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Rochade
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d4
Als sich seine Hand öffnet, enthält sie einen
schwarzen Bauern. Also Schwarz. Er darf mit den
weißen Steinen beginnen. Ich habe die Schwar-
zen.
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ne linke Hand entscheiden können. Also doch
Entscheidung. Aber er hätte den schwarzen Bau-
ern in seiner linken Hand verbergen können und
ich hätte dann bei der Entscheidung für seine
rechte Hand einen weißen Bauern gezogen. Vo-
rausgesetzt, seine Entscheidung wäre unverändert
geblieben.
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Sf6
Springer nach f6. Er hat seinen Bauern kaum ab-
gesetzt, als ich meinen schwarzen g8-Springer
aufnehme. Er weiß natürlich, dass in der Eröff-
nungsphase vieles festliegt. Dennoch kann die
Demonstration von Entschlossenheit nicht scha-
den. Ich hoffe, er hat es wahrgenommen. Sehen
kann man Entschlossenheit nicht, sondern nur die
schnell gesetzte Figur, die Entschlossenheit simu-
liert.
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Offensichtlich sahen sie etwas, was ich nicht sah.
Später erst wurde mir bewusst, was diese Schach-
spieler außer einem karierten Brett und Spielfigu-
ren noch bemerkten. Sie sahen Regeln, Zugmög-
lichkeiten, Gefahren und Chancen. Sie berechne-
ten den Wert von Figuren und den Wert einer
Stellung. Sie verglichen Positionen. Sie versuch-
ten, die Spielzüge des Gegners vorauszusehen.
Das gelang umso besser, je weniger chancen-
reiche Möglichkeiten man dem Anderen ließ.
c4
Meine Augen melden meinem Gehirn seinen Zug.
Bauer c2 auf c4. Er geht vorsichtig vor und ent-
wickelt seine Bauern zunächst einmal außerhalb
meiner Reichweite. Es sieht jedenfalls vorsichtig
und solide aus, denke ich.
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ner noch nicht erkennbaren Gefahr dringen in den
Vordergrund. Der Puls wird geringfügig be-
schleunigt, da die Absicht des Zuges noch unklar
ist. Gegensteuerungen werden ermuntert. Es liegt
eigentlich keine Gefahr vor. Ruhig bleiben. Alles
solide prüfen und bewerten. Obwohl es in der
Einführungsphase auf ausgetretenen Bahnen
vorwärts geht, sind Überraschungen nicht ausge-
schlossen. Ausgetretene Wege machen schläfrig.
Und Schläfrigkeit ist hinderlich.
e6
Mein Zug auf eingefahrenen Wegen: der schwar-
ze Königsbauer nach e6. Der Gang auf Trampel-
pfaden hinterlässt keine Spuren. Alles ist zigmal
dokumentiert und ausgerechnet. Im Gehirn sind
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die Trampelpfade namentlich und kombinatorisch
gespeichert und abrufbar: Mittelgambit, Italie-
nisch, Königsgambit, Holländisch, Sizilianisch,
Französisch, Königsindisch und mehr.
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Welchen Sinn macht dieses Spiel? Wenn ich nach
dem großen Sinn frage, verliere ich meine
Aggressionen. Nur der kurze und greifbare Sinn
hilft jetzt weiter. Weiß sollte nicht gewinnen. Mit
diesem Sinn bin ich unterwegs auf dem Tram-
pelpfad und warte auf seinen Zug. Er wird nicht
lange überlegen, denn auch sein Gehirn durch-
wühlt noch Kataloge und Register.
Sf3
Er zieht seinen Springer von der Grundlinie nach
f3. Das kommt keineswegs unerwartet, ist Be-
standteil eines Trampelpfades. Ist es der Tram-
pfelpfad in Richtung Damenindisch?
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Zugmöglichkeiten? Sie sind nicht auf dem Brett
erkennbar, sie sind nicht als eletrochemisch-
biologischer Prozess in irgendeinem Gehirn, aber
dennoch sind sie möglich. Ist etwas, was nur
möglich ist, aber niemand kennt, schon in der
Welt?
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Mit jedem Zug werden Claims abgesteckt. Alles
ist noch sehr übersichtlich. Es ist auch nur ein
Brett mit 64 Feldern und 32 Figuren. Mehr ist
nicht zu sehen. Das Weitere macht das Gehirn. Es
fügt hinzu, was benötigt wird und erschafft sich
seine Welt, angestoßen von der Wahrnehmung
eines Wirklichkeitsausschnitts.
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Nicht alles, was in diesem Raum ist, wird über
Sinnesorgane an das Gehirn geleitet. Es fehlen
die Töne, die eine Fledermaus noch bemerken
kann, es fehlen die Gerüche, die ein Hund noch
erschnüffeln kann, es fehlen die Radiowellen, die
man ohne technische Mittel nicht hören kann, ob-
wohl doch alles und noch mehr vorhanden ist.
Keine einzige Ultrakurzwelle, die durch den
Raum streicht, ist Bestandteil meiner Wirklich-
keit.
Sc3
Wie erwartet. Er rückt den anderen Springer vor.
Manchmal treten Erwartungen ein. Das Gehirn
spürt, dass von vielen Möglichkeiten eine so
wahrscheinlich ist, dass das Eintreten als sicher
gelten kann. Sein Springerzug gehört dazu und
meine Antwort ist parat.
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Amsterdam geklaut. Ich hatte ihn vor einem Ab-
steigehotel für arme Wanderer an eine Hauswand
gelehnt. Das Hotel war ein dunkles und einge-
flecktes Haus. In seinem Flur hinter der schweren
Eingangstür befand sich ein Automat. Gegen Ein-
wurf einer Münze konnte man einen Schlüssel
aus einem Fach nehmen wie eine Zigaretten-
packung aus einem Zigarettenautomaten. Am
Schlüssel befand sich ein Metallplättchen mit der
eingestanzten Nummer 7. Ich wusste, dass dieses
meine Zimmernummer war, obwohl es keinen
Beipackzettel gab.
Lb4
Was tun? Es wird Zeit, Platz für den schwarzen
König zu besorgen, damit er sich schützen kann.
Platz für eine kleine Rochade. Also Läufer nach
e7. Das ist allerdings brav und er erwartet es
vermutlich. Bauer nach c5 ist auch möglich.
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sentlich verändert wurde. So kann man sich auch
heute noch, obwohl man die Großhirnrinde für
das Schachspielen zur Verfügung hat, zu anderen
Zeiten benehmen wie ein Frosch, dem es nur um
die Jagd nach einer Fliege geht. Es kam immer
etwas hinzu. Mit jeder Lücke, die die Natur in
ihrer Geschichte ließ, gab sie die Möglichkeit,
dem Gehirn etwas hinzuzufügen.
e3
Weißer Bauer nach e3. Er macht den Weg für sei-
nen Läufer frei, der der kleinen Rochade hinder-
lich im Wege steht, schützt den d4-Bauern
zusätzlich und mehr. Eine klassische Entwick-
lung. Nichts Besonderes.
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Man müsste wissen, was er außer Schachbrett
und Spielfiguren noch sieht. Zunächst sieht er
weniger als vorhanden ist. Augen, Ohren, Nase
und Haut nehmen nur einen winzig kleinen Aus-
schnitt der Wirklichkeit wahr. Das Wenige wird
im Gehirn sofort interpretiert. Aus bestimmten
Wellenlängen werden Farben, aus anderen Geräu-
sche. Bestimmte Moleküle werden zu Düften und
Molekularbewegungen zu Temperaturempfindun-
gen. Dabei gibt es weder Farben, Geräusche,
Düfte, Kälte oder Wärme. Nichts als Interpre-
tation einer ganz anderen Wirklichkeit.
0-0
Nun stehen die Bauern wie Sicherheitsbeamte vor
ihrem schwarzen König. Gut so. Er wird es in
Kürze ähnlich machen.
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chaisches Subsystem machen?
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