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Erschienen im Juni 2008 in

Serie: Menschen – Kulturkreative Portraits „ZeitGeist“, Ausgabe 1/2008

Nähere Infos im Internet unter


www.zeitgeist-online.de
[von karl-heinz tritschler]
wusstseinserweiterung als ein Erlebnis ähnlich zen einer materialistischen Weltanschauung
Joseph Beuys, der „Mann mit dem dem Sterben in der physischen Welt beschrie- zu befreien, die nur mehr den formalen Aspekt
Filzhut“, ist vor allem durch seine ben, durch das – im Denken – ein höheres der Natur begreift. Vor allem die einseitige
Installationen als Avantgardist oder Erkenntnisprinzip zum Vorschein komme, Überbewertung des Sehsinns hat zu einem
auch als „verrückter“ Performance- das er als „Imagination“ bezeichnete. Auch Wissenschaftsverständnis geführt, welches
künstler bekannt. Eher wenige wis- für Beuys sind die „gewöhnlichen“ Begriffe genau besehen auf einem Widerspruch basiert:
sen um sein gesellschafts- und bil- lediglich Strukturen, die, wenn sie einseitig Einerseits, so das Postulat der Naturwissen-
dungspolitisches Engagement. Beuys auftreten, für das kulturelle Leben tödlich schaften, beruht die objektive Erkenntnis auf
prägte Begriffe wie „Soziale Plastik“ sind: „Die Begriffe werden nach einem halben den Qualitäten des Zählens, Messens und
und gehörte zu den Initiatoren der Jahr absolute Leichen, wenn sie nicht ernährt wer- Wägens, andererseits sind die Erfahrungen
Direkten-Demokratie-Bewegung. den durch Imagination.“ Der verstandesmäßig des Sehsinns unumstritten subjektiv. Schon
Erst allmählich erschließt sich uns der

„Jeder Mensch ist ei


tiefere Sinn seiner damals visionären
Aussage, dass in jedem von uns ein
Künstler stecke. Ist Beuys’ Vision einer
selbstbestimmten Gesellschaft heute
womöglich greifbarer denn je?

Joseph Beuys (1921–1986, vgl. Kasten unten)


hat wie kein anderer Künstler zuvor die Bedeu-
Joseph Beuys und der
tung der Kunst für die gesellschaftliche Ent-
wicklung definiert. Seine Auftritte, Aktionen erweiterte Kunstbegriff
und Ideen lösten weltweit Aufsehen, Empö-
rung, aber auch begeisterte Zustimmung aus nicht zu begreifende erweiterte Kunstbegriff als 18-Jähriger hatte Beuys während einer von
– nicht zuletzt wegen seines unermüdlichen bekommt seinen Inhalt erst durch die Imagi- den Nazis angeordneten Bücherverbrennung
Einsatzes für eine neue Gesellschaftsordnung nation. Das wird häufig übersehen. erkannt, dass es weniger auf das Sehen als auf
und eine Erweiterung des Kunstbegriffes, das Hören und Denken ankommt. Er lehnt in-
wodurch die Kunst wieder mit dem Leben Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts des eine rein auf „visual arts“ zurückgreifende
vereint werde. beginnen verschiedene Bereiche – etwa Kunst, und die übrigen Sinne ausblendende Ideologie
Geschichte, Pädagogik oder Arbeit (vgl. dazu ab. Dagegen entwickelt er, ausgehend von den
Nach Auffassung des Kunstphilosophen auch den Beitrag über fluide Strukturen in Fluxus-Aktionen2 in den 60er-Jahren, seinen
Arthur C. Danto (geb. 1924) hat die Kunst ZeitGeit-Ausgabe 1/2006) –, sich aus den Gren- Kunstbegriff mit dem Anspruch, dem gesam-
in ihrer bisherigen Geschichte einen tiefgrei-
fenden Wandel des Denkens bewirkt, den Curriculum vitae
man als evolutionären Vorgang beschreiben
Joseph Beuys, geboren am 12. onal University,
Mai 1921 in Krefeld, interes- existierte als ein-
Der erweiterte Kunst- sierte sich früh für Malerei, getragener Verein
Bildhauerei und Mythologie, bis 1988) mit dem
begriff bekommt lernte auch Cello- und Kla- Ziel der grundle-
seinen Inhalt erst durch vierspielen. Nach dem Abitur
Begegnung mit Heinz Siel-
genden Erneue-
rung des Bildungs-
die Imagination mann, der Beuys’ Interesse für
Botanik und Zoologie weckte.
wesens und der
Loslösung von der
Ab 1946 Studium der Monu- Bevormundung
kann. Seine allgemeine Feststellung, dass die mentalbildhauerei, 1951 Er- durch den Staat.
Kunst insofern an ein Ende gelangt, als wir nennung zum Meisterschüler 1979 Gründungs-
nicht mehr in denselben Begriffen über sie von Ewald Mataré. Von mitglied der „Grü-
reflektieren können wie zuvor, findet in der 1961–1972 Professur für Bild- nen“; seine politi-
Biografie des Künstlers Beuys seine Entspre- hauerei an der Kunstakade- schen Vorstellungen
mie Düsseldorf. Seit 1963 Fluxus-Akti- fanden jedoch nicht Gehör in der Par-
chung: Bedingt durch seine Kriegserlebnisse als
onen 2. 1967 in Mönchengladbach tei. An den documenta-Ausstellungen
Kampfflieger, geriet Beuys in den 50er-Jahren erste retrospektive Ausstellung („Block 3 bis 7 nahm Beuys ohne Unterbre-
in eine Art Lebenskrise, welche er späterhin Beuys“ in Darmstadt). Im gleichen Jahr chung teil (1977: FIU – „Honigpumpe
mit einem „Sterbevorgang“ vergleicht, aus der wurde von ihm die „Deutsche Studen- am Arbeitsplatz“, 1982: 7000 Eichen
heraus er die Welt neu zu sehen begann. tenpartei“ ins Leben gerufen, 1970 – „Stadtverwaldung statt Stadtverwal-
zunächst in „Organisation der Nicht- tung“). Nach seinem Tode am 23. Ja-
wähler – Freie Volksabstimmung“ und nuar 1986 wurden bisher über 3000
Der Vordenker Rudolf Steiner (1861–1925),
später in „Organisation für direkte Arbeiten zu seinen Ideen und künstle-
dessen anthropologische und gesellschafts- Demokratie“ umbenannt. 1973 ge- rischen Arbeiten publiziert. Sein Werk
kritischen Arbeiten sowie seine Idee von der meinsam mit Heinrich Böll und ande- ist weltweit in allen wichtigen Kunst-
Sozialen Dreigliederung 1 für Joseph Beuys ren Gründung der FIU (Free Internati- museen präsent.
wegweisend waren, hat den Vorgang der Be-

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Das Recht auf Bildung
wird mit der Gleich-
schaltung von Unter-

Anzeigen
ten Menschen mit allen Nach der Entdeckung
Sinnen, die etwa auch richtsinhalten gleich- des erweiterten Kunstbe-
in der Tätigkeit und griffs geht Beuys eigene
in der Arbeit wirken, gesetzt Wege, die Befreiung des
gerecht zu werden. Bildungswesens steht
dabei im Zentrum seiner Arbeit. Die leidvol-
Nach seinem Kunststudium bei Ewald Mataré len Erfahrungen des Krieges waren für ihn
(1887–1965) führt Beuys zunächst ein sehr zu- die unmittelbare Folge einer manipulierten
rückgezogenes Künstlerdasein, während des- Erziehungswissenschaft, die das Recht auf
sen er mithilfe der Zeichnung die Elemente der Bildung mit der Gleichschaltung von Unter-
Natur erforscht. Erst durch seine Teilnahme an richtsinhalten gleichsetzt, sodass Ideologien
zulasten von Ideen in den Vordergrund träten,

n Künstler“
was sich bis heute innerhalb der vorherrschen-
den Bildungspolitik nicht wesentlich verän-
dert hat (vgl. Streitfall Homeschooling, siehe
auch Seite 11). Als Professor für Bildhauerei an
der Düsseldorfer Kunstakademie tritt er kon-
sequent für ein freies Geistesleben ein. Seine
Zur Person der Autors:
Auffassung zog einen lebenslangen Kampf
Karl-Heinz Tritschler, Jahrgang
nach sich, den er vor allem als Hochschul-
1957, Studium der Malerei,
lehrer auszustehen hatte. So wurde er 1972
Kunsttherapie und Kunstpä-
von seinem Lehrauftrag suspendiert, weil er
dagogik in der Tradition Joseph
– der seine theoretischen Erkenntnisse stets
Beuys’, Vorträge und Seminare zu
auch praktisch zu verwirklichen suchte – die
den Themen Kunst- und Kultur-
staatlich verordnete Zulassungsbeschränkung
geschichte, Projekt „Bildung und
von Studienbewerbern missachtete.
Demokratie“ bei der Omnibus
gGmbH.
Eine gesunde Demokratie, so Beuys, kann sich
nur dann entfalten, wenn das Individuum als
Fluxus-Veranstaltungen tritt er plötzlich ins der Souverän der Gesetzgebung die Initiative
öffentliche Bewusstsein – und zugleich, durch ergreift. Aus diesem Grunde hat er neben dem
den Einsatz von Fett und Filz als plastisches Versuch, eine Freie Internationale Universität
Material, in die öffentliche Kritik, sodass Hein- (FIU) zu etablieren, 1972 auf der documenta 5 in
rich Lübke, der damalige Bundespräsident, im Kassel die „Organisation für direkte Demokra-
Anschluss an das Aache- tie durch Volksabstim-
ner Fluxus-Konzert zum Eine Demokratie ist mung“ zum Kunstwerk
Gedenken an den 20. Juli
1964 Beuys’ Entlassung
gesund, wenn das erklärt: Mittels einer
dreistufigen Volksgesetz-
fordert. Mit diesem Individuum als der gebung – Volksinitiative,
Skandal beginnt sein Volksbegehren, Volksab-
Weg zum bedeutendsten Souverän der stimmung – würden die
Künstler der deutschen
Gesetzgebung die Sinne angesprochen,
Nachkriegszeit, den er durch welche sich der
medienwirksam für sich Initiative ergreift Kunstbegriff in die so-
zu nutzen weiß. Ab 1964 zialen Zusammenhänge
bis zu seinem Tod ist er – als einziger Künstler erweitere: Hörsinn, Sprachsinn, Gedankensinn
– auf allen Kasseler documenta-Ausstel- und Ichsinn. Die Volksinitiative geht auf die
lungen präsent, wobei seine Empfindungen einzelner Persönlichkeiten zu-
gesellschaftspolitischen rück, dass im sozialen Zusammenhang etwas
Beiträge besondere nicht stimmt, sie verschafft sich im Volksbe-
Aufmerksamkeit gehren breites Gehör, das wiederum führt zu
erregen. einer Gesprächskultur, an der sich Tausende
von Menschen beteiligen. Im Hinblick auf
die zu entscheidende Sachfrage bildet sich
Für Beuys ver- schließlich ein Begriffsfeld – die Geschichte
sinnbildlichte die des entsprechenden Begriffes erhellt das
Rose die Revolu-
Bewusstsein, sodass die Idee Einlass in das
tion innerhalb
der Evolution Denken findet – jeder Mensch wird somit
zum Künstler.
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Serie: Menschen – Kulturkreative Portraits

Solcherart entstehe ein realer Bildungsvorgang dingungslose Grundeinkommen (siehe auch Anmerkungen:
durch Mitbestimmung, durch dessen imagina- ZeitGeist-Ausgabe 2/2007) zeigt, können 1
Soziale Dreigliede-
tiven Anteil sich, unabhängig vom Ausgang der im Zeitalter der Globalisierung die Begriffe rung: vom Begründer
Abstimmung, die geistige Situation im Lande gar nicht mehr anders als durch Imaginatio- der Anthroposophie
verbessern kann. Würden heranwachsende nen gedacht werden. Die Ideale der Freiheit Rudolf Steiner zwi-
Menschen auf diese Möglichkeit der Gesell- (Bildung), Gleichheit (Demokratie) und schen 1918 und 1920
schaftsbildung nicht nur theoretisch, sondern Brüderlichkeit (Grundeinkommen) werden skizzierte Grundstruk-
mittels praktischer Erfahrung im Lernumfeld dadurch zum Grundstein eines kulturkreati- tur der Gesellschaft,
vorbereitet, dann könne die Bildungskrise dank ven Menschenbildes, durch das der Einzelne die sich in die drei Aktionskünstler
Beuys: Nur wenige
der direktdemokratischen Möglichkeiten, wie sie an der Idee der Menschheit in Freiheit zu sich selbst verwalteten polarisierten so wie er
im kommunalen Bereich und auf Länderebene selbst erwacht. So hat Joseph Beuys neben Subsysteme Geistes- (Kalender Deckblatt
gesetzlich verankert sind, von ihrer Wurzel her seinen zahlreichen, in allen Museen der Welt leben, Rechtsleben zur Kunstaktion
„7000 Eichen“)
angegangen werden. Den Zusammenhang zwi- vertretenen Kunstwerken vor allem auch ein und Wirtschaftsleben
schen Volksgesetzgebung und der Imagination ideeles Erbe der Menschheit hinterlassen, dass gliedert, welche sich gegenseitig die Waage halten.
respektive der Idee durch erweitertes Denken es zu erforschen und weiterzuentwickeln gilt. 2
Fluxus (lat. flux: fließend): Kunstrichtung der 1960er
will Beuys ganz bewusst eingesetzt wissen, „Die Revolution sind wir.“3 und 1970er, geprägt von Avantgardekünstlern wie
denn wo das Denken wieder den Anschluss an George Maciunas, Nam June Paik, Wolf Vostell, Yoko
die Ideenebene findet, kann die Kunst kraft der Dieser Beitrag ist Teil der fortlaufenden Serie Ono, Robert Filliou und Joseph Beuys.
Kreativität des Einzelnen in das Feld der mensch- über kulturkreative Persönlichkeiten, die sich 3
„Beuys: Die Revolution sind wir“ lautet der Titel einer
lichen Zusammenarbeit erweitert werden. über alle Zeitschriften der Mediengruppe Ausstellung, die vom 5. Oktober 2008 bis 25. Januar
Kulturell Kreative (MKK) erstreckt. Welche 2009 in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof,
Wie das Beispiel der direkten Demokratie, Menschen bereits portraitiert wurden, erfahren Museum für Gegenwart, Berlin, gezeigt wird.
aber auch die aktuelle Diskussion um das be- Sie im Internet unter www.kulturkreativ.net.
Links:
www.fiu-verlag.com
Von der Idee zur Evolution www.omnibus.org
Die Evolution ist ein grundlegender licht den erweiterten Kunstbegriff, aus
Begriff in Beuys’ plastischer Theorie. dem die in der dritten Ebene darge- Literaturhinweise:
Sie ist der Ausdruck der fortwähren- stellte Soziale Plastik hervorgeht, die Joseph Beuys: documenta-Arbeit. Museum
den Formung der sichtbaren Welt im rosenkreuzerischen „Sonnenstaat“ Fridericianum, Kassel 1993
durch die Idee. Evolution ist das Campanellas ihr utopisches Zukunfts- Joseph Beuys: Mein Dank an Lehmbruck.
plastische Urprinzip, die dauernde ziel hat (vgl. auch ZeitGeist-Ausgabe Schirmer/Mosel, München 2006
Transformation der Materie zwischen 2/2006). Beuys war der Überzeugung, Ingrid Burgbacher-Krupka: Prophete rechts,
Chaos und neuer Gestalt. Auf diesem dass die zur Verwirklichung einer So-
Prophete links, Joseph Beuys. Belser
Prinzip im unteren Teil der Zeichnung zialen Plastik relevanten Fähigkeiten
(siehe unten) gründet das „Evolutions- Offenheit, Spiritualität, Kreativität Verlag, Stuttgart 1977
diagramm“, welches die Entwicklung und Fantasie bereits in uns vorhan- Clara Bodenmann-Ritter: Joseph Beuys –
des menschlichen Bewusstseins zum den sind und nur als solche gefördert Jeder Mensch ein Künstler. Ullstein
Inhalt hat. Das Diagramm versinnbild- werden müssen. Verlag, Berlin 1991 (vergriffen)
Carl-Peter Buschkühle: Wärmezeit – Zur
Kunst als Kunstpädagogik bei Joseph
Beuys. Verlag Peter Lang, Frankfurt 1997
Arthur C. Danto: Die philosophische
Entmündigung der Kunst. Fink/Wilhelm
Verlag, München 1993
Reinhard Ermen: Joseph Beuys. Rowohlt,
Reinbek 2007
Barbara Lange: Joseph Beuys „Richtkräfte
einer neuen Gesellschaft“. Reimer Verlag,
Berlin 1999
Rudolf Steiner: Anthroposophie – ihre
Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte.
GA 78. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1986
Johannes Stüttgen: Zeitstau. Im Kraftfeld
des erweiterten Kunstbegriffs von
Joseph Beuys. FIU-Verlag, Wangen 1998
Rhea Thönges-Stringaris: „Denke an die
Konstruktion eines Spezialgehirns“ –
Beuys berühmtes Evolutionsdiagramm, entstanden 1974 als Bleistiftzeichnung:
Durch den erweiterten Kunstbegriff entfaltet sich das menschliche Bewusstsein
Zu einem Dokument der Krise, in:
Joseph Beuys Symposium, Kranenburg 1995

36 Heft 1 2008

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