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Coverfoto Ulrike Kirsch


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Rolf Kirsch

Rochade

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d4
Als sich seine Hand öffnet, enthält sie einen
schwarzen Bauern. Also Schwarz. Er darf mit den
weißen Steinen beginnen. Ich habe die Schwar-
zen.

Keine gute Ausgangssituation für mich. Wer


Schwarz hat, muss reagieren. Erst im Laufe eines
Spiels kann sich alles ändern. Wer Weiß hat, hat
zunächst viel mehr Möglichkeiten. Aber nur am
Anfang.

Zufall eben. Was ist schon Zufall? Ich habe auf


seine rechte Hand gezeigt. Ich hätte mich für sei-

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ne linke Hand entscheiden können. Also doch
Entscheidung. Aber er hätte den schwarzen Bau-
ern in seiner linken Hand verbergen können und
ich hätte dann bei der Entscheidung für seine
rechte Hand einen weißen Bauern gezogen. Vo-
rausgesetzt, seine Entscheidung wäre unverändert
geblieben.

Wir beide haben vorher nichts von unseren Ent-


scheidungen gewusst. Oder vielleicht doch? Eine
kleine Ahnung vielleicht nur. Hat er geahnt, dass
ich auf seine rechte Hand zeigen würde und daher
den schwarzen Bauern dort untergebracht? Hat er
vorher ungeschriebene Tabellen und Listen stu-
diert, auf welche Hand ich meistens zeige. Wir
spielen schließlich nicht zum ersten Male gegen-
einander.

Ich habe gelesen, dass das Gehirn eine Entschei-


dung trifft und dem Gehirneigner anschließend
mitteilt, welche Entscheidung bereits getroffen
wurde. Wie das Herz ohne unsere Anstrengung
schlägt, so trifft mein Gehirn eine Entscheidung
ohne mich. Dazu wird ein freier Wille simuliert,
der den Vollzug, der längst feststeht, rechtfertigt.
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Hat mein Gehirn bei seiner Entscheidung feine
Gehirnströme produziert, die über elektromagne-
tische Wellen seinem Gehirn eine Botschaft ver-
mittelt, eine Botschaft, die nun sein Gehirn kennt,
ihm einen freien Willen simuliert und ihn veran-
lasst, einen schwarzen Bauern in seiner rechter
Hand zu verstecken?

Vielleicht sind alle Dinge und Aktionen mehr


miteinander verbunden, als wir ahnen. Kompli-
ziert. Das Spiel, das nun beginnt und noch man-
cherlei Entscheidungen von uns verlangt, ist weit-
aus komplexer. Oder nicht?

Wir setzen uns. Ich schaue kurz hoch und nehme


seinen Blick auf. Wir werden uns während des
Spiels nicht mehr oft ansehen. Wir werden all-
mählich zu Feinden werden, ausgerüstet mit den
Waffen der Logik, der Taktik, der Strategie, der
vielen psychischen Manöver verschiedenster Art.

Eines seiner Manöver ist ein leises Seufzen vor


dem ersten Zug. Mit diesem Seufzen, kaum be-
merkbar, will er mir offenbar mitteilen, dass es
für ihn reine Zeitverschwendung sein wird, sich
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mit mir auf einem Schachbrettschlachtfeld zu
streiten. Oder hat er gar nicht geseufzt und ich ha-
be es nur erwartet und deswegen wahrgenom-
men?

Er wird sich über mich wundern. Ich hoffe, es


werden noch ein paar Hormone freigesetzt durch
dieses abfällige Seufzen. Adrelanine, die mir die
nötige Aggression geben. Aber nicht zu viel.
Schwarz sollte mehr als Weiß am Anfang auf
Deckung setzen.

Mein Manöver wird sein, dass ich seinen ersten


Zug in Sekundenschnelle beantworte. Alle Eröff-
nungen sind durchgerechnet und kommentiert.
Mein erster Zug liegt fest, wenn ich seinen kenne.
Irgendwann werde ich eine kleine Überraschung
einbauen, aber nicht beim ersten Zug, sondern
später. Einige Zeit später. Vermutlich wird er den
Damenbauern zwei Felder vorrücken.

Es ist geschehen. Bauer auf d4.

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Sf6
Springer nach f6. Er hat seinen Bauern kaum ab-
gesetzt, als ich meinen schwarzen g8-Springer
aufnehme. Er weiß natürlich, dass in der Eröff-
nungsphase vieles festliegt. Dennoch kann die
Demonstration von Entschlossenheit nicht scha-
den. Ich hoffe, er hat es wahrgenommen. Sehen
kann man Entschlossenheit nicht, sondern nur die
schnell gesetzte Figur, die Entschlossenheit simu-
liert.

Was kann man überhaupt sehen? Ein Brett mit 64


Feldern, kariert angelegt, schwarz und weiß ein-
gefärbt. Darauf 32 Figuren, die Hälfte schwarz,
die andere Hälfte weiß. Nichts weiter sieht man.

Als ich - ein kleiner Junge von fünf Jahren -


Schachspielern zusah, wunderte ich mich, wie
lange sie die Figuren anstarrten, ohne etwas zu
tun. Sie schauten nur auf das Brett. Hin und wie-
der nahm einer der beiden einen Stein in die Hand
und stellten ihn auf ein anderes Feld. Dann schau-
ten sie wieder viele Minuten. Dennoch nannten
sie es "Spielen".

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Offensichtlich sahen sie etwas, was ich nicht sah.
Später erst wurde mir bewusst, was diese Schach-
spieler außer einem karierten Brett und Spielfigu-
ren noch bemerkten. Sie sahen Regeln, Zugmög-
lichkeiten, Gefahren und Chancen. Sie berechne-
ten den Wert von Figuren und den Wert einer
Stellung. Sie verglichen Positionen. Sie versuch-
ten, die Spielzüge des Gegners vorauszusehen.
Das gelang umso besser, je weniger chancen-
reiche Möglichkeiten man dem Anderen ließ.

Die Augen hätten dieses alles nicht sehen können.


Augen können nur das Brett und die Spielfiguren
sehen. Was es darüber hinaus zu sehen gibt, das
"sieht" das Gehirn ohne Hilfen. Das Gehirn fügt
hinzu, was die Augen nicht sehen können. Es fügt
Kenntnisse und Erfahrungen hinzu, allgemeine
und spezielle Kenntnisse und individuelle Erfah-
rungen.

Das, was die Wirklichkeit ausmacht und was


durch Augen, Ohren oder Nase wahrgenommen
werden kann, wird ergänzt durch das, was das
Gehirn bereitstellt oder erfindet. Ist das, was das
Gehirn gerade verwaltet, nun auch Wirklichkeit?
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Zumindest wird es spätestens dann Wirklichkeit,
wenn alle Überlegungen dazu geführt haben, dass
nun eine Figur anders steht als vorher. Zwischen
diesen beiden Zuständen muss etwas geschehen
sein, was den ersten Zustand in den zweiten über-
führt hat. Was sind Gedanken? Sind Gedanken
Wirklichkeit? Sie schaffen Wirklichkeit, das steht
fest. Kann Wirklichkeit geschaffen werden durch
etwas, was nicht wirklich ist? Plausibel ist eher,
die Verdrahtungen und Schaltungen im Gehirn
als Wirklichkeit anzusehen. Unsere Sprachmuster
neigen dazu, uns Geheimnisvolles und Unerklär-
bares vorzugaukeln und werden damit zu Quellen
des Glaubens, der das Nichtwissen nicht erträgt.

Ich bleibe dabei. Ein Gedanke ist wirklich, wahr-


nehmbar spätestens durch eine Schachfigur, die
nun auf einem anderen Feld als zuvor steht. Auch
nach Jahrzehnten ist der Gedanke noch durch
Striche auf Papier, durch das Protokoll eines
Spielverlaufs, durch eine Liste von Notationen
wiederherstellbar.

Ich nehme an, er wird seine Bauern weiter ent-


wickeln. Mein Gehirn erwartet es. Sein Gehirn
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wird es ihm so sagen, als habe er kraft seines frei-
en Willens entschieden. Eine perfekte Simulation.

c4
Meine Augen melden meinem Gehirn seinen Zug.
Bauer c2 auf c4. Er geht vorsichtig vor und ent-
wickelt seine Bauern zunächst einmal außerhalb
meiner Reichweite. Es sieht jedenfalls vorsichtig
und solide aus, denke ich.

Was er denkt, weiß ich nicht. Welchen Plan ver-


folgt er wirklich? Was denkt er, was ich denke?
Die Vernetzung und Verdrahtung der Gehirne en-
det an der Gehirnschale. Mitteilungen nach außen
gibt es nur als Augenaufschlag, als zusammen-
gepresste Lippen, als blasenden Atem oder sonst-
wie. Schwierig zu enträtseln.

Innerhalb der Schädelräume werden Kenntnisse


und Erfahrungen aktiviert. Die Wahrnehmung be-
zieht sich nur auf die gesetzte Figur. Das Denken
beschäftigt sich mit wesentlich mehr. Aber
Kenntnisse und Erfahrungen liegen nicht sauber
vor. Ängste mischen sich ein. Warnungen vor ei-

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ner noch nicht erkennbaren Gefahr dringen in den
Vordergrund. Der Puls wird geringfügig be-
schleunigt, da die Absicht des Zuges noch unklar
ist. Gegensteuerungen werden ermuntert. Es liegt
eigentlich keine Gefahr vor. Ruhig bleiben. Alles
solide prüfen und bewerten. Obwohl es in der
Einführungsphase auf ausgetretenen Bahnen
vorwärts geht, sind Überraschungen nicht ausge-
schlossen. Ausgetretene Wege machen schläfrig.
Und Schläfrigkeit ist hinderlich.

Es gibt wesentlich mehr Hindernisse: Traurigkeit


und Stress, überschäumende Freude und mehr.
Die Einsamkeit des Sitzplatzes macht bisweilen
ratlos. Der Stuhl ist unbequem. Die Schuhe
drücken. Alle Einflüsse werden registriert und be-
hindern die strategischen und taktischen Überle-
gungen. Im Zuschauerraum wird geraschelt.

Das Gehirn ist ein Organ, verbunden mit Rezep-


toren, die alles aufnehmen, wozu sie imstande
sind. Das Gehirn spielt nicht nur Schach, sondern
achtet nebenbei auf andere Einflüsse, die Gefah-
ren darstellen könnten. Der Rundumschutz ist
eingeschaltet. Trotz intensiver Konzentration lässt
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sich dieses unsichtbare Schild nicht abräumen.
Mein Gehirn achtet auf mich, ohne dass ich es be-
einflussen kann. Es warnt rechtzeitig, sofern es
gelernt hat, wovor es warnen soll.

Es wird mir meinen nächsten Zug diktieren, der


in dieser Situation aussichtsreich erscheint. Es
wird meiner rechten Hand sagen, welche Figur
als nächstes gezogen werden soll. Die Übermitt-
lung dieser Anordnung übernehme ich, dem die-
ses Ich vorgegaukelt wurde, damit der Gesamtor-
ganismus handlungsfähig wird. So muss es sein.
Denn ohne mein Gehirn gibt es auch kein Ich.

Ich werde noch ein paar Züge auf ausgetretenen


Wegen machen. Irgendwann muss ich ihn über-
raschen, damit wir ins Mittelspiel kommen. Je
früher, desto besser.

e6
Mein Zug auf eingefahrenen Wegen: der schwar-
ze Königsbauer nach e6. Der Gang auf Trampel-
pfaden hinterlässt keine Spuren. Alles ist zigmal
dokumentiert und ausgerechnet. Im Gehirn sind

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die Trampelpfade namentlich und kombinatorisch
gespeichert und abrufbar: Mittelgambit, Italie-
nisch, Königsgambit, Holländisch, Sizilianisch,
Französisch, Königsindisch und mehr.

Was hätte ich gezogen, wenn diese Eröffnungs-


trampelpfade nicht in meinem Gehirn gespeichert
wären? Ich sollte die Kombinationen vergessen
können. Es sollte einen Knopf geben, der Ge-
speichertes und Angelerntes löschen kann. Noch
einmal ganz von vorn anfangen. Störende Erfah-
rungen wegwischen. Was käme dabei heraus,
wenn man keine Erfahrungen mehr hat?

Nicht nur beim Schach wäre eine solche


Möglichkeit interessant. Erinnerungen an Pein-
lichkeiten der früheren Jahre, die einem heute
noch die Schamröte ins Gesicht hitzen, einfach
ausblenden können. Sie werden dadurch nicht
mehr rückgängig gemacht, aber sie würden uns
unsere Erinnerungen nicht vergrauen. Oder die
Trauer um endgültig Verlorenes verkürzen. Auch
nicht schlecht. Eine Pflicht nicht erfüllt, eine Ver-
antwortungslosigkeit begangen. Alles wegwi-
schen. Ein Knopfdruck und das Leben beginnt
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neu. Wer keine Erinnerungen mehr hat, der be-
ginnt neu. Zwangsläufig.

Das Gehirn lässt sich nicht darauf ein, versteckt


Traumatisches in den Hinterstuben und kramt es
zu unpassenden Momenten hervor, lagert Erinne-
rungen ab und verfälscht sie über die Jahre zu Le-
genden und Heldentaten, lässt Vergangenes im-
mer wieder in Sprachmuster einfließen, bis sie
zum Geschwätz verkommen sind. Und das alles,
um den Gesamtorganismus zu schützen und zu
bewahren. Oder weswegen?

Das Gehirn ist ein selbständiges Organ. Ich kann


ihm nichts aufzwingen. Vielmehr zwingt es mir
etwas auf, zum Beispiel eine Erinnerung, auch
wenn ich sie nicht abrufe, einen Traum, der mich
fliegen oder abstürzen lässt, der mich rätseln
lässt, was er bedeutet. Das Gehirn lässt mich fra-
gen, ob ich nach dem Aufwachen wirklich wach
bin oder in einem anderen Traum wie in einer
Röhre vorwärts getrieben werde. Es zwingt mich,
nach einem Sinn zu fragen, den es möglicher-
weise nicht gibt.

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Welchen Sinn macht dieses Spiel? Wenn ich nach
dem großen Sinn frage, verliere ich meine
Aggressionen. Nur der kurze und greifbare Sinn
hilft jetzt weiter. Weiß sollte nicht gewinnen. Mit
diesem Sinn bin ich unterwegs auf dem Tram-
pelpfad und warte auf seinen Zug. Er wird nicht
lange überlegen, denn auch sein Gehirn durch-
wühlt noch Kataloge und Register.

Sf3
Er zieht seinen Springer von der Grundlinie nach
f3. Das kommt keineswegs unerwartet, ist Be-
standteil eines Trampelpfades. Ist es der Tram-
pfelpfad in Richtung Damenindisch?

Auch seine Augen sehen nur das Brett und die


Figuren. Auch sein Gehirn kennt mehr, nämlich
Regeln, Kombinationen, Gefahrenstellen, Verfüh-
rungen, Einladungen, Fallen. Kennt sein Gehirn
mehr Kombinationen als meines?

Gibt es Kombinationen, die keiner von uns be-


merkt? Sind Kombinationen, die keiner von uns
oder auch sonst niemand wahrnimmt, wirklich

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Zugmöglichkeiten? Sie sind nicht auf dem Brett
erkennbar, sie sind nicht als eletrochemisch-
biologischer Prozess in irgendeinem Gehirn, aber
dennoch sind sie möglich. Ist etwas, was nur
möglich ist, aber niemand kennt, schon in der
Welt?

Eine schwierige Frage. Den Satz des Pythagoras


gibt es, seit es Pythagoras gibt. Die Summe der
Quadrate über den Katheten in einem
rechtwinkligen Dreieck ist gleich dem Quadrat
über der Hypotenuse. Dieser Satz ist richtig. Er
ist in der Welt, als aufgeschriebene Formel, als
Vorstellung im Gehirn, als geometrische Figura-
tion auf einem Blatt Papier. Richtig, korrekt, real,
unwiderlegbar, wie in Stein gemeißelt.

War diese Formel auch schon vor der Geburt des


Pythagoras real? Niemand kannte damals diesen
Satz. In keinem Gehirn fanden seinerzeit elektro-
chemisch-biologische Prozesse statt, um ihn in
den Vordergrund des Bewusstseins zu schaffen.
In keinem Erinnerungsbereich war er eingelagert.
Er stand auf keinem Papier und war in keinen
Stein gemeisselt. Er war also nicht real, obgleich
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richtig. Kann etwas richtig sein, was nicht real
ist?

Seit Pythagoras ist dieser Satz real, seine Rich-


tigkeit belegt. Ein Satz geschaffen durch ein Ge-
hirn, angestoßen durch die Beobachtung der
Wirklichkeit, diese erweiternd. Eine weitere Deu-
tung wurde hinzugefügt, eine Wirklichkeit ge-
schaffen durch ein Gehirn. Oder doch nur aufge-
funden?

Die Einladung nach Damenindisch werde ich


nicht annehmen. Möglicherweise kennt er sich
damit besser aus als ich. Ich nehme einen anderen
Trampelpfad.

d5
Mit jedem Zug werden Claims abgesteckt. Alles
ist noch sehr übersichtlich. Es ist auch nur ein
Brett mit 64 Feldern und 32 Figuren. Mehr ist
nicht zu sehen. Das Weitere macht das Gehirn. Es
fügt hinzu, was benötigt wird und erschafft sich
seine Welt, angestoßen von der Wahrnehmung
eines Wirklichkeitsausschnitts.

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Nicht alles, was in diesem Raum ist, wird über
Sinnesorgane an das Gehirn geleitet. Es fehlen
die Töne, die eine Fledermaus noch bemerken
kann, es fehlen die Gerüche, die ein Hund noch
erschnüffeln kann, es fehlen die Radiowellen, die
man ohne technische Mittel nicht hören kann, ob-
wohl doch alles und noch mehr vorhanden ist.
Keine einzige Ultrakurzwelle, die durch den
Raum streicht, ist Bestandteil meiner Wirklich-
keit.

Die Welt bietet weitaus mehr. Meine Sinnesor-


gane stehen nur für einen winzigen Ausschnitt
von der Wirklichkeit zur Verfügung. Diesen klei-
nen Ausschnitt leiten sie ans Gehirn. Das Gehirn
fügt Erfahrungen und Erlerntes, Emotionen und
Bewertungen hinzu und schmiedet eine neue
Welt für mich. Ich begreife nicht, was ist, sondern
was mir serviert wird. Millionen Jahre der Evo-
lution haben mein Gehirn geprägt und es veran-
lasst, in diesem Moment eine Welt zu simulieren,
die nicht die wirkliche ist. Dabei ist dieses Gehirn
nicht einmal perfekt genug, diese Simulation opti-
mal für mich zu nutzen. Möglicherweise verliere
ich dieses Spiel, weil das Gehirn meines Gegners
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eine erfolgreichere Simulation der Außenwelt für
ihn bereitstellt. Millionen Jahre ist es so gegan-
gen. In die offenen Nischen der Natur drangen die
erfolgreichen Abbildungen der Außenwelt, nicht
die wahrheitsgetreuen.

Abgerechnet wird zum Schluss.

Wenn er seinen zweiten Springer entwickelt,


kommt mein Läufer aus der Grundreihe, damit
ein sicherer Platz für meinen König über eine
kleine Rochade hinter der Bauernreihe entsteht.
Läufer nach e7 wäre nach seinem Springerzug
möglich. Falls der Springer springt. Falls.

Sc3
Wie erwartet. Er rückt den anderen Springer vor.
Manchmal treten Erwartungen ein. Das Gehirn
spürt, dass von vielen Möglichkeiten eine so
wahrscheinlich ist, dass das Eintreten als sicher
gelten kann. Sein Springerzug gehört dazu und
meine Antwort ist parat.

Vor kurzem wurde mir mein Rucksack in

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Amsterdam geklaut. Ich hatte ihn vor einem Ab-
steigehotel für arme Wanderer an eine Hauswand
gelehnt. Das Hotel war ein dunkles und einge-
flecktes Haus. In seinem Flur hinter der schweren
Eingangstür befand sich ein Automat. Gegen Ein-
wurf einer Münze konnte man einen Schlüssel
aus einem Fach nehmen wie eine Zigaretten-
packung aus einem Zigarettenautomaten. Am
Schlüssel befand sich ein Metallplättchen mit der
eingestanzten Nummer 7. Ich wusste, dass dieses
meine Zimmernummer war, obwohl es keinen
Beipackzettel gab.

Sofort eilte ich eine Treppe hoch, um mein Zim-


mer zu besichtigen. Es erschien auf den ersten
Blick äußerst einfach eingerichtet, alte Möbel, ein
mit flachen Decken ausgerüstetes Bett, aber auf
den ersten Blick sauber. Für eine Nacht würde es
gehen, dachte ich.

Zimmer abschließen, den draußen abgestellten


Rucksack holen und einziehen, war mein Plan.
Jedoch der Rucksack war nicht mehr an seinem
Platz. Offensichtlich gestohlen. Natürlich Am-
sterdam, eine Stadt voller Halunken. Das war zu
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erwarten. Und warum habe ich den Rucksack mit
Geld und Handy nicht gleich mitgenommen? Ei-
ne allzu blöde Situation, der man am besten durch
stampfendes Aufwachen entgeht.

In der Welt, die mein Gehirn nun präsentierte, be-


fand ich mich in meinem Bett, weit weg von Am-
sterdam. Es gab auch keinen verlorenen Rucksack
und alles war in bester Ordnung. Was machte
mich eigentlich so sicher, dass ich mich nicht ein
einer neuen Simulation befand? Vielleicht die
Tatsache, dass nun ein weiteres Aufwachen nicht
herbeizuführen war? So, wie ich nicht aufwachte,
als ich in Zimmer 7 das Bett besichtigte?

Vielleicht ist mein Gehirn nicht in meinem Kopf,


sondern liegt in einer Nährlösung und spielt mir
etwas vor, mit mir als Hauptperson. Vielleicht
spielt sich dieser Schachstreit nur in meinem Ge-
hirn ab. Mein Gehirn? Wer ist "Ich", wenn es nur
das Gehirn gibt. Ist das "Ich" auch eine Simu-
lation?

Auf seinen Springerzug bin ich vorbereitet. Mein


Läufer von f8 nach e7? Vielleicht erwartet er das
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gerade. Vielleicht sollte ich seine Erwartungen
nicht erfüllen.

Lb4
Was tun? Es wird Zeit, Platz für den schwarzen
König zu besorgen, damit er sich schützen kann.
Platz für eine kleine Rochade. Also Läufer nach
e7. Das ist allerdings brav und er erwartet es
vermutlich. Bauer nach c5 ist auch möglich.

Es wäre nun Zeit für eine kleine Abweichung


vom Trampelpfad. Aggressiv sollte es auch sein,
bevor eine allgemeine Schläfrigkeit einsetzt. Zeit
für eine Überraschung, eine kleine nur. Danach
wird er überlegen müssen. Sein Gehirn wird be-
schäftigt sein. Vielleicht reicht ein winziger
Stress, um ihn zu einem Fehler zu verleiten.

Ist es beruhigend, dass ein Gehirn nicht perfekt


ist? Im Laufe der Evolution hat sich das Gehirn
entwickelt. Hirnstamm, Kleinhirn, Mittelhirn,
Thalamus und Hypothalamus undsoweiter,
undsoweiter. Es kam immer etwas hinzu, ohne
dass die vorhergehende Entwicklungsstufe we-

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sentlich verändert wurde. So kann man sich auch
heute noch, obwohl man die Großhirnrinde für
das Schachspielen zur Verfügung hat, zu anderen
Zeiten benehmen wie ein Frosch, dem es nur um
die Jagd nach einer Fliege geht. Es kam immer
etwas hinzu. Mit jeder Lücke, die die Natur in
ihrer Geschichte ließ, gab sie die Möglichkeit,
dem Gehirn etwas hinzuzufügen.

Solch ein System kann nicht perfekt sein. Das


Gehirn ist etwas Zusammengestückeltes, eine Ba-
stelei. Es wurde hinzugefügt, was gerade benötigt
wurde. Kein Plan, kein Entwurf.

Wenn es mir gelingt, das archaische System sei-


nes Gehirns nur für einen kurzen Moment mit Be-
fürchtung oder Verwunderung zu überfluten, be-
steht die Möglichkeit, dass sein Großhirn Fehler
macht. Darauf kommt es jetzt an. Ein aggressiver
Zug muss in seinem Gehirn mehr auslösen als nur
eine kühle Überlegung seiner Großhirnrinde.
Kleinhirn oder Mittelhirn sollen auch beteiligt
werden und zu unkalkulierbaren Hormonaus-
schüttungen führen, die seinem Großhirn die
Klarheit nehmen. So muss ich es machen. Also
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den Läufer vor nach b4, das fesselt seinen Sprin-
ger.

Läufer von f8 nach b4, hinein in seine Flanke.

Meine Aggressivität hat offensichtlich auch mei-


ne Großhirnrinde beeinträchtigt. Wie konnte ich
mich derart vorwagen? Wenn er mich kühl zu-
rücktreibt, muss ich einen Tempoverlust in Kauf
nehmen. Lb4 war kein optimaler Zug. Welcher
Teil meines von der Evolution zusammengeba-
stelten Gehirns hat mich zu dieser Unvorsichtig-
keit verleitet? Wenn ich verliere, wurde hier ein
Grundstein gelegt. Was möglicherweise weiter-
hilft, ist ein Pokergesicht. Das Großhirn hat mich
wieder.

e3
Weißer Bauer nach e3. Er macht den Weg für sei-
nen Läufer frei, der der kleinen Rochade hinder-
lich im Wege steht, schützt den d4-Bauern
zusätzlich und mehr. Eine klassische Entwick-
lung. Nichts Besonderes.

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Man müsste wissen, was er außer Schachbrett
und Spielfiguren noch sieht. Zunächst sieht er
weniger als vorhanden ist. Augen, Ohren, Nase
und Haut nehmen nur einen winzig kleinen Aus-
schnitt der Wirklichkeit wahr. Das Wenige wird
im Gehirn sofort interpretiert. Aus bestimmten
Wellenlängen werden Farben, aus anderen Geräu-
sche. Bestimmte Moleküle werden zu Düften und
Molekularbewegungen zu Temperaturempfindun-
gen. Dabei gibt es weder Farben, Geräusche,
Düfte, Kälte oder Wärme. Nichts als Interpre-
tation einer ganz anderen Wirklichkeit.

Damit nicht genug. Dem interpretierten Wirklich-


keitsausschnitt werden nun Gefühle beigemengt.
Erfahrungen und Erlerntes führen zu Bewertun-
gen, zu Wohlgefühl oder Unwohlsein, zu Sympa-
thie oder Antipathie, zu Ängsten, Befürchtungen
oder zu Sicherheit und Ausgeglichenheit. Kultu-
rell erworbene Vorstellungen von Moral, Ethik,
Weltanschauung und Religiosität setzen dem
Wahrgenommenen weiter zu.

Das Gehirn befindet sich tatsächlich in einer


Nährlösung. Doch das Gefäß ist nicht irgendein
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Aquarium, sondern der Schädelraum mit ange-
schlossenem Organismus, der für Kontakt mit der
Außenwelt sorgt, der von Ort zu Ort bewegt
werden kann, der vor allem aber für ständige Er-
frischung der Nährlösung sorgt. Zwanzig Prozent
des eingeatmeten Sauerstoffs ist für das Gehirn.

Der Sauerstoff in diesem Raum verbraucht sich


allmählich. War es das, was mich verleitet hat,
mit meinem Läuferzug aggressiv in seine Flanke
vorzudringen? Hat mein Gehirn berechnet, wie-
viel Sauerstoff bei diesem Spieltempo, bei diesem
Verbrauch und bei diesem Vorrat noch zur Ver-
fügung steht und mich veranlasst, das Spiel zu be-
schleunigen? Was hat sein Gehirn berechnet?
Schließlich spielt er verhalten. Hat sein Gehirn
dem Sieg den Vorzug vor der Furcht vor Sauer-
stoffmangel gegeben? Abstruse Gedanken sind
das. Offensichtlich ist ein Gehirn auch zu abstru-
sen Gedanken fähig.

Ob man im Verlaufe des Abends darum bitten


kann, ein Fenster zu öffnen? Gehört es sich, so et-
was zu erbitten? Benimmregeln, Schachregeln.
Ständig bietet mein Gehirn als unfertiges Evo-
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lutionsprodukt kleinlich ausgesuchte und inter-
pretierte Wirklichkeitsstücke an und liefert einge-
schleuste Bewertungsmuster gleich mit. Dagegen
ist kein Kraut gewachsen. Man kann nicht klüger
sein als es die eigene Gefängniszelle erlaubt. Zum
Sieg allerdings reicht es, klüger zu sein als es ihm
sein Gefängnis erlaubt.

Darauf wird es ankommen. Ich muss zurück zu


einem ruhigen Spiel, damit mein Großhirn seine
begrenzte, aber kühle Klugheit entfalten kann.

0-0
Nun stehen die Bauern wie Sicherheitsbeamte vor
ihrem schwarzen König. Gut so. Er wird es in
Kürze ähnlich machen.

Diese Sicherheit gibt der Großhirnrinde - unbe-


einflusst von Einfällen archaischer Gehirnteile -
die Möglichkeit für kühle und kluge Überlegun-
gen. Welche Weiterentwicklungen werden dem
Gehirn in Zukunft durch die Evolution noch hin-
zugefügt? Welche Entwicklungen werden aus
dem Großhirn in Tausenden von Jahren ein ar-

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chaisches Subsystem machen?

Oder ist es schon zu Auslagerungen gekommen?


Sind Gedanken, die seit einigen Tausend Jahren
Papyrusrollen und Buchseiten anvertraut wurden,
nicht auch schon Gehirnauslagerungen? Was ist
mit den Auslagerungen auf Tonbändern, Film-
rollen und Magnetscheiben? Beginnen sich nun
die Auslagerungen über das Internet zu vernet-
zen? Entsteht hier ein neues Gehirnteil, dass sich
allmählich vor alle Großhirnrinden setzt und sie
allesamt zu archaischen Subsystemen macht, die
zwar fähig bleiben, individuelle Probleme zu lö-
sen, aber die Lösung gesellschaftlicher und glo-
baler Probleme dem ausgelagerten und vernetzten
Riesenhirn überlassen müssen?

Spätestens dann macht ein Schachturnier zwi-


schen zwei Großhirnen, die gegeneinander antre-
ten, nicht mehr viel Sinn, da das ausgelagerte
Riesenhirn schon längst über Lösungen verfügt.
Was hat hat sich vor Tausenden von Jahren mit
Buchstaben und Zeichen auf Papier angedeutet
und ist heute durch das Internet einer frühen Stufe
globaler Vernetzung ausgeliefert? Seit wenigen
30
Jahren ist dieses Riesenhirn auf der Welt, aber es
ist noch ein Kleinkind, dass sich mit großen
Schritten entwickelt, aber noch über kein eigenes
Ich verfügt.

Alles Spekulationen, zweifellos. Noch geht es um


den Kampf der Großhirnrinden gegeneinander. Er
wird seinen Läufer ziehen, um ebenfalls Platz für
eine Rochade zu schaffen. Auch sein König will
sicher stehen, damit alle seine zukünftigen Über-
legungen in einem ungefährdeten Raum stattfin-
den können.

Wir verlassen nun die Trampelpfade und errei-


chen den Kampfplatz, der volle Aufmerksamkeit
erfordert.

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