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SEHEPUNKTE - Ausgabe 9 (2009), Nr. 6 - Kommentar zu Rezension v... http://www.sehepunkte.de/2009/06/kommentar/bogdan-musial-ueber-re...

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Kommentar
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Bert Hoppe: Rezension von: Bogdan Musial: Kampfplatz
Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen, Berlin /
München: Propyläen 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1
[15.01.2009], URL: http://www.sehepunkte.de/2009/01/15397.html

Von Bogdan Musial

Im Januar 2009 erschien in sehepunkte die Rezension von Bert Hoppe über mein
Buch "Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen" (Berlin
2008). Hoppe erhob darin in einem - milde formuliert - polemischen Ton schwere
Vorwürfe, insbesondere hätte ich "selektive Literatur- und Quellenrezeption"
vorgenommen, um meine These über sowjetische Kriegsvorbereitungen zu belegen.

Ich vertrete nämlich die These, dass sich Stalin und seine Genossen ab 1927/28 auf
einen ideologisch bedingten Eroberungskrieg vorbereitet haben. Die gesamte
sowjetische Innen- und Außenpolitik war ab 1927/28 nur diesem einen Ziel
untergeordnet, der ideologisch bedingten Expansion, so die These meines Buches.
Im September 1939 gingen Stalin und seine Genossen dazu über, diese "offensive
Politik" in der Praxis zu realisieren, wie es Schdanow und Malenkow, enge
Vertraute Stalins, am 4. Juni 1941 formulierten (S. 448 f.).

Diese Thesen habe ich mit zahlreichen von mir angeführten Quellen belegt, u. a. mit
Äußerungen Stalins und seiner engsten Vertrauten, die man kaum anders deuten
kann, wie beispielsweise mit der Rede von Lew Mechlis (dem damaligen Chef der
politischen Verwaltung der Roten Armee) vom 10. Mai 1940, die ich auf Seite 421
anführe. Mechlis erklärte dort: "Unser Krieg mit der kapitalistischen Welt wird ein
gerechter, progressiver Krieg sein. Die Rote Armee wird aktiv operieren, die totale
Zerschlagung und Vernichtung des Feindes anstreben, die militärischen Aktivitäten
auf das Territorium des Gegners verlegen. [] Die Rede ist von aktiven Handlungen
des siegreichen Proletariats und der Werktätigen [], von solchen Handlungen, in
denen die Initiative für den gerechten Krieg unser Staat und seine Arbeiter- und
Bauern-Rote-Armee ergreifen." Leider überging Hoppe diese von mir angeführten
Quellen in seiner Rezension.

Hoppe stellt nicht in Frage, dass die Sowjetunion mit Stalin an der Spitze ab
1927/28 massiv aufrüstete und dass im Jahre 1930 diese Aufrüstung enorme
Dimensionen annahm. Unbestritten ist jedoch, dass damals der UdSSR keine
Kriegsgefahr drohte, die diese enorme Aufrüstung hätte rechtfertigen können.
Hoppe behauptet aber, dass der Grund für die massive Aufrüstung wie auch für den
Massenterror der 1930er Jahre in der angeblichen Kriegsparanoia Stalins und seiner
Genossen zu suchen sei. Er schreibt: "[] - ohne Kenntnis dieser paranoiden Furcht
vor äußeren und inneren Feinden lässt sich die Dynamik des stalinistischen Terrors,
lassen sich die Massenmorde an vermeintlichen 'Volksfeinden' und die Deportationen
'feindlicher nationaler Minderheiten' nicht erklären."

Ich habe das Problem der sowjetischen Propaganda bezüglich der Kriegsbedrohung
in meinem Buch ausführlich besprochen (S. 197-203), was jedoch Hoppe ignoriert.
Die imaginäre Kriegsgefahr instrumentalisierten Stalin und seine Anhänger aber, um
"innere Feinde" zu bekämpfen, die Partei zu mobilisieren und eben die massive
Aufrüstung zu rechtfertigen.

Wenn Stalin und seine Genossen tatsächlich an Kriegsgefahr geglaubt hätten, hätten
sie die Abrüstungsgespräche in der zweiten Hälfte 1920er Jahren nicht torpedieren
lassen, worauf ich ausdrücklich verweise (S. 195-199). Auch geheimdienstliche
Berichte, die in den 1920er und 1930er Jahren auf Stalins Schreibtisch landeten,
warnten zu diesem Zeitpunkt vor keiner Kriegsbedrohung, im Gegenteil. Ein Teil
dieser Berichte ist bereits veröffentlicht, andere werden bald publiziert, wieder
andere sind in den einschlägigen Archivbeständen zu finden, die ich bei Recherchen
für mein Buch ausgewertet habe.

Ferner schreibt Hoppe: "Seine [Musials] Literaturbasis ist nämlich recht schmal und
teilweise grotesk veraltet, zentrale Bücher zu seinem Thema hingegen -

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insbesondere Gabriel Gorodetskys im Jahr 2001 auch auf Deutsch erschienene,


bahnbrechende Studie 'Die große Täuschung' über Stalin und den deutschen Überfall
auf die Sowjetunion - tauchen bei ihm überhaupt nicht auf."

Allerdings suchte sich Hoppe mit dem Buch von Gorodetsky ein denkbar schlechtes
Beispiel aus, um seinen Vorwurf zu 'untermauern'. Selbstverständlich kenne ich die
Arbeit von Gorodetsky, sie ist jedoch recht veraltet und die darin dargelegten
Thesen teilweise kurios. [1] Die Hauptthese von Gorodetsky, die mein Buch
tangiert, lautet (S. 27): "In den dreißiger Jahren setzte er [Stalin] im Wesentlichen
auf kollektive Sicherheit, da er bestrebt war, Russland vor einem verheerenden
Krieg zu schützen, bis er gegen Ende des Jahrzehnts den Glauben an eine solche
Möglichkeit verlor."

Den sowjetischen Überfall auf Finnland bezeichnete Gorodetsky hingegen als den
erfolgreichen Versuch, Finnland den Frieden aufzuzwingen, um damit "die
russischen Sicherheitsarrangements in der Ostsee" auszubauen. Wortwörtlich (S.
57): "Nachdem Stalin Finnland den Frieden aufgezwungen und damit die russischen
Sicherheitsarrangements in der Ostsee ausgebaut hatte " Gorodetsky verzichtete
jedoch zugleich darauf, auf den sowjetischen Überfall auf Finnland näher
einzugehen.

Ähnliches schreibt Gorodetsky über das Vorgehen Stalins gegen Rumänien (S. 55):
"Die Besetzung Bessarabiens und der Nordbukowina in den letzten Junitagen des
Jahres 1940 ist vor allem auf das russische Streben nach Sicherheitsarrangements
auf dem Balkan und an der Schwarzmeerküste zurückzuführen, und weniger auf
unstillbare Eroberungsgelüste, wie es in der Literatur häufig dargestellt wird."
Solche Beispiele für die recht sonderbare Interpretation der sowjetischen
Außenpolitik in der "bahnbrechenden" Arbeit von Gorodetsky könnte ich noch
zahlreich anführen.

Ein Problem ist aber, dass selbst die engen Vertrauten Stalins intern den Überfall
auf Finnland keineswegs als defensive Maßnahme (also Aufzwingen des Friedens,
wie Gorodetsky schreibt) darstellten. So erklärte beispielsweise Schdanow am 4.
Juni 1941 in der bereits angeführten Sitzung des Kriegsrates (in meinem Buch auf
Seite 448 nachzulesen): "Die Kriege gegen Polen und Finnland waren keine
Verteidigungskriege. Wir haben den Weg der offensiven Politik bereits
eingeschlagen." Mit offensiver Politik meinte Schdanow ohne Zweifel den
revolutionären Eroberungskrieg. Auf Seite 416 schrieb ich in diesem
Zusammenhang: "Erstaunlicherweise wird diese sowjetische Propagandaparole [der
Überfall auf Finnland als defensive Maßnahme] noch heute auch in der westlichen
Forschung ernst genommen."

Gorodetsky kannte die von mir zahlreich angeführten Quellen und Aussagen nicht,
die seine Thesen von der angeblich pazifistischen Politik Stalins widerlegen.
Dennoch bin ich der Auffassung, dass die bis dahin bekannten Fakten hätten
ausreichen müssen, um die Parole der sowjetischen Propaganda vom pazifistischen
Charakter der Außenpolitik Stalins (dem Aufzwingen des Friedens) vor Juni 1941
nicht zu wiederholen.

Außerdem scheint Hoppe nicht zu begreifen, dass jeder Autor, der ein breites und
vielschichtiges Thema in einem Buch von begrenztem Umfang behandelt, eine
bestimmte Auswahl an Fachliteratur vornehmen muss. Daher heißt die Bibliografie,
die am Ende meines Buches zu finden ist, auch Auswahlbibliografie. Und im Buch
"Kampfplatz Deutschland" behandle ich die sowjetische Geschichte von 1919 bis zum
Juni 1941, wobei militärische, wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte
besprochen werden. Dabei habe ich umfangreiche bis dahin nicht erschlossene oder
im Westen unbekannte Archivbestände ausgewertet. Vor diesem Hintergrund ist es
hoffentlich nachvollziehbar, dass ich mich entschloss, auf eine gesonderte und
detaillierte Auseinandersetzung mit "bahnbrechenden" Arbeiten wie der von
Gorodetsky, von denen es doch ziemlich viele gibt, zu verzichten.

Anmerkung:
[1] Gabriel Gorodetsky, Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen
"Barbarossa", Berlin 2001.

REPLIK
Von Bert Hoppe

Bogdan Musial Replik zeichnet sich durch das gleiche eigenartige Verständnis von
Quellenkritik und durch die gleiche Voreingenommenheit aus, wie schon sein Buch

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"Kampfplatz Deutschland". Bezeichnend ist in beiden Texten der häufige Gebrauch


suggestiver Wendungen wie "ohne Zweifel" und "kann nicht anders interpretiert
werden". Allerdings lassen sich auch die angeblichen Schlüsseldokumente, auf die
Musial in seiner Replik hinweist, sehr wohl auch "anders" interpretieren.
Daher werde ich mich zunächst kurz mit den beiden in der Replik hervorgehobenen
Quellen befassen, dann auf Musials Ausführungen zur vermeintlich nur vorgespielten
Kriegsfurcht Stalins eingehen und mich zum Schluss zu seinen erstaunlichen
Ausführungen zur Literaturauswahl äußern.

1. Angriffsplanung?
Es ist nicht nur wichtig, was gesagt oder geschrieben wird, sondern auch wann, wo,
zu wem und in welchem Kontext dies geschieht. Musial blendet dies völlig aus.
Schdanow und Malenkow haben am 4. Juni 1941 über die "parteipolitische Arbeit in
den Reihen der Roten Armee" gesprochen - über die konkreten militärstrategischen
Planungen der bolschewistischen Führung sagen ihre Worte somit nichts aus.
Allerdings erlauben Schdanows Worte Rückschlüsse auf die damaligen Sorgen des
Kremls. Denn es ist bemerkenswert, was er bei dieser Gelegenheit zur wichtigsten
Aufgabe der Propaganda in der sowjetischen Armee erklärte: "Die Legende über die
Unbesiegbarkeit der deutschen Armee ist bloßzustellen." Die Rotarmisten scheinen
also nicht wirklich angriffslustig gewesen zu sein. Kein Wunder: Es waren damals ja
auch gerade einmal sechs Wochen vergangen, seit die Wehrmacht Jugoslawien in
einem nur elftägigen Feldzug unterworfen hatte. Und seit Hitlers Sieg auf dem
Balkan berichteten Informanten des sowjetischen Geheimdienstes fast täglich
davon, dass sich die deutsche Kriegsmaschinerie nun in Richtung deutsch-
sowjetischer Demarkationslinie bewegte. Wenn Schdanow also in dieser Situation
im Kriegsrat die Parole ausgab "Wir sind stärker geworden, wir können uns
offensiven Aufgaben stellen", dann gab er damit lediglich vor, mit welchen
Argumenten die Moral der eigenen Truppen angesichts des sich abzeichnenden
deutschen Angriffes gestärkt werden sollte. Das war das sprichwörtliche Pfeifen im
Walde, keine Offensivplanung. Ein ähnliches Anliegen hatte auch Lew Mechlis, der
ehemalige Chefredakteur der "Pravda", im Jahr zuvor verfolgt, als er am 10. Mai
1940 über die sowjetische Kriegsideologie sprach. Im Monat zuvor hatte die
Wehrmacht Dänemark und Norwegen besetzt: Ist es da wirklich überraschend, dass
auch er darüber schwadronierte, die Rote Armee könne im Kriegsfalle "die
militärischen Aktivitäten auf das Territorium des Gegners verlegen" und diesen dort
vernichten? Was sollte er als Chefpropagandist denn sonst sagen? Über Stalins
vermeintliche Pläne für einen Angriff sagt auch diese Quelle nichts aus, im
Gegenteil: Offensichtlich ging Mechlis von einem Angriff gegen die Sowjetunion aus
- schließlich kann man einen Krieg nur dann auf das Territorium des Gegner
"verlegen", wenn dieser zuvor auf dem eigenen Territorium begonnen hat.

2. Vorgespielte Kriegsfurcht?
Bogdan Musial schreibt, die vermeintliche Kriegsgefahr sei von den Bolschewiki für
Propagandazwecke erfunden worden; sie selbst hätten nicht daran geglaubt (S.
199). Es bleibt rätselhaft, wie er zu dieser Aussage kommt, da selbst die einzigen
beiden Dokumente, die Musial in seinem Buch zu dieser Frage zitiert, das Gegenteil
aussagen:
Dserschinski an Stalin am 11. Juli 1926: "Eine ganze Reihe von Hinweisen zeigt ohne
Zweifel (für mich) und in voller Deutlichkeit, dass sich Pilsudski auf einen Überfall
auf uns vorbereitet, um Weißrussland und die Ukraine von uns zu trennen." (S. 198)
Stalin an Kaganowitsch am 11. August 1932: "Wenn wir die Verbesserung der Lage
in der Ukraine [durch die Säuberung des Parteiapparates] jetzt nicht in Angriff
nehmen, dann können wir die Ukraine verlieren. Vergessen Sie nicht, dass Pilsudski
nicht schläft [...]." (S. 199)

Es gibt weitere derartige Dokumente aus der Korrespondenz des engeren


Führungskreises, einen dieser Briefe habe ich in meiner Rezension zitiert. [1] Für
Stalin selbst und seine Gefolgsleute war die Kriegsgefahr also keinesfalls "imaginär"
- er war ebenso davon überzeugt, dass der Sowjetunion eine ausländische
Intervention drohe, wie er von der Allgegenwart von Spionen und Saboteuren in der
Sowjetunion ausging. Diese Erkenntnis lässt die These, Stalin habe jahrzehntelang
für einen "revolutionären Eroberungskrieg" gerüstet, überaus zweifelhaft
erscheinen - zumal es verwundert, dass Stalin die Revolution gleich nach der
vierten Teilung Polens ausgerechnet in die Waldgebiete Kareliens tragen wollte.

Es wird nicht ganz klar, warum Bogdan Musial die Worte Mechlis' vom 10.5.1941,
Stalins vom 5.5.1941 und Schdanows vom 4.6.1941 für bare Münze nimmt, in die
beiden oben zitierten Briefe von Dserschinskij und Stalin hingegen das Gegenteil
ihres Wortlautes hineininterpretiert. Man gewinnt den Eindruck, Musials
Quellenkritik beschränke sich auf ein einziges Kriterium: Stützt eine Aussage seine
These, so wurde in der Quelle Klartext gesprochen, widerspricht sie hingegen

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seiner These, so handelt es sich um Propaganda. Auf die gleiche Weise kehrt Musial
auch Stalins Losung vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land", mit der er sich
gegen Trotzkis Konzept des fortgesetzten Revolutionsexportes absetzte, kühn in ihr
Gegenteil um: Jedesmal, wenn in den Quellen vom "Aufbau des Sozialismus" die
Rede ist, schiebt Musial seinen suggestiven Hinweis hinterher, dass damit eigentlich
die Vorbereitungen für den revolutionären Eroberungskrieg gemeint seien (z.B. S.
190, 215). Sein zentraler Beleg für diese Gleichsetzung ist ausgerechnet die
Resolution des XV. Parteikongresses, in der Stalin versicherte, die Weltrevolution
sei nur aufgeschoben, nicht aufgehoben, und man werde dem Westen bei
Gelegenheit kräftig auf's Haupt schlagen (S. 187). Was sollte der Diktator denn
auch anderes sagen, wenn er im Machtkampf mit Trotzki seine revolutionäre
credibility nicht aufs Spiel setzen wollte?

3. Literaturauswahl
Natürlich ist begreiflich, dass kein Forscher die komplette Literatur zu seinem
Thema rezipieren kann. Aber es fällt eben schon auf, wenn in der Bibliografie zu
einem Buch über "Stalins Kriegspläne gegen den Westen" zwar Jung Changs und Jon
Hallidays Mao-Biografie auftaucht, nicht aber eines der wichtigsten Bücher zur
Präventivkriegsthese. Auch das zentrale Werk von David M. Glantz zur Roten Armee
am Vorabend des Zweiten Weltkriegs fehlt. [2]

Vor diesem Hintergrund erstaunt Musials offene Weigerung, sich mit Büchern wie
dem von Gorodetsky, "von denen es doch ziemlich viele gibt", auseinander zu
setzen. Vielleicht reicht für den Anfang von den vielen ja wenigstens eines? Man
darf von einem Historiker nämlich durchaus erwarten, dass er nicht nur die
Literatur rezipiert, welche die eigenen Thesen stützt - schließlich ist es für die
Leserschaft durchaus erhellend, wenn bei strittigen Punkten nicht nur einfach "die"
bisherige oder "die" westliche Forschung abgewatscht wird, sondern Argumente
vorgebracht werden.

Man sollte bei allem berechtigten Stolz über die eigenen Quellenfunde zudem nicht
vergessen, dass auch andere Historiker in Archiven forschen - und dort zuweilen
sogar Dokumente finden, die einem selbst entgangen sind oder an die man nicht
herankommt. Es ist in dieser Beziehung gerade die beeindruckend breite
Quellenbasis von Gorodetskys Buch, die seine Studie zumindest als "Steinbruch"
unerlässlich macht - mag man von seinen Thesen auch halten, was man will
(wenngleich ihm kaum zu unterstellen ist, er halte Stalin für einen "pazifistischen"
Politiker).

Nicht zuletzt schützt eine gründliche Literaturrecherche vor Neuentdeckungen (und


vor Hochmut). So läßt sich beispielsweise die der "bisherigen Forschung" angeblich
unbekannte Tatsache, dass Stalin zu Beginn der 1930er Jahre in den sowjetischen
Grenzgebieten umfangreiche "ethnische Säuberungen" vornehmen ließ, schon seit
2001 in Terry Martins (breit rezipiertem) Buch "The Affirmative Action Empire"
nachlesen. [3]

Ganz so einsam bei der Erforschung stalinistischer Massenverbrechen ist Bogdan


Musial nicht.

Anmerkungen:
[1] Brief Stalins an Geheimdienstchef Menzhinskij, o.D. (nach dem 2.10.1930),
Abdruck in: Larissa Koshelova, u.a. (Hg.): Pis'ma I. V. Stalina V. M. Molotovu.
1925-1936 gg., Moskau 1995, S. 187f. Obwohl Musial die deutsche Ausgabe dieser
Edition benutzt hat, geht er in seinem Buch auf dieses Dokument nicht ein.
[2] David M. Glantz: Stumbling colossus. The Red Army on the eve of World War,
Lawrence, Kan. 1998.
[3] Zu finden im Kapitel 8 "Ethnic Cleansing and Enemy Nations", in: Terry Martin:
The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union.
1923-1939, Ithaca, N.Y. 2001, S. 311-343.

issn 1618-6168 / www.sehepunkte.de

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