, Rı̄ga 2002; Eva-Clarita Onken, De-
mokratisierung der Geschichte in Lettland. Staatsbür-
gerliches Bewusstsein und Geschichtspolitik im ersten
Jahrzehnt der Unabhängigkeit, Hamburg 2003; dies.,
Wahrnehmung und Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg
in Lettland nach 1945, in: Mythen der Nationen. 1945 –
Arena der Erinnerungen, hrsg. von Monika Flacke, Bd.
2, Mainz 2004, S. 671-692.