Weitgespannter Horizont
Zeitvorstellungen in der neuen Musik
von Helga de la Motte
Dic nachfolgenden Uberlegungen stellen die Frage, wie
rmusikalische Zeit sich im Bewusstsein konstituieren
kénnte, Sie sind zugleich in eine kulturhistorische Pers-
pektive eingebettet und bringen soziale Konstruktionen
zat Sprache, die ein Spiegel von Herrschafiskonstruktio-
nen sein kénnen. Weitergehende Fragen tiber die Existenz
der Zeit bleiben jedoch ausgeklammert. Ich schlteBe rich
dabei an die phanomenologische Bestimmung an, wie
sie Thomas Clifion in seinem viel zu wenig beachteten,
Buch ,Music as Heard" vorgelegt hat. Fr betrachtete Zeit
als eine Modalitit eines erfahrenden Subjekts, was ihn zu
einem Verdikt der Annahme einer Zeit fihrt, die unab-
hingig vom Hérer existiert. Das Problem einer objet
ven Zeit wied hier nur dann angesprochen, wenn dariber
‘Annahmen von Komponisten vorliegen, etwa wie bei
Igor Strawinskys Unterscheiduing von ontologischer und
psychologischer Zeit. Auch John Cage ging von einer au-
Rerhalb des Bewusstseins existierenden Zeit aus. Abnlich
‘wie es Jonathan D. Kramer in seinem Buch ,The Time of
Music"? getan hat, wird im Folgenden versucht, Zeitkon-
‘zepte der neuen Musik im Verhiltnis zur Tredition zu
Deleuchten. Dabei kommen jedoch andere als die neun
Kategorien von Kramer 2ur Sprache? Vor allem aber wird
der Bezug zwischen zeitlicher Organisation und rium-
licher Wirkuag stirker thematisiert, Denn der Auffl-
rungsraum wurde, wie schon in den mehrstimmigen
Kompositionen der Renaissance, seit dem zwanzigsten
Jahrhundert 2u eimem Mitspieler.* Und es wurden Ein-
drlicke von fiktiven Riuumen gestalte, dle u einer mehr
‘oder weniger éynamischen Zeitgefithl beitragen kénnen,
Kulturhistorische Entwicklung der Zeitvorstellungen
Regehungen des sozialen Lebens fanden in unserer Kultur
‘im Mittelalter durch eine zyklische, kreisformige Zeitvor-
stellung statt, die an der Natur, an Tag und Nacht, den
1 Tuomas Clifton, Music as Heard, A Study in Applied
Phenomenology, New Haven: Yale University Press, 1983.
2 Jonathan D. Kramer, The Time of Music. New Meanings,
New Temporalites, New Listening Strategies, New York:
Schirmer, 988; Derselbe, ,Pastmodern Concepts of
Musical Time”, in: Indiana Theory Review, 2/1996, 21-62.
4 Kramers Buch durchziehen die Kategorien der Zeit als:
absolute, social, clock, virtua, gestural, non directed, goal
directed, multiplying directed, vertical
4 Diether de la Motte (Herausgeber), Zeit in der Musik~
Musikia der Zeit, Frankfurt: Lang, 1997; Stephen Kem, The
(Culture of Time and Space 1880-1018 (1983), Cambridge,
Massachusetts: Harvard University Press, zveite Auflage,
2003; Michel Bandson (Herausgeber), Zeit, Die viet
Dimension in der Kunst, Weinlseim: Acia Humaniora, 1985.
Musik Texte 148
e
Jahreszeiten abgelesen wurden. Solche Zeitvorstellungen
sind an der Vergangenheit orientiert. Die Zeit vergeht
nicht, sondem sie kehrt wieder bis an den Punk, an dem
die Wiedergeburt des Lebens méglich scheint. In unse~
rem Kulturbereich blieb bis ins Mittelalter hinein das 2y-
lisch arhistorische Zeitbewusstsein erhalten. Nicht das
einmalige Ereignis ziblt, sondem die Wiederholung,
nicht die Entwicklung, sondern die Tradition. Linear aus-
‘gctichtete Momente der Zeit, die die Menschen an ihrer
Verginglichkeit erfubren, hoben sie durch den Gedan-
kken der Emeuerng ibrer Vorfahren in den Nachfahren
auf. Zeitvorstellungen wie die am’Tag Nacht Wechsel ot
centicrten des Mittelalters sind notwendigerweise mit dem.
Lebensraum verbunden. Reste davon sind in den heut
gen ,Ortszeiten* noch erhalten.
Die Anschauing einer sich wiederholenden Zeit findet
in der mittelalterichen Musik einen direkten Widerhall.
Ganz vordergriindig zeigt sich dies in det modalen
Rythmik mit ihren kreisenden Dauern, in den frihen
‘Organa, off nur in der einfachen Wiederholung von Lon-
gen. Die Bindung an kirchliche Orte, mit der Einheit von,
Klang und Raum im Nachhall, erforderte ein kontempla-
fives ,vernehmendes" Héren! Die musikalischen Imita-
tionen in Perotins vierstimmigem ,Sederunt Principes”
(um 1200) weisen allerdings bereits auf ein anderes mu-
sikalisches Denken voraus, nammtich auf eines, bei der
fin aktiver Bezug des Gehérten um Folgenden herge-
stellt werden kann,
Das Cristentum verinderte mehr und mehr die 2yXli-
sche Zeitauffassung; es finalisierte und dramatisierte sie
hin auf ein Ende, das Jiingste Gericht, Seit dem vierzchn-
ten Jahthundert wurde das Verrinnen det Zeit durch Glo-
ckenttirme Stunde um Stunde dem Bewusstsein der Men:
schen lautstark verdeutlicht. Die Kirche herrschte zu
niichst tier die Zeit. Bald jedoch wurden auch Rathaus-
tirme von den Birgern mit den neu erfundenen mecha-
rischen Uhren ausgeriistet. Die vektorielle Ausrichtung
auf die Zukunft, ein Zeitpfeil, der seit der Renaissance in
unserer Kultur vorherrschend wurde, verband sich mit
neuen Vorstellungen von Entwickhungen und Hoherent-
swicklungen. Ihr verdanken wir im achtzehnten Jabrhun-
dert neue Worte wie das des Fortschrits. Bine solche Sinn-
konstruktion ersetzte den Glauben an eine universelle
‘Ordnung durch eine geschichtliche Perspektve.
Dieser nach oben strebende Zeitpfeil pragte um 1800
‘anehmend die europaische Musik. Es ist ziemlich
5 Heinrich Besseler, Musik des Mittclatters und der
Renaissance, Wildpark-Potsdam: Athenaion, 1932
Seite 27gleichgiltig, welches Werk von Ludwig van Beethoven.
man heranzieht, um zu zeigen, dass, bis in satztechni-
sche Sachvethalte hincin, eine vorwartsdringende, auf
fin Ziel gerichtete Zeit diese Musik prigt. Diese Musile
konstruiert die Zeit. Sie birgt das Versprechen, Macht
‘aber die Zeit zu haben, und sie reit den Zubérer in ihre
Zeit hinein, Aber sic hatte eine reichhaltige temporale
Organisation hervorgebracht mit der Aufhebung des wie
cine Uhr gleichimaRig messenden metronomischen Takts,
der mit ungleichmaRigen Rhythmen individualisierten
Prozessen Rechmung tragen kann, Auf diese Individua-
lisierung eines regelnden dogmatischen Maes durch
nen, wie sie ihn nennen, ,kritischen Rhythmus* haben
Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Buch Mille
Platoaux" aufmerisam gemacht
Die finalen Ausrichtungen der Zeit machen immer
noch einen Aspekt unserer gegenwartigen Zeitbestim-
mung aus, Dies gilt zumindest fir die stindigen Hoff
snungen auf Erhohung des Brutiosozialprodukss oder ir
die der Aktienkurse, Von musikalischer Relevanz ist ein
solches finales Zeitkonzept in der ,Philosophie der neuen
‘Musik von Theodor W. Adorno; seine These vom .Stand
des Materials" ist eines der prigmantesten Beispicle da-
fir. Adomo wollte seinen Fortschrittsbegriff musikalisch
realisiert erleben, immer neuer sollten die Komposiio-
nen werden, Die Folge war jedoch eine Zerstérung des
wichtigsten musikalischen Produktionsmittels der Zeit
gestaltung, nimlich von Takt und raultiplikativen Rhyth-
men. Durch die Unterordmung der Zeitorganisation unter
die serielle Technik wurde sie addity, ein Gefihl irr einen
Zeitfluss war nicht mehr miglich. Forischritt wurde zur
Vernichtung, was Komponisten wie Pierre Boulez, vor alk
lem Karlheinz Stockhausen, dann doch bald zu einer
Umorientierung zwang, Zuundichst aber hatte diese These
za einer Haltung des Ubertreffens der vorangegangenen,
Stiicke durch immer neues Material gefihrt.
Eine finale Zeitkonzeption findet sich bereits nicht
mehr tneingeschrinkt in romantischer Musik; es wird
lediglich weiterhin ein Fnthobensein aus der Realitat an-
gestrebt, Die zeitliche Ferme", die Dieter Schnebel als
Suche nach einer Befreiting aus der Zeit an den Lindlern
von Frantz Schubert diagnostizierte,” verband sich mit dem
‘Wunsch der Fntrickung. Das Rauschen des Es-Dur-Drei-
Klangs im Vorspiel von Richard Wagners .Rheingold*,
das cinem somnambulen Zustand entsprungen sein
soll lisst die Zeit regelrecht stillstehen. Der aus dem
=Parsifal* stammende, zum gefligelten Wort gewordene
Satz ,Zum Raum wird bier die Zeit" verweist darauf,
6 Deutiche Obersetaang: Tausend Plateaus, Kapitalisimus
tnd Schizophrenie, Belin: Mere, 1952.
1 DictrSchnebel, Schubert. Auf der Suche mach dec befritn
Zeit, n: Derselhe, Dencbae Musik, herausgegeben von
Hans Rolf Zaller, Kore Dublont, 1972, 116
8 Richard Wegner, Mein Leben, Band 2, Minnchen:
Bruckmann, rt sta
Seite 28
dass Wagner den Hérer in eine Welt mythischer Zu-
standlichkeit versetzen wollte. Jedoch blieb im neun-
zehnten Jahrhundert auch teilweise das finale Zeitbe-
vwussisein erhalten. So huldigte Wagner noch immer ei-
nein Fortschrittsgedanken, Musikalisch wollte er mit se
nem Gesamtkunstwerk Haydn, Mozart und vor allem
Beethoven abertreffzn,
Zu Beginn des rwanzigsten Jahrhunderts ~ Telefon,
‘Telegraphie, Autos, Flugzeuge waren schon erfunden —
schrumpfien riumliche Entfermungen noch mebr als zur
Zeit der Fisenbahn. Das empfundene dynamische Ge-
schehen, dem die italienischen Futuristen ~ noch immer
von Phantasien der Hoherentwicklung, auch von Fried.
rich Nietzsches Idee des Ubermenschen befliigelt — in
ihrer Malerei Ausdruck verlicheu, liste fir die Kinstler
auch die Klassiistische Unterscheidung von Raum- und
‘Zeitkiinsten auf. Geschwindigkeit und Krach sollten sug-
geriert werden, Warum sollte ein Maler wie Luigi Russolo
sich nicht auch mit Geriuschkonzerten diese Dynamik
aneignen, warum nicht auch Giacomo Balla sich an be
\wegter Malerei versichen? Das vom ihm fir Strawinslys
Orchesterwerk .Feu dartifice* eritworfene Bithnenbild
versetzie er durch eine Lichtorgel in raschen Wechsel
Dic Flektrizitat eréffnete ihm bereits r917 die Méglich-
keiten der Multimecialiat.
Zu Beginn der Zwanzigerjahre entstand mit den expe-
rimentellen Filmen von Walter Ruttmann, Hans Richter
und Viking Eggeling eine weitere intermediale Kunstgat-
tung, die die fiturstische Phasenmalerei tiberwinden
wollte durch die Obemzhme von musikalischer Zeitorgs-
nisation, vor allem des Rhythmus, in ein visuelles Ge
schehen, das in der Filmprojektion als bewegt erschien
Neue Kunsigattungen, die sich in den Zwischenraum
setzten, zwischen dic einmal als Zeit- oder Raumkiinste
‘getrennt erscheinenden Gattungen, wurden typisch fir
dic Folgezeit.
Verrauumlichung der Zeit
Der Zeitbegriff der Musik dos zwanzigsten Jahrhunderts
lasst sich nur zureichend darstellen, wenn man sein ver-
andertes Verhiltnis zu Raumwvorstelhungen bedenkt.
Raum und Zeitparameter durchdringen sich sehr stark,
Die integration von réumlichen Vorstellungen bewirkte
zwar die Auflésung einer vektorillen Zielgerichtetheit
der Zeit, aber sie schuf durch Raumwanderungen der
linge ne lische Bewegungsformen. Da sich je-
doch andererseits di finalen Ausrichtungen nicht ganz
aufldsten, entwickelie sich im zwanzigsten Jahrhundert
cin pluralistischer Begriff von Zeit, bi der zeitweilig auch
as finale Zeitkonzept dominant werden konnte. Adorno
wollte seinen hegelimisch umgemtinzten marristischen
Fortschrittsbegriff, der nicht nur die Komponisten in den
Fuinfaigerjahren zu einer Halting des Ubertteffens det
jeweils vorausgehenden ,Produktionsmnitte!* anregte, auch
in innermusikalischen Frtwicklungen realisiert sehen
MusikTexte 148Erhat daher das Verdikt der Versdurnlichung tber Claude
Debussy wie fiber Strawinsky verhangt:” Der die fehlende
Finalitit der Zeit bemangeinde kritische Blick beruht auf
einer richtigen Diagnose, verkennt jedoch, wie anregend
sich die Verriumlichung von Musikzu Beginn des zwan-
zigsten Jahrhunderts auf nachfolgende Entwickhungen
auswirkte, Zukunftweisend war Debussys Vorschrft .en
dexors", die eine Stimme, nicht allein dynamisch, son-
dern auch durch die rhythmische Bewegung aus dem
‘Tonraum hervortreten lisst. Gybrgy Ligeti verwendet sol
ches Hervortreten fir die reliefartigen Wirkungen in den,
»Melodien". Die von Adorno kritisierte Klangschichtung
in ,Marmorblécken* durch die Dynamik hat Edgard Va-
rése aus der Musik von Debussy herausgclesen, um ei-
nen fiktiven Raumeindruck 2u erzeugen. Strawinsky hat
ebenfalls Schichtungen vorgenommen, jedoch weniger
um riumliche Eindriicke hervorzurufen, sondern um die
Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten anzuzeigen.
Realer und fiktiver Musikraum
Die Kategorie des Raums ist mindestens ebenso schwie-
rig zu bestimmen wie die der Zeit, Denn auch fir die
Raumerfahrung besitzen wir kein Sinnesorgan, Wir glau-
ben, den Raum 2u sehen, aber wir sehen nur Objekte,
um die herum das Licht gebeugt wird. Wir kénnen ledig-
lich Entfernungen visuell gut einschatzen. Mit den Oh-
zen kénnen wir den Raum um uns herum besser auffas-
sen als mit den Augen. Denn sie zeigen uns an, was hin-
ter uns ist, sie geben Auskunft tber sein Volumen. Das
Schallspektrum enthalt auSerdem Informationen ber
die Tiefendimension, weil hohere Frequenzen in weite-
rer Entfernung einer Dampfung unterliegen. Der erlebte
Realraum ist kein festes Gehause, sondern cine kognitive
Konstruktion, die im Verlauf der Ontogenese gelernt
swird, Ex ist nicht identisch mit dem von der Physik durch
unabhingige Dimensionen, metrisch tberall gleich be-
schaffen und unbegrenzt bestimmten Raum, Im physi
Jalisch-geometrischen Raum gibt es kein Oben und Un-
ten, kein Vorn und Hinten. Lm Unterschied hierzu erle-
‘ben Menschen Reum aber immer imn Verhaltnis zum ef
jgenen Standort.
Der Auffidhrungsraum ist flr die elektroakustische
‘Musik seit der Erfindung der Stereophonie von besonde-
rer Bedeutung, weil die Aufstellung der Tautsprecher be-
dacht werden muss, die mir Organisation der zeitlichen
Erfahrung beitragen, im einfachsten Fall durch das Wan-
dem eines Klangs von einem Lautsprecher zutn anderen.
Frangois Bayle hat ein solches Abschreften von Wegen
als cine der wichtigsten Weiterentwickhungen seiner Mu-
sik gegentiber der Musique concréte von Pierre Schaefer
emapfunden. Da der Raum als Mitspieler elektroakusti-
scher Musik eine Selbstverstindlichkeit ist, seien ledig-
Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (1549),
Frankfurt, Berlin, Wien: Uilstein, 1972, 169,
MusikTexte 148
lich 2wei von vielen weiteren Beispielen genannt, bei de-
nen et eine Hauptrolle einnimmt. John Cage hat mehrere
Sticke, darunter auch ,One™ (1983), auf 4'33” (1952) 70-
rrickbezogen, das den Umgebungsgerduschgn gewidmet
ist. Die kurze verbale Instruktion fiir .One™ lautet: .Ar-
range a sound'systern so that the whole hall ison the edge
of feedback, without actually feeding back." Dadurch soll
nur eine Verstarkung (ohne weitere Resonanizen) der ge-
genwartigen akustischen Oberfliche im Raum erzielt,
nicht aber der Raum im Klang auégelést werden, wie dies
‘twa bei Alvin Luciers ,1 am sitting in @ room" der Fall
ist, bei dem ein stindiges Feedback nur die Raumreso-
nanzen gesprochener Sprache tibriglisst. Zwar haben
‘wir es in beiden Fallen mit reiner, im Raum etzeugier
Prozessualitit zu tun, Cage jedoch wollte Lebenswirklich
kit zu Gehér bringen. Er ging dabei von einer Raum-
Zeit aus: ,|The] advances in this century have bought
about the ‘space-time’ into our vocabulary. Thus, the dis-
tinctions made ... between the space and the time arts are
at present an oversimplification.“"®
Bei seinen ,Audible Ecosystems" betrachtet Agostino
4: Scipio Rau und Klang als,
‘it gewinnt der Raum eine instrumentelle Funktion. Das
Gerdusch, das als Ausgangsmaterial dient, kann aus die-
sem Raum stammen. Die Verarbeitung des Signals durch
cin Computerprogramm wird tiber Lautsprecher in den
Raum zurlickgeschickt. Die neu entsichenden Umwelt
‘linge werden wieder aufgenommen, so dass cin selbst
reflexiver, zunchmend komplexer werdender Prozess ent
steht, dessen Output an hérbaren Daten auf den voraus-
gehenden Interaktionen beruht. Als Urheber bleibt ein
Kompositorisches Subjekt durch die Setzung einer syn-
taktischen Tiefenstruktur erhalten, die zur Produktion
von Stiicken dient, die in moglichst vielen Raumen iri.
‘mer neuattig entfaet werden sollen und bezaubernde
Klangfarbenetfekte hervorbringen, die manchmal wie
bunte Tupfer im Raum witken. Die zeitliche Metamor-
phose im Klang hebt die Stabilitit des Realraums auf
lange vermitteln nicht mur Informationen tiber den.
Realrzum. Sie rufen auch einen fiktiven akustischen
Raumeindruck hervor, dem als erlebtes Phinomen Reali-
tit zakommt. Dies gilt besonders fir die Ausdehnung,
des Tonraums in einer Vertikale, die sich im Ubrigen in.
Partituren regelrecht rdumlich darstellt (hohe Instra-
mente oben, tiefe unten). Das Fortschreiten der Téne in
der Zeit bewitkt den Eindruck einer Horizontalen, die
seit dem zwanzigsten Jahrhundert fir cine neue Nota-
tionsform genutzt wurde, die sogenannte ,space nota
tion". Paradigmatische Beispicle daft, dass ein rium-
Ficher Abstand auf einer horizontalen Achse eine zeit
liche Dauer anzeigt, bieten die ,Projections* (1950/1951)
‘und , Intersections” (1952/1953) von Morton Feldman.
interaktives System. Da-
Yo john Cage, A Year from Monday. Lectures and Writings
(0963), London: Marion Boyars, zweite Auflage, 1975, 31
Seite 29Feldman, ,Projection 1, Copyright 1962 C.F. Peters, New York.
Komponisien ktinmen durch (Therlagemingen von must
lalischen Schichten auerdem eine Tiefendimension er
‘zeugen. Wirksam ist dabei vor allem die Lautstirke (leise
Klinge wirken entfernter) sowie die Klangfarbe und der
Rhythmus (Fehlen hoher Oberténe = Findruck von Ent.
fernung, wie auch unklar konturierte Rhythmen). Diese
‘Tiefendimension wurde in der traditionellen Musik in
Fchowirkungen genutzt, Was leiser, mit leichten zeit.
lichen Verdnderungen gedimpfter gespielt wird, loka-
lisiert das Oh an einem entfernteren Ort, Bin bekanntes
Beispiel dafr ist das Homsolo zu Beginn der groRen C-
Dur-Sinfonie von Franz Schubert. George Crumb er-
zeugte Echos zu Beginn von ,Eleven Echos of Autumn
(Echo I", 1965) einfacher, namlich durch Resonanzen
der Obertine, die der im Fligel spiclende Pianist auf den
anderen Saiten erzeugt. Im ,licho 4" spielen Flite und
Klarinette direkt in den Fligel hinein und erzeugen je-
nen Effekt der direkten Wiedergabe, den schon Hermann,
von Helmholtz im neunzehnten Jahrhundert beschrie-
ben hatte, Das akustische Ereignis wird von einem .Spie-
gel* zuriickgeworfen. 1967 lie8 Crumb mit .Echos of
Time and the River (Echo li)" ein weiteres Sttick folgen.
Diese beiden Echo-Siiicke stehen am Anfang seiner in-
tensiven Beschaftigung mit der Zeit. Dem reinen Flie&en
der Zeit steht das Gedachtnis entgegen. Auch bei diesen,
beiden Beispielen wird das zeittiche Ereignis im Erleben,
durch ein speicherndes Gediichtnis festgehalten. Die wie-
derkehrende riumliche Projektio des Klangs als Echo
bewirkt ein .gebrochenes" Zeitbild
»Die Zeit als Raum sehen”
‘Weniger dem Problem der musikalischen Zeit ima enge-
ren Sinn als dem des Raums waren die Versuche der
Schénbergschule bei der Neordnung der Tonhéhenbe-
iehungen gewidmet, Jedoch spielte Zeit bei Arnold
Schdnibergs Arbeit an cinem Raumkonzept eine Rolle.
Bekannt geworden ist scin Josef Rufer gegentiber gedu-
erter Ausspruch: .Die Musik ist eine Kunst, die sich in
dex Zeit alpiell. Aber die Vorstelluayg des Komponisten
ist davon unabhingig, Die Zeit wird als Rau geschen.
Beim Niederschreiben wird der Raum in die Zeit
Seite 30,
umgekappt."” Dieses Umklappen lisst sich bereits an
den ersten Taken des Klaviersticks opus 332 (1929) zei-
gen, Die Zwélftonreihe (auf b), die im ersten Takt als
Motto zusammengedringt auf drei Akkoxde, ira zweiten
‘Takt ebenfalls akkordisch als Krebsumkehrung (auf es)
erscheint, wird danach zeitich auseinandergezogen, die
Krebsumkehrang erhalt einen Kontrapunkt durch den
Krebs (auf).
aaBig 20)
Schonberg, Klaverstick opus 332, Takt 1-3
Mit der Wendung zum zwolfténigen Komponieren konnte
Schonberg die Vorstellung eines véllig gleichgewichteten
Raums entwickeln. Sein mehrfach (zuerst 193s) gehalte.
net Vortrag ,Komposition mit wolf Tonen" stellt dabei
einen véllig gleichgewichteten Raum vor: ,Der zwei- oder
mehrdimensionale Raum, in dem musikalische Gedan-
ken dargestellt werden, ist eine Einheit ... In diesem
Raum gibt es wie in Swedenborgs" Himmel (beschrieben
in Balzacs ,Seraphita'] kein absolutes Unten, kein Rechts
‘oder Links, Vorwarts oder Riichwarts, Jede musikalische
Konfiguration, jede Bewegumg von Ténen muss vor allem
versianden werden als wechselseitige Bezichurg von Klin:
gen, von osvillierenden Schwingungen, die anverschiede-
nen Stellen und zu verschiedenen Zeiten suftreten*.””
Anton Weber, der ebenfalls von Swedenbory fasziniert
war, hat mit einfacheren Worten diese geistige Einheit
beschrieben: Die Komposition mit zwélf Tenen hat ei-
nen Grad der Vollendung des Zusarnmenhangs erreicht,
‘wie er friher auch nicht annahernd vorhanden war.“
Genauer besehen aber liegt dieser Musikanschauung
cine doppelie Weltsicht zugrunde, einerseits ein unsicht-
barer geistiger Zusammenhang, und anderersits eine
reale physische Erscheinung: ein Konstruktionsprinzip,
das sich hinter einer Klanglichen Fassade verbirgt? Im
Unterschied zu den bisher besprochenten neuen Ansitzen
scheint dieses .gleichgewichtete Raumkonzept" wenig
tit der zeitlichen Gestaltung au tun zu haben. In der Tat
{st zumindest die Rhythmik in dem erwahnien Klavier-
11 Jovef Rufer, Die Komposition mit zw Tonen, Berlin und
‘Wunsiedel: Hesse, 1952, 50.
12 Emanuel Swedenborg 1688-1773), schwedischer Theosoph,
und Mystker, Sein Spiritualismus beeinflusse viele Kinsler
jm awanzigsten Jahrhundert
13 Amnold Schonberg, .Komposition mit zw3lf Ténen*, aus
‘dem Englischen dbersetzt von Gudrun Budde, fa: Silund
Gedanke, herausgegsben von Frank Schneider, Leipaiy:
Reclam 1989, 146-176, 153 und 156.
14 Anton Webem, Der Weg zur neuen Musik (Vortige 1932/
1933), Wien: Universal Edition, 2960, 19,
MusikTexte 148stiick von Schénberg trotz einiger Taktwechsel sehr tradi-
tionell, und das Erscheinen eines zweiten Themas
nert auch an eine altere Formgebung, Es liegt noch eine
gerichtete lineare Zeit vor die aber nicht mehr in harmo-
rnischen Modulationen als Entfermung von einem tonalen
Zentrum erlebt wird, sondem als Nacheinander einer
gleich strukturierien Ganzheit.
Zeit, die vierte Dimension des Raums
Die Integration von Zeit und Raum beschiftigte bereits
in der ersten Halfte des neunzehnten Jarhunderss die
Mathematiker. Sie weckten Zweifel an Immanuel Kants
Ausfassung, Zeit und Raum seien unabhangige Katego-
rien der Anschauung. Die Zeit wurde als vierte Dimen-
sion des Raums bestimmt. 1905 hatte Albert Fins
spezielle Relativitatstheorie vorgelegt. In Kiinstlerkreisen
warden Spekulationen Uber den Zusammenhang von
Raum und Zeit zu Beginn des zwanzigsten Jahriaunderts
zusitvlich durch symnbolistisch-theosophische Theorien
liber die vierte Dimension geftrdert. Sie sollte eine hihere
Dimension erfahrbar machen, Futuristen wie Kubisten
rezipierten diese Theorien, die einerseits cin Raurn-Zeit
Kontinuum und andererseits die Konstruktion mehr
dimensionaler Riume anregte. Eine starke Verbreitung,
hhatten diese Gedanken auch in Russland erfahren. Durch,
Oberseteungen des Buchs .Tertium organum* (i911)
‘wurde die Hyperraumphilosophie des russischen Philo-
sophen Peter Demianovich Ouspensky sehr bekannt. Der
amerikanische Architekt Claude Bragdon griff fir cin
Buch zur vierten Dimension darauf zurtick und setzte sie
auch praktisch um." Er veranstaltete nach Einbruch der
Dunkelheit von 1915 bis 197 groe Events in Parks mit
‘Tausenden von Singern und einer Architektur aus Licht,
dessen Strablen gema& seiner ,Omamente” als vier
imensionaler Hyperraum empfunden werden sollten,
Der Realraumn wurde iberformt, weil seine Kanten und
Ecken nicht sichtbar waren. Spiter setzte Bragdon auch
durch cine Lichtorgel bewegtes Licht ein,
Eine regelrechte Raum-Zeit bestitnmte nach 1919 die
Kunstproduktion. ine Expedition des britischen Mathe-
matikers Arthur S. Eddington zwecks Beobachtung der
Ablenkang von Lichtstrahlen bet einer totalen Sonnen-
finstemnis wurde zu einer Sensationsmeldung der Presse,
dass Einsteins Relativitatstheorie bewiesen sei. Die Ver
suche, diese vierte Dimension durch Kunst anschauilich
zu machen, wurden intensiviert. Im Bereich det Maletei
kam es zu Konflikten darlber, wie dies am sinnvollsten
zu realisieren sei. Dies gilt vor allem fir die hollindische
Kiinstlergruppe ,De Stijl" bezichungsweise den Streit
von Piet Mondrian und Theo van Doesburg iiber die Ver-
‘wendung der Diagonalen. George Antheil war zeitweilig,
Mitglied dieser Kiinstlergruppe. Er publizierte 1925 einen
15 Claude Bragdon, A Primer of Higher Space (The Fourth
Dimension), Rochester, New York: Manas Press, 1913.
MusikTexte 148
Artikel in der gleichnamigen Zeitschrift: .My Ballet mé&-
‘canique*, in dem er dieses als neue, vierte Dimension der
Musik bezeichnete." Ezra Pound hatte bereits vorher
ahnliche Gedanken iber Antheils Musik geguert.” In
‘einem Brief von 1936 an Nicolas Slonimsky bemerkte der
Komponist ibér die Bedeutung dieses Sticks: ,.. that it
‘was conceived in a new form, that form specifically being
filed out of a certain time canvas .. time is our musical
canvas, not the notes and timbres of the orchestra .. In
the Ballet Mécanique I used time as Picasso might have
used the blank spaces of his canvas." Antheil wiederholte:
Time ... is the musicians canvas ... The ‘Time-Space’
principle, therefore, is an aesthetic of ‘looking’ so to
speak. ata piece of music all at once’. One might propose
therefore, that itis a sor of ‘Fourth Dimension’ *"*
‘Antheil hatte mit dem Vergleich zur kubistischen Ma
lerei einen Hinweis darauf gegeben, was er mit dem Be
{riff der Zcitleinwand meinte. Es werden quasi Figuren,
und Objekte auf diese Leinwand aufgetragen oder colla:
giert. Eine solche Objekthaftigkeit der Klinge gewann er
durch ausgedelnte Passagen von Wiederholungen, Er
Komnte dabei wie die Malerei ein Figur-Grund-Prinzip
durch Schichtungen realisieren. Die heftige Betonuing,
ie Antheil im seinen wenigen schrifilicdhen Augerungen
darauf legte, mu sagen, es handle sich um das erste Stick
dieser Art auf Erden, stimmt nicht so ganz. Denn x915
hatte der russische Komponist Arthur Loutié mit ,For-
men in der Luft" eine Zeitleinwand geschaffen, Die mu
sikalischen Arabesken dieses Pablo Picasso gewidmeten
Klavierstiicks gentigen nicht mehr einem stringenten Ab-
Jauf musikalischer Zeit. Sie bleiben in der Luft hingen,
ohne dass aber genauie Pauseriangaben vorligen. Sic las
sen quasi das Wei der Leinwand durchschimmers. Da.
mit wird jedoch eine formkonstituierende musikalische
Logik: durchkreuzt. In seinem kurzen Text ,Between Ca-
tegories"”? benutzte Morton Feldman ebenfalls dea Be-
griff der Zeit-Leinwand. ,... meine Kompositionen sind
Keine ,Kompositionen’. Man kénnte sie einer Zeitlein-
‘wand vergleichen. Ich bemale diese Leinwand mit Musik
farbe.* Auch Morton Feldman wollte die lineare Kon-
struktion der musikalischen Zeit ausheben. Klinge soll-
ten fir sich stehen und nicht das Glied in einer kontina-
ierlichen Entwicklung sein,” sonde wie die Farbfeld-
¥6 George Antheil, .My Ballet mécanique", in: De Sul,
13/1925, Leiden, 141-144.
17 Ezza Pound, Antheil and the Trestise on Harmony (1924),
(Chicago: Pascal Covici, 1927.27
18 George Antheil an Nicolas Slonimsky (1936) und .Com-
poser's Note on 1952-53 Re-Fditing Ballet Mécanique", in:
Daniel Albright, Modernism and Music. An Anthology of
Sources, Chicago: Chicago University Press, 2004,7.
19 Morton Feldman, ,Between Categories”, inx Morton Feld-
san Essays, herausgegeben von Walter Zimmermann,
Kerpen: Beginner Press, 1985, 82-84
20 Sebastian Claren, Neither. Die Musik von Morton Feldman,
Hofheiz: Wolke, 2000, 119-120.
Seite 31malerei ,non-relational-art”” Die traditionelle rhythmi-
sche Gestaltung kann dabei ganz entfallen, indem, wie in
den .Last Pieces" fir Klavier (1963), nur einzelne Klinge
notiert werden, oder wie in den mehrstimmigen Paitern-
Kompositionen, ctwa den beiden Streichquartetten,
(1979, 1983), der Taktstrich nur cin Ordnungsstrich ist.
Tin Zusammenhang mit einer weiteren Erwahnung
des Bezugs zur Malerei erwilnt Feldman Edgard Varese
und bezeichnet dessen Musik als ,floating sculpture"
Varese ist vielleicht derjenige Komponist, der sich am in:
tensivsten mit der Vorstellung einer Raum-Zeit befasst
hhatte, daraus aber die Vorstellung von raumlicher Musik
‘entwickelte, Er kannte die Lehre von Bragdon.” war mit
dem Gedankengut von Ouspensky in Beriihrung gekom-
sen, schitzte die Schriften von Arthur 8. Fddington und
hate eine enge Beziehung zu den Kubisten.
Seine Vorstellungen von einer spatialen Musik betref
fen alle Dimensionen des musikalischen Raums.”* Seine
infuhrung zu ,[ntégrales"* ist wohl unter dem Bindruck
des folgenden Zitats us einem Artikel von Massimo Z3-
noiti-Bianco entstanden:
If we project an imaginary sound-mass into space, we find
that it appears as constantly changing volumes and combi
nations of planes... successive projections would give birth
to architecture of sound.”
‘Von Klangmassen ist die Rede, von wechselnden Kér
pern und Ebenen, nicht von Ténen, die Varése mur als
Kondensationspunkte von Klingen verstand, Varése, der
seine Musik als ,organized sound" bezeichnete,”” war we
niger an der Farbe eines Klangs als an seinem Volurmen
und seiner Dichte interessiert und am simultanen Wech-
selspiel von sich gleichzeitig bewegenden, aber unabhian-
igen Klangkérpern, Die gravierendste Veranderung tra-
ditioneller musikalischer Parameter betrifft die kontrar
punktische Handhabung der Dynamik, auch sie wagt
zum Rhythmus bei. Die Leutstirke wird zu einem Mittel
der Erzeugung eines Raumeindrucks. Leise Klinge, wie
bereits das Echo zeigte, bewirken den Eindruck einer Ent-
21 Marion Saxer, Between Categories. Studien zum Kompor
nieren Morton Feldarans von 1951 bis 1977, Saarbrticken:
fav, 1998, 37-32.
22 Morton Feldman, .Ciippled Symmetry’, in: Morton Feldman
says, herausgegeben von Walter Zimmermann, Kerpen:
Beginner Press, 1985 124-137, hier 137.
23 Odile Vivier, Vardse, Pacis: Sole ges/Seuil, 74,
24 Bdgurd Vardse, ,Spatial Music", Sarah Lawrence College,
Bronawille, New York 1959, in: Loulse Hitbour, Edgard
Vardse. Ecrits, Paris: Christian Rougois, 983, 50-15,
sche auch: Helga de Motte Haber, Die Musik von
Edgard Varése, Hofheim: Wolke, 1993.
25 ,Lmaginez la projection dune figure géometrique et un.
plan qui bougent dans tespace, selon leur propre li et & des
vitesse varies de translation et de rotation .u", i: Edgard
Vartse, Eerits, ebends, 128,
26 Massimo#anoti-Bianco, .Edgar Varése and the Geometzy
of Souné’, in: The Ars VIV/s,Janar 1925, 35.
27 Joba Cage hat den Begriff von ihm Ubernommen,
Seite 32
fernung, zumal wenn sic dimn und zerstreut wirken.
Laute Klinge hingegen wirken nah, Varése gestaltete mit
leichzeitigen Crescendi und Decrescendi von Klangkir-
per, die in Gegenbewegung verlaufen, einen rhyth-
misch-dynamischen Musikraum. Diese dynamische Be-
hhandlung von Klangverliufen ist nach dem Vorbild der
polyphonen Satztechnik gestaltet.
Varese, onisation", Takie 1-6
Im Unterschied zu den Vorstellungen einer Zcitleir
wand intendierte Varese jedoch keine Aufheburg der li
nearen Zeit. Seine Klingende Geometrie bedeuete vi
mehr, einen musikalischen Raum zu 6ffnen, der in sich
wie ein Prisma prozessualisiet ist, sich durch die Zeit
bewegt und am Ende wieder geschlossen erscheint. Mu-
sik riumlich mu begreifen und gleichzeitig durch die Zeit
za bewegen, erméglichte einem Komponisten leichter als
«einem bildenden Kiinstler, eine faszinierende Raurm-Zeit
zu gestalten, Varéses Technik, durch eine kontrapunk-
tische Dynamik einen virtuellen Musikraum zu erzeu-
gen, wird bis heute von Komponisten genutz:, wobei
Mark Andre in seinem Orchesterwerk .... auf." Ill
(2005/2007) fur das weite Offnen dieses Raums im drit
ten Teil auch eine Extrapolation durch Live-Flektronik in
den Realraum vorsieht,
Isomorphie von Raurn und Zeit
Fiir die Neuordnung des musikalischen Raums war die
Extrapolation Klingender Strukturen in den Realreum,
ablesbar an den zahireichen Raumkompositionen der
Funfzigerjahre, ebenso wichtig wie die Zwilfionlehre
mit ihrer Aufhebung der zeitlichen Ordnung der Téne.
Aber voll von jugendlichem ‘Trotz hatte Pierre Boulez
1952 seinen Fssay ,Schénberg ist tot" geschrieben, ver-
bunden mit der heftigen Kritik, dass lediglich das Mate-
rial neu organisiert, davon aber nicht die Straktur insge-
samt, iin Sinne der Gesamtarchitektur eines Werks, be-
troffen sei Gesamtarchitektur meint nun aber nicht
mehr eine Konzeption im Sinne einer traditionellen
Form, die fester und loser (zum Beispiel als Uber eitung)
28 Pierre Boulez, Schonberg st tot, in: Derselbe, Anka
punkte, Essays, deutsch von Josef Hiusler, Kassel:
Birenreiter, 1979, 288-207.
MusikTexte 148,at
agefigte Passagen kennt, sondern bei der allen Teilen die
gleiche Tiefenstruktur zugrunde liegt.” Olivier Messiaen
hratte bereits im ,Modes de valeurs et d'intensités (19.49)
Folgerungen aus der neuen Zwolftonordnung fur die
Ordnung der weiteren musikalischen Parameter gezo-
gen. Dieses Stiick wurde zu einer wichtigen Anregung
fir die serielle Musik. In den Anfingen des seriellen
Komponierens bewirkte die Ordnung der einzelnen Tone
und ihrer Eigenschaften (Hohe, Dauer, Intensitit, et cete-
1a) eine sogenannte punktuclle Musik (Herbert Eimert),
die das FlieRen der Zeit aufhob. .Il canto sospeso" (1956)
von Luigi Nono rief daher Uberraschung hervor. Denn
trotz des punkiuell aufgeldsten, tiber die Oktaviagen auf
gespreizten Notenbilds rief das Stick beim Héren den
Eindruck des Strémens hervor. Nono hatte den Horef-
fekt des ,perceptual streaming” genutzt.” Aufeinander-
folgende Téne in verschiedenen Instrumenten kénnen
sich zu virtuellen Melodien zusammenschlieRen, werm
[Nono, Il canto sospeso", Takte 40-42
29 Lev Roblyakov, Pierre Bouler. A World of Harmony, Chur:
Harwood, 1990.
30 Helga de la Motte-Haber, Handbuch der Musikpsychologie
(4985), Laaber: Laher, zweite Auflage, 1696, 101. Nono hat
sicher nicht de enteprechenden Hérexperimente gekannt,
denn es handel sich urn einen Effet, der sich dem Héren
cinfach erschliet. Die mehrstimmige Wirkung der Sclo-
onaten und partiten von Jobann Sebastion Bach beruht
‘ebenfalls auf einem Zusammenschluss von Ténen von
Stimamen in unterschiedlichen Oktavlagen.
MusikTexte 148
sie eine ahnliche Tonhohenlage haben, Nono transfor.
mierte den Realraum der Aufstelling der Instrumente in
einen ,melodischen* Tonhihenraum mit verschiedenen
Schichten. Nono konnte mit diesem FlieRery noch eine
Richtung der Zeit andeuten, die bei anderen Komponis-
ten verlorengiig. Aber trotz einer politisch motivierten
Hoffnung auf die Zukunft misstraute auch er einer regel-
recht finalen Steigeruing, Nur Verdnderung der Statik des
Raums Klingt auf mit den zwei umherwandemden Gei-
gem in ,Hay que caminar sofiando" (1989).
Boulez verdankt sich mit den .Structures Ia" (1952) das
cexste durchstrukturierte serielle Werk, in dem alle Para
meter (auRer der Oktavlage) rethenmagig, rickbezogen
auf Messiaen, organisiert sind. Gisela Nauck hat in det
seriellen Kompositionstechnik eine der wichtigsten An-
regungen filr ein neues kompositorisches Raumdenken
sgesehen.” Die Analogie zwischen Ton- und Zeftraum hat
Boulez in .Penser la musique aujourd'hui" (gleichzeitig
deutsch: ,Musikdenken heute") dargelegt.” Der differen-
zierten Beschreibung des Tonraums (gerade, gekriimmt,
regelmaRig, unregelmaig) werden zwei grundsitelich
uunterschiedliche Kategorien gegeniibergestell:.der glatte
Raum und .der gekerbte Raum.” Gekerbt meint einen
strukturierten Tonraum, glatt eine statistische Verteilung,
der Frequerizen (xa réparttion statistique des fréquences')
Boulez hat diese Begriffe auf den Unterschied einer
amorphen, nicht chronometrisch untertelten Zeit im
Unterschied zu einer pulsierenden angewendet: .Die
‘amorphe Zeit ist ohne weiteres mit der glatten Fliche zu
vergleichen, die pulsierende Zeit mit der eingeritzten Fla-
‘che; ich mache also einen Analogieschluss und nemne die
Deiden Kategorien fortan glatte Zeit und cingekerbte
Zeit Beriiglich der durch Dauern eingekerbten Struk-
turierung geht Boule auf eine logarithmische Unter-
scheidung ein, die Stockhausen vorgeschlagen hatten,
um Dauernunterschiede dem Hérvermdgen anzupas-
sen.” Es ist schwierig, Boulez’ doppelschichtigen Zeitbe:
griff gedanldich zu verankern. Wat er von Olivier Mes
siaen, Igor Strawinsky oder noch eher von dem zeitwei-
ligen Mentor und Freund Pierre Souvtchinsky angeregt
worden?
Karlheinz Stockhausen hat alle seine Werke als Raum-
musik verstanden und in vielfiltiger Weise eine wechsel-
seitige Integration von Zeit und Raum vorgenommen.
Nur einige Beispiele sollen als Beleg dafitr einstehen. Die
37 Gisela Nauck, Musik im Raum - Raum in der Musik,
Srumgare: Franz Steiner, 1997
32 Pierre Boulez, Penserla musique aujourd'hui, Paris:
Gonthier, 1963; Musikdenken heute, bersetzt von Josef
Eijusler und Pierre Stol, Darmstadter Beitrige zur Neuen
Musik (ganz), Mainz: Schott, 1963,
33 Bbenda, 75.
34 Ebenda, 77
35 Karlheinz Stockhausen, ,.. wie die Zeit vergeht.." (1957)
In: Texte ()) zur elektronischen und instrumentalen Musik,
herausgegeben von Dieter Schnebel, KBIn 1963, 99-139.
Seite 33Stockhausen, Aufstellungsplan fie ,Keeuzspiel*
crwahnte Logerithmisierung der Dauern, die die davor
verwendeten additiven seriellen Reihen ersetzte, hatte er
durch Ubertragung der Tonhdhenverhaltnisse gewon-
nen. Musikalische Intervalle wurden als Bandbreiten
bestimmt. Dem Ensemblestck ,Kreuzspiel* (1951) liegt,
‘wie von Stockhausen im Programmtext beschrieben, die
Idee einer Kreuzung von zeitlichen und riumlichen Vor-
sgingen” zugrunde.”” Der Kreuzung (von auen nach in-
nnen, von innen nach 2uen, gespiegelt, et cetera) hoher
und tiefer Instrumente beziehungsweise Tonlagen, von
Dauern und Lautstirken wird erginzt durch die Aufstel-
ung der Instrumente im Auffshrungsraum gem&i ihrer
Tonhihenlage auf unterschiedlich hohen Podesten. Die
Instrumente waren mikrophoniert, damit sie gleich gut
gehért werden konnten,
Bindriicke von rdumlicher Entfernung sind bei der
nelektronischen* Komposition Gesang der Jinglinge*
(1956) durch den Nachhall in die musikalische Struktur
‘einbezogen. Zugleich wurde durch komponierte Schall-
richtung und Bewegung der Klinge im Raum durch die
inf halbkreisférmig um das Publikum verteilten Lout-
sptechergruppen ,eine neue Dimension fiir das musika-
lische Erlebnis erschlossen.“™ Dieses Prinzip hat Stock-
hhausen fiir Gruppen” fiir drei Orchester (1955/1957).
seine erste instrumental den in der Mitt sitzenden H3-
er umschlieRende Raummusik, dbernommen. Das
Stack beginnt mit einem dem Obertonspektrum (hahere
Frequenzen sind schmeller) nachgebildcten Orchester-
Klang links, wendet sich nach rechts und wieder zurtick.
36 Stockhausen wusste nicht, dass die Wahmetxmang aller
Sinnlichen Reize einem logarithmischen Verhiltnis fog.
37 Kariheing Stockhausen, -Kreurspiel (2951), in: Texte,
Band 2, sin: DuMont, 1964, 11-72, hier 11,
38 Karlheinz Stockhausen, ,Ne. 8 Gesang der Jonglinge (1956),
Floktronische Musik’, ebenda, 49,
Seite 34
Zeit Raume werden ausgebildet, in denen sich ,Raum-
Melodien" entfalten.”” Dabei werden die verschiedenen
Onte der halbkreisférmig sitzenden Orchester durch die
Wanderang von sich iiberlappenden Klinger verbunden,
Man kémnte von einem frihen Dolby Surround sprechen,
Stockhausens kinstlerisches Denken war sein Leben
lang von Ana ogien zwischen Zeit und Raum geprigt.
Mit der Preisgabe einer final ausgerichteten Zeit schien
die traditionelle musikalische Form verlorengegangen.
Erst heute gelingt es Komponisten wieder, so Fabien Lévy,
«in Formverstindnis im traditionellen Sinn mit an jeder
Stelle gleich dicht gewebten Strukturen zu vereinbaren.”
Fir eine #ltere Generation bot hingegen der Raiun eine
Ordnungsmiglichkeit, in die jedoch durch Wege und
‘Wanderungen Zeit einbezogen wurde. Es scheint, dass dic
‘eitwellige Preisgabe der Idee einer geschlossenen Kom.
position weniger durch die Zuféllskompositionen von
John Cage angeregt wurde als einer inneren geschicht
lichen Entwicklung entsprach, Stockhausen fhrien sie
‘zu Momentforinen oder Jetatmomenten, dic er als vert
kalen Schnitt durch die horizontale Zeit ve-siand, Der
Zuhdrer sollte seine réurliche Position uné die Dauer
seines Zuhérens frei wablen. Dies kiindigt cic Idee der
spliteren Klanginstallationen an, dic er aber abgeletant hat.
Dieses ,Jetzt" wird 1960 metaphysisch aufgeladen, als
Moglichkeit, im Moment ,Ewigkeit” zu ereichen.*"
Schwierigkeiten einer geradlinigen Gliederung des vor-
liegenden Texts zeigen sich besonders deutich bei der
inordnung der Vorstellungen von Iannis Xenakis, der
durch seine Ausbildumg als Architekt und Musiker 16.
sungen fand, die an die von Varese gewiinschte Identitit
von Raum und Zeit erinnem. Besonders auffilig ist dies
‘an der teilweisen Umsetzung der architektonisch aufge-
fassten Glissandopassagen des Orchestersticks .Metas-
tascis* (1954) in die para- und hyperbolischen Formen
des Philips-Pavillions. Mit dem eigens entwickelten
Computersystem UPIC hatte Xenakis die Méglichkeit,
Graphiken dirckt in Musik zu ibersetzen. Trotz enger
freundschafticher Verbundenheit mit Varese" hatte er
jedoch auch andere dsthetische Intentionen, Ausfthrlich
dangelegt sind diese Iden in seinem mehrfach abge
dnuckten Aufsatz ,Sur le temps" (1988)."* Xenakis unter-
schied zwischen einer Existenz der Musik ,hors-ternps*,
39 Karlheinz Stockhausen, ;Musik im Raum” {1959}, i Texte,
‘Band 1, Kéln DuMont, 1963, 152-175, her 170.
40 Fabien Lévy, ,Form, Struktur und sinaliche Erfahnung*, in:
Musiktheorie 3/2007, Laaber, 222-225
41 Karlheinz Stockhausen, ,Momentform” (1960), in: Texte,
Band r, Kéln: DuMont, 1965, 186-210, hier 199,
42 Francois Delalande, 1 faut ére constarnment sm immaigné
Entretiens avoc Xenakis, Paris: Buchet/Chastel, 997, 55-58.
43 lannis Xenakis, Sure temps, in: Kélettha. Ecrts, Pars:
LiArche, 1994, 94-105. Ebenfalls zu finden in: Derselbe,
Concerning Time, Space Music‘, in: Formalized Music.
‘Thought and Mathematics in Composition, Stuyvesant
New York: Pendragon Press, 1992, 255-267,
MusikTexte 148,damit ihrer Teilhabe an einem auRerzeitlichen Raum
(Llespace hors-temps"), und gle flux temporel”. ,On peut
dire que tout schéma temporel précongu ou post-congu
est une représentation hors-temps du flux temporel”.
Alle Tonleitern, Tonarten und Architekturen wie die Fa-
ge, 80 schreibt er weiterhin, sind grundsitzlich au8er-
hhalb des Flusses der Zeit 2u denken, der an die Wahtneh-
‘mung eines Nacheinanders gebunden ist und damit an
ein riickbezichendes Gedachinis.
‘Xenakis geht von einer streng phinomenologischen
Vorstellung der Zeit aus: .Méme dans Vhypothése d'un
flux du temps objectf, indépendant de-moi, son appré:
henson par un sujet humain, donc par moi, doit passer
par des phénoménes-repéres du flux, d'abord percus,
puis inscrits dans ma mémoire.“* Die musikalisch ab-
laufende Zeit wird aus der Gesamtarchitektur gem lo
gischer Regeln konstruiert. Ausfihrlich hat er dies an
dem Cello-Solostiick ,Nomos Alpha“ (1963) erériert.*
Grundlegend ist die Struktur eines Wirfels mit seinen
cht Ecken, wobei die Ecken aus unterschiedlichen ,Wol-
kken* von Klangereignissen bestehen (zim Beispiel be-
steht eine Ecke aus punktuellen Pizzikatoklingen). Die
Ecken werden systeratisch-kombinatorisch tum die Ach-
sen gedreht, wodurch sich eine zeitliche Abfolge ergibt.
‘Wie immer solehe Komibinatorik neben anderen rauralich
und zeitlich anwendbaren Ordnungen, etwa der .Sieb-
technik*, sich mit intensiven Wirkungen auf den Hirer
verbinden konnten, so erlaubten sie Xenakis, darin der
Philosophie von Parmenides verpflichtet, auch einen
Verweis auf ein absolutes universales Sein (tant), ein
nicht erreichbares, nicht lesbares Kontinuum von Zeit
und Raum: .Le continu est done un tout unique remplis-
sant et 'espace etle temps.*"”
‘Ontologische und psychologische Zeit
Eine ontologische und cine psychologische Zeit hat Igor
Strawinsky unterschieden. In seiner musikalischen Poe-
tik schrieb er: ,Jeder weil, dass die Zeit auf unterschiedli-
che Weise abliuft, je nach innerer Disposition des Sub-
jekts und nach Ereignissen, die das Bewusstsein affizie
zen, Diese Verinderungen der psychologischen Zeit sind
‘nur wahrzunehmen durch die Bezichung auf das be
vwusste oder unbewusste Grundgefthl der wirklichen
Zeit, der ontologischen Zeit.“ Strawinksky bemerkt wei
techin, dass er mit diesem Zitat Ideen seines Freunds,
des russisch-ukrainischen Emigranten Pierre Souvtchin-
sky, wiedergebe. Es handelt sich dabei um mehr als eine
We Ebenda, 101
45 Ebenda, 98.
46 Balint Andrés Varga, Gespriche mit lannis Xenakis, Zitrich:
‘Alanis 1995, 86-87: Xenakis, Formalized Music, 219-256.
47 Xenakis, Sure temps, siehe Anmerkung 43, 99
48 Igor Suainsly, Pobtique Musicale sous forme de sx legons,
_zarst als: Poetic of Music, Cambridge, Massachusetts
Harvard University Press, 3942, crite Auflage, 1970, 30.
MusikTexte 148
Referenz. Denn Souvichinsky war, neben Roland-Manu-
cl einer der beiden Ghostwriter von Strawinskys Poetik.
Paychologisch ist eine Zeit, die sich steigem kann, mit
psychologischem Sinngehalt befrachtet und yaigt emotio-
nale Impulse aus. Die ontologische Zeit hingegen repra
sentiert die imhere Ordnung des Zeitablaufs, mit anderen
Worten, die Gesetze der musikalischen Ordnung, Schwie-
rigkeiten bereitet das Wort ontologisch. Denn aus der Poe-
tik konnte man vordergriindig den Gegensatz von einer
ausdruckshaltigen Musik mit stindig wechselnden In-
tensitéten herauslesen — Wagner wird als Beispiel ge
zannt-, und einer Rube ausstrahlenden, chronometrisch
lichmaftigen Musik. Souvichinsky scheint jedoch ,on-
‘ologisch auch in einem metaphysischen Sinne verstan-
den 2u haben, wenn er von einer erfahrbaren Zeit
spricht, die alle Wahmehmung pragt und der nicht un-
mittelbar erfalrbaren .non-temps*.” Wollte Strawinsky
ieses, nicht in der Zeit erfahrbare abstrakte Ordnungs-
prinzip durch eine Coincidentia oppositorum iu einem
Erlebnisinhalt werden lassen mittels der Uberlagerang
von untereinander unabhangigen Taktmodellen? Stereo-
‘yp spiclt der Kontrabassit im ersten Satz der ,Geschichte
vom Soldaten“ (ror8) eine gleichbleibende Figur. Sie
geht unbektimmert um die Taktwechsel der anderen
yme vonstatten. Aus dieser Gleichzeitigkeit von Ge-
gensatzlichem entsteht fiir den Horer ein ibergeordne-
ter Rhythmus. Ubemommen haben Elliott Carter wie
auch Aaron Copland diese Technik der metrischen ,De-
formation Allerdings macht Strawinskys Hinwendung
zur Religion” sie offen fiir metaphysische Uberlegungen.
Strawinsky, aus: .Marsch des Soldaten*
Olivier Messiaen, der den Rhythmus fiir das ,wesent-
lichste Element der Musik‘ ansah, hat, tels in Anleh-
rnung an Igor Strawinsky, die bislang umfangreichste
Rhythmustheorie neuer Musik vorgelegt. Wer beztglich
dieser Theotie Messiaens einer kurzen Einfihrung be-
dar sei auf sein Vorwort zum .Quatuor pour la fin du
‘temps* (r941) mit der ,Petite théorie de mon langage ryth:
rmique* verwiesen. Traditionelle Techniken wie Augmen-
49 Pierre Sowvtchinsky, La notion du temps etla musique, La
Revue Musicale 20, 1939, 31:~320, hier 313.
50 Ute Henseler, Zwischen ,musique pure" und religidsem
Bekeuntais, Hotheimn: Wolke, 2007.
51 Olivier Messizen, Conférence de Bruxelles (1958), Paris:
Leduc, 1960, dewtsch: ,Vortrag in Brussel’ in: Heinz-Kiaus
Metzger und Rainer Riehn (Herausgeber), Olivier Messiaen,
Musik:Konzepte 28, Munchen: text +kritik. 1982, 3-6, hier 3
52 Olivier Messizen, Traté de rythme, de couleur et orn
thologie, sieben Bunde, hier Band I, Paris: Leduc, 1995,
93-94
Seite 35aeple
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Diese Abfolge von nicht umkehrbaren Rhythmen hat Messiaen
im sechsten Satz seines Quartetis ,Danse de la fureur, pour les
sept rompettes", Zier F verwendet,
tation und Diminution spielen eine Rolle sowie antike und
fernstliche Rhythmen, dariiber hinaus besondere Zeit.
gestaltungen wie zum Beispiel die nicht umkebrbaren
Rhythmen, symmetrische Bildungen, die von vorne wie
von hinten gelesen gleich bleiben. Messiaen hatte die un-
terschiedlichsten Anregungen in seine Theorie aufge-
nommen.® Sicher liegt es 2um Teil in seiner Religiositit
Degriindet, velleicht aber auch den Diskussionen seiner
‘Zeit, dass ex eine Form ontologischer Zeitlosigheit kannte,
cine Ewigkeit als eine allumfassende Simultaneitat, die
kein Vorher und Nachher kenunt und den Raum mit ein
bezicht.
Becindruckt hatte ihn die Dissertation von Gistle Bre-
let Wie es scheint, interessicrte thn daran vor allem de-
ren Ubernahme der Zeittheorie von Henri Bergson mit
der Unterscheidung der gequantelten, gemessenen Zeit
(cum Beispiel durch die Uhr) vor kontinuierlichen Wer-
den eines ununterbrochenen FlieRens. Im Unterschied
xu der an duSeren Verinderungen im Raum oder durch
die Uhr gemessenen quantifizierenden temps espace*
ist ir Bergson die erlebte Dauer (cla durée") ein stin-
diger Fluss. Psychische Prozesse durchdringen sich in
stindigen Wandlungen, Dabei dehnt sich Vergangenes
in das Jetzt, das sich mit Erwartungen des Zukdinftigen|
verkniipht. Bergson sprach von einem .dynamischen An-
einanderkntipfen und sich untereinander Organisieren,
vergleichbar den Tonen einer Melodie*>®
Brelet hatte das unterbrochenen FlieBen der Zeit mit
deren finaler Richtung verbunden, was Messiaen kai
sierte, In diesem Zusammenhang spielen seine in sich
zuriicklaafenden, nicht umkehrbaren Rhychmen als Ver~
weis auf die ontologische Zeit der Ewigkeit eine Rolle.
53 Andrew D.), Shenton, ,Observations on Time i Olver
Messiaen’ Trl, in: Christopher Dingle and Nigel,
Simone, Olver Messiaen, Masi, Ax, and :tretize,
Aldershoé:Ashgste, 2007. 179-189, hier 187-169
$4 Gite Breit, Le terape musical, zwei Bind, Pars: Presse
Univenaire de France 1949.
5 Hons Bergson, Boa sures domes immédates de
conscience (880), deutsch von Pau Foh, Frankfurt am
Main: Athenaur, £989, 29
Seite 36
Bei aller Eewunderung fix Brelet stdrte hn auch deren
Ubemnahmen von Gedanken des in Frankreich selir be-
rihmten Philosophen Gaston Bachelard,” der seinerseits
Messiaens Rhythmik kritisiert hatte, weil sie nicht dem
phinomenologischen FlieRen der Musik folgten: Mes:
siaen wiinschte durchaus einen zeitlichen Riickbezug
beim Héren: ,Je mouvement rétrograde et les autres per
‘mutations... ie sont appréciés comme tels par V'auditeur
que rétrospectiverment, par rapport au tnéme texte enten-
du antérieurement en sens droit.*” Denn die symmetr-
sche Spiegelung der nicht umkehrbaren Khythmen hatte
Messiaen mit metaphysischen Spekulationen verbunden;
sie bereiten ,2u einem winzigen Teil" auf den Zustand
der Ewigheit vor.** In dieser Figkeit fallen Raum und
Zeit zusammen, jedoch hatte Messiaen, mit Widerhall
bei den fianztsischen Spektralisten, Musik nicht mehr
als reine Zeitkunst verstanden: ,la musique est un perpé-
tuel dialogue entre Vespace et le temps ... dislogue qui
aboutit @ une unification: le temps est un espace."** Ex
folgt hieria auch den vom ihm bewunderten Malern, Ro-
bert Delauney oder Charles Blanc Gatti, die in ihren Bil-
der Zcitlchkeit zu integrieren versuchten.
‘Zweifel an der reinen Linearitat der Zeit
Neuinterpretationen von Bergsons Theorie gab es vor al-
Jem in den Vierzigerjahren. Wichtige Beitrage hierzu
stammen von Maurice Merleau-Ponty. Er widersprach
der dee des kontinuierlichen FiieRens, zugunsten der Si-
rmultaneitit des Vergangenen in der Gegenwart, in der
“Zulkiinftiges erwartet wird. Er betonte zudern die mit der
‘Zeit verbundenen komplexen Erlebnisweisen des Réum-
lichen sticker als Erfahrung eines ,Prasenzfelds".°
Eine reine Linearitit der Zeit verabschiedete Brian Fer-
neyhough im vorletzien Absatz seiner Binftthrang zu
seiner ,Time and Motion Study II* fir einen singenden
Collsten und Live-Blektronik (1973-1076): «As with hu
‘man meruory the supposed linearity of time is here abol-
ished, its constituent ciphers are delivered up to the si-
rmultaneity of the individual conscious.** Angesprochen
ist damit die Wirkung des vorgeschriebenen ,delay-tape
Layouts" der Elektronik, die das LiveSpiel zeitverzgert
und zuncilen nicht exakt wiedergibt. Dies ist nur eines
der vielen Musikbeispiele, die Delay, Loops, et cetera ver~
wenden.
56 Gasion Bachelard, La dialectique dela durée (1936), Paris:
Presse Universitaire de France, 1950.
57 Olivier Messiaen, Traité,siehe Fulnote 52,45
58 Olivier Messiaen, Traité M1, ebends, 353-354
59 Olivier Messiaen, Conférence de Noire Dame, Paris: Leduc,
1978.5
60 Maurice Merleau-Ponty, Phinomenologie der Wahrehmung
(0945). tbersetzt von Rudolf Boehm, Berlin: De Gruyter,
sechste Auflage, 1966, 952, 472.
51 www.eition-peters.com
62 Tilman Baumggrtel, Schleifen. Zur Geschichte und Asthetik
des Loops, Berlin; Kadmos, 2015.
MusikTexte 148‘Musikalisch versuchte Morton Feldman, die abstrakte
Erfahnung einer gedehnten, flieRenden Zeit in seinem
Spitwerk durch die stindig werdenden, sich variativ une
rmerklich wandelnden Eindriicke erfahrbar zu machen,
aber er benutzte auch Wiederholungen von Patterns.
Feldman kannte die Philosophie von Bergson, wie aus
seiner .Darmstadt-Lecture hervorgeht."” Es ist wahr-
scheinlich, dass er auch mit der Lehre von Maurice Mer-
eave Ponty in Bertihrung gekommen war. Denn die ame
rikanische Minimal-Bewegung fand cine wichtige Be-
griindung bei Merleau-Ponty, dessen ,Phénomenclogie
der Wehmehmung" r962 ins Englische iibersetzt
worden war. Neu war die Bedeutung, die der Rezeption
rzugebilligt wurde. Der Rezipient sollte riurnlich und zeit.
lich einbezogen werden. Erst durch seine Prisenz gewinnt
die Kunst ihre Bedeutung und vermittlt das Erlebnis des
‘Zugegenseins im Kunstraum. Es wird nichts mehr repri-
sentiert, das aus der perspektivisch konstruierten Distanz
oder vorn Podium herab eine zu entziffernde Bedeutung
vermitten will Im Klang kénnen Erfahringen vor
gleichzeitig, nahe, hineinversetzt (als Hineinhoren) eine
Desondere Prisenz gewinnen.
La Monte Young, der den Ansto8 zur Minimal Music
gab, war seit seinem Trio ft Streicher (1958) durch Deh-
mung der Zeit zur ,Dauer* durch langausgehaltene Tone
und Pausen, diesem Konzept des Hineinhérens ver
pflichtet. Finf Stunden dauerte 1963 cine Auffhrung
seiner ,Composition No. 7* (1960), einer ausgehaltenen
Quinte hfs, in die intensiv hineingehért werden sollte.
Dieses Konzept des Hineinhdrens verdichtete sich in det
Drone-Musik des von shim gegriindeten musikalischen
Ensombles , The Theatre of Eternal Music’. Drone meint
hier cin -unvorherschbares Spiel der ObertOne in einem
konstanten Klang. La Monte Young verlieS mit dem ab
1962 konzipierten .Dream House" die Prisentations-
form des Vis.2-vis von Publikum und Podium. Durch die
Installation von genau auf den Raum berechneten Sinus-
schwingumgen bilden sich im ,Dream House" exakt be-
rechnete, ortsfeste stehende Wellen aus, die sich in
druckintensiven Knotenpunkten verschlingen. Der Hé
rer befindet sich mitten in der ungerichteten Zeit der
Drones mit ihrem reichen, in sich bewegien harmont-
schen Spektrum. Beim Umbergehen verindert sich die
Knotensteuktur der Schallwellen, Der Besucher wird
zam Performer, der die Zeitfolge der Klangereignisse
steuert. Er wird damit zu einem Mitproduzenten des
Kunstereignisses, dem sich allerdings das Ganze nie voll
stindig prisentiert. Er erfihrt, dass die unmittelbare
menschliche Wahrnehmung immer fragmentiert ist. Zu
sginglich ist nicht das Ganze, sondern nur das Umfeld
Solche durch die eigene Bewegung des Rezipienten er-
663 Morton Feldman, ,Darmstadt-Lecture*, in: Morton Feldman
Essays, herausgegeben von Waltcr Zimmermann, Kerpen:
Beginmer Press, 1985, 181-213, hier 184.
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veugte zeillche Klangstrukturierung des Raums spiett
eine wichtige Rolle in seit den Achtzigerjahren konzipier-
ten Klanginstallationen, die den Musikbegriff erweiterten.
Das situative Moment der Zeitkonstruktign bei mini-
alistischen Konzeptionen gilt auch fiir das bloRe Zuhé-
ren, Steve Reith hat dies durch leere Notenlinien deutlici
gemacht, auf die eventuell gehdrte Gesialten (,resulting
patterns") notiert werden Kénnten, die sich aus der Uber
lagerung von gleichen, zeitverschoben sich wiederholen-
den Phrasen ergeben (,Piano Phase" tind ,Violin Phase"
von 1967). Die Minimal Music, unabhingig davon, ob es
sich um langsame, graduelle Verschiebungen oder um
repetitive Pulse Music handelt, list nicht-linear gerichtete
Prozesse entstehen, die weit entfemt sind von jeglicher
kornpositorischer formalen Zeitgestaltung, weil es keine
éominante, hierarchisch aufeinander bezogene Phrasen
gibt. Es ist der Horer, der eine mgliche Gestalt auskris-
tallisiert. Die Prozesse, die sich entfalten, besitzen keinen
Jformulierten* Anfang und kein klares Ende. Sie kinnen
sehr lange dauern, wie bei Philip Glass’ mehr als vier
‘Stunden dauernder ,Music in Twelve Parts" (1972). Jona
than Kramer hemerkte im Zusammenhang einer Be-
sprechung der Musik von Terry Riley: ,The result is sim-
ple present, stretched out into an enormous duration, po-
tentially infinite ‘now’ that nonetheless feels like an in-
stant... {call the time sense evoked by such music ‘verti-
cal’ Der Begriff wertikal'erscheint alerdings nicht ganz,
aliickich gewahlt, ist er doch bereits musikalisch besetzt
{unter anderem durch Varésc). Er zeigt jedoch an, dass
sich mit der Kondensation von Vergangenheit und Z1-
Jkunft auf das Brlebnis der Gegenwart auch das Raumier-
lebnis verindert, weil sich das Bewussisein insgesamt
andert. Minimal Music, die Anregungen indischer und
sfrikanischer Musik aufnalhm, ist weit entfernt von jeg
chen finalen Vorstellungen der Zeit, Soll das Erlebnis
einer ontologischen Zeit hervorgerufen werden, wenn
Steve Reich die Moglichkeit anspricht, .znusical processes
can give 2 direct contact with the impersonal and also a
kind of complete control, and one doesn't always think of
the impersonal and complete control. as going together?"
Was ist dabei mit Kontvolle gemeint® Kann Minimal
Music, die nur eine klangliche Oberftiche obne verborge-
ne Strukturen zu prisenticren versucht, als reine Phimo-
menologie der Wahrnchmung bezeichnet werden? Bei
der besonderen Variante minimalistischer Musik von
‘Tom Johnson zihlt auch die Tiefenstruktur. Denn die
‘gcometrischen Ordnungen oder arithmetischen Regeln,
Symmetrien oder das Pascalsche Dreieck, die er fiir sein
Komponieren verwendet, verweisen auf eine auSerzeit-
liche, nicht-individuatistisch geprigte Logik ohne An-
sspruch, das Universum verbessern zu kénnen. Daher ist
‘64 jonathan Kramer, siche FiRmnote 2, 55,
65 Steve Reich, Writings about Music, New York: University
Press, 1974, 10.
Seite 37rr
cr iberzeugt, ,... that it makes more sense to respect
these principles and let them make the statement without
presuming to be able to add too much,“**
Fin neues Problem: ,Nahe fern"?
Die Diversifizierang der Zetiauffassungen, die seit dem
zwanzigsten Jahrhundert statigefunden hat, setzt sich
fort, wobei bislang entwickette Konzeptionen beibehalten
werden, Dies gilt beispielswe'se fir das Extrapolieren von
Musik in den Realraum, das durch die Verwendung von
Live-Tlektronik begiinstigt wird, Auch des .UmWaypest
von Zeit in den Raum’, das sich schon in der Zwélfton-
‘musik findet, gehirt nach wie vor zu den kompositori-
schen Techniken. Es verdanlt sich der gleichen istheti-
schen Intention, eine strukturell mdglichst hohe Dichte
zuerzielen, be stiistisch groen Unterschieden, Helmut
Lachenmanns Idee des komplexen Strukturklangs zielt
auf eine solche prozessuale Umsetzuing, die ,tiber jede
sirmultane Klangvorstellung hinaus der formalen Projek-
sn abzuiastenden Zeit Raum bedarf Brian
Fetneyhough entwickelte mit seinem aus einer Geste ab-
ageleiteten Begriff der musikalischen Gestalt (Figur) deren
Deformationen eine Weiterentwicklung exméglicht,
ebenfalls die Vorstellung einer Integration von Teil und
Ganzem. Dehnungen eines Klangs auf der Zeitachse
‘oder Herausfiltern von Teileigenschaften, Auseinander-
Zichen einer Klangfarbe zu einer Melodie und anderes
‘mehr sind typische Verfahren der Gestaltung von Zeit.
verliufen der Spektralmusik Gérard Grisey bestimmte
sie jedoch als irreversibel im Unterschied za den nicht-
uumikehrbaren Rhythmen seines Lehrers Messiaen.
‘Neu und als solche noch wenig reflektiert sind die im
‘Zwischenreich von Experimentalfilm und Musiktheater
angesiedelten Konzerte mit der Begleitung durch Videos.
Welche Zeit ist gemeint, wern sich Bild und Ton, Auge
und Ohr asynchron zueinander verhalten, weil das Bild
zeitverzdgert projiziert wird?
Den Komponisten hat sich jedoch gegen Ende des letz
ten Jahchunderts verstarkt das Problem der Gleichzeitig.
eit des Ungleichzeitigen in einer Musikicultur gestllt,
in der altere Werke so prasent sind, dass man sie nicht
einer Vergangenheit zurechnen konnte, Die Hoffmungen
friherer Generationen, das Zeitgendssisch-Neue kénnte
das Vergangene ersetzen, scheinen nicht mehr tragfahig.
tion in ei
66 Tom Johnson, Symmetries, New York: 218 Press, 1981,
Introduction, one Sette [4
67 Helmut Lachenmann, Musik sls exstentielle Exfahrung,
Wiesbaden: Breithopf & Hart, 1996, 18.
68 Brian Femeyhough, Form Fgure— Siyle. An intermediate
‘Assessment, in: Collected Writings, herausgegeben von
James Boros und Richard Too9, Amsterdam: Harwood,
1995, 21-28. Obersetrung von Claus Steffen Mahnkopf,
‘in: MusilTexte 37, Koln, Dezember 1990, 7-10.
69 Gérard Grfsey,.Tempus ex machina. Reflesionen tiber die
‘musilalische Zeit’ in: Neulard. Ansitze eur Musil der
Gegenwart, Band 3, Bergisch Gladbach, 1983, 190-20,
Seite 38
Nahe fern" (1-4, 2011/2012), der Titel einer vierteiligen
Orchesterkomposition von Wolfgang Rihm, der Tradi-
tion immer als die eigene-anzueignende verstand, ist das,
Motto dieses Abschnitts. Rihm hat sich weniger durch
Zitate oder dutch direkte Reminiszenzen auf die traditi:
nellen Werke bezogen, sondern durch satztechnische
Verfahren, darin vergleichbar der Verpflichtung, die
Schonberg beziiglich der Kompositionstechnik von Jo-
hhannes Brahms empfand,
Eine Vorlauferfunktion fiir das neuere Verstindnis des
wpluralistischen Kumpuuierens” kounal Beta Alvis
‘Zimmermann zu mit der Annahme einer .Kugelgestalt,
der Zeit", von der er anlisslich der ,Soldaten" (1963)
schrieb: ,Zulunft, Gegenwart und Vergangenheit wer-
den vertauschbar."” Er trug dem Umstand des Gleichzci-
tig Ungleichzeitigen durch die Oberlagerung stilistisch
unterschiedlicher Schichten Rechnung, die er aber auf:
einander bezog durch eine Form des Tonhdhen integrie:
renden Collagierens in ciner ZwolRonreihe.
Dem Versuch, ob aus der Kombination von Ait und
Neu eine Uberzetliche Struktur 2u gewinnen sei, widmete
1968/1969 Luciano Berio seine .Sinfonia* (unter ande-
rem mit der Verwendung einer Zitatcollage von Gustav
Mablers Zweiter Sinfonie). Er war dazu von Claude Lévi-
Strauss’ Strukturbegrff angeregt worden. Komponisten
wie Manfted Trojahn oder Detlev Glanert stellen sich in
jiimgerer Zeit ebenfalls bewusst der Frage, ob und wie
sich Aneignungen der ‘Tradition finden lassen. Zahlrei
che Aktualisierungen von Musik der Vergangenheit im
Geiste der neuen Musik finden sich bei Salvatore Sciarri-
no. Als Stimme hinter Glas lsst er die Musik von Carlo
Gesualdo horen, gespiegelt in neuer Klanglichkeit (,Le
voci sottovetro fiir Ensemble, Stimme, 1998). Das Mu-
siktheater verlangt nach Ausdruckscharakteren, die nicht
immer mit den Miiteln der neuen Musik zu erreichen
sind. Giorgio Battistelli oder Lucia Roncheti filtern sie
‘quasi aus alteren Werken und verschmelzen sie mit neu-
cen musiksprachlichen Mitteln, besser zu sagen: Sie legie-
ten sie, vergleichbar wie man Gold mit Kupfer hirtet.
Hatten sich im Denken von Komponisten im zwan-
zigsten Jahrhundert, zwar nicht in ihren Werken, aber
doch in ihrem allgemeinen Anspruch, noch viele Jahr
zehnte hindurch die Vorstellungen des die Vergangen-
heit dberwindenden, vektorill auf die Zukunft gerichte-
ten Zeitpfeils erhalten, so scheint heute eine solche finale
Zeitkonstruktion nicht mehr tragfabig, Stattdessen zeigt
sich ein weitgespannter Horizont von Zeitvorstellungen.
70 Bend Alois Zimmermann, Intervll und Zeit Aufeitze und
Schriften, herausgegeben von Christo Bitter, Mainz: Schot,
1974.96.
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