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[Beitrag für espero, März 2010.

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Keine Macht für Niemand!


Zur Erinnerung an die friedliche Revolution in der DDR 1989/90

Ostberlin, 4. November 1989. Mehr als eine halbe Million Menschen demonstrieren auf dem
Alexanderplatz gegen das SED-Regime für Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit. Es ist
die größte frei organisierte Massendemonstration, die die Deutsche Demokratische Republik
jemals erlebt hat, und sie markiert ihren historischen Wendepunkt.

Das Machtgefüge der SED-Diktatur, in der die Macht der Mächtigen auf der Ohnmacht der
Ohnmächtigen beruhte, war im Herbst 1989 aus dem Lot geraten. Immer mehr Menschen waren
das erniedrigende Schweigen und Dulden leid und leisteten mit friedlichen Mitteln Widerstand.
Dem hatte das politische System, das mehr als vier Jahrzehnte lang das Leben seiner Bürger
kontrolliert und reglementiert hatte, nichts mehr entgegenzusetzen. Von da ab ging es für das
SED-Regime nur noch abwärts. Genaugenommen implodierte es, sein Herrschaftsapparat brach
einfach in sich zusammen. Das war seltsam und in der jüngeren Geschichte Europas ein bis dahin
einzigartiges Phänomen. Niemand war mehr da, der die Macht mit aller Macht verteidigen wollte
und noch seltsamer war: Niemand mehr wollte die Macht haben, eine Zeitlang zumindest schien
es so.

Eine Gruppen von Anarchisten aus Weimar auf der historischen Demo vom 4. November 1989. © Günter Blutke, Berlin 2009

„Keine Macht für Niemand!“, diese Losung propagierten einige Anarchisten aus Weimar auf der
historischen Demo in Ostberlin am 4. November 1989 auf einem bettlakengroßen schwarzen
Tuch. Auf einem weiteren Spruchband forderten sie die „Veröffentlichung sämtlicher Werke von
M. Bakunin und Erich Mühsam“. Anarchisten sind Büchermenschen und das macht die Forderung
der ostdeutschen Anarchisten plausibel. Andere Demonstranten forderten: „Die Ostsee frei für
Surfer und Segler!“. Jeder forderte das, was er sich am sehnlichsten wünschte.

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Die Losung „Keine Macht für niemand!“ trifft allerdings den anarchischen Kern der friedlichen
Revolution in der DDR 1989/90. Denn noch ehe die bundesrepublikanische Ordnung auf dem
Territorium der Ex-DDR zur neuen herrschenden Ordnung wurde, hatte die widerständische
Gesellschaft der DDR-Bürger begonnen, ihr Leben selber zu organisieren. Mit grimmiger
Entschlossenheit und auch heiter lachend setzte man die alten Gesetze de facto außer Kraft. Neue
gab es noch nicht. Anarchie, also eine Ordnung ohne Herrschaft, war an der Tagesordnung.
Plötzlich war machbar, was lange undenkbar schien: Man entmachtete Bürgermeister und
Betriebsdirektoren, verweigerte Befehle, gründete Gegengewerkschaften, besetzte
Geheimdienstzentralen, belagerte Kasernen und jagte die Stasi davon. Freie Schulen wurden
gegründet und Gefangene, Journalisten, Matrosen und Soldaten organisierten sich in Räten.

Stell Dir vor, es ist Anarchie und kein Anarchist bekommt es mit!

Die Geschichte dieser anarchischen Basisbewegung innerhalb der friedlichen Revolution der DDR
ist von der Linken in Westdeutschland so gut wie nicht wahrgenommen und reflektiert worden,
und dieses Manko gilt auch für den Großteil der westdeutschen Anarchisten. Zu sehr stand die
westdeutsche Linke unter dem Schock der sich anbahnenden staatlichen Wiedervereinigung
Deutschlands. „Anarchie statt Deutschland!“ war die Forderung der westdeutschen Anarchisten.
Dass gerade im anderen Teil Deutschlands die Anarchie ausgebrochen war, haben sie damals
schlichtweg nicht mitbekommen. Stattdessen starrten sie entsetzt auf die „Bühne“ der
innerdeutschen und internationalen Politik, auf der mit großem Tamtam die Wiedervereinigung
Deutschlands inszeniert wurde, und konnten so nicht erkennen, was sich unten im
„Orchestergraben“ tat. Dort unten, wo die eigentliche Musik der revolutionären Veränderungen
spielte, an der Basis der DDR-Gesellschaft, bildeten sich in den Monaten nach dem
Zusammenbruch des alten SED-Regimes eine Vielzahl von freien Initiativen und Organisationen
heraus, für die die Ablehnung von Macht und Hierarchien durchaus typisch war. „Wir waren alle
ausgesprochen machtmufflig“, erinnert sich der Physiker und Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil.1
Dass diese anarchische Tendenz der friedlichen Revolution in der DDR von den meisten West-
Anarchisten nicht wahrgenommen wurde, ist eine Ironie der Geschichte. Aber so ist das:
Anarchisten sind Experten für Anarchismus, nicht jedoch Experten für Anarchie.

Als in der Zeit des Zusammenbruchs des DDR-Regimes die staatlichen und betrieblichen
„Leitungskader“ nicht mehr das Rückgrat hatten, noch irgendeine Entscheidung zu fällen, da
entschied man eben selber – als Einzelner und in der Gruppe. Was sollte man machen. Irgendwie
musste es weitergehen, und Anarchie als Ordnungsprinzip entsteht quasi von selbst. Dabei
erlebte man, dass man sich durchaus ohne neue Chefs organisieren und ohne hierarchische
Entscheidungsstrukturen erfolgreich die Dinge umsetzen konnte, die man für sinnvoll hielt.

Diese Anarchie der Umbruchzeit war eine beeindruckende Erfahrung, die bei allen, die sich
damals in den entstehenden Freiräumen engagiert haben, starke und überwiegend positive
Erinnerungen hinterlassen hat. „Damals waren ja alle total wuselig und ununterbrochen
unterwegs“, erinnert sich die Schauspielerin Jutta Wachowiak, die zu den Initiatoren der
Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz gehörte. „Man wusste ja

1
Sebastian Pflugbeil. Das Vergehen eines Ministers, in: Christoph Links, Sybille Nitsche und Antje Taffelt:
Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams 1989/90. Berlin: Ch. Links Verlag,
2009 (2. Aufl.), S. 135.
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überhaupt nicht, wo oben und unten ist und wo zuerst anfangen und als Letztes aufhören. Das
war ja wirklich äußerst intensiv und turbulent. Man begriff, das ist hier Geschichte, und dann
fühlte es sich aber doch irgendwie so normal an. Also das war ein seltsames Gemisch damals.“2

Rätedemokratie beim Rundfunk der DDR

Nahezu alle Bereiche der Gesellschaft und Wirtschaft der DDR wurden im Herbst 1989 von dieser
Anarchie erfasst. So auch der Rundfunk der DDR, der ebenso wie die Presse des Landes dem SED-
Regime als „kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator“ gedient hatte. Wer in der DDR
Journalist werden sollte, das hatte bis in den Herbst 1989 hinein die Partei bestimmt. Das Klima in
den meisten Redaktionen war schlecht. Es herrschten die Bräuche von Unterwerfung und
Anpassung, ständig lauerte das Misstrauen, immerfort gab es die Bereitschaft zur Denunziation:
Dies nannte sich Wachsamkeit und galt als revolutionäre Tugend. Im Redaktionsalltag gab es
keinen Raum für ein individuelles Hinterfragen der Arbeit. So verwundert es nicht, dass die DDR
nicht einmal eine amtliche Zensurbehörde brauchte. Die "Schere in den Köpfen" der Journalisten
und Publizisten arbeitete weitgehend automatisch und im Sinne der Systemerhaltung fast perfekt.

Vor diesem Hintergrund waren die Veränderungen erstaunlich, welche im Herbst 1989 beim
Rundfunk der DDR stattfanden. Am 11. November 1989, eine Woche nach der großen
Demonstration vom 4. November auf dem Alexanderplatz, bei der von fast allen Rednern eine
deutlich andere Medienpolitik gefordert worden war, trat das staatliche Rundfunkkomitee
geschlossen zurück. Da auch der Ministerrat vier Tage zuvor zurückgetreten war, sollte die neu zu
bildende Regierung über die neuen Leitungsstrukturen im Rundfunk entscheiden. Bis dahin aber
existierte beim Rundfunk eine Art Doppelherrschaft, die, da niemand die Macht ausüben wollte,
genaugenommen ein Machtvakuum war. Zwar bezogen die alten Intendanten und
Redaktionsleiter weiter ihre Gehälter, aber sie erschienen teilweise nicht mehr zum Dienst oder
verweigerten die „Abnahme“ von Sendebeiträgen. So bildeten sich auch beim Rundfunk spontan
Räte, die als Redakteursräte den Mediengiganten mit seinen rund 3.700 Mitarbeitern in fünf
Sendern monatelang erfolgreich managten. Der Regisseur und ehemalige Kameramann Peter Hill
erinnert sich: „Bedingung war, dass keine SED-Funktionäre und früheren Chefs dabei sein durften.
Jeder konnte sich einbringen, wenn ihn denn die Kollegen akzeptierten und in den Redakteursrat
wählten. Dort wurden dann die Themen ausgewählt und Programme verabredet, anschließend
informierten wir die Intendanten und Chefredakteure darüber.“3

Die Initiative zur Gründung der Redakteursräte im DDR-Rundfunk ging von der Hauptabteilung
Außenpolitik aus, wo man schon immer etwas weltoffener war. Es folgte das Jugendradio DT 64,
wohingegen in der „Stimme der DDR“ mancher noch glaubte, ein „gutes“ Bild vom Lande nach
außen vermitteln zu müssen und vieles spürbar langsamer lief.

Nach und nach bildeten sich in allen größeren Bereichen des DDR-Rundfunks derartige Räte, die
sich untereinander vernetzen und einen informellen Rat der Räte bildeten. Als am 1. Dezember
1989 trotz mancher Proteste der bisherige Chefredakteur der Hauptabteilung Nachrichten,

2
Zit. nach Matthias Eckoldt: Zeit der Träume. Die DDR Anfang November 1989, Sendung „MerkMal“vom
8.11.2004 im Deutschlandradio Berlin. Direktlink zum Sende-Mskr.:
http://www.dradio.de/dlr/sendungen/merkmal/319024/.
3
Zit. in Christoph Links: Redakteursräte und Doppelherrschaft, in: Das wunderbare Jahr der Anarchie,
o.a.O., S. 75.
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Manfred Klein, von der neu berufenen Modrow-Regierung zum Generalintendanten des
Rundfunks ernannt wurde, blieb diesem nichts anderes übrig, als die in der Zwischenheit
entstandenen Redakteursräte zu akzeptieren und in sein Leitungskonzept zu integrieren. Ab dem
4. Dezember 1989 fanden schließlich in allen Sendern offizielle Wahlen zu den Redakteursräten
statt, die die Direktion als „Organe der Mitbestimmung und Kontrolle“ anerkennen musste. Die
Redakteursräte gaben sich selbst ihr Statut und ihre Wahlordnung. Am Aufbau neuer Hierarchien
hatte zu dieser Zeit niemand Interesse: „Innerhalb des zwölfköpfigen Redakteursrates wollte
niemand den Vorsitz übernehmen. Von Vorsitzenden hatten wir endgültig genug“, erinnert sich
Peter Hill. „Wir haben dann einen Sprecher gewählt, das wurde Michael Bajohr, Redakteur in der
Politikredaktion. Ich wurde zunächst Sekretär und übernahm später die Öffentlichkeitsarbeit, um
interessierte Kollegen vor allem der Westberliner und westdeutschen Presse zu informieren, die
sich zu dieser Zeit sehr dafür interessierten, was bei uns abging.“ 4

Für die Publizistik der DDR war die Zeit zwischen November 1989 und Oktober 1990 sicherlich die
wohl spannendste Periode ihrer Geschichte. Plötzlich konnte auch in den DDR-Medien über
Umweltvergiftungen und Amtsmissbrauch, ja eigentlich über ALLES, geredet werden. Man
probierte neue Sendeformen und Formate. Heiner Noske, damals Mitglied der
Wissenschaftsredaktion des DDR-Rundfunks, erinnert sich an die Aufbruchsstimmung jener Tage:

„Wir haben in der Folgezeit dann wirklich Neuland beschritten und unsere journalistischen
Freiräume genutzt. An Themen war kein Mangel. Zu viel war viel zu lange ausgeblendet gewesen.
Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, gab es kein kritisches Hinterfragen des
gesellschaftlichen Lebens. Nun stand hinter der scheinbar auf Ewigkeit gepachteten Führungsrolle
der SED ein dickes Fragezeichen, auch über den ‚Abschied vom Proletariat‘ konnte laut
nachgedacht werden. Und zu den Ursachen der geringen Produktivität der DDR-Wirtschaft
äußerten sich Wissenschaftler in unseren Sendungen. Nachdem am 2. Februar die Stimme der
DDR in Deutschlandsender zurückbenannt worden war und damit auch die alten Leitungskader
endgültig verschwanden, brachen nahezu paradiesische Zeiten an. Es gab keinen
Anpassungsdruck mehr nach oben, wir entschieden in gemeinsamer Diskussion, ohne uns zu
zerstreiten. Viele westdeutsche Kollegen kamen damals regelmäßig zu uns und boten ihre
Mitarbeit an, auch wenn es nur DDR-Geld dafür gab. Eine solche Atmosphäre ohne oben und
unten erträumten sich viele wohl auch für ihre Heimatsender.“5

Das Ende der Wende

Angesichts der politischen Rolle, welche die Medien der DDR bei der Stabilisierung des SED-
Regimes gespielt hatten, ist es nicht verwunderlich, dass die radikalen Veränderungen, die sich im
Herbst 1989 auch in den DDR-Medien vollzogen, bisweilen von einer seltsamen Mischung aus
Engagement und Opportunismus getragen wurden. Der systemkritische Schriftsteller Rolf
Schneider, einstmals Redakteur der kulturpolitischen Zeitschrift "Aufbau" in Berlin, erinnert sich
an die Irritationen, die dieser Wendezeit-Journalismus bei nicht wenigen Zeitgenossen auslöste:
„So manche Stimme, die jetzt den Aufbruch in die Demokratie bejubelte, hatte man noch deutlich
im Ohr: von ergebenen Kommentaren zum letzten SED-Parteitag oder zu einem anderen
staatstragenden Begängnis“. Eine selbstkritische Beschäftigung mit der eigenen Rolle blieb eher

4
Zit. in ebd., S. 76.
5
Zit. in ebd.
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die Ausnahme. „Die meisten entsannen sich lieber des einen oder anderen Textes ihrer Feder, den
der Chefredakteur einmal aussortiert hatte, aus Platzgründen, und der sich nun als Ausweis für
Unbotmäßigkeit, Widerstand und Verfolgung anbot.“ 6

Doch der „kurze Winter der Anarchie“ in der DDR ging schon bald seinem Ende entgegen.
Spätestens nach dem Wahlsieg der konservativen „Allianz für Deutschland“ am 18. März 1990 und
der Bildung der Regierung de Maizière einen Monat später waren die Weichen auf den zügigen
„Beitritt“ der DDR zur Bundesrepublik Deutschland umgestellt. Der im Wahlergebnis von großen
Teilen der Bevölkerung artikulierte Wunsch nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde von
der politischen Führung beider deutscher Teilstaaten so interpretiert, dass das westliche System
auf den östlichen Teil auszudehnen und DDR-Spezifisches weitestgehend zu eliminieren sei. Dies
galt auch für die Umgestaltung der Medien, in denen sich allmählich wieder traditionelle Macht-
und Leitungsstrukturen herausbildeten. Das von der Regierung de Maizière neu geschaffene
Medienministerium wurde nun wieder rein politisch und nicht nach Kriterien der Sachkompetenz
besetzt.

Im Zuge der Verhandlungen um die deutsche Einheit zeichnete sich bald ab, dass es eine
gemeinsame Rundfunkanstalt für die neu zu bildenden ostdeutschen Länder nicht geben würde.
Zu groß waren die politischen Unterschiede zwischen den Nord- und Südregionen. Also lief alles
auf eine Abwicklung des DDR-Rundfunks hinaus. Hunderte Entlassungen standen an, und unter
den Rundfunk-Mitarbeitern breitete sich Zukunftsangst aus. Plötzlich war die Stimmung in den
Redaktionen wieder mies. Die Wende von der Wende war gekommen, und die im Herbst 1989
begonnenen radikalen Demokratisierungs- und Umgestaltungsprozesse wurden nicht mehr
fortgesetzt. Fortan wurden die Entscheidungen nicht mehr von Bürgerbewegungen,
Demonstranten, Runden Tischen und Räten gefällt, sondern zunehmend hatten die zahlreich gen
Osten reisenden westlichen Berater aus Politik und Wirtschaft das Sagen. Die hatten natürlich
kein Interesse an Verhandlungen mit basisdemokratisch organisierten Räten, sondern waren eher
auf herkömmliche Führungsstrukturen und Führungspersonen fixiert, so dass manch einer der
bereits ausgemusterten Kader des alten Systems mit ihrer Hilfe in der Nachwendezeit zu einer
neuen Karriere als Politiker oder Manager durchstarten konnte.

Was lehrt uns das?

Anarchie im Sinne einer sozialen Ordnung ohne Herrschaft ist ein empfindliches Gewächs.
Anarchie benötigt den sozialen Konsens, und sie gedeiht dementsprechend schlecht in einem
Klima von Macht und Gewalt, wie es für die meisten Revolutionen in der Vergangenheit bislang
typisch gewesen ist. Selbst dort, wo erklärte Anarchisten wie in Russland (1917-1921) oder in
Spanien (1936-1939) im Zuge revolutionärer Geschehnisse versucht haben, ihre anarchistischen
Gesellschaftsideale praktisch zu realisieren, war im Alltag von realer Anarchie als Praxis der
Herrschaftslosigkeit sehr wenig zu verspüren. Stattdessen herrschte sowohl in Russland als auch
Spanien ein erbittert geführter Bürgerkrieg, der von dem üblichen politischen Terror aller
Bürgerkriegsparteien begleitet wurde. Mit Anarchie im positiven Sinne hatte das, was in den
Revolutionen in Russland und Spanien geschah, denkbar wenig zu tun.

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Rolf Schneider: In der Nische. Wie Ostdeutschlands Journalisten die Wende überlebten, Spiegel Special
1/1995: Die Journalisten, S. 85.

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Es zeichnet die Frauen und Männer der Revolution 1989/90 in der DDR aus, dass sie die
Selbstbefreiung von 16 Millionen Menschen aus der Diktatur des SED-Regimes mit friedlichen
Mitteln ermöglicht haben. Keine Erschießungskommandos, keine Arbeitslager, keine anderen
Versuche, mit Macht und Gewalt die politischen Verhältnisse zu ändern. Dadurch hat die
friedliche Revolution in der DDR vielleicht weit mehr als die historischen revolutionären
Gesellschaftsexperimente der Anarchisten bewiesen, dass Anarchie durchaus eine funktionsfähige
Alternative zu den in Ost und West etablierten Ordnungssystemen sein kann. Die Erfahrung, dass
man das Leben ohne Chefs und ohne ein System von Befehl und Gehorsam in freier Vereinbarung
der Beteiligten organisieren kann, hat sich tief in die Erinnerung der meisten
Revolutionsteilnehmer eingegraben. Und so finden sich zahlreiche Berichte von Zeitzeugen, in
denen die Freude an der erlebten Anarchie zum Ausdruck kommt, so wie in der Erinnerung von
Heiner Noske: „Wenn man sich heute mit ehemaligen Kollegen trifft, dann kommt sehr schnell die
Sprache auf jene Zeit, in der alles möglich schien, in der wir die Freude selbstbestimmten
Handelns erleben konnten. Das gibt es nicht so häufig im Leben. Viele von uns hat das nachhaltig
geprägt.“ 7

Jochen Schmück,
Potsdam, 11. Februar 2010

Literaturempfehlung zum Thema

Zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 ist im Ch. Links Verlag in zweiter
Auflage das Buch „Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft des zivilen Ungehorsams
1989/90“ (ISBN: 978-3861533337) erschienen. Die Autoren Christoph Links, Antje Taffelt und
Sybille Nitsche sind für das Buch ein Jahr lang durch die Ex-DDR gereist und haben vor Ort mehr
als vierzig authentische Geschichten gesammelt, die vom Widerspruchsgeist und Aufbegehren
ostdeutscher Frauen und Männer und von den unerschrockenen Konfrontationen mit der
Staatsmacht in den letzten Monaten des SED-Regimes erzählen. Die Alltagsgeschichte der aus
einem politischen Machtvakuum im Zuge der friedlichen Revolution in der DDR spontan
entstandenen Anarchie, ist noch weitgehend unerforscht geblieben. Die in „Das wunderbare Jahr
der Anarchie“ gesammelten Berichte sind deshalb nicht nur spannend zu lesen, sie machen auch
Lust, sich intensiver mit dieser Geschichte zu beschäftigen.

7
Zit. in Christoph Links: Redakteursräte und Doppelherrschaft, in: Das wunderbare Jahr der Anarchie,
o.a.O., S. 77.

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