Sie sind auf Seite 1von 334

'IHOMASMANN

AUSGEWÄHLTE ESSAYS
IN DREI BÄNDEN

FlSCHER TASCHENBUCH VERLAG


THOMASMANN

ESSAYS
BAND3

Schriften über Musik und Philosophie

Ausgewählt, eingeleitet und erläutert


von Hermann Kurzke

FISCHER TASCHENBUCH VERLAG


Originalausgabe
FischerTaschenbuch Verlag
I.-IO. Tausend Oktober 1978
11.-lj.Tausend Juni 1982
Umschlagentwurf: Jan Buchholz/Reni Hinsch
Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main
© für diese Ausgabe
FischerTaschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1978
Der Abdruck der Texte Thomas Manns erfolgt mit freundlicher Genehmigung
des S. Fischer Verlages GmbH, Frankfurt am Main
Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Harnburg
Printed in Germany
1o8o-ISBN -3-596-2 1908-6
Inhalt

Einleitung . . . 7

Einkehr (I9I7) 27
Palestrina (I9I7) 43
über die Kunst Richard Wagners (I 9 I I) 59
Wie stehen wir heute zu Richard Wagner? (I927) 62
Leiden und Größe Richard Wagners (I933) . . . 64
Richard Wagner und der.>Ring des Nibelungen< (I937) II5
[Zu Wagners Verteidigung] (I940) I36
Wagner und kein Ende (I949) . . . . I43
über die Lehre Spenglers (I922) . . . I46
Die Stellung Freuds in der modernen
Geistesgeschichte (I929) . . I 53
FreudunddieZukunft(I936) . . . . I73
Schopenhauer (I938) . . . . . . . . . I93
Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer
Erfahrung (I947) . . . . . . . . . . . 235

Editionshinweise mit Sekundärliteratur 265


Texterläuterungen . . . . . . . . . . . 267

Anhang

Sachregister zu den Bänden 1-111 303


Namenregister zu den Bänden 1-111 . . . 3I9
Alphabetisches Gesamtinhaltsverzeichnis
der Bände 1-III . . . . . . . . . . . . . HI

Nachträge und Berichtigungen zu Essays// 333


Einleitung

I. überblick

Wer über Musik und Philosophie bei Thomas Mann zu handeln


hat, stößt schnell auf die beherrschenden Namen Wagner, Scho-
penhauer und Nietzsche. Neben ihnen verblaßt alles andere so
sehr, daß dem Vorwurf einer höchst einseitigen musikalischen
und philosophischen Ausbildung beinahe nichts zu entgegnen ist.
Alle drei Namen sind schon in Manns jungen Jahren präsent.
Wagner hört schon der Siebzehnjährige 1892 im Lübecker Stadt-
theater, die Nietzsche-Lektüre hinterläßt bereits in der ersten
Erzählung (Gefallen, 1894) ihre Spuren, und die erste Schopen-
hauer-Lektüre folgt wenig später 1898/99· Alle drei Namen ver-
binden sich sogleich zu einem spannungsreichen Beziehungsfeld:
Wagner wird unter der Optik Nietzsches gesehen, beide wie-
derum sind Schopenhauerianer. Während der Einfluß Wagners
und Nietzsches schon dem oberflächlichen Blick kaum entgehen
kann, ist der Schopenhauers verdeckter. Mit Wagner und Nietz-
sche gibt es eine kontinuierliche Auseinandersetzung, in der sich
alle Stationen von Manns geistigem Werdegang abgezeichnet
haben. Bei Schopenhauer ist der Oberflächenbefund viel weniger
aussagekräftig. Man hat die Schopenhauer-Passage der Budden-
brooks, einige Seiten in den Betrachtungen eines Unpolitischen
und den großen Essay von 1938, eine Auftragsarbeit. Das wirkt
alles mehr gelegentlich als fundamental. Dennoch ist das Umge-
kehrte der Fall. Schopenhauers Philosophie wurde zwar, was das
Wörtliche betrifft, relativ wenig verwendet, formuliert aber die
wichtigsten Ausgangsüberzeugungen Thomas Manns. Es handelt
sich dabei weniger um die Übernahme eines philosophischen
Systems als um die Ausformulierung einer Lebensstimmung;
nicht Lehrsätze und Maximen des Denkers werden angenommen,
sondern ein verwandtes Lebensgefühl wird dankbar als Bestäti-
gung des eigenen begrüßt.
Dennoch gibt es Widersprüchliches. Von seinen Lehrsätzen und
Maximen her war Schopenhauer wenig geeignet, als Zeuge fürden
essayistischen Tageskampf zu dienen. Als Produkte eines oft
selbstverleugnenden Pflichtbewußtseins argumentieren die Es-
says auf einer Ebene, die den quietistischen Mollton derSchopen-
hauerschen Philosophie möglichst unhörbar machen will, ihn gar
7
ins Illiterate zu verbannen strebt. Die neuere Forschung sucht
darum mit Recht den Schopenhauer-Einfluß mehr in den dichteri-
schen Werken, der heimlichen Prämisse folgend, das Gestaltete sei
wahrer als das Geredete. Zu nennen sind z. B. die Arbeiten von
Helmut Koopmannt, Peter Pütz2, B0rge KristiansenJ, Uwe Ebel4
und Hans WyslingS, die an Buddenbrooks, Der Zauberberg,
]oseph und seine Brüder und Felix Krull solche Tiefenwirkungen
aufzeigen.
Man darf dennoch die Einflußgläubigkeit nicht zu weit treiben.
Lektüre übt nur dann einen Einfluß aus, wenn sie ohnehin vorhan-
denen Dispositionen Worte verleiht, bessere, als der Leser sie von
sich aus hätte finden: können. Herbert Lehnert hat mit Recht
betont, daß Schopenhauers Philosophie Thomas Mann schon vor
der eigentlichen Lektüre nahe war und daß sie nur einen bestäti-
genden und erweiternden, nicht aber einen begründenden Einfluß
gehabt habe6. Jene vorausliegenden Dispositionen, also Thomas
Manns wirkliche Eigenphilosophie, die Lehnert als System varia-
bler, jeder endgültigen Festlegung sich entziehender Orientierun-
gen beschreibt, sind in ihrer historisch -gesellschaftlichen Ver-
wurzelung, ihrer biographischen Genese und ihrer Leistungs-
fähigkeit noch nicht ausreichend erforscht. So ist es mehr eine
Hilfskonstruktion, wenngleich eine recht nützliche, sich statt
dessen mit dem Einfluß des »Dreigestirns« zu befassen.
Thomas Manns Kenntnisse des CEuvres von Wagner, Nietzsche
und Schopenhauer waren gründlich. Wagners Musikdramen hat
er zahllose Male gehört und gesehen, vor allem Lohengrin, T ristan
und Isolde, Die Meistersinger von Nürnberg, Der Ring des Nibe-
lungen und Parsifal. Daneben las er schon früh die wichtigsten
Prosaschriften (Oper und Drama, Das Kunstwerk der Zukunft,
Eine Mitteilung an meine Freundeu. a. m.) und vor allem Wagners
Briefe (am meisten ausgewertet werden die Briefbände an Liszt, an
Otto und Mathilde Wesendonck und an die Familie). Es ist die
hinter dem Werk stehende Person, die seine psychologische
I Helmut Koopmann, Thomas Mann und Schopenhauer, in: P. Pütz (Hrsg.),
Thomas Mann und die Tradition, Frankfurt 1971, S. 181>-.100.
2 Peter Pütz, Die Stufen des Bewußtseim bei Schopenhauer und den Budden-
brooks, in: B. Allemann/E. Koppen (Hrsg.), Teibiahme und Spiegelung. Fest-
schrift für Horst Rüdiger, Berlin/New York 1975, S. 443-45.1.
3 Berge Kristiansen, Unform -Form- Ubeiform. Thomas Manns ·Zauberberg• und
Schopenhauers Metaphysik, Kopenhagen 1978.
4 Uwe Ebel, Welthäftigkeit als Welthaltigkeit. Zum Verhältnis von mimetischem
und poetischem Anspruch in Thomas Manns ,ßuddenbrooks<, in: R. Wiecker
(Hrsg.), Gedenkschrift für Thomas Mann r87J-I9JJ, Kopenhagen 1975, S. 9-51·
s Hans Wysling, Wer ist Professor Kuckuck? in: H. W., Thomas Mann heute, Bem
1976, s. 44~3·
6 Herbert Lehnen, Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion, Stuttgart 1965, S. 36.

8
Neugierde lockt. Die Wagner-Sekundärliteratur begegnet gleich-
gültiger Verachtung- statt aus Glasenapp, Wolzogen, Golther
oder Chamberlain lernt Mann aus Nietzsche.
Die Nietzsche-Kenntnis erfaßt im Lauf eines langen Lebens alle
wichtigeren Werke und darüber hinaus manches Entlegene. Die
Frührezeption7 bleibt zugleich die bestimmende: Der Fall Wag-
ner, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik,]enseits
von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral (darin vor allem Was
bedeuten asketische Ideale?), Unzeitgemäße Betrachtungen
(darin vor allem Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das
Leben), Menschliches-Allzumenschlichesund Ecce Homosind bis
1918 die meistzitierten Arbeiten. Manns Interesse galt dem Psy-
chologen, nicht dem Dionysier Nietzsche. Dem Willenzur Macht
und Also sprach Zarathustra konnte er daher nur wenig Ge-
schmack abgewinnen. Auch Götzendämmerung und Der Anti-
christ werden meist unter negativem Vorzeichen herangezogen.
Auch im Falle Nietzsches liest Mann Erinnerungs- und Brieflite-
ratur, um in die intime Psychologie des Philosophen einzudrin-
gen; auch hier spielt Sekundärliteratur nur eine periphere
RolleB.
Die Schopenhauer-Kenntnisse erstrecken sich auf Die Welt als
Wille und Vorstellung (vor allem das 3. und 4· Buch des 1. Bandes
und Verstreutes aus dem Ergänzungsband, z.B. Ober den Tod
und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich
und Metaphysik der Geschlechtsliebe) und die meisten der Parerga
und Paralipomena (vor allem Ober die Universitäts-Philosophie,
Transzendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit
im Schicksale des einzelnen, Aphorismen zur Lebensweisheit,
Versuch überdasGeistersehn, Ober Religion, Ober Schriftstellerei
und Stil). In geringerem Umfang als bei Nietzsche und Wagner
werden Briefe und Erinnerungsliteratur herangezogen.
Neben den drei großenNamenerscheinen in dieser Ausgabe noch
Pfitzner, Spengler und Freud. Hans Pfitzners Oper Palestrina,
»etwas Letztes und mit Bewußtsein Letztes aus der schopen-
hauerisch-wagnerischen, der romantischen Sphäre« (S. 43), wird
1917 unter tagesaktuellen Gesichtspunkten als Zeugnis eines
»ironischen Konservativismus« (S. 52) angeeignet und den schon
bekannten Horizonten eingegliedert, ohne eine originäre Ein-
flußzone zu begründen. Nach einigen Begegnungen und Briefen

7 Details bei Lehnen S. 25-35·


8 Am ehesten noch wären zu nennen das Werk des Freundes Ernst Bertram aus
der Weltkriegszeit: Nietzsche, Versuch einer Mythologie, Berlin t9r8, und, mit
einigem Abstand, Nietzsche und die Romantik von Kar! Joel, Jena/Leipzig 1905.

9
reißt der persönliche Kontakt mit Pfitzner 19 33 ab, bedingt durch
dessen Unterschrift unter den Protest der Richard-Wagner-Stadt
München gegen Manns Wagner-Rede von 1933 und durch die
Aktivitäten Pfitzners für kulturpolitische Institutionen des Drit-
ten Reichs.
Oswald Spenglers Untergang des AbendlandeshatThomas Mann
1919 mit großer Zustimmung gelesen und seinen Betrachtungen
eines Unpolitischen an die Seite gestellt. Er sieht Spengler als einen
pessimistischen Konservativen und schreibt:
Ich sehe in dieser Selbstverneinung eine Ironie, die mich aufs tiefste
anspricht, in dieser Resignation eine Haltung, die dem Ethos und Pathos
meines eigenen wirren und leidenden Buches aufs tiefste verwandt ist.9
Wenig später nimmt er Abstand von Spengler auf eine für seine
Denkmethode charakteristische Weise. Er wirft Spengler nun
Inhumanität vor, und zwar, in Rücknahme des Briefzitats, nicht
wegen seiner Lehre, sondern wegen der unironischen An und
Intention ihrer Verkündigung:
Es läge anders, wenn diese Haltung Ironie bärge, wie wir anfänglich
glaubten ... Wirklich kann man eine Sache wie die >Zivilisation<, nach
Spengler der biologisch-unvermeidliche Endzustand jeder Kultur und
nun auch der >abendländischen<, ja prophezeien, nicht damit sie kommt,
sondern damit sie nicht kommt, vorbeugenderweise also, im Sinne geisti-
ger Beschwörung.to
Spenglers Geschichtsmorphologie darf also inhaltlich weiterhin
Gültigkeit beanspruchen - auch bei Thomas Mann wird das 20.
Jahrhunden lebenslang als Verfallsform der abendländischen
Kultur empfunden-, doch muß die Haltung des Geistes zu dieser
Erkenntnis die des Trotzes und Protestes sein. An der Einstellung
zu Spengler vollzieht sich zuerst die bemerkenswene Wandlung
Manns vom Monarchisten zum Republikaner, und es zeigt sich,
daß die Ironie das Tor ist, durch das die Demokratie, zaghaft und
voller Vorbehalte, aber doch immerhin, ihren Einzug nimmt.
Ironie, zuerst nur passive Standhaftigkeit des Geistes gegen das
unerbittlich-Fatale des Verfalls, bereitet den Boden für den akti-
ven Kampf um Vernunft und Würde des Menschen.
Thomas Manns Freud-Kenntnisse bis zum Zauberberg (1924)11
erstrecken sich neben Sekundäraneignung aus der publizistischen
9 In einem unveröffentlichten Brief an Pranz Boll vom 2. I I. I9I9. Den Hinweis
auf diesen Brief verdanke ich Hans-Joachim Sandberg, dessen Forschungen über
die Jahre der Wandlung Thomas Manns von I9I8-I922 auch zum Verhältnis
Spengler- Mann noch manches Neue ans Tageslicht zu bringen versprechen.
10 Von deutscher Republik, XI, 8.op (Essays I1,84).
II Vgl. Jean Finck, Thomas Mann und die Psychoanalyse, Paris 1973.

IO
Diskussion vor allem auf die DreiAbhandlungen zur Sexualtheo-
rie (Wirkung auf Krokowski im Zauberberg) und auf Zeitgemä-
ßes über Krieg und Tod (Wirkung auf die Betrachtungen eines
Unpolitischen). Seit 192.5 setzt eine systematische Freud-Lektüre
ein, die nach dem Zeugnis der Anstreichungen in Manns Exemplar
der Gesammelten Schriften einen repräsentativen Teil der Arbei-
ten des reifen Freud erfaßt. Am meisten beeindruckt haben ihn
wohl Totem und Tabu und Die Zukunft einer Illusion, gut
belegbar ist darüber hinaus die Lektürevonjenseits des Lustprin-
zips, Zur Einführung des Narzißmus, Selbstdarstellung, Die Wi-
derstände gegen die Psychoanalyse und der Neuen Folge der
Vorlesungen. Das Urteil der Forschung über den Freud-Einfluß
ist kontrovers. Auf der einen Seite steht M. Dierks mit seiner im
Detail sorgfältig belegten These, »daß die Begegnung mit Freud
Themas Manns primäre Ideenwelt nicht auf die Probe stellt und
nicht verändert (... ) Die Psychoanalyse wird völlig assimiliert und
erscheint als moderne Legitimation der alten Denkvorbilder«l 2
(v. a. Schopenhauer). Auf der anderen Seite steht Jean Finck, der
mit ebenfalls guten Argumenten die Leistung der Freud-Lektüre
darin erblickt, daß sie vom Lähmenden der Frühwerkspsycholo-
gie - einer nihilistischen Desillusionspsychologie, deren heimli-
che Inhumanität im Phänomen des »Erkenntnisekels« an die
Oberf~äche tritt-, daß sie von diesem Lähmenden befreit zugun-
sten eines humanen" Wissens vom Menschen«.
Eine Lösung verspricht der Blick auf die ]oseph-Romane. Sind sie
ohne Freud denkbar? Sofern man ihren Mythosbegriff pessimi-
stisch auf Schopenhauers nunc stans und auf die Aufhebung des
principii individuationis zurückführt und somit eine ungebro-
chene Konstanz seit dem Frühwerk annimmt, wird man Dierks
rechtgeben. Sofern und insoweit jedoch der ]oseph, »jener der
Freud'schen Welt befreundete Roman« (S. 190) das Hauptwerk
des gewandelten, dem Geiste das Wort redenden und erzieheri-
schen Themas Mann ist, sofern also der Sinn des mythischen
Erzählwerks nicht in einer Bestätigung eines letztlich bindend-
Mythischen, sondern in seiner aufklärerisch-entmythologisie-
renden (wenn auch nostalgischen 13) und humoristischen Behand-
12 M. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, Bern 1972,
s. '57·
13 Es ist die Verwechslung der subjektiven Sehnsucht nach dem Mythischen mit
einem wirklich bindenden, objektiv gegebenen Mythos, was viele Interpreten
narrt. Der objektive Mythos, im 20. Jahrhundert nur Lüge und Schein, wird aus
intellektueller Wahrhaftigkeit bei Thomas Mann unwiderruflich zerstört, gegen-
wärtig bleibt aber die Trauer über eine gleichwohl norwendige Operation. Das
Mythische im foseph hat also keine archetypische Verbindlichkeit, sondern ist
Spielmaterial des aufgeklärten, freien und desillusionierten Kopfes, der seine

II
lung des Mythos liegt, hat man guten Grund, dies Freud zuzu-
schreiben, denn dies leisten die anderen Quellen des Romans
nicht. Man sieht sich also auf das Problem derWandlungzurück-
verwiesen. Diese war sicher unvollkommen, sofern sie aber doch
unübersehbar vorhanden ist, gehört Freud zu ihren wichtigsten
Bestätigungen, ermöglichte sein Werk doch gerade den Brücken-
schlag zwischen der frühen pessimistischen Metaphysik des Un-
bewußten und der von der Zeitlage geforderten aufklärerischen
Haltung. Nicht im Zeichen Settembrinis, der das Unbewußte
leugnet, sondern im Zeichen Freuds, der es trotz Anerkenntnis
seiner Obermacht zum Gegenstand von Aufklärung macht, fe-
stigt sich Manns demokratische Wandlung.
Wagner, Schopenhauer, Nietzsche, Spengler, Pfitzner, Freud: das
ist eine bunte Reihe, die nicht beanspruchen kann, Themas Manns
musikalischen und philosophischen Kosmos wirklich auszu-
schreiten. Nicht alle Einflüsse und Erfahrungen haben in Essay-
form Niederschlag gefunden. Zum musikalischen Teil wären
ergänzend heranzuziehen weitere Wagneriana des Frühwerks (in
Buddenbrooks, Tristan, Geist und Kunst, Betrachtungen eines
Unpolitischen), einige Passagen über Musik, Tod und Romantik
im Zauberberg und vor allem der große Musiker-Roman Doktor
Faustus. Er allein verläßt die einseitige Fixierung auf Wagner
zugunsten eines musikgeschichtlichen Panoramas von den An-
fängen bis zu Arnold Schönberg. Unter dem Einfluß des musikali-
schen Beraters Theodor W. Adorno und dessen im Manuskript
schon vorliegender Philosophie 'derneuen Musik erweitert sich der
musikalische Horizont noch einmal beträchtlich 14 • Musikalische
und gesellschaftliche Wahrheit, in Manns Blick aufWagnerbisher
weitgehend getrennt, verbinden sich nun zu einerpessimistischen
Gesamtkonzepcion, die Adorno auch als Philosophen für den
Dichter wichtig werden läßt. Frühere Bildungserlebnisse (Wag-
ner, Nietzsche, Freud) bündeln sich in der Philosophie Adornos,
frühere Antipoden (Hegel und Marx) werden in ihrem Lichte ein
Stück weit integrierbar. Adernos Marxismus wirkt dabei weniger
im Sinne einer Gesellschaftsutopie denn als Verstärkung der
Fatalität; indem er noch in den sublimsten Formen der Kunst den
Verrat an eine falsche Gesellschaft aufdeckt, weist er das Kunst-
werk allein auf den Weg der bestimmten Negation, die in dieser
Freiheit jedoch als Leere und Orientierungslosigkeit erfährt und deshalb gerade
mit dem Mythischen spielt: es ist Gegenstand einer Nostalgie, einer sentimen-
talischen Liebe nur, nicht des Glaubens.
14 Gründliche Unterrichtung über das Verhälmis Mann-Adorno erhält man bei
Hansjörg Dörr, Thomas Mann und Adomo, in: Literatu'f'UJissenschaftliches
fahrbuch der Görres-Gesellschaft N.F.11, 1970, S. 285-322.

!2
Härte durchzuhalten allerdings Thomas Manns Sache nicht
war.
Unter den philosophisch bedeutenden Einflüssen wäre ferner
Goethe zu nennen. Anfangs unter der Optik des »Dreigestirns«
gesehen, entwickelt er sich allmählich zu ihrem Gegengewicht
(beginnend, noch ohne rechten Glauben, in der Tod-in- Venedig-
Zeit und durchschlagend seit dem Zauberberg). Da die Goethe-
Essays zum Sachbereich des ersten Bandes dieser Ausgabe gehö-
ren und deshalb hier textlich nicht präsent sind, soll dem nicht
weiter nachgegangen werden.

II. Wagner, Nietzsche und Schopenhauer

Texte über Wagner, Nietzsche und Schopenhauer sind in der hier


vorgelegten Auswahl beherrschend. Was faszinierte ihn an diesen
Namen? Wie hängen sie untereinander zusammen und in welcher
Weise verzahnt sich ihr Einfluß im Werk Thomas Manns? Nicht
einzeln, wie meist üblich, sondern in ihrem Ineinander und ihrem
Zusammenwirken sollen die Einflüsse der beiden Philosophen
und des Musikdramatikers im folgenden an einigen N ervenpunk-
ten beschrieben werden.
Thomas Mann und Wagner: auf den ersten Blick ist das eine
befremdliche Konstellation. Was hatte der ironische Psychologe
mit dem großen Pathetiker zu schaffen, was der Zauberberg-
lntellektuelle mit dem bombastischen Kunstimperialismus Bay-
reuths, was der feinfühlige Ästhet mit dem trockenen Schwulst
der Wagnersehen Prosa, deren Stil seiner Verehrung eine Verle-
genheit sein mußte? Wagner sei, so antwortet Thomas Mann,
Nietzsche zitierend, »der moderne Künstlerpar excellence«, was
er (Mann) wisse vom Haushalt der Mittel, von der Wirkung, vom
epischen Geist, vomAnfangen und Enden, vom Stil, vom Symbol,
von der organischen Geschlossenheit, verdanke erihm(S. 35). Die
Kernzone des Wagner-Einflusses betrifft also die KunstmitteL
Eine andere Passage läßt die zunächst fernliegende Verwandt-
schaft noch deutlicher erkennbar werden, weil sie offenkundig
zugleich Manns eigene Schaffensweise beschreibt. Wagners
Schöpferturn sondere jedes der Werke vom anderen,
entwickelt jedes aus einem Grundlaut, der es von allen anderen unterschei-
det, so daß innerhalb des Gesamtwerks, das doch selbst ein persönlicher
Kosmos ist, jedes Einzelwerk wiederum eine solche geschlossene und
sternenhafte Einheit bildet (S. 8 I).
IJ
Gerade diesen Charakter einer organischen Totalität hatte aber
Nietzsche dem Wagnersehen Werk abgesprochen:
Womit kennzeichnet sich jede literarische decadence? Damit, daß das
Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt
aus dem Satz hinaus, der Satz greiftüberund verdunkelt den Sinn der Seite,
die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein
Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der decadence:
jedesmal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, »Freiheit des
Individuums«, moralisch geredet- zu einer politischen Theorie erweitert
»gleiche Rechte für alle«. Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibra-
tion und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt,
der Rest arm an Leben. überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder
Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je
höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt über-
haupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein
Artefakt.IS

Das organische Ganze »zusammengesetzt, gerechnet, künstlich«,


also hergestellt durch eine Art Betrug! Natürlich ist die Stelle
Thomas Mann nicht entgangen. War Wagner damit nicht für alle
Zeiten erledigt? Um dennoch am Vorbild Wagner festhalten zu
können, muß Thomas Mann Nietzsches Kritik umdeuten und
mißbrauchen als Anweisung zur Schaffensweise, wie sie nicht
einmal Wagner selbst so eindringlich hätte geben können. Hatte
Nietzsche den Glauben an Wagner zerstört durch die Analyse der
Mittel, mit denen Wagner solchen Glauben zu erzielen wußte, so
lernt Thomas Mann daraus die Bewußtheit des Gebrauchs artisti-
scher Mittel zur Erreichung bestimmter Wirkungen beim Publi-
kum. Eine Kritik der Decadence liest er als Anleitung zur Verferti-
gung dekadenter Kunstwerke. Es ist daher kein Wunder, daß der
Artefakt-Vorwurf, wenn man ihn denn als Vorwurf anerkennen
will, auch sein eigenes Werk mit voller Breitseite trifft.
Was Nietzsche an Wagner kritisiert, die mangelndeUnschuldund
Echtheit, wird von Mann als Effekt einer gekonnten Artistik
bewundert. Er nennt Wagners Kunst »eine nicht eben unschul-
dige Kunst«, »sehnsüchtig und abgefeimt«, »betäubende und
intellektuell wachhaltende Mittel« vereinigend (S. 30) und be-
zeichnet ihre Wirkungen als »zugleich narkotischer und aufpeit-
schender Art« (S. 98). Ihre Irrationalität verdankt sich der betrü-
gerischen Schönheit des Rausches, der einem überfeinerten Be-
wußtsein die Rückkehr zur Einfalt für einen Moment vorgaukelt,
nicht wirklicher Unschuld. Im Gegensatz zur naiv-gläubigen
Wagner-Verehrung, die subjektiv »unschuldig« ist, empfindet
15 Der Fall Wagner, Werke (hrsg. v. K. Schlechta) I1,9I7.
sich die an Nietzsche geschulte Verehrung als moralisch verwerf-
lieh, als eine Art Masochismus des Geistes:
Aber die Beschäftigung mit ihr [der Kunst Wagners] wird beinahe zum
Laster, sie wird moralisch, wird zur rücksichtslos ethischen Hingabe an
das Schädliche und Verzehrende, wenn sie nicht gläubig-enthusiastisch,
sondern mit einer Analyse verquickt ist ... (S. 3 I),
-einer Analyse, von der Th. Mann, um sein Gewissen zu beruhi-
gen, annimmt, sie sei auch bei Nietzsche letztlich eine »Form der
Verherrlichung« (S. 31) gewesen. Sein Geist unterliege, so heißt es
an anderer Stelle, noch immer »dem klugen und sinnigen, sehn-
süchtigen und abgefeimten Zauber« dieser Musik (S. 61).
Wie Nietzsche nennt er Wagners Musik »gedacht, berechnet,
hochintelligent, von ausgepichter Klugheit«: »Aufgelöst in ihre
Urelernente muß die Musik dazu dienen, mythische Philoso-
pheme ins Hochrelief zu treiben« (S. 78). Aber er ist nicht bereit,
dies als Volksbetrug zu beurteilen, sondern nimmt es mit der
Lässigkeit des Ästheten, der fachmännisch die Wirkungsmittel
eines Kollegen begutachtet, und zwar nicht im Hinblick auf
ihre Moral, sondern ausschließlich auf ihre Gekonntheit. Wagner
ist
ein genauso kluger wie seelenvoll-sinniger Regisseur des Mythos, dessen
unbändiger Begeisterungsdrang alle emotionellen Elemente seines Jahr-
hunderts, das revolutionär-demokratische sowohl wie das nationalisti-
sche, in sein Wirkungssystem einbezog (S. 137).
In Fachkreisen gilt es als Können, die Wirkungen mythischer
Gläubigkeit oder der Demokratie oder des Nationalismus zu
erzielen, ohne daß diese Haltungen in Wirklichkeit vorhanden
sind. Das wirklich gläubige »Volk« wird sehr von oben herab
behandelt. Nietzsche hatte geschrieben,
der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf Seite der Echten, man muß Schau-
spieler sein, ihn zu haben!t6
Thomas Mann liest dies wieder als Anleitung. Er übernimmtzwar
an vielen Stellen den Vorwurf schauspielerischer Demagogie
gegenüber Wagner17, anstatt aber die Konsequenz neuer Ehrlich-
keit daraus zu ziehen, lernt er das Inszenieren demagogischer
Wirkungen. Seinen Roman KöniglicheHoheit nennt er selbst »ein
bißeben demagogisch, ein bißeben populär verlogen« und erin-
nert sich, bei der Arbeit zu Wagners Meistersingememporgeblin-

16Der Fall Wagner, a.a.O. S. 925.


17Z.B. in Geist und Kunst, passim (Abdruck in Thomas-Mann-Studien I, Bern/
Frankfun 1967, S. 152-227).
zelt zu haben 18. An Hesse schreibt er im gleichen Zusammenhang:
Oft glaube ich, daß das, was Sie >Antreibereien des Publicums< nennen, ein
Ergebnis meines langen leidenschaftlich-kritischen Enthusiasmus für die
Kunst Richard Wagners ist-, diese ebenso exklusive wie demagogische
Kunst, die mein Ideal, meine Bedürfnisse vielleicht auf immer beeinflußt,
um nicht zu sagen, korrumpiert hat. Nietzsche spricht einmal von Wag-
ners >wechselnder Optik<: bald in Hinsicht auf die gröbsten Bedürfnisse,
bald in Hinsicht auf die raffiniertesten. Dies ist der Einfluß, denich meine,
und ich weiß nicht, ob ich je den Willen finden werde, mich seinervöllig zu
entschlagen. Die Künstler, denen es nur um eine Coenakel-Wirkung zu
thun ist, war ich stets geneigt, gering zu schätzen. Eine solche Wirkung
würde mich nicht befriedigen. Mich verlangt auch nach den Dummen.l9
Die doppelte Optik, »bald in Hinsicht auf die gröbsten Bedürf-
nisse, bald in Hinsicht auf die raffinirtesten« 20 , die bei Nietzsche
noch als eine Art Betrug erschien (Virtuosentum gegenüber dem
»Coenakel«, also der Kennergemeinde, aber Charlatanerie gegen-
über dem Volk), wird ihres negativen Akzents entkleidet und ins
Affirmative gewendet. In den Betrachtungen stellt Thomas Mann
mit Nachdruck fest:
Ein unehrliches Künstlertum, welches Wirkungen berechnete und er-
zielte, die ihm selberein Spott, denen es selbst überlegen wä~eund die nicht
zuerst auch Wirkungen auf ihren U rheberwären, ein solches Künstlerturn
gibt es nicht.21
Was Nietzsche für unvereinbar hält, Artistik und Unschuld,
Psychologie und Mythos, Echtheit und Schauspielerei22 , Dem-
agogie und Volkstümlichkeit, Virtuosenturn und Popularität,
versucht Thomas Mann intellektuell wieder zusammenzuzwin-
gen2J. Er hält die» Vereinigung von Frivolität und Moralismus«
für möglich: »daß Einer in der Kunstein erquickliches Blendwerk
sehe, hervorzubringen mit den feinsten sinnlichen und intellektu-
eilen Zaubermitteln« (Frivolität also als wirkungsbewußter Ein-
ts In einem Brief vom 28. I. I9IO an Ernst Bertram (in Thomas Mann an Ernst
Bertram, Pfullingen I96o). In Geist und Kunst wird für Meistersinger das Wort
• Künstler-Demagogie• oder gleich • Meistersinger-Demagogie• gebraucht
(a.a.O. S. I7S, S. I96).
19 Ami.4. I9Io,HermannHesse-ThomasMann-Briefwechsel,Frankf.urti968,S.6.
20 Nietzsche,DerWillezurMachtAph.Szs,untenS.278vollständigwiedergegeben.
21 Xll,IIO.
22 Daß zwischen Echrheit und Schauspielerei im Fall Wagners kein Gellensatz sei,
behauptet besonders paradox eine Passage der Betrachtungen: • Aber aujlerdem, daß
dieses Werk eine eruptive Offenbarung deutschen Wesens ist, ist es auch eine
schauspielerische Darstellung davon• (S. 33, wiederaufgenommenS. I I I ).Einsolches
Paradox bedarf der Auflösung. Entweder wird nur der Schein einer solchen
Offenbarung erzeugt, oder das Schauspielerische müßte selbst eruptiv aus Wagners
Wesen hervorbrechen, also Erscheinungsform eines selbst wieder Echten sein.
23 Auch in diesem Sinne gilt also Koppens Feststellung, daß Thomas Mann hinter
Nietzsches Dekadenzkritikzurückgeht (vgl. E. Koppen, VomDecadentzumProto-
Hitler, in: P. Pütz, Thomas Mann und die Tradition, Frankfurt I97I, S. 208.

I6
satz der Kunstmittel), daß er aber zugleich »an künstlerischer
Strenge und Gewissenhaftigkeit beinahe zu Grunde gehe« (dies
der Moralismus )24• Das von Nietzsche aufgedeckte Moment von
Betrug und Charlatanerie akzeptiert er wohl als objektive Be-
schreibung, nicht aber als subjektiv-moralischen Vorwurf an den
Künstler.
DieseUnterscheidung findet in Thomas Manns Augen ihre Legi-
timation bei dem dritten großen Kronzeugen: bei Schopenhauer.
Dessen Überzeugung, daß jeder im Handeln nur sein Sein zur
Entfaltung bringt, ist die Grundlage für die oben zitierte Passage
aus den Betrachtungen, deren Fortsetzung lautet:
Und daraus folgt, daß die objektiven Wirkungen eines Künstlers, auch die
breit bürgerliche Wirkung Wagners, immer für sein eigenes Sein und
Wesen beweisend sind.
Schopenhauers Philosophie, die dem Geiste gegenüber dem Sein
im Guten wie im Bösen keine Chance läßt, ermöglicht es, das
Demagogische und Histrionische, in seiner Wirkung Kalkulierte
in das Wesen des Künstlers aufzunehmen und ihm somit mora-
lisch die Last der Veränderung abzunehmen. Mag das Wesen des
Künstlers objektiv unmoralisch sein, so ist er doch subjektiv
gerettet. Der zitierte Brief an Hesse fährt in diesem Sinne fort:
Aber das ist nachträgliche Psychologie. Bei der Arbeit bin ich unschuldig
und selbstgenügsam.
Die Arbeit des analytischen Geistes, der die Feststellung der
Unmoral betrifft, ist »nachträgliche Psychologie«, nur passiv-
verstehend, nicht eingreifend, das Handeln, das Wesen nicht
verändernd: »Bei der Arbeit bin ich unschuldig«. Im Sinne Nietz-
sches »schuldige« Wirkungsmittel werden schopenhauerisierend
entlastet als notwendige Ausfaltung eines seinerseits unschuldi-
gen Seins:
Jede Kritik, auch die Nietzsche's, neigt dazu, die Wirkungen einer Kunst
als bewußte und berechnende Absicht in den Künstler zurückzuverlegen
und die Idee des Spekulativen zu suggerieren - sehr fälschlich, ganz
irrtümlich und gerade, als ob nicht jeder Künstlergenau das machte, was er
ist, was ihn selber gut und schön dünkt-, als ob es ein Künstlerturn gäbe,
dessen Wirkungen ihm selber ein Gespött und nicht zuerst auch Wirkun-
gen auf ihn, den Künstler, gewesen wären! Möge Unschuld das letzte Wort
sein, das auf eine Kunst anwendbar sei -, der Künstler ist unschuldig.
(S. 105)
Wagner als Vorbild des modernen Künstlers, gesehen in der Optik
Nietzsches, dessen Kritik um ihre Wirkungen gebracht durch das
24 Brief vom 13.6.1910 an S. Lublinski, zitiert nach Thomas-Mann-Studien I,
a.a.O. S. 213.
Palliativ Schopenhauer: dies scheint nach den bisherigen Analy-
sen die Grundkonstellation.
Im Falle Wagners erwies sich, daß Thomas Manns Interesse
wesentlich dem Spannungsfeld von Naivität und Bewußtheit,
Unschuld und gekonnter Inszenierung, mythischer Popularität
und artistischer Realisation galt. Mitgleicher Blickrichtungliest er
Nietzsche. Im Herzen die Sehnsucht nach dem Echten, Natürli-
chen und Unschuldigen, das er sich nur als Unbewußtes und
Geschenktes, nicht aus subjektivem Ehrgeiz Gewolltes vorstellen
kann, sieht er sich doch unauflöslich gekettet an den Bewußtseins-
stand seines Geistes, den er abwechselnd als Emanzipation von
der törichten Naivität preist und als Sündenfall mit unwiderrufli-
cher Vertreibung aus dem Paradies verdammt. Diese Situation hat
Nietzsche als Dekadenz beschrieben. Seine Leistung ist das Ent-
larven der heimlichen Schwäche einer an der Oberfläche starken
und selbstbewußten Zeit, im Falle Wagners das Entlarven des
scheinbar Gesunden, Unschuldigen und Monumentalen als blo-
ßer Stimulantia zum letzten Reiz erschöpfter Nerven, das Entlar-
ven der Größe als einer bloßen Veranstaltung zur Erzielung der
Wirkungen von Größe auf der steten Flucht vor dem nihilisti-
schen Bewußtsein der Sinnlosigkeit dieser ganzen Mühe. Ein
solcher Künstler der Dtkadence ist auch Thomas Manns Gustav
von Aschenbach,
der Dichterall derer, die am Rande der Erschöpfung arbeiten, der über-
bürdeten, schon Aufgeriebenen, sich noch Aufrechthaltenden, all dieser
Moralisten der Leistung, die, schmächtig von Wuchs und spröde von
Mitteln, durch Willensverzückung und kluge Verwaltung sich wenigstens
eine Zeitlang die Wirkungen der Größe abgewinnen.25
Das ist Nietzsches Blick auf Wagner, zugleich Manns Blick auf
sich selbst. Nietzsche ist für ihn »nicht so sehr der Prophet
irgendeines unanschaulichen >Übermenschen<«, sondern »der
unvergleichlich größte und erfahrenste Psychologe der Deka-
denz« (S. 35). Als Nietzsches in allem gegenwärtigen Grundge-
danken betrachtet er den Begriff des Lebens und der Kultur:
Kultur, das ist die Vornehmheit des Lebens, und mit ihr verbunden, als
ihre Quellen und Bedingungen, sind Kunst und Instinkt, während als
Todfeinde und Zerstörervon Kulturund LebenBewußtsein und Erkennt-
nis, die Wissenschaft und endlich die Moral figurieren ... (S. 24 3)
Von Nietzsche hat Thomas Mann damit die Wendung des Be-
wußtseins gegen sich selbst. Wie Nietzsche will er »die radikalste
Psychologie einem anti-radikalen, anti-nihilistischen Willen«
25 Der Tod in Venedig,VIII,4SJf.
dienstbar machen (S. 39), wie Nietzsche weiß er aber auch, daß es
keine bewußte Naivisierung, kein willentliches Unbewußt26 gibt.
Sein Ausweg ist die Ironie27, Ironie als die Selbstverleugnung des
Bewußtseins zugunsten des Lebens erlaubtes, sowohl dem Stande
des Geistes Rechnung zu tragen als auch seiner Dienstbarkeit
gegenüber dem Leben. Ironie ist Nietzsches Demaskierungspsy-
chologie ohne Willen zur Veränderung. (>>Der Ironiker ist konser-
vativ.«28) Ironie ist es, Wagner in der Optik Nietzsches zu sehen
und dennoch zu bejahen. Ironie ist die Selbstthematisierung der
Dekadenz: sie wird nicht mehr, wie bei Wagner, mit kalkulierten
Kraftakten betäubt, sondern ist sich ihrer selbst mit leiser Melan-
cholie bewußt, wobei der Gestus der Ironie das Geständnis ablegt,
es handle sich um eine schwächende, dem Leben nicht hilfreiche
Erkenntnis.
Nietzsche hatte Wagner »entlarvt«, und wenn Mann mit Be-
wußtsein die Larven Wagners wieder aufsetzte, so ging dies nur im
Geiste der Ironie. Thomas Mann ist ein ironischer Wagner, dessen
Mittel verwendend, aber unter Hinweis auf ihren Mangel an
Unschuld. Die Intellektualität der Kunstmittel wird nicht ver-
steckt, sondern vorgezeigt, die Dekadenz wird zugegeben mit
dem Willen zur Distanz von ihr, mit dem Willen zum Leben, aber
ohne die Fähigkeit dazu29. Mit Hilfe der Ironie will Thomas Mann
sowohl Wagner wie auch Nietzsche gerecht werden.
Auch beim Einfluß Schopenhauers handelt es sich primär um die
Rolle des Bewußtseins, und zwar findet sich hier die Grundlage,
von der aus auch Nietzsche gesehen wird. Nietzsche sei Schopen-
hauerianer (S. 228). Psychologe sei er kraftdes schopenhaueri-
schen Befundes, daß nicht der Intellekt den Willen hervorbringt,
sondern umgekehrt:
Der Intellekt als dienendes Werkzeug des Willens: das ist der Quellpunkt
aller Psychologie, einer Verdächtigungs-und Entlarvungspsychologie ...
(S. 247, par. S. 232, S. 202)
Diese etwas klägliche Rolle des Intellekts zieht einige wichtige

26 Stichworte aus •Geist und Kunst•, Notiz 62 (Thomas-Mann-Studien [, a.a.O.


s. 184)·
27 Daß Nietzsches Philosophie Ironie zeitige, bekennen ausdrücklich die Betrach-
tungen, siehe S. 39·
28 Betrachtungen eines Unpolitischen, XII,s68 (Essays II, S. 41).
29 •Ich gehöre geistig jenem über ganz Europa verbreiteten Geschlecht von
Schriftstellern an, die, aus der decadence kommend, zu Chronisten und Analyti-
kern der decadence bestellt, gleichzeitig den emanzipatorischen Willen zur Absage
an sie, - sagen wir pessimistisch: die Velleität dieser Absage im Herzen tragen und
mit der Oberwindung von Dekadenz und Nihilismus wenigstens experimentie-
ren• (Betrachtungen eines Unpolitischen, XII,2o1).
Konsequenzen nach sich. Sie betreffen vor allem generell die
Möglichkeit, durch Kritik und Erkenntnis, also vom Kopf her,
irgend etwas in der Welt zu verbessern. Einer solchen aufkläre-
risch-melioristischen Position hält Schopenhauer in für Mann
grundlegenden Sätzen entgegen:

Danach nun wäre jeder Mensch das, was er ist, erst infolge seiner
Erkenntnis geworden: er käme als moralische Null auf die Welt,
erkennte die Dinge in dieser und beschlösse darauf, der oder der zu sein,
so oder so zu handeln (... ). Meiner ganzen Grundansicht zufolge
nämlich ist jenes alles eine Umkehrung des wahren Verhältnisses. Der
Wille ist das Erste und Ursprüngliche, die Erkenntnis bloß hinzuge-
kommen, zur Erscheinung des Willens als ein Werkzeug derselben
gehörig. (... ) Darum kann er [der Mensch] nicht beschließen, ein
solcher oder solcher zu sein, noch auch kann er ein anderer werden;
sondern er ist ein für allemal und erkennt sukzessive, was er ist. Bei
jenen will er, was er erkennt, bei mir erkennt er, was er will.30
Während der Mensch und das Dasein im Konkreten und Einzel-
nen durch Erkenntnis nicht verändert werden können, erzielt
Erkenntnis bestenfalls die Distanzierung vom Willen, vom Da-
sein überhaupt im Ganzen. Dies ist eine weitere Basistheorie für
Manns Kunstprinzip der Ironie: im Sinne einer entlarvenden
Selbstkritik des Geistes in seinem schmählichen Verhältnis zum
Leben, die nichts Einzelnes zu verändern beabsichtigt, aber doch
in der Distanz zum Ganzen eine Art Freiheit gewinnt:
Im Menschen also kann der Wille zum völligen Selbstbewußtsein, zum
deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines Wesens (... ) gelangen.
Aus dem wirklichen Vorhandensein dieses Grades von Erkenntnis geht
( ...)die Kunst hervor.

In diesem Falle kann die sonst nurdem Willen selbst zukommende


Freiheit auch in der Erscheinung eintreten,
wo sie aber dann notwendig als ein Widerspruch der Erscheinung mit sich
selbst sich darstellt. In diesem Sinne kann nicht nur der Wille an sich,
sondern sogar der Mensch allerdings frei genannt( ... ) werden.3 1
Wenn solcherart jede tiefere Erkenntnis den Charakter der Selbst-
verleugnung hat, dann führt die Entlarvungspsychologie nicht
zur Meliorisation im Detail, sondern zur Distanz vom Ganzen.
Kritisierte Nietzsche den Decadent Wagner noch im Blick auf eine
anzustrebende neue Gesundheit, so liest sich seine Wagner-Kritik

30 Die Welt als Wille und Vorstellung§ 55, Werke (hrsg. v. Löhneysen) Band I,
s. 40).
3! ebd. S. 397.

20
in der Optik Schopenhauers nur als ein Beispiel mehr für die
beschämende Dienstbarkeit des Geistes gegenüber dem Leben.
Schopenhauer wirkt lähmend, weil enthistorisierend: er münzt
die Dekadenzsituation aus einer historischen Erfahrung in eine
von der ewigen Handlungsunfähigkeit des Geistes um. Unter
dieser Voraussetzung kann man trotz Nietzsche Wagnerianer
bleiben, sofern man es nicht gläubig, sondern im Geiste der Ironie
tut. Wagner liefert die Mittel der Kunst, Nietzsche ihre Entlar-
vung und Schopenhauer die Grundkonzeption, die es möglich
macht, sowohl die Mittel als auch ihre Entlarvung beizubehalten,
indem die Entlarvung der Mittel als ironisches Selbstdementi des
eigenen Willens verstanden wird. Der Geist macht also Kunst-
werke, an die er gar nicht glaubt, aber er tut dies nicht zum Zwecke
des Betrugs, sondern um in der Form der Ironie zugleich von dem
in ihren Inhalten ausgedrückten Willen zum Leben Abstand zu
gewinnen. Mittels ·Ironie also wird jenes Freiwerden vom Willen
erzielt, das nach Schopenhauer die Leistung der Kunst ist3Z.
Lähmend auf die Impulse der Wagnerkritik wirkte auchSchopen-
hauers Ethik. Thomas Mann bemerkt in Geist und Kunst:
Die Kritiker nehmen die Künstler viel zu bewußt, viel zu moralisch. Sie
glauben nicht genug an die Notwendigkeitund Verantwortungslosigkeit
des künstlerischen Thuns. Sie nehmen an, daß es einem Künstler freige-
standen hätte, ein Werk nicht oder anders zu schaffen, - ein immer
wiederkehrendes Mißverständnis.33
Schopenhauer hatte generell formuliert, es halte sich jeder a priori
in den einzelnen Handlungen für frei in dem Sinne, daß ihm in jedem
gegebenen Fall jede Handlung möglich wäre, und erst a posteriori, aus der
Erfahrung und demNachdenken über die Erfahrung, erkennt er, daß sein
Handeln ganz notwendig hervorgeht aus dem Zusammentreffen des
Charakters mit den Motiven.34
Diese N otwendig~eit ist es, die alle meliorisierenden Hoffnungen
des Geistes als Illusion entlarvt. Auch auf Wagner wird man
Schopenhauers harten Satz anwenden dürfen:
Mit dem strengsten Rechte trägt sonach jedes Wesen das Dasein über-
haupt, sodann das Dasein seiner Art und seiner eigentümlichen Individua-
lität, ganz, wie sie ist, und unter Umgehungen, wie sie sind, in einer Welt,
so, wie sie ist (... ): und in allem, was ihm widerfährt, ja nur widerfahren
kann, geschieht ihm immer Recht.35
32 Vgl. die von Thomas Mann gern zitierte Passage Die Welt als WiUe und
Vorstellung§ 38 (Werke I, z8o), siehe S. 207.
33 Thomas-Mann-Studien I, a.a.O. S. zu.
34 Die Welt als Wille und Vorstellung§ 55 (Werke I, 398).
35 Die Welt als Wille und Vorstellung § 63 (Werke I, 480), zitiert von Thomas
Mann, siehe S. 210.

21
Dem ethischen Grundsatze gemäß, >>daß der bessere Mensch der
ist, welcher zwischen sich und den andern den wenigsten Unter-
schied macht<< 36, weil er die Notwendigkeit auch im andern
erkannt hat, hat Thomas Mann ein gebrochenes Verhältnis zur
Kritik. Wer im anderen die Notwendigkeit erkennt und es daher
ablehnt, subjektive Böswilligkeit (die man ja auch bei sich selbst
nicht annimmt) als Motiv der Handlungen zu unterstellen, dessen
Kritik wird niemals laut und fordernd sein können, vielmehr,
trotzEntlarvungund mittels ihrer, mitleidend und liebend. Wäh-
rend alle Zeitkritik glaubt, irgend jemand hätte seine Sache anders
und besser machen können, ist nach Schopenhauer alles Handeln
nur Entfaltung eines vorausliegenden und nicht ad hoc veränder-
baren Seins, das gelegentliche >>Ausreißversuche<< des Geistes
ohnehin binnen kurzem wieder zurückholt3 7• In Form des Unter-
schieds zwischen »Sein<< und bloßem >>Meinen<< istThomasMann
immer wieder auf diese Auffassungen zurückgekommen, um mit
ihrer Hilfe scheinbare U mdeutungen, scheinbareWandlungenals
tiefere Konstanzen zu enthüllen, sowohl in seinem eigenen Falle 38
wie in dem Nietzsches (siehe S. 4 I), Schopenhauers (siehe S. 228)
oder Wagners (siehe S. I I4). Er lehnt es ab, >>Brüche<< in der
Entwicklung seiner großen Inspiratoren zu sehen (S. 242 ), weil er
Identität schopenhauerisch denkt: es ist nur ein Wille, dem der
Intellekt auf verschiedene Weise dienstbar ist.
Das Sein, nicht die Meinung, den Willen, nicht die dienstbare
Interpretation des Geistes zu sehen bedeutet zugleich, die ästheti-
sche Form und die geistige Grundstimmung einer Aussage, nicht
ihren Inhalt wichtig zu nehmen. Das Ästhetisch-Formale ist
Ausdruck des Seins, das Inhaltliche oft nur des >>Meinens<<. Scho-
penhauer selbst wird ironischerweise so gemessen- >>hervorra-
gend ästhetischer Art<< sei das Vergnügen an einer solchen Phi-
losophie (S. I93), sie wirke weniger durch ihre Moral und Weis-
heitslehre als vielmehr durch ihre Vitalität, >>durch ihre Leiden-
schaft mehr als durch ihre Weisheit<< (S. 2I9). Auch Nietzsches
intellektuell widersprüchliche Philosophie erscheint als bruch-

36 Ober den Tod, Werke li, 649.


37 Schopenhauer meint sogar, das einem widerstrebenden Charakter gewaltsam
Abverlangte, gegen die Natur mühsam Durchgesetzte werde keinen Genuß geben
und tot bleiben, »ja sogar in ethischer Hinsicht wird eine nicht aus reinem
unmittelbarem Antriebe, sondern aus einem Begriff, einem Dogma entsprungene,
für seinen Charakter zu edle Tat durch nachfolgende egoistische Reue alles
Verdienst verlieren• (WWV §55, Werke I, 418).
JS Z.B. XII, 585: »Konservativ? Natürlich bin ich es nicht; denn wollte ich es
meinungsweise sein, so wäre ich es immer noch nicht meiner Natur nach, die
schließlich das ist, was wirkt.• Oder XI, 809 (Essays li, 59): »Ich habe vielleicht
meine Gedanken geändert, - nicht meinen Sinn.•

22
lose Einheit unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Gesamt-
präsentation seines Lebens: >>nur als ästhetisches Phänomen ist es
zu rechtfertigen« (S. 260 ). Die ästhetische Befriedigung erlaubt es,
über inhaltliche Schwächen und Inkonsequenzen hinwegzuse-
hen; das Intellektuelle ist ohnehin >>essentiell wenig entschei-
dend« (S. 94). So wird Schopenhauer trotzseiner intellektuellen
Absage an den Willen zum Leben essentiell als Erotiker verstan-
den, der von der Macht dieses Willens unabsichtlich Zeugnis
ablegt. So wird Nietzsche ungeachtet seiner Verherrlichung des
Lebenswillens als lebensfeindlicher lntellektualist und Literat
verstanden, der Form seines Werkes halber, die seine Inhalte
dementiert: das entscheidende Gewicht liege auf der Frage, was
einer ist, nicht auf jener, was einer will und meint (S. 41). »Nietz-
sche's Lehre also warfür Deutschland weniger neu und revolutio-
nierend (... ) als die Art, in der er lehrte<< (ebd. ).

Wenn im Vorausgehenden das Zusammenspiel der Einflußzonen


Nietzsches, Wagners und Schopenhauers in einigen Punkten
beschrieben wurde, so im Bewußtsein einer Zuspitzung, ja einer
idealtypischen Konstruktion, die im Einzelfall nicht ohne Prü-
fung der näheren Umstände angewendet werden kann. Am ehe-
sten gilt das vorgestellte Modell für das Frühwerk. Die Erkun-
dung der Sphäre des Politischen im Ersten Weltkrieg und die
republikanische Politisierung seit 1922 bilden allmählich Gegen-
gewichte aus, die den Geist aus seiner Dienstbarkeit gegenüber
dem Leben zu befreien streben und daher auch zunehmend eine
auf konkret zu Veränderndes zielende Zeitkritik erlauben. Die
ästhetische Daseinsauffassung weicht in gewissem Grade einer
moralischen und sozialen:
Wir ( ... ) sind nicht mehr Ästheten genug, (... ) uns so trivialer Begriffe und
Leitbilder zu schämen wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit. (S. 263)

Vor allem im essayistisch-politischen Werk kommt diese neue


Position zum Tragen. Im dichterischen Werk hinterläßt sie zwar
ihre Spuren, aber die alten ästhetischen Postulate bleiben dort
doch in größerem Umfang gültig. Die neue Lehre, sofern sie sich
nur in Inhalten und Meinungen ausdrückt, wird hier in der Regel
von der ästhetischen Komposition wieder dementiert (z.B. ver-
gißt Hans Castorp seinen Schneetraum). Es bleibt also die Frage,
ob sie sich auch in der Form ausgedrückt hat. Dies scheint am
ehesten im foseph-Roman gelungen, wo Kraft und Selbständig-
keit des Geistes angesichts des »Willens« nicht postulatorisch
behauptet werden, sondern in Josephs heiterem Umgang mit dem
23
Mythos und dem Unbewußten auch der Form nach gegenwärtig
sind.
Dennoch bleibt vieles von der alten Konzeption erhalten. Wenn
Mann den Moralisten »langweilig, aber höchst nützlich« nennt (S.
2 52), hat er zwar Nietzsches W ertungumgedreht, nicht aber seine
Begriffsebene verlassen: das Ethische und das Ästhetische bleiben
letztlich unversöhnbar (das Ethische ist ästhetisch trivial, das
Ästhetische ist ethisch verwerflich). Die Unschuld des ästheti-
schen Schaffens bleibt zeitlebens ein Problem. Zwar brachten die
neuen geschichtlichen Inhalte seit 1922 auch eine Art neuer
Unschuld- es gab wieder Ziele, es gab Gegner, statt der ständig auf
sich selbst reflektierenden Künstlerproblematik der dekadenten
Friedensjahre, es gab geschichtliches Handeln statt der vertrack-
ten Situation, sich wie Aschenbach durch voluntaristisches An-
stimmen eines neuen Stils am eigenen Schopf aus dem Sumpf der
Dekadenz ziehen zu müssen -, aber jede politische Aktivität
verlangte eineUmkehrungder Grundkonzeption von der Höher-
wertigkeit des Willens und des Lebens gegenüber dem Geiste.
Eine Umkehrung nur, keine Vernichtung: Thomas Mannergreift
jetzt bewußt die Partei des Geistes, in Kenntnis der schopenhaue-
rischen Kritik solchen Verhaltens als illusionärer Befangenheit.
Obgleich seine ästhetischen Zweifel bleiben - er kommt sich
selber komisch vor in seiner Rolle als W anderredner der Demo-
kratieJ9 -, obgleich auch sein Glaube an den Geist klein bleibt,
wirft er sich auf seine Seite. Sein >>Sein«, schopenhauerisch ge-
dacht, bleibt davon in gewissem Grade unangefochten, was man
daran erkennt, daß seine ästhetischen Formen als Ausfaltung des
Seins (und nicht der Meinungen) fast unverändert bleiben. Daß er
die Form und die Sprache des Essays selbst zur Zeitseiner größten
Politisierung (z. B. in der Rede vor Arbeitern in Wien 1932)
beibehält, zeugt von dieser Konstanz, zeugt aber gleichzeitig
davon, daß seine politische Konzeption nur ethisch-voluntari-
stisch geblieben und in die Form nicht eingedrungen war4°. Die
ästhetischen Schwächen der politisierenden Essays sprechen im-
mer wieder von der Ohnmacht des Geistes, die sie doch inhaltlich
gerade zu widerlegen trachten. Der Schopenhauerianer steht vor
dem Arbeiterpublikum fremd und hilflos. Die von seinem Be-
kenntnis zum Geiste her erforderliche politische Ästhetik hat
Thomas Mann nicht entwickeln können.

39 X, 397, Essays Il, 335·


40 V gl. hierzu Helmut Mörchen, Schriftsteller in der Massengesellschaft. Zur
politischen Essayistik Heinrich und Thomas Manns, Kurt Tucholskys und Ernst
Jüngers während der zwanziger Jahre, Stuttgart 1973, 5.29-47·

24
Dennoch sollte man das Pflichtbewußtsein, mit dem er sich gegen
die Prädispositionen seiner geistigen Herkunft zu stemmen sucht,
nicht gering achten. Es bleibt eine bedeutende moralische und
intellektuelle Leistung, sich von solchen Ausgangspunkten her
zum kämpferischen Humanisten zu entwickeln. Die niederzie-
henden Erkenntnisse, die aus Wagner, Nietzsche und Schopen-
hauer zu gewinnen waren, werden zwar nicht wirklich widerlegt,
erweisen sich aber angesichts der Herausforderungen des 20.
Jahrhunderts als so unpraktikabel und verantwortungslos, daß
Thomas Mann sie nicht mehr zum Tragen kommen läßt. Die neue
Maxime lautet vielmehr mit den Worten Sigmund Freuds:
Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im
Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es
ist dochetwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist
leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach
unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. (S. 169)
EINKEHR

Sollte es wirklich wahr sein, daß der kosmo-


politische Radikalismus auch in Deutschland
schon Wurzeln gefaßt hat?
Dostojewski, Schriften

Doch, auch ich habe teil daran . . . und nun wollen wir der
Einfachheit halber all jene Exküsen übergehen, die selbstver-
ständlich im höchsten Grade am Platze sind, wenn heutigentags
jemand Miene macht, von sich selbst zu reden. »Eine Welt-
wende!« höreich sagen. »Der rechte Augenblick, in der Tat, für
einen mittleren Schriftsteller, unsere Aufmerksamkeit für seine
werte literarische Persönlichkeit in Anspruch zu nehmen!« Das
nenne ich gesunde Ironie. Auf der anderen Seite jedoch überlege
ich, ob eine Weltwende nicht bei Lichte besehen für jedermann
recht wohl der Augenblick ist, in sich zu gehen, mit seinem
Gewissen Rats zu pflegen und eine General-Revision der eigenen
Grundlagen anzusetzen,- begreiflich wenigstens und entschuld-
bar erscheint mir ein solches Bedürfnis dort, wo auch in Hochzei-
ten der äußeren Politik und der >Macht< die innere Politik und die
moralischen Angelegenheiten das beherrschende Interesse blei-
ben. Nur die Sympathie freilich, nicht Gleichgültigkeit oder
Abneigung, wird zu überzeugen sein, daß es sich um Gewissens-
drang handelt, wo die Diagnose auf Selbstverliebtheit und eitle
Anmaßung im entferntesten möglich ist. Indem ich mich an-
schicke, geschmacklos zu sein, muß ich mir ein kleines Publikum
von Freunden, mir bekannten und unbekannten, einbilden dür-
fen: Freunden in dem Sinne, daß ihnen aus dem ernsten und
heiteren Anteil, den sie an meinem früheren Treiben und Schrei-
ben genommen haben, eine gewisse Mitverantwortlichkeit dafür
erwächst und bewußt ist,- Freunden also im Sinn jener Gewis-
sens-Solidarität, die einen Künstler mit seinem wahren Publikum
verbindet und die stark genug sein möge, um auch ihnen, wie mir,
über das zeitlich Gewagte der folgenden Abschnitte hinwegzu-
helfen.
Die Sache fängt damit an, daß mein Recht auf >Patriotismus< mit
gutem Fug bezweifelt werden könnte, denn ich bin kein sehr
richtiger Deutscher. Zu einem Teil romanischen, latein-amerika-
nischen Blutes, war ich von jung aufmehr europäisch-intellektuell
als deutsch -poetisch gerichtet,- ein Unterschied, nein, ein Gegen-
satz, über den, wie ich hoffen muß, von vornherein Einverständ-
nis herrscht, so daß ich nicht weiter darauf zu bestehen brauche.
Ein deutscher Dichter zu sein, wie etwa Gerhart Hauptmann, wie
noch Herbert Eulenberg es ist, habe ich mir nie einzureden
versucht, -wobei ich mich beeile, hinzuzufügen, daß hier keinen
Augenblick vom Range, sondern ausschließlich vom Wesen die
Rede ist. Diejenige Begabung, die sich aus synthetisch-plastischen
und analytisch-kritischen Eigenschaften zusammensetzt und die
Kunstform des Romans als die ihr gemäße ergreift, ist überhaupt
nicht eigentlich deutsch, der Roman selbst keine recht deutsche
Gattung; vorderhand ist es nicht vorstellbar, daß hierzulande-im
>unliterarischen Lande<- ein Schriftsteller, ein Prosaist und Ro-
manschreiber im Bewußtsein der Nation zu repräsentativer Stel-
lung aufsteige, wie der Poet, der reine Synthetiker, der Lyriker
oder Dramatiker es vermag. Ich sage: vorderhand, denn der
Zivilisationsliterat will, daß es anders werde, und er weiß, warum.
Es ist sicher, daß ein Vortreten des Romans oder genauer: des
Gesellschaftsromans im öffentlichen Interesse der exakte Grad-
messer wäre für den Fortschritt jenes Prozesses der Literarisie-
rung, Demokratisierung und ,Vermenschlichung< Deutschlands,
von dem ich sprach, und den anzufeuern die eigentliche Angele-
genheit und Sendung des Zivilisationsliteraten ist.
Kommen wir aufs Persönliche zurück! Ich sagte, ich sei kein sehr
guter und richtiger Deutscher,- und ließ dabei freilich in meinem
Falle jene letzte Vorsicht außer acht, die ich im Falle des Zivilisa-
tionsliteraten sorgfältig walten ließ. Gegen mich selbst darf ich
unbedenklicher vorgehen. Dennoch vergesse ich auch hier nicht
ganz, daß es beinahe zur deutschen Humanität gehört, sich un-
deutsch, und selbst antideutsch aufzuführen; daß eine denNatio-
nalsinn zersetzende Neigung zum Kosmopolitischen nach maß-
geblichemUrteil vomWesender deutschen Nationalität untrenn-
bar ist; daß man seine Deu tschheit möglicherweise verlieren muß,
um sie zu finden; daß ohne einen Zusatz von Fremdem vielleicht
kein höheres Deutschtum möglich ist; daß gerade die exemplari-
schen Deutschen Europäer waren und jede Einschränkung ins
Nichts-als-Deutsche als barbarisch empfunden hätten. Den gro-
ßen Schiller hat noch Fontane einen Halbfremden genannt, und
wenn sein rhetorisches Drama eigentlich im grandsiede zu Hause
ist, so fehlt nicht viel, daß Nietzsche dasWerk des anderen großen
deutschen Theatralikers in die französische Romantik verweist.
Was Goethe betrifft, so sind mindestens die>Wahlverwandtschaf-
ten< formal genommen kein sehr deutsches Werk, wie denn
28
überhaupt die Prosa dieses Schriftstellers zuweilen französiert,
daß es eine Schande ist (eine Erscheinung, die bei dem >Polen<
Nietzsche nicht weiter auffallen kann), während Schopenhauer
seine Paragraphen zunächst ins Lateinische übersetzt zu haben
scheint, um sie dann mit einem Gewinst an erzen-unsterblicher
Präzision ins Deutsche zurückzuübersetzen ... Zu solchen natio-
nalen Unzuverlässigkeiten unserer Großen also hat man sich
gewöhnt, gute Miene zu machen, und sich einfach entschlossen,
dergleichen in den Begriff des höheren Deutschtums aufzuneh7
men. Unterdessen bin ich nicht so toll, das Europäisieren meines
Geschmacks mit meinem Range in Verbindung zu bringen, (aber
von dem sollte ja überhaupt nicht die Rede sein). Es ist kein
Verdienst, wenn es kein Tadel ist, daß intim und exklusiv Deut-
sches mir niemals genügen wollte, daß ich nicht viel damit anzu-
fangen wußte. Mein Blut bedurfte europäischer Reize. Künstle-
risch, literarisch beginnt meine Liebe zum Deutschen genau dort,
wo es europäisch möglich und gültig, europäischer Wirkungen
fähig, jedem Europäer zugänglich wird. Die drei Namen, die ich
zu nennen habe, wenn ich mich nach den Fundamenten meiner
geistig-künstlerischen Bildung frage, dieseNamenfür ein Dreige-
stirn ewig verbundener Geister, das mächtig leuchtend am deut-
schen Himmel hervortritt, - sie bezeichnen nicht intim deutsche,
sondern europäische Ereignisse: Schopenhauer, Nietzsche und
Wagner.
Das kleine, hochgelegene Vorstadtzimmer schwebt mir vor Au-
gen, worin ich, es sind sechzehn Jahre, tagelang hingestreckt auf
ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder Kanapee, >Die Welt als
Wille und Vorstellung< las. Einsam-unregelmäßig, weit- und
todsüchtige Jugend - wie sie den Zaubertrank dieser Metaphysik
schlürfte, deren tiefstes Wesen Erotik ist und in der ich die geistige
Quelle der Tristan-Musik erkannte! So liest man nur einmal. Das
kommt nicht wieder. Und welch ein Glück, daß ich ein Erlebnis
wie dieses nicht in mich zu verschließen brauchte, daß eine schöne
Möglichkeit, davon zu zeugen, dafür zu danken, sofort sich
darbot, dichterische Unterkunft unmittelbar dafür bereit war!
Denn zwei Schritte von meinem Kanapee lag aufgeschlagen das
unmöglich und unpraktisch anschwellende Manuskript - Last,
Würde, Heimat und Segen jenes seltsamen J ünglingsalters, höchst
problematisch, was seine öffentlichen Eigenschaften und Aus-
sichten betraf-, welches eben bis zu dem Punkte gediehen war,
daß es galt, Thomas Buddenbrook zu Tode zu bringen. Ihm, der
mir mystisch-dreifach verwandten Gestalt, dem Vater, Sprößling
und Doppelgänger schenkte ich das teure Erlebnis, das hohe
Abenteuer, in sein Leben, dicht vor dem Ende, wob ich es
erzählend ein, denn mir schien, daß es ihm wohl anstehe, - dem
Leidenden, dertapfer standgehalten, dem Moralisten und >Milita-
risten< nach meinem Herzen, dem späten und komplizierten
Bürger, dessen Nerven in seiner Sphäre nicht mehr heimisch sind,
dem Mitregenten einer aristokratischen Stadtdemokratie, wel-
cher, modern und fragwürdig geworden, unherkömmlichen Ge-
schmacks und von entwickelt europäisierenden Bedürfnissen, die
gesunder, enger und echter gebliebene Umgebung zu befremden
und- zu belächeln längst begonnen hat. In der Tat, den Fund, den
Thomas Buddenbrook vor seinem Ende in einem verstaubten
Winkel seines Bücherschrankes machte, - er machte ihn nur
scheinbar zufällig, nicht viele Jahre vorher hatte Europa, das
intellektuelle Europa, mit dem der Mittelstadt-Honoratiore ner-
vös sympathisierte, denselben Fund gemacht, der Pessimismus
Arthur Schopenhauers herrschte, er war große Mode im intellek-
tuellen Europa: denn dieser deutsche Philosoph war kein >deut-
scher Philosoph< mehr im herkömmlichen, unzugänglich-abstru-
sen Sinne- er war wohl freilich sehr deutsch (kann man Philosoph
sein, ohne deutsch zu sein?) - sehr deutsch, insofern er zum
Beispiel durchaus kein Revolutionär, kein Busen-Rhetor und
Menschheitsschmeichler, sondern Metaphysiker, Moralist und
politisch, gelinde gesagt, indifferentwar ... Aber er waretwas sehr
Überraschendes und Dankenswertes darüber hinaus: ein ganz
großer Schriftsteller nämlich, ein Schöngeist und Sprachmeister
von umfassendsten literarischen Wirkungsmöglichkeiten, ein eu-
ropäischer Prosaist, wie es deren vorher unter Deutschen viel-
leicht zwei, drei und keineswegs unter deutschen Philosophen
gegeben hatte ... Ja, das war neu, und die Wirkung davon war
groß: auf das intellektuelle Europa, welches die Mode durch-
machte und >überwand<, auf Thomas Buddenbrook, der starb-,
und auf mich, der nicht starb und dem ein überdeutsches Geistes-
erlebnis zu einer der Quellen seines literarisch so anstößigen
>Patriotismus< wurde.
Es war um dieselbe Zeit, daß meine Passion für das Kunstwerk
Richard Wagners auf ihre Höhe kam oder doch ihrem Höhepunkt
sich näherte: ich sage >Passion<, weil schlichtere Wörter, wie
>Liebe< und >Begeisterung<, die Sache nicht wahrhaft nennen
würden. Die Jahre der größten Hingebungsfähigkeit sind nicht
selten zugleich auch diejenigen der größten psychologischen
Reizbarkeit, welche in meinem Falle durch eine gewisse kritische
Lektüre noch mächtig verschärft wurde; und Hingabe zusammen
mit Erkenntnis - eben dies ist Passion. Die innig-schwerste und
JO
fruchtbarste Erfahrung meiner Jugend war diese, daß Leiden-
schaft hellsichtig- oder ihres Namens nicht wert ist. Blinde Liebe,
nichts als panegyrisch-apotheosierende Liebe- eine schöne Sim-
pelei! Eine gewisse Art approbierter Wagner-Literatur habe ich
nie auch nur lesen können. Jene verschärfend kritische Lektüre
aber, von der ich sprach, war diejenige der Schriften Friedrich
Nietzsche's: insbesondere sofern sie Kritik des Künstlertums,
oder, was bei Nietzsche dasselbe besagt, Wagnerkritik sind. Denn
überall, wo in diesen Schriften vom Künstlerund Künstlerturn die
Rede ist-und es ist auf keine gutmütigeWeise davon die Rede-, da
ist der Name Wagners, sollte er auch im Texte fehlen, unbedenk-
lich einzusetzen: Nietzsche hatte, wenn nicht die Kunst selbst-
aber auch dies könnte man behaupten -, so doch das Phänomen
>Künstler< durchaus an Wagner erlebt und studiert, wie dann der
so viel geringere Nachkömmling das Wagnersehe Kunstwerk
und in ihm beinahe die Kunst selbst durch das Medium dieser
Kritik leidenschaftlich erlebte- und dies in entscheidenden Jah-
ren, so daß all meine Begriffe von Kunst und Künstlerturn auf
immer davon bestimmt, oder, wenn nicht bestimmt, so doch
gefärbt und beeinflußtwurden-und zwar in einem nichts weniger
als herzlich-gläubigen, vielmehr einem nur allzu skeptisch-ver-
schlagenen Sinn.
Erkennende Hingabe, hellsichtige Liebe - das ist Passion. Ich
versichere, daß die Inständigkeit meiner Wagner-Leidenschaft
nicht die mindeste Einbuße dadurch erlitt, daß sie sich in Psycho-
logie und Kritik brach - einer Kritik und Psychologie, die an
Raffinement ihrem zauberischen Gegenstande, wie man weiß,
gewachsen ist. Im Gegenteil, ihren feinsten und schärfsten Stachel
erhielt sie erst eben hierdurch, sie wurde erst eben hierdurch recht
zur Leidenschaft- mit allden Ansprüchen, die eine rechte Passion
an die nervöse Spannkraft nur immer stellen kann. Die Kunst
Wagners, so poetisch, so >deutsch< sie sich geben möge, ist ja an
und für sich eine äußerst moderne, eine nicht eben unschuldige
Kunst: Sie ist klug und sinnig, sehnsüchtig und abgefeimt, sie weiß
betäubende und intellektuell wachhaltende Mittel und Eigen-
schaften auf eine für den Genießenden ohnehin strapaziöseWeise
zu vereinigen. Aber die Beschäftigung mit ihr wird beinahe zum
Laster, sie wird moralisch, wird zur rücksichtslos ethischen Hin-
gabe an das Schädliche und Verzehrende, wenn sie nicht gläubig-
enthusiastisch, sondern mit einer Analyse verquickt ist, deren
gehässigste Erkenntnisse zuletzt eine Form der Verherrlichung
und wiederum nur Ausdruck der Leidenschaft sind. Noch im
>Ecce homo< ist eine Seite über den>T ristan<, welche Beweis genug
JI
wäre, daß Nietzsche's Verhältnis zu Wagner bis in die Paralyse
hinein heftigste Liebe geblieben ist.
Der intellektuelle Name für >Liebe< lautet >Interesse<, und der ist
kein Psycholog, der nicht weiß, daß Interesseeinen nichts weniger
als matten Affekt bedeutet,- vielmehr einen, der zum Beispiel den
der >Bewunderung< an Heftigkeit weit übertrifft. Es ist der eigent-
liche Schriftsteller-Affekt, und Analyse vernichtet ihn nicht nur,
sondern er saugt, sehr anti-spinozistisch, beständig Nahrung aus
ihr. Es ist also nicht der Panegyrikus, es ist die Kritik, und zwar die
böse und selbst gehässige Kritik, ja geradezu das Pamphlet,
vorausgesetzt, daß es geistreich und Produkt der Leidenschaft ist,
- worin passioniertes Interesse sein Genüge findet: die bloße
Lobpreisung schmeckt ihm schal, es findet, daß nichts daraus zu
lernen ist. Ja, sollte es etwa selbst dahin gelangen, den Gegenstand,
die Persönlichkeit, das Problem, für das es brennt, produktiv zu
'feiern, so wird etwas Wunderliches zustande kommen, welches
im Mißverstandenwerden beinahe seine Ehre sucht, ein Erzeugnis
hinterhältiger und verschmitzt irreführender Begeisterung, das
auf den ersten Blick einem Pasquill zum Verwechseln ähnlich
sieht. Ich gab kürzlich ein kleines Beispiel dafür, als ich eine
historisierende Schrift, einen Abriß des Lebens Friedrichs von
Preußen, zur Kriegdiskussion beisteuerte,- ein von den Zeitereig-
nissen eingegebenes, ja abgepreßtes Werkchen, dessen Veröffent-
lichung mir im ersten Augenblick- der Krieg währte noch nicht
lange - von besorgten Freunden dringend widerraten wurde:
und zwar nicht seines die Literatur beleidigenden >Patriotismus<
wegen, sondern aus gerade entgegengesetzten Gründen ...
Ich weiß wohl, wohin ich steuere, wenn ich von diesen Dingen
rede. Nietzsche und Wagner - sie sind beide große Kritiker des
Deutschtums: dieser auf mittelbar-künstlerische, jenerauf unmit-
telbar-schriftstellerische Weise, - wobei, wie es modern ist, die
künstlerische Methode an intellektueller Bewußtheit und Un-
Einfalt der schriftstellerischen nicht nachsteht. Es hat, wie gesagt,
wenn man Nietzsche beiseite nimmt, in Deutschland nie eine
Wagner-Kritik gegeben, -denn das >unliterarische< Volk ist damit
auch das un- und anti-psychologische. Baudelaire und Barres
haben bessere Dinge über Wagner gesagt, als in irgendwelchen
deutschen Wagner-Biographien und -Apologien zu finden sind,
und in diesem Augenblick ist es ein Schwede, W. Peterson-Berger,
der in seinem Buche >Richard Wagner als Kulturerscheinung< uns
Deutschen einige Winke darüber erteilt, in welcher Haltung man
etwa gut tut, sich einer so im ungeheuersten Sinne interessanten
Erscheinung nähern: in demokratisch aufrechter Haltung näm-
32
lieh, die es gestattet, überhaupt etwas davon zu sehen. Der
Schwede spricht da von Wagners Nationalismus, seiner Kunst als
einer national deutschen, und bemerkt, daß die deutsche Volks-
musik die einzige Richtung sei, die von seiner Synthese nicht
umfaßt werde. Zu Charakterisierungszwecken könne er wohl
mitunter, wie in den >Meistersingern< und im >Siegfried<, den
deutschen Volkston anschl?-gen, aber dieser bilde nicht die
Grundlage und den Ausgangspunkt seiner Tondichtung, sei nie-
mals der Ursprung, aus dem sie spontan hervorsprudele, wie bei
Schumann, Schubert und bei Brahms. Es sei notwendig, zwischen
Volkskunst und nationaler Kunst zu unterscheiden; der erstere
Ausdruck ziele nach innen, der letztere nach außen. Wagners
Musik sei mehr national als volkstümlich; sie habe wohl viele
Züge, die namentlich der Ausländer als deutsch empfinde, aber sie
habe dabei ein unverkennbar kosmopolitisches Cachet.- Nun, es
ist leicht, treffend zu sein, wenn man sehr zugespitzt ist. In derTat
ist Wagner als geistige Erscheinung so gewaltig deutsch, daß mir
immer schien, man müsse unbedingt sein Werk mit Leidenschaft
erlebt haben, um von der tiefen Herrlichkeit sowohl wie von der
quälenden Problematik deutschen Wesens irgend etwas- wenn
nicht zu verstehen, so doch zu ahnen. Aber außerdem, daß dieses
Werk eine eruptive Offenbarung deutschen Wesens ist, ist es auch
eine schauspielerische Darstellung davon, und zwar eine Darstel-
lung,. deren Intellektualismus und plakathafte Wirksamkeit bis
zum Grotesken, bis zum Paradisehen geht,- eine Darstellung, die,
sehr roh gesprochen, momentweise nicht völlig über den Ver-
dacht erhaben ist, Beziehungen zur Fremdenindustrie zu unter-
halten, und die bestimmt erscheint, ein neugierig schauderndes
Entente-Publikum zu dem Ausrufe hinzureißen: »Ah, ~a c'est
bien allemand par exemple!«
Wagners Deutschtum also, so wahr und mächtig es sei, ist modern
gebrochen und zersetzt, dekorativ, analytisch, intellektuell, und
seine Faszinationskraft, seine eingeborene Fähigkeit zu kosmo-
politischer, zu planetarischer Wirkung stammt daher. Seine Kunst
ist die sensationellste Selbstdarstellung und Selbstkritik deut-
schen Wesens, die sich erdenken läßt, sie ist danach angetan, selbst
einem Esel von Ausländer das Deutschtum interessant zu machen,
und die leidenschaftliche Beschäftigung mit ihr ist immer zugleich
eine leidenschaftliche Beschäftigung mit diesem Deutschtum
selbst, das sie kritisch-dekorativ verherrlicht. Sie wäre das an und
für sich, aber wie sehr wird sie es erst sein, wenn sie sich von einer
Kritik leiten läßt, die, während sie der Kunst Wagners zu gelten
scheint, in Wahrheit dem Deutschtum im allgemeinen gilt, wenn

33
auch nicht immer so unmittelbar ausgesprochenerweise wie in
jener herrlichen Analyse des Meistersinger-Vorspiels zu Anfang
des Achten Hauptstücks von >Jenseits von Gut und Böse<. In
Wahrheit, wenn Nietzsche als Wagner-Kritiker im Auslande
Rivalen hat, als Kritiker des Deutschtums hat er deren nirgends,
weder draußen noch daheim: er ist es, der bei weitem das Böseste
und Beste darüber gesagt hat, und die Genialität der Beredsam-
keit, die ihn ergreift, die ihn trägt, wenn er auf deutsche Dinge, auf
das Problem des Deutschtums zu reden kommt, ist Zeugnis seines
durchaus leidenschaftlichen Verhältnisses zu diesem Gegenstand.
Von Nietzsche's Deutschfeindlichkeit zu reden, wie es in
Deutschland zuweilen geschieht - das Ausland, dank seinem
weiteren Abstande, sieht richtiger -, ist ebenso plump, wie es
wäre, ihn einen Anti-Wagnerianer zu nennen. Er liebte Frank-
reich aus artistisch-formalen, wenn auch gewiß nicht aus politi-
schen Gründen; aber man zeige mir die Stelle, wo er von Deutsch-
land mit jener Verachtung spricht, die englischer Utilitarismus,
englische Unmusikalität ihm erweckten! Auf ihn, wahrhaftig!
mögen jene politischen Sittenrichter sich nicht berufen, die sich
anmaßen, ihr Volk literarisch zu züchtigen, es mit der klappern-
den Terminologie des westlichen Demokratismus zu schulmei-
stern, aber nie, niemals im Leben ein einziges Wort der erkennen-
den Leidenschaft fanden, welches ihr Recht erhärtet hätte, über
deutsche Dinge auch nur mitzureden ... Ich wollte sagen: der
junge Mensch, den Geschmack und Zeitumstände nötigten, die
Kunst Wagners, die Kritik Nietzsche's zur Grundlage seiner
Kultur zu machen, an ihnen hauptsächlich sich zu bilden, mußte
gleichzeitig der eigenen nationalen Sphäre, mußte des Deutsch-
tums als eines überaus merkwürdigen, zu leidenschaftlicher Kri-
tik anreizenden europäischen Elementes ansichtig werden; eine
Art von psychologisch orientiertem Patriotismus mußte sich
zeitig in ihm ausbilden, der mit politischem Nationalismus natür-
lich überhaupt nichts zu schaffen hatte, aber eine gewisse Reizbar-
keit des nationalen Selbstbewußtseins, eine gewisse Ungeduld
gegen plumpe, der Unwissenheit entspringende Beschimpfungen
dennoch hervorbrachte: in dem Sinne etwa, wie ein Kunstfreund,
der tief durch das Erlebnis Wagners gegangen, aus höheren geisti-
gen Gründen aber zum Gegner dieser Kunst geworden ist, U nge-
duld in sich ausbrechen fühlen wird bei den Schimpfreden rück-
ständig-banausischer Ahnungslosigkeit. >Interesse<, um es umge-
kehrt zu wiederholen, ist der intellektuelle Name eines Affektes,
dessen sentimentaler Name- >Liebe< lautet.
Schopenhauer, Nietzsche und Wagner: ein Dreigestirn ewig ver-

34
bundener Geister. Deutschland, dieWeltstand in seinem Zeichen,
bis gestern, bis heute -wenn auch morgen nicht mehr. Tief und
unlösbar sind ihre Schöpfer- und Herrscherschicksale verknüpft.
Nietzsche nannte Schopenhauer seinen >>großen Lehrer<<; welch
ungeheueres Glück für Wagner das Erlebnis Schopenhauers war,
weiß der Erdkreis; die Freundschaft von Tribschen mochte ster-
ben, - sie ist unsterblich, wie die Tragödie unsterblich ist, die
nachher kam und die nie und nimmermehr eine Trennung, son-
dern eine geistesgeschichtliche Umdeutung und Umbetonung
dieser >Sternenfreundschaft< war. Die drei sind eins. Der ehrfürch-
tige Schüler, dem ihre gewaltigen Lebensläufe zur Kultur gewor-
den, möchte wünschen, von allen dreien auf einmal reden zu
können, so schwer scheint es ihm, auseinanderzuhalten, was er
dem einzelnen verdankt. Wenn ich von Schopenhauer den Mora-
lismus- ein populäreres Wort für dieselbe Sache lautet >Pessimis-
mus< - meiner seelischen Grundstimmung habe, jene Stimmung
von >>Kreuz, Tod und Gruft<<, die schon in meinen ersten Versu-
chen hervortrat: so findet sich diese >>ethische Luft<<, um mit
Nietzsche zu reden, auch bei Wagner; in ihr steht ganz und gar sein
riesenhaftes Werk, und ebensogut auf seinen Einfluß könnte ich
mich berufen. Wenn aber eben diese Grundstimmung mich zum
Verfall.~psychologen machte, so war es Nietzsche, auf den ich
dabei als Meister blickte; denn nicht so sehr der Prophet irgend-
eines unanschaulichen >>Übermenschen« war er mir von Anfang
an, wie zur Zeit seiner Modeherrschaft den meisten, als vielmehr
der unvergleichlich größte und erfahrenste Psychologe der Deka-
denz ...
Selten, denke ich, wird auf einen Nicht-Musiker- und entschiede-
neren Nicht-Dramatiker - der Einfluß Wagners so stark und
bestimmend gewesen sein, wie ich es von mir zu bekennen habe.
Nicht als Musiker, nichtals Dramatiker, auch nicht als >Musikdra-
matiker< wirkte er auf mich, sondern als Künstler überhaupt, als
der moderne Künstlerpar excellence, wie Nietzsche's Kritik mich
gewöhnt hatte ihn zu sehen, und im besonderen als der große
musikalisch -epische Prosaiker und Symboliker, der er ist. Was ich
vom Haushalt der Mittel, von der Wirkung überhaupt - im
Gegensatz zum Effekt, dieser >Wirkung ohne Ursache<-, vom
epischen Geist, vom Anfangen und Enden, vom Stil als einer
geheimnisvollen Anpassung des Persönlichen an das Sachliche,
von der Symbolbildung, von der organischen Geschlossenheitder
Einzel-, der Lebenseinheit des Gesamtwerkes, - was ich von
alldem weiß und zu üben und auszubilden in meinen Grenzen
versucht habe, ich verdanke es der Hingabe an diese Kunst. Heute

35
noch, wenn unverhofft eine beziehungsvolle Wendung, irgendein
abgerissener Klang aus Wagners musikalischem Kosmos mein
Ohr trifft, erschrecke ich vor Freude. Aber dem jungen Men-
schen, für den zu Hause kein Platz war, und der in einer An von
freiwilliger Verbannung in ungeliebter Fremde lebte, war diese
Kunstwelt buchstäblich die Heimat seiner Seele. Schaufahn mit
Konzert auf dem Pincio ... und eingesprengt in das banal genie-
ßende Gewimmel internationaler Eleganz stand der ärmliche und
halb verwahrloste Junge zu Füßen des Podiums unter einem
dickblauen Himmel, der nie aufhöne, ihm auf die Nerven zu
fallen, unter Palmen, die er mißachtete, und empfing, schwach in
den Knien vor Begeisterung, die romantischen Botschaften des
Lohengrin-Vorspiels. Erinnerte er sich solcher Stunden, zwanzig
Jahre später, als Krieg wurde zwischen dem Geist des Lohengrio-
Vorspiels und der internationalen Eleganz? Sind vielleicht solche
Erinnerungen mitschuldig an seiner wahllos-unliterarischen Stel-
lungnahme in diesem Kriege? - Wagner-Demonstration auf
Piazza Colonna! Maestro Vessella, damals Dirigent des Munizi-
pal-Orchesters (mit Kesselpauken: wenn Kesselpauken auf die
Piazza gebracht wurden, so hieß das, daß nicht die dumme
Militärkapelle, sondern das Stadtorchester konzertieren und daß
Wagner auf dem Programm stehen werde) - Vessella also, Ver-
kündiger der deutschen Musik in Rom, spielt die Totenklage um
Siegfried. Jedermann weiß, daß es Skandal geben soll. Der Platz ist
gedrängt voll, alle Balkons sind besetzt. Man hön das Fragment zu
Ende. Dann beginnt in der ganzen Runde der Kampf zwischen
ostentativem Beifall und nationalem Protest. Man schreit »Bis!«
und klatscht in die Hände. Man schreit »Basta!« und pfeift. Es
sieht aus, als ob die Opposition das Feld behaupten werde; aber
Vessella bissien. Diesmal wird schonungslos in das Stück hinein
demonstriert. Pfiffe und Schreie nach einheimischer Musik zerrei-
ßen die piano-Stellen, während beim forte die Zustimmungsrufe
der Enthusiasten die Oberhand haben. Aber nie vergesse ich, wie
unter Evvivas und Abbassos zum zweiten Male das Nothung-
Motiv heraufkam, wie es über dem Straßenkampf der Meinungen
seine gewaltigen Rhythmen entfaltete, und wie auf seinem Höhe-
punkt, zu jener durchdringend schmetternden Dissonanz vor
dem zweimaligen C-Dur-Schlage, ein Triumphgeheullosbrach
und die erschütterte Opposition unwiderstehlich zudeckte, zu-
rücktrieb, auf längere Zeit zu verwirrtem Schweigen brachte ...
Der zwanzigjährige Fremde - fremd hier wie diese Musik, mit
dieser Musik- stand eingekeilt in der Menge auf dem Pflaster. Er
schrie nicht mit, da die Kehle ihm zugeschnürt war. Sein Gesicht,
nach dem Podium spähend, das wütende Italianissimi stürmen
wollten und das von den Musikern mit ihren Instrumenten vertei-
digt wurde, - sein aufwärts gekehrtes Gesicht lächelte im Gefühl
seiner Blässe, und sein Herz pochte in ungestümem Stolz, in
jugendlich krankhafter Empfindung ... Im Stolz worauf? In Liebe
wozu? Nur zu einem umstrittenen Kunstgeschmack?- Wohl
möglich, daß er an Piazza Colonna dachte, zwanzig Jahre später,
im August 1914, und an die nervösen Tränen, die einst beim Siege
des Nothung-Motivs jäh seine Augen überfüllend ihm über das
kalte Gesicht gelaufen waren und die er nicht hatte trocknen
können, weil ein fremdes Volksgedränge ihn hinderte, den Arm
zu heben. Trotzdem, ich täusche mich nicht. Mochte immerhin
das inständige Erlebnis dieser Kunst dem Jüngling zur Quelle
patriotischer Gefühle werden,- es war ein überdeutsches Geistes-
erlebnis, es war ein Erlebnis; das ich mit dem intellektuellen
Europa gemeinsam hatte, wie Thomas Buddenbrook das seine.
Dieser deutsche Musiker war ja kein >deutscher Musiker< mehr im
alten, intimen und echten Sinne. Er war wohl freilich sehr deutsch
(kann man Musiker sein, ohne deutsch zu sein?). Aber es war nicht
das Deutsch-Nationale, Deutsch-Poetische, Deutsch-Romanti-
sche an seiner Kunst, was mich bezauberte - oder doch nur,
insofern dies alles intellektualisiert und in dekorativer Selbstdar-
stellung darin erschien -: es waren vielmehr jene allerstärksten
europäischen Reize, die davon ausgehen und für die Wagners
heutige, fast schon außerdeutsche Stellung Beweis ist. Nein, ich
war nicht deutsch genug, um die tiefe psychologisch-artistische
Verwandtschaft seiner Wirkungsmittel mit denen Zola's und
Ibsens zu übersehen: welche beide vor allem Herren und Meister
des Symbols, der tyrannischen Formel waren, gleich ihm, und von
denen besonders der westliche Romancier, Naturalist und Ro-
mantiker wie er, als sein echter Bruder im Willen und Vermögen
zur Massenbetäubung, Massenüberwältigung erscheint ... Die
>Rougon-Macquart< und der >Ring des Nibelungen<,- der >Wag-
nerianer< denkt das nicht zusammen. Trotzdem gehörtes zusam-
men: für die Anschauung, wenn auch nicht für die Liebe. Denn es
gibt freilich Fälle, in denen der Verstand auf einem Vergleiche
besteht, den der Affekt auf immer von der Hand weisen möchte.
Die >Rougon-Macquart< und der >Ring des Nibelungen<! Man
stellt mich hoffentlich nicht vor die Wahl. Ich fürchte, daß ich
mich >patriotisch< entscheiden würde.
Schopenhauer und Wagner . . . Soll ich auch über den dritten
»Stern der schönsten Höhe« ein Wort des Bekenntnisses sagen?
Ich t:rinnere mich wohl des Lächelnsoderauch Lachens, das ich zu

37
unterdrücken hatte, als einesTages Pariser Literaten, die ich über
Nietzsche aushorchte, mir zu verstehen gaben, er sei im Grunde
nichts anderes als ein guter Leser der französischen Moralisten
und Aphoristiker gewesen. Hätten sie wenigstens Pascal genannt.
Aber sie brachten es nicht über Chamfort hinaus ... Das war
manches Jahr vor dem Kriege, und der Krieg war nicht nötig, um
mich Nietzsche's Deutschheit sehen zu lehren. Auch ist es diese
wohl kaum, worauf man heute bestehen müßte. Die ungeheuere
Männlichkeit seiner Seele, sein Antifeminismus, Antidemokratis-
mus,- was wäre deutscher? Was wäre deutscher als seine Verach-
tung der »modernen Ideen«, der »Ideen des achtzehnten J ahrhun-
derts«, der »französischen Ideen«, auf deren englischem Ur-
sprung er besteht: die Franzosen, sagt er, seien nur ihre Affen,
Schauspieler, Soldaten gewesen- und ihre Opfer; »denn an der
verdammliehen Anglomanie der >modernen Ideen< sei zuletzt die
ame fran~aise so dünn geworden und abgemagert, daß man sich
ihres sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen
leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vornehmheit heute
fast mit Unglauben erinnere«. (>Jenseits von Gut und Böse.<)
Einen Absatz weiter ist von der »rasenden Dummheit und dem
lärmenden Maulwerk des demokratischen Bourgeois« die Rede-
nicht ohne jenen »tiefem Ekel«, mit dem der deutsche Geistselbst
sich gegen die anglo-französische Ideenwelt erhoben habe ...
»Mit tiefem Ekel« ... Man sieht, wie gut sich Nietzsche über die
renitente Rolle des deutschen Wesens in der europäischen Gei-
stesgeschichte mit Dostojewski verstand,- er verstand sich ja auch
in anderen Stücken mit ihm aufs beste. »Mittiefem Ekel« ... Da ist
er, der Ursprung dieses Krieges, des deutschen Krieges gegen die
westliche >Zivilisation<! Vor allem aber: wenn Nietzsche's »gro-
ßer Lehrer«, Schopenhauer, nur anti-revolutionär war - aus
pessimistischer Ethik, aus Haß auf den unanständigen Optimis-
mus der Jetztzeit- und Fortschrittsdemagogen -,so war er selbst
anti-radikal in einem bis dahin unerhörten, einem wahrhaft radi-
kalen Sinne und Grade, und in dieser Eigenschaft und Willensmei-
nung kam sein Deutschtum zu einem Elementarausbruch wie in
sonst keiner andern. Denn Anti-Radikalismus- ohne Lob und
Tadel gesagt - ist die spezifische, die unterscheidende und ent-
scheidende Eigenschaft oder Eigenheit des deutschen Geistes:
dies Volk ist das unliterarische eben dadurch, daß es das anti-
radikale ist, oder, um das bloß Verneinende, aber wiederum ohne
Lob und Tadel, ins Positive, höchst Positive zu wenden,- es ist das
Volk des Lebens. Der Lebensbegriff, dieser deutscheste,
goethischste und im höchsten, religiösen Sinn konservative Be-
griff, ist es, den Nietzsche mit neuem Gefühle durchdrungen, mit
einerneuen Schönheit, Kraft und heiligen Unschuld umkleidet,
zum obersten Range erhoben, zur geistigen Herrschaft gefühn
hat. Behauptet Georg Simmel nicht zu Recht, seit Nietzsche sei
>das Leben< zum Schlüsselbegriff aller modernen Weltanschauung
geworden? Auf jeden Fall steht Nietzsche's ganze Moralkritik im
Zeichen dieses Begriffes, und wenn emanzipatorische Kühnheit
im Verhältnis zur Moral bis dahin immer nur ästhetizistischen
Charakter getragen hatte, in Platens Vers: »Vor dem Hochaltar
des Schönen neige sich das Gute selbst« völlig beschlossen gewe-
sen war, so war es Nietzsche, dermitunvergleichlich tieferem und
leidenschaftlicherem Zynismus zum erstenmal die höchsten mo-
ralischen Ideale, die Wahrheit selbst in ihrem W ene für das Leben
philosophisch in Frage stellte, indem er die radikalste Psychologie
einem anti-radikalen, anti-nihilistischen Willen dienstbar machte.
Er hat das >Gute< nicht vor dasTribunaldes Schönen,-vor das des
Lebens selbst hat er es gezogen ... oder wäre das ein und dasselbe?
Hat er das Schöne vielleicht nur mit einem neuen, heiligrauschvol-
len Namen genannt,- mit dem des Lebens? Und war also auch
seine Auflehnung gegen die Moral mehr eines Künstlers und
Liebenden Auflehnung, als eigentlich philosophischer Natur? Ich
habe oft empfunden, daß Nietzsche's Philosophie einem großen
Dichter auf ganz ähnliche Weise zum Glücksfall und Glücksfund
hätte werden können, wie die Schopenhauers dem T ristan-Schöp-
fer: nämlich zur Quelle einer höchsten, erotisch-verschlagensten,
zwischen Leben und Geist spielenden Ironie ... Nietzsche hat
seinen Künstler nicht, oder noch nicht, wie Schopenhauer, gefun-
den. Wenn aber ich auf eine Formel, ein Wort bringen sollte, was
ich ihm geistig zu danken habe, - ich fände kein anderes als eben
dies: die Idee des Lebens, - welche man, wie gesagt, von Goethe
empfangen mag, wenn man sie nicht von Nietzsche empfängt, und
die bei diesem freilich in einem neuen, moderneren, farbigeren
Lichte steht - eine anti-radikale, anti-nihilistische, anti-literari-
sche, eine höchst konservative, eine deutsche Idee, mit der man in
der Tat, bei noch so französierender Prosa, mit noch soviel
Schlachtschitzenblut, noch soviel Oberflächen- und Philoso-
phenhaß auf das> Reich< und das Bauern- und Korpsstudententurn
seines Urhebers- ganz ohne Rettung ein Deutscher ist.
Und dennoch ... der Redende darf das >Einerseits< einer Sache mit
desto entschiedenerem Nachdruck verfechten, je sicherer er un-
terdessen im stillen des >Andererseits< bleibt ... dennoch ist die
Erziehung durch Nietzsche sowenig eine eigentlich und einwand-
frei deutsche Erziehung, wie die durch Schopenhauer und W ag-

39
ner. Ich bitte, an ein Wort, einen Vers Stefan George' s anknüpfen
zu dürfen, die Klage, womit er das herrliche Nietzsche-Poem im
>Siebenten Ring< beschließt. »Sie hätte singen, nicht reden sollen,
diese neue Seele!« ruft er aus- und zitiert damit, wie man weiß
oder auch nicht weiß, einWOrtseines Helden selbst, aus der späten
Vorrede zur >Geburt der Tragödie<, wo jenemAusrufdie Erläute-
rung hinzugefügt ist: »Wie schade, daß ich, was ich damals zu
sagen hatte, nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht
gekonnt! ... «Vielleicht ... das klingt fast kokett geheimnisvoll.
Der Entwurf eines Empedokles-Dramas ist liegengeblieben, stark
hölderlinisch,- er stammt von 187o-71, aus der Zeit der dionysi-
schen Schrift. Aber darf man es nun aussprechen, daß jenes schöne
Klagewort in George's Munde für George bezeichnender ist als
für den, dem es gilt? Daß der Dichter, der als parnassien begann
und dessen Kunst und Persönlichkeit heute eine ganz deutsche
Angelegenheit ist,- daß George, indem ereinAugenblicksbedau-
ern, das von der Erinnerung an ein irrtümlich-unzukömmliches
und darum gescheitertes, nicht zustandegekommenes U nterneh-
men eingegeben ward, verallgemeinert und auf die Gesamter-
scheinung Nietzsche's bezieht und anwendet, Nietzsche als Ge-
samterscheinung in gewissem Sinne verkennt, in gewissem Sinne
verkleinert? Denn es bedeutet unzweifelhaft eine Verkennung
und Verkleinerung seiner kulturellen Sendung, es bedeutet ein
Augenschließen vor seinen letzten, von ihm nicht gewollten, rein
schicksalsmäßigen Wirkungen, auch nur zu wünschen, daß diese
»strenge und gequälte Stimme« - man kann es nicht schöner sa-
gen-, daß diese Stimme hätte singen mögen, statt >bloß, zu reden,
daß Nietzsche als neuer Hölderlin und deutscher Poet sich hätte
erfüllen sollen, statt zu sein, was er war: nämlich ein Schriftsteller
von oberstem Weltrang; ein Prosaist von noch viel mondäneren
Möglichkeiten als Schopenhauer, sein großer Lehrer; ein Literat
und Feuilletonist höchsten Stils, etwas sehr Ententemäßiges -
seien wir geschmacklos, aber charakteristisch! -, ein europäischer
Intellektueller mit einem Wort, dessen Einfluß auf die Entwick-
lung, den >Fortschritt<, ja! geradezu den politischen Fortschritt
Deutschlands durch kein Empedokles-Fragment, auch nicht
durch irgendwelche Lieder des Prinzen Vogelfrei oder selbst
Dionysos-Dithyramben gekennzeichnet wird, sondern durch
Produktionen, die in Haltung und Geschmack, in ihrer Leichtig-
keit und Bösartigkeit, ihrem Raffinement und ihrem Radikalismus
dermaßen undeutsch und antideutsch sind wie derewig bewunde-
rungswürdige Essay >Was bedeuten asketische Ideale?<.
Es ist nicht zu bezweifeln: Nietzsche hat, unbeschadet der tiefen
40
Deutschheit seines Geistes, durch seinen Europäismus zur kritizi-
stischen Erziehung, zur Intellektualisierung, Psychologisierung,
Literarisierung, Radikalisierung oder, um das politische Wort
nicht zu scheuen, zur Demokratisierung Deutschlands stärker
beigetragen als irgend jemand. Ich stelle fest, daß unser gesamtes
Zivilisationsliteratenturn bei ihm schreiben gelernt hat, -worin
ein Widerspruch liegt, der letzten Endes keiner ist. Nietzsche,
meine Herren Voluntaristen, ist das schlagendste Beispiel dafür,
daß in Hinsicht auf die Entwicklung, den schicksalsmäßigen
>Fortschritt< alles entscheidende Gewicht auf der Frage liegt, was
einer ist (oder was aus einem wird und gemacht wird), nicht auf
jener, was einer will und meint. Er war als Mann deutschen
Schicksals der gute Bruder seines großen Gegenspielers Bismarck,
dessen letzte, unwillkürliche, eigentliche Wirkungen ebenfalls in
demokratischer Richtung verlaufen. Wi,r wollen darauf an seiner
Stelle zurückkommen. Für den Augenblick begnügen wir uns,
festzuhalten, daß Wille, Meinung, Tendenz für die Wirkung, den
Einfluß gerade der größten, der eigentlichen Schicksalsmenschen
auf die Entwicklung im Großen sehr wenig besagen und entschei-
den. Und wenn es mit den Gewaltigen sich so verhält,- wieviel
mehr mit uns Geringen! Ich wüßte hübsche Beispiele anzuführen
für den Widerstreit zwischen Wille und Wirkung, Tendenz und
Natur, - einen Widerstreit, der in der Krisis dieser Zeit unter
offenbar harten inneren Kämpfen akut wurde, subjektiv wurde
und ins Bewußtsein trat, so daß gleichsam über Nacht aus
einem antidemokratisch-konservativ-militaristischen Saulus ein
entente-christlicher Paulus wurde, der sich den seit zwanzig
Monaten bohrenden Stachel aus dem Fleische gerissen und end-
lich sich selbst gefunden hatte. >Bekehrung< - das ist nur ein
anderes Wort für die Entdeckung seiner selbst ...
Nietzsche's Lehre also war für Deutschland weniger neu und
revolutionierend, sie war für die deutsche Entwicklung weniger
wichtig- >wichtig< im guten oder schlimmen Sinne, wie man nun
will -, als die Art, in der er lehrte. Mindestens, allermindestens
ebenso stark wie durch seinen >Militarismus< und sein Macht-
Philosophem hat er durch seine äußerst westliche Methode, als
europäisierenden Prosaist die deutsche Geistigkeit beeinflußt,
und seine ,fortschrittliche<, zivilisatorische Wirkung besteht in
einer ungeheueren Verstärkung, Ermutigung und Schärfung des
Schriftstellertums, des literarischen Kritizismus und Radikalis-
mus in Deutschland. Es geschah in seiner Schule, daß man sich
gewöhnte, den Begriff des Künstlers mit dem des Erkennenden
zusammenfließen zu lassen, so daß die Grenzen von Kunst und
41
Kritik sich verwischten. Er brachte den Bogen neben der Leier als
apollinisches Werkzeug in Erinnerung, er lehrte zu treffen, und
zwar tödlich zu treffen. Er verlieh der deutschen Prosa eine
Sensitivität, Kunstleichtigkeit, Schönheit, Schärfe, Musikalität,
Akzentuiertheit und Leidenschaft- ganz unerhört bis dahin und
von unentrinnbarem Einfluß auf jeden, der nach ihm deutsch zu
schreiben sich erkühnte. Nicht seine Persönlichkeit, o nein! aber
seine Wirkung ähnelt außerordentlich der des in Paris akklimati-
sierten Juden Heinrich Heine, den er pries und den er als Schrift-
steller sich selbst zur Seite stellte, - ähnelt ihr im Schlimmen so
stark wie im Guten ... Dies zu analysieren kann hier nicht meine
Aufgabe sein. Es handelt sich um Feststellungen, die man im
stillen nachprüfen möge. Was ich aber meine, wenn ich sage, daß
die gewaltige Verstärkung des prosaistisch-kritizistischen Ele-
mentes in Deutschland, die Nietzsche bewirkt hat, Fortschritt im
bedenklichsten, politischsten Sinne, im Sinne der >Vermenschli-
chung<, - Fortschritt in westlich-demokratischer Richtung be-
deutet und daß die Erziehung durch ihn nicht gerade das ist, was
man eine Erziehung in deutsch-erhaltendem Geiste nennen
dürfte, das hoffe ich deutlich gemacht zu haben ...
PALESTRINA

Ich bin glücklich, daß der Zusammenhang der Dinge mir zwang-
los Gelegenheit bietet, von einem Erlebnis dieser Kriegszeit zu
reden, das auszusprechen mich sehr verlangt; und ich täte unrecht,
über diese Fügung zu staunen, da das Werk, um das es sich handelt,
mir eben zum Erlebnis so sehr nicht geworden wäre, wenn es den
geistigen Zusammenhängen, denen ich nachgehe, weniger tief und
innig angehörte. Ein Werk also, noch einmal ein fremdes Werk,
doch nicht von französisch-katholischer Empfindsamkeit, son-
dern deutsch, - noch deutsch (denn es hat etwas Spät- und
Verspätetdeutsches und blickt mit geistiger Schwermut, wenn
auch an künstlerischen Energien reich für sein persönliches Teil,
dem Triumphierend-Neuen entgegen). Die >Verkündigung< war
ein Notbehelf, das sehe ich nun. Hier ist dergleichen auf deutsch,
und eine unvergleichlich intimere, unmittelbarere Art der Beja-
hung ist hier möglich ...
Ich hörte Hans Pfitzners musikalische Legende >Palestrina<drei-
mal bisher, und merkwürdig rasch und leicht ist mir das spröde
und kühne Produkt zum Eigentum, zum vertrauten Besitz gewor-
den. Dies Werk, etwas Letztes und mitBewußtsein Letztes aus der
schopenhauerisch-wagnerischen, der romantischen Sphäre, mit
seinen dürerisch-faustischen Wesenszügen, seiner metaphysi-
schen Stimmung, seinem Ethos von »Kreuz, Tod und Gruft«,
seiner Mischung aus Musik, Pessimismus und Humor, -es gehört
durchaus •zur Sache<,- zur Sache dieses Buches, sein Erscheinen in
diesem Augenblick gewährte mirTrostund W ohltatvollkomme-
ner Sympathie, es entsprichtmeinem eigensten Begriff der Huma-
nität, es macht mich positiv, erlöst mich von der Polemik, und
meinem Gefühl ist ein großer Gegenstand damit geboten, an den
es sich dankbar schließen kann, bis es zu eigener Gestaltung
wieder genesen und beruhigt ist, und von dem aus gesehen das
Widerwärtige in wesenlosem Scheine liegt ...
Hatte Pfitzners Musik-Poem mir Neues zu ~agen? Kaum. Aber
viel tief Vertrautes, das zu hören, dessen wieder innezuwerden
mich wohl bis zum Lechzen verlangt haben muß; ja, die außeror-
dentliche Wirkung, die es sofort bei jener ersten morgendlichen
Darstellung vor einem Amphitheater von Fachleuten, zu denen
ich keineswegs gehöre, auf mich ausübte, die Raschheit, mit der
ich es absorbierte, ist nur zu erklären durch eine ungewöhnliche

43
Spannung der Bereitschaft und Empfänglichkeit, welche die Zeit,
das Feindliche der Zeit in mir hervorgebracht hatte. Ich scheue
zurück vor einer Analyse, nicht nur weil ich die erledigende
Wirkung des kritischen Wortes im Grunde hasse, sondern na-
mentlich, weil Zergliederung- Teilung, ein Nacheinander des
Betrachtens bedeutet, die Sonderung des Geistigen vom Künstle-
rischen etwa, wodurch ich das Ganze zu kränken fürchte. Natür-
lich gibt es da nichts als Einheit. Die Kunstaberiststarkan undfür
sich und bezwingt auch solche, die den geistigen Willen, welchem
sie dient, verpönen würden, wennsie ihn verständen. Das Produkt
einer melancholisch abgewandten, ja zeitwidrigen Geistigkeit
kann stark, glücklich und siegreich sein durch das Talent, das ihm
zum Triumph über die Gemüter der Tausende verhilft. Dabei
geschieht es denn freilich, daß für Talent, Kunst, bloße Stilgebung
genommen und wohl gar mit dem Einverständnis des Künstlers
genommen wird, was eigentlich oder doch außerdem etwas ganz
anderes, seelisch weit Unmittelbares ist. Diese archaischen Quin-
ten und Quarten, diese Orgellaute und Kirchenschlüsse- sind sie
nichts als Mimikry und historische Atmosphäre? Bekunden sie
nicht zugleich eine seelischeNeigungund geistige Gestimmtheit,
in der man, fürchte ich, das Gegenteil einer politisch tugendhaften
Neigung und Stimmung erkennen muß? Stellen wir die Frage
zurück! Was siegt, ist das Talent. Bewundern wir dieses!
Weiche hohe Artistik in der Vereinigung nervösester Beweglich-
keit, durchdringender harmonischer Kühnheit mit einem from-
men Väterstil! Man kennt die Meisterschule, in der das erlernt
wurde. Das seelisch Moderne, alles Raffinement dieses Vorhalt-
Geschiebes, wie rein organisch verbindet es sich mit dem, was
musikalisches Milieu, was also demütig-primitiv, Mittelalter,
Kargheit, Grabeshauch, Krypta, Totengerippe ist in dieser ro-
mantischen Partitur! Das holde Thema des Ighino, das sich im
Vorspiel zum dritten Aufzug am schönsten wiederholt, schloß ich
gleich in mein Herz, - dies melodische Persönlichkeitssymbol
eines Kindes voll Wehmut und voll Treue, das gern das Glänzende
und Neue läßt und dem Alten zugewandt bleibt. Die Partie ist
wundervoll; ich glaube, das musikalisch Feinste und Süßeste des
Werkes ist mit ihr verbunden. Wie sehr gewinnt das Wort an
Keuschheit zugleich und Erlösungskraft, wenn es mit Schmerzen
aus der Musik geboren wird, wenn die Musik jene Nöte und
Hemmungen der Seele malt, aus denen das Letzte, das schwere
Wort sich herauskämpft, emporringt: zum Beispiel in den rhyth-
misch unvergleichlichen Takten, die Ighino's Einsatz und Aus-
bruch »Der Gram des alten Vaters-« vorbereiten. Und welche

44
eben noch ruhig atmende Brust würde nicht plötzlich - und
unweigerlich jedesmal wieder- von einem Schluchzen erschüt-
tert, wenn die reine Stimme des Kindes von Palestrina's Ruhm
singt, seinem »echtem Ruhm, -
der still und mit der Zeit
Sich um ihn legte wie ein Feierkleid«?
Ein selig-lyrischer Augenblick, des~en Schönheit Selbstbewußt-
sein gewinnt, indem die melodische Phrase sich in lichterer Instru-
mentierung sofort wiederholt. Ganz spät, im dritten Aufzuge,
wird sie noch einmal anspielungsweise gestreift: Dort, wo Ighino
dem Vater versichert, in fernsten Zeiten werde man ihn noch
nennen; und mitNeidempfindet man hier, wie an anderen Stellen,
aufs neue, welche Möglichkeiten der Vereinheitlichung und der
geistreich- oder innig-sinnigen Vertiefung die wagnerisch-moti-
vische Kunstarbeit gewährt ...
Nochmals, ich stelle alles Ethische und Geistige zurück, um
vorderhand ausschließlich die ästhetischen Kräfte und Tugenden
des Werks zu bewundern. Ich überblicke die weitläufige, aber
künstlerisch dicht gefüllte Szenenflucht des ersten Aktes und
finde, daß sie ungewöhnlich schön und leicht, in glücklicher
Notwendigkeit gefügt ist. Dem Gespräch der Knaben folgt der
bewegte Auftritt zwischen Palestrina und dem Prälaten, schon ist
die fahle, von Geisterlauten der Vergangenheit erfüllte Szene der
,. Vorgänger« da, diese innige Vision, die tiefe nächtlich ringende
Unterredung eines Lebenden, fromm und vornehm überliefe-
rungsvollen mit den Meistern ... Sie schwinden, aus Not und
Finsternis schreit der Einsame nach oben, da schwingt die Engels-
stimme sich erschütternd im Kyrie empor, die Gnadenstunde des
Müden bricht an, er neigt sein Ohr zum Schattenmunde der
verstorbenen Geliebten, die Lichtgründe öffnen sich, die unendli-
eben Chöre brechen aus in das Gloria in excelsis, zu all ihren
Harfen singen sie ihm Vollendung und Frieden ... Dann löst sich
die Überspannung, alles verbleicht, erschöpft hängt Palestrina in
seinem Sessel, und nun? Sollte es möglich sein, diesen Akt, der ein
wahres Festspiel zu Ehren schmerzhaften Künstlerturns und eine
Apotheose der Musik ist, nachdem er zu solchen Gesichten
emporgeführt, ohne Ermatten zu schließen? Noch eine Wirkung
hervorzubringen, die solche Steigerung wohl gar überböte? W ei-
che Lust, zu sehen, wie das möglich wird, wie solche Möglichkeit
mit jener köstlichen, erlaubten, ja gebotenen und begeisterungs-
vollen Klugheit, Umsicht und Politik der Kunst von langer Hand
her zubereitet wurde! Gebt acht! Durch das Fenster von Palestri-

45
na's Arbeitsstübchen gewahrt man die Kuppeln von Rom. Ganz
früh, am Ende der ersten Szene schon, als Silla, der hoffnungsvolle
Eleve, der's mit den Florentiner Futuristen hält, hinausblickt, hin
über Rom, und sich in gemütlich ironischen Wo;ten von dem
konservativen alten Nest verabschiedet, geht im Orchester, nach
dem majestätisch ausladenden Motiv der Stadt, ein mäßig starkes,
monotones Leiern in Sekunden an, das nicht enden zu wollen
scheint, und dessen Sinn vorderhand unerfindlich ist. Die Leute
tauschten verwunderte und lächelnde Blicke bei dieser sonderba-
ren Begleitung, und da war niemand, der einem so schrullenhaft
nichtssagenden Einfall irgendwelche dramatische Zukunft pro-
phezeit hätte. Ich sage: gebt acht! Seit damals ist in Wirklichkeit
eine reichliche Stunde, illusionsweise aber eine ganze Nacht
vergangen, und eine Welt von Dingen hat sich ereignet. Die
schwindende Engelsglorie hat irdische Morgendämmerung zu-
rückgelassen, rotglühend und rasch hebt sich der Tag über die
Kuppeln draußen, das ist Rom, sein gewaltiges Thema wird breit
und prunkend verkündet im Orchester,- und da, wahrhaftig,
kommt auch das vergessene Leiern von gestern abendwieder in
Gang, es gleicht einem Läuten, ja, das sind Glocken, die Morgen-
glocken von Rom, nicht wirkliche Glocken, nur nachgeahmtvom
Orchester, doch so, wie hundertfach schwingendes, tönendes,
dröhnendes Kirchenglockenerzgetöse überhaupt noch niemals
künstlerisch nachgeahmt wurde, - ein kolossales Schaukeln von
abenteuerlich harmonisierten Sekunden, worin, wie in dem vom
Gehör nicht zu bewältigenden Tosen eines Wasserfalls, sämtliche
Tonhöhen und Schwingungsarten, Donnern, Brummen und
Schmettern mit höchstem Streichergefistel sich mischen, ganz so,
wie es ist, wenn hundertfaches Glockengedröhn die Gesamtatmo-
sphäre in Vibration versetzt zu haben und das Himmelsgewölbe
sprengen zu wollen scheint. Es ist ein ungeheurer Effekt! Der
seitlich im Stuhle schlummernde Meister, die heilige Stadt im
Purpurschein, der durch Fenster hereinfallend die ärmliche Stätte
nächtlicher Schöpferekstase verklärt, und dazu das mächtige
G lockengependel, das nur zurücktritt, während die ausgeschlafe-
nen Knaben die im Zimmer verstreuten Notenblätter sammeln
und ihre paar Repliken wechseln, und das dann seinen gewaltigen
Gang wieder anhebt, bis der Vorhang zusammenfällt.
Ich bewundere es als eine kompositionelle Schönheit, wie die
kraftvolle Gestalt des Kardinals Borromeo, dieses ungebärdigen
Mäzens, die geistlich-geistige Welt Palestrina's mit der Welt der
Realität, derWeltdes zweiten Aktes verbindet. Aber dieser zweite
Akt selbst ist eine kompositionelle Schönheit, wie er in seiner
turbulenten Farbigkeit zwischen dem ersten und dritten steht.
Entgegen dem ästhetischen Spruche der meisten habe ich meine
Freude an dieser möglich gemachten Unmöglichkeit, an einer rein
ideellen Dramatik, die, wenn nicht >Handlung<, so doch geist-
durchleuchtetes, buntes Geschehen ist. Leben im Licht des Ge-
dankens- was kann die Kunst uns Besseres, wasUnterhaltenderes
gewähren? Ich habe tatsächlich urteilen hören: Meyerbeer, histo-
rische Oper. Das ist vollendeter Irrtum. Um alles zu sagen,-
vielleicht war ich persönlich besser als andere gegen dies Mißver-
ständnis gewappnet, vielleicht stand ich von langer Hand her auf
gutem Fuße mit der hier waltenden Absicht: aus historischem
Detail Idee sprechen zu lassen und ihm nur dadurch dramatische
Spannkraft zu geben. Auf jeden Fall greift jeder hier einsetzende
Tadel das Ganze an, die Empfängnis. Man darf glauben, daß dieser
Kompositionsgedanke: Kunst, Leben und wieder Kunstderfrü-
heste Nebel war, das erste, was der Dichter eigentlich sah.
Pessimismus und Humor ... ich habe ihre Zusammengehörigkeit
nie stärker und nie sympathischer empfunden als angesichts des
zweiten Palestrina-Aktes. Der Optimist, der Besserer, mit einem
Wort: der Politiker ist niemals Humorist, er ist pathetisch-rheto-
risch. Der pessimistische Ethiker dagegen, er, den man heute recht
uneigendich den >Ästheten< zu nennen beliebt, wird sich zur Welt
des Willens, der Realität, derSchuld und des harten Geschäftes mit
natürlicher Vorliebe humoristisch verhalten, er wird sie als Künst-
ler pittoresk und komisch sehen, im grellen Kontrast zur stillen
Würde des intellektuellen Lebens: und nur in diesem Kontrast
beruht die Dramatik der Konzil-Szenen, in welchen das Erzeug-
nis jener überschwenglichen Nacht, die wir erlebten, Palestrina's
Messe, zu einem Gegenstand des politischen Handelsgeschäftes
wird. Wahrhaftig, welche Art von Leben und Realität wäre im
Sinn jenes Kontrastes grotesker, tumultuöser und komischer als
die Politik? Der zweite Akt ist nichts anderes als eine bunte und
liebevoll studierte Satire auf die Politik, und zwar auf ihre unmit-
telbar dramatische Form, das Parlament. Daß es ein Parlament
von Geisdichen ist, erhöht die Lächerlichkeit und Unwürde aufs
äußerste. Freilich, Musik ist Urpathos, und so wirkt denn das
Orchestervorspiel, vielleicht das glänzendste Musikstück des
Abends, noch durchaus pathetisch: dies Schmettern, Stürmen,
Stürzen, luftschnappende Hetzen, dessen bewunderungswürdig-
ster Augenblick das viermalige keuchende Ansetzen zum Haupt-
motiv (Klavierauszug S. 174 oben) ist, versinnlicht tragisch Pale-
strina's Wort von der »Bewegung, zu der das Leben unaufhörlich
peitscht«, es ist eine nur allzu edahrungsvolle Schilderung des

47
schauderhaften Sansara. Und doch ist es eben das grundpatheti-
sche Wesen der Musik, was, zusammen mit dem Menschlichen,
das überwältigend Komische zeitigt. Ich denke an die Figur des
Patriarchen Abdisu von Assyrien und die Laute von ungeahnter
und phantastischer Lächerlichkeit, die im Orchester sein hierati-
schesJubilieren über »den Tag« und »dieses Werk« und seine mild
verunglückende Parlamentsrede begleiten. Nie überhaupt ist die
ergreifende Komik tapriger Hochbetagtheit, ehrwürdiger Ah-
nungslosigkeit so durchdringend empfunden und zu so wunder-
barer Wirkung erhoben worden.
Der Akt ist kurzweilig, man sage, was man wolle. Der Reichtum
an Akzenten, die Schärfe der Typen, die ideelle Transparenz
verleihen ihm die sublimeUnterhaltsamkeitsiegender Kunst. Der
muntere Bischof von Budoja, der zügellos-anmaßende Spanier,
der süffisante Kardinal Novagerio, in dessen Partie das Folter-
Motiv sein infames Wesen treibt: das Leben ist in Bewegung, die
Kunst setzt ihm spielende Lichter auf, sammelt es zu höchster
Energie;-und welche Heimkehr dann zu ihr selbst, in die reinliche
Schöpferzelle, in die Welt der Einsamkeit und Treue. Der Papst
singt Hexameter ... eine wunderlich große Idee. Der Ausklangist
Resignation und Friede, ist >musikalischer Gedanke< an der Zim-
merorgel, nur leicht gestört von fernen, raschen Evvivas zum
Zirpen der Mandolinen. Und ruhevoll spricht das Orchester das
Schlußwort, das auch das Wort des Anfangs war und ein Geheim-
nis ist ...
Ich sagte noch nichts von Pierluigi Palestrina, dem Musiker-
Helden des Werkes. Ich liebte seine Gestalt von dem Augenblick
an, da er mit dem Prälaten durch die schmale Tür seines Stübchens
trat, die Gestalt des mittelalterlichen Meisters, des Künstlers, wie
populäre Romantik ihn keineswegs sich erträumt, still, sittsam,
schlicht, ohne Anspruch auf >Leidenschaft<, gedämpftundgefaßt,
im Inneren wund, vollleidendwürdiger Haltung.Ich sehe ihn, wie
er, den zarten, schon ergrauenden Kopf zur Seite geneigt, die
Hand aus dem Schultergelenk ein wenig gegen die jungen Schüler
hebt und spricht: »Seid fromm und still.« Unendliche Sympathie
wallt auf ... »Seid fromm und still!« Wie sollte nicht fromm und
still sein, wem Kunstarbeit obliegt? Oder sollte ein solcher gar auf
die Gasse laufen und politisch gestikulieren? ... Aber wenn diese
Künstlergestalt nicht romantisch im wohlfeilen Sinne ist, - Ro-
mantik ist sie dennoch, und zwar eben indem sie den lyrischen
Mittelpunkt des Gedichtes bildet. Romantische Kunst pflegt in
zweifacher Bedeutung >rückwärts gewandte< Kunst zu sein: nicht
nur insofern sie, wie Nietzsche sagt, »angewandte Historie« ist,
sondern auch, indem sie, reflexiv-reflektierend, sich auf das Sub-
jekt zurückwendet. Umgekehrt mindestens ist alle Kunst, welche
die Kunst und den Künstler zum Gegenstande hat - sei die Be-
handlung dieses Gegenstandes auch noch so skeptisch-ironisch-
ist also alle Bekenntniskunst romantische Kunst; und namentlich
hierin, wenn auch aus manchem weiteren Grunde, namentlich als
Künstlerbekenntnis, und zwar als eines von rücksichtslos-radi-
kalster An, ist >Palestrina< ein romantisches Kunstwerk. Was aber
die Politik betrifft, so hoffe man nicht, daß es ohne sie abgeht! Ist es
nie ohne sie abgegangen, nur, daß wir es nicht wußten?
In diesem Augenblick, am Ende des dritten Kriegsjahres, veröf-
fentlicht Pfitzner eine Schrift, betitelt >Futuristengefahr< und
geschrieben »bei Gelegenheit« von Busoni's >Entwurf einerneuen
Ästhetik der Tonkunst<,- dem Programmbuch des musikalischen
Progreß. Gelegentlich ästhetischer Fragen also spricht der deut-
sche Tondichter, er sagt es selbst und bekundet damit seine
Kenntnis der Tatsache, daß die Perspektiven seiner fünfundvier-
zig Seiten überall weit über das bloß Ästhetische hinausreichen.
Wirklich vergriffe man sich kaum im Namen, würde man seine
Broschüre eine politische Streitschrift heißen, - obgleich sie ge-
rade anti-politische, das heißt: konservative Tendenz besitzt.
»Bach und Beethoven«, ruft er, »sollen >als ein Anfang aufzufas-
sen< sein, nicht >als unzuübenreffende Abgeschlossenheiten<.
Hier zeigt sich am allerunverhülltesten diese gewisse Zielstrebig-
keit, die ich von je als allem Wesen der Kunst feindlich und
entgegengesetzt empfunden habe.« Und nachdem er eine Seite
lang die »Zielstrebigkeit« befehdet, gelangt er zu einem jener
präzisen und tiefgegründeten Sätze, wie nur der echte Schriftstel-
ler sie findet: »Nicht die Kunst - der Künstler hat ein Ziel.«
Vonrefflieh! Man sehe aber genau hin: Ist das Ästhetik oder ist es
Politik? Zuletzt ist es wohl etwas Drittes, nämlich Ethik-und also
genau das, was der Geistespolitiker als >Ästhetizismus< bezeich-
net. Aber Anti-Politik ist auch Politik, denn die Politik ist eine
furchtbare Macht: Weißman auchnurvon ihr, so ist man ihrschon
verfallen. Man hat seine Unschuld verloren.
Pfitzner sagt an anderer Stelle- und ich gebe damit ein Zitat, das in
dies Buch eingeht wie kein anderes -: »Nun, wir wollen dem
waltendenWeltgeistnicht in den Arm fallen; was kommen muß,
komme. Ob das, was kommt, schön ist, ist eine andere Frage; und
ob es schöner sein wird als das, was wir schon haben, eine uns
bewegende Frage.« Und edährtfon: »Busoni erhofft sich von der
Zukunft alles für die abendländische Musik und faßt die Gegen-
wan und Vergangenheit auf als einen stammelnden Anfang, als die

49
Vorbereitung. Wie aber, wenn es anders wäre? Wenn wir uns auf
einem Höhepunkt befänden oder gar der Höhepunkt schon
überschritten wäre? Wenn unser letztesJahrhundertoder unsere
letzten anderthalb Jahrhunderte die Blütezeit der abendländi-
schen Musik bezeichneten, die Höhe, die eigentliche Glanzpe-
riode, die nie wiederkehren wird und der sich ein Verfall, eine
Dekadenz anschlösse, wie die nach der Blütezeit der griechischen
Tragödie? Mein Gefühl neigt vielmehr zu dieser Ansicht. Schon
Rubinstein hat ernstlich von einem >Finis musicae< gesprochen.
Ob nicht die Aufgabe unserer Zeit, anstatt die Sechsteltöne zu
suchen, in rasendem Tempo vorwärtsstürmen zu wollen, jedes
Errungene einem N euen zuliebe vernichten zu wollen- ob nicht
vielmehr die Aufgabe unserer Zeit eine liebevolle Besinnung
wünschenswen erscheinen ließe auf das, was entstanden ist und
was gegenwärtig entsteht, und zwar nicht nur auf das, was an der
Oberfläche schwimmt? Der Irnum herrscht zu jeder Zeit vor,
aber er hat immer eine andere Färbung. Die Signatur dervorange-
gangenen Zeitepoche mag Philisterei gewesen sein, die Signatur
der heutigen ist sie nicht, viel eher das Gegenteil. Die vorherge-
hende Zeit fragte bei allem Neuen: Ist mir das bequem und
verständlich? Die gegenwärtige fragt: Werde ich mich nicht als
rückständig blamieren? Das ist der ganze Unterschied.«- Es ist
der ganze. Man übenreibt nur leicht, wenn man behauptet, daß
aller Erfolg seit fünfzehn Jahren dieser neuen Philisterei ent-
sprang, welche die ehrsame alte an Lächerlichkeit und Verderb-
lichkeit weit übertrifft; und was der deutsche Musiker da sagt, ist
genau dasselbe, was ein viriler Rationalist, der Däne J ohannes V.
Jensen, in seinem Buch >Unser Zeitalter< ausspricht: »Der Fu-
turismus hat seinen Einzug auch in die Newyorker Salons gehal-
ten. Nie hat ein Moloch Sklavenseelen so inZuchtgehalten wie der
moderne Kommandoruf Fortschritt; selbst die Angelsachsen, von
denen der Begriff common sense doch stammt, beugen sich willig
der Peitsche; denn man willlieber nackt über die Straße gehen, als
dumm sein, gerade wie der alte liebe Kaiser im Märchen.«
>Futuristengefahr< ist ein Kind des Krieges, und es kann also nicht
wundernehmen, daß der Aufsatz politische Färbung zeigt. >Pale-
strina< hingegen entstand vor dem Kriege, - zwei Drittel der
Panitur mindestens lagen fertig vor im August 1914. Dennoch
sind schon nach einem flüchtigen Blick die Linien erkennbar, die
das Werk mit der Streitschrift verbinden, und erstaunlich ist es, zu
sehen, wie Probleme, die der Krieg >demokratisierte<, die er zu
allgemeiner, journalistischer Aktualität erweckte, jede exponiene
Empfindlichkeit längst vorher- und zwar keineswegs akademi-
scherweise und in Mußestunden, sondern bis ins Intimste, bis in
die Produktion hinein - dringlich beschäftigten. Wir glaubten
nicht an den Krieg, - während wir ihn in uns trugen.
Der Vorhang ist noch nicht zehn Minuten offen, als Jung-Silla
bereits in die verfänglichen Verse ausbricht:
Welch herrlich freier Zug geht doch durch unsre Zeit!
lst's nicht bei dem Gedanken schon
Ans heitere Florenz,
Als dürfte sich mein eignes Wesen
Vom dummen Joch der Allgemeinheit lösen,
Und die höchste Stufe erklimmen.
Wie in meiner lieben Kunst die Singestimmen,
Abhängig von jeher, erbärmlich polyphon,
Sich dort befrein zur Einzelexistenz.

Mich aber zieht es fort nach all dem Schönen, Neuen,


Und wie ich Ruhm und Leben leuchtend vor mir seh,
So steigt gewiß in stetigem Befreien
Die ganze Menschheit noch zu ungeahnter Höh!
Wiederum, ist das Ästhetik oder ist es Politik? Diesmal gibt es kein
Drittes: es ist Politik,- »bei Gelegenheit« der Ästhetik. Denn
Befreiung, individualistische Emanzipation in ideellem Zusam-
menhang mit unendlichem Menschheitsfortschritt, das ist Politik,
das ist die Demokratie; und durch einen, der >dran< ist, einen, der
»mit elastisch-hoffnungsfreudigen Bewegungen das Zimmer
durchmißt«, läßt unser Dichter sie verkünden.
Palestrina von seiner Seite weiß Bescheid.
Ich weiß, -doch Silla glaubt, nichts wüßt' ich noch.
Es ist ein Junge, voll von Gottesgabe,
Zu wehren ihm fühl' ich mir kein Recht.
Und als Borromeo, der Mann der starken Kirche, sich ereifert:
»Ihr droht ihm nicht einmal? so mild gelaunt?«, antwortet jener:
»Ach, der Bedrohte bin nur ich, nicht er!«- Dann erzählt er:
Die Kunst der Meister vieler hundert Jahre,
Geheimnisvoll verbündet durch die Zeiten
Zum Wunderdom sie stetig aufzubau'n,
Der sie ihr Leben schenkten, ihr Vertrau'n,
Und der auch ich mein armes Dasein bot:
Ihm dünkt sie abgegriff'ne alte Ware,
Er glaubt sie überwunden, glaubt sie tot.-
Nun haben Dilettanten in Florenz
Aus heidnischen, antiken Schriften
Sich Theorien künstlich ausgedacht,
Nach denen wird fortan Musik gemacht.
Und Silla drängt begeistert sich zu jenen,
Und denkt und lebt nur in den neuen Tönen.
Vielleicht wohl hat er recht! Wer kann es wissen,
Ob jetzt die Welt nicht ungeahnte Wege geht,
Und was uns ewig schien, nicht wie im Wind verweht? -
Zwar trüb ist's zu denken- kaum zu fassen ...

Es wäre unmöglich, Psychologie und Lebensstimmungalles Kon-


servativismus vollkommener auszudrücken als durch diese
Worte, -ich meine: eines freien, wissenden, zarten, geistigen, mit
einem Worte: ironischen Konservativismus, nicht eines robust-
autoritätsgläubigen, wie der des Kardinals, dem soviel Müdher-
zigkeit und Zweifel gesundes Ärgernis gibt, und dem der Meister
»krank in seiner Seele scheint«, Palestrina seinerseits nennt bei
sich die Seele des Priesters »wohlgeborgen« und spricht in Gedan-
ken zu dem schwer Erzürnten:

0 wüßtest du,
Was hier noch alles flüstert, reden möchte,
Weich dunklere Gedanken, unheimliche -
Für mich der Holzstoß wär' dir noch zu mild!

Ein problematischer Meister! Hätte man geglaubt, daß es so in


einer konservativen Seele aussehen könnte! Er hat Formen von
vollendeter Unterwürfigkeit gegenüber dem Kardinal, wie es gut
künstlerisch ist und dem armen kleinen Kapellmeister nicht an-
ders anstände. Als es aber Ernst wird, verweigerterinderungehö-
rigsten Weise den Gehorsam. Er will die rettende Messe nicht
schreiben, sollte auch die ganze Polyphonie darüber zum Teufel
gehen. Und als Borromeo, am Rande seiner Geduld, die Frage
stellt: »Und wenn's der Papst befiehlt?«, antwortet er: »Er kann
befehlen, doch niemals meinem Genius- nur mir.« Das ist stark-
und nicht sehr mittelalterlich. Es spricht ein Stolz und eine
Freiheit daraus, die eher der »neuen Zeit« angehören,- wie denn
der Priester am Ende wirklich findet, daß es in seiner Nähe nach
Schwefel riecht. Wenn Palestrina krank ist in seiner Seele- und das
ist er wohl -, so ist seine Melancholie doch mit einem Selbstbe-
wußtsein verbunden, das ihn aus.demMunde der" Vorgänger« die
Worte vernehmen läßt:
Der Kreis der Hochgestimmten ist voll Sehnen
Nach Jenem, der ihn schließt: Erwählter Du!
Denn nicht wahr: weder diese Szene der Vorgänger noch die
darauf folgende der englischen Inspiration sind wir geneigt als
reines Legendenmirakel und katholischen Theaterzauber zu emp-
finden; uns bedeuten diese Gesichte ein Anschaulichwerden des
Ethisch-Innerlichsten, und für uns hat also der Zuruf ,. Erwählter
Du!« dasselbe Ich zur Quelle wie die Antwort:
Nicht ich- nicht ich-; schwach bin ich, voller Fehle,
Und um ein Werden ist' s in mir getan.
Ich bin ein alter, todesmüder Mann
Am Ende einer großen Zeit.
Und vor mir seh' ich nichts als Traurigkeit-
Ich kann es nicht mehr zwingen aus der Seele.
Und woher diese Schwermut? Woher dies, daß er »in der Mitte
sich des Lebens wie einsam tief im Walde findet, wo in der
Finsternis kein Ausweg ist«, und daß er nicht begreift, wie er je
schaffen, sich freuen und lieben konnte? Aber so ist es wohl und
nicht anders, wenn die Höhe und Wende des eigenen Lebens
zusammenfällt mit einerWende der Zeit, und wenn man langsam,
anhänglich und bereits etwas müde ist. In der Atmosphäre eines
Zeitalters reif geworden zu sein und dann plötzlich ein neues
anbrechen zu sehen, dem man ebenfalls mit einem Teil seines
Wesens angehört; mit einem Fuß etwa im Mittelalterund mit dem
andern in der Renaissance zu stehen, ist keine Kleinigkeit,- immer
vorausgesetzt, daß man stimmungsmäßig zum Konservativismus
neigt, was Palestrina entschieden tut. Es gibtnichts Konservative-
res als die Worte, die er an die Schatten der Meister richtet:
Ihr lebtet stark in einer starken Zeit,
Die dunkel noch im Unbewußtsein lag
Als wie ein Korn in Mutter-Erde-Schoß.
Doch des Bewußtseins Licht, das tödlich grelle,
Das störend aufsteigt wie der freche Tag,
Ist feind dem süßen Traumgewirk, dem Künste-Schaffen;
Der Stärkste streckt vor solcher Macht die Waffen.

Und von da ist nicht weit mehr bis zu dem Wunsch und Vorsatz:
Mit off'nen Augen in des Lebens Rachen
Will flieh'n ich aus der Zeit-,
der anachronistisch -schopenhauerischen Umschreibung emes

53
ganz und gar ungehörigen Vorhabens, das denn auch von den
Meistern nicht ohne kategorische Strenge zurückgewiesen wird.
»Dein Erdenpensum, Palestrina«, sagen sie, »dein Erdenpensum
schaff'!«
Den Schlußstein zum Gebäue
Zu fügen sei bereit;
Das ist der Sinn der Zeit.
Wenn Du Dein ganzes Bild aufweist,
Wenn Dein' Gestalt vollkommen,
So, wie sie war entglommen
Von Anbeginn im Schöpfergeist:
Dann strahlst Du hell, dann klingst Du rein,
Pierluigi Du,
An seiner schönen Ketten
Der letzte Stein.
Was wollen die Verse anderes besagen als das prosaischeWortder
Streitschrift: »Nicht die Kunst, der Künstler hat ein Ziel«? Die
gegenteilige Meinung wäre optimistisches Pathos. Palestrina ist
der Mann des pessimistischen Ethos. Wenn die Welt in einer
Richtung ,fonschreitet<, an die man durchaus nicht glaubt, ob-
gleich man solchen Fortschritt als notwendig und unabwendbar
anerkennt und selbst von Natur nicht umhinkam, ihn zu fördern:
dann ist es unmöglich, pathetisch zu sein; der Sinn derZeitnimmt
persönlich-ethischen Charakter an, es gilt »dein Erdenpensum«;
es gilt dein' Gestalt vollkommen zu machen; es gilt auszuhalten,-
ich sage nicht durchzuhalten. Was immer er nun auch sei, -
Palestrina findet die Kraft, es zu sein; und indem er das notwen-
dige Werk schafft, das nur er seiner Natur und zeitlichen Stellung
nach zu schaffen vermögend ist, die Messe, welche neuzeitlich
entwickelte Kunst mit »kirchlichem Gefühl« vereinigt, wird ihm
zugleich das poetische Glück, die Figural-Musik vor der Flamme
zu bewahren, - er wird zum »Retter der Musik« durch eine
erhaltend-schöpferische Tat. Er weiß nun, was er ist, wohin er
gehön und wohin nicht, oder doch, wie weit er hierhin und
donhin gehört; er kennt sein Schicksal, seine Ehre und seinen
Platz, und er »will guter Dinge und friedvoll sein«.
Das ist ja ein vt;rsöhnlicher Fabel-Schluß, und doch hat man
Pfitzners Werk als »hoffnungslos pessimistisch« empfunden, was
sehr begreiflich und berechtigt ist in einem Augenblick, dessen
Optimismus bis zum Revolutionären geht. Wirklich ist der >Pale-
strina< eine Dichtung, die, obwohl ethisch noch höher stehend als
künstlerisch, des fortschrittlichen Optimismus, der politischen

54
Tugend also, völlig entbehrt. Sie ist Romantik nicht nur als
Künstlerbekenntnis, sie ist es viel tiefer hinab, ihrer seelischen
Neigung, ihrer geistigen Stimmung nach; ihre Sympathie gilt
nicht dem Neuen, sondern dem Alten, nicht der Zukunft, sondern
der Vergangenheit, nicht dem Leben, sondern-. Ich weiß nicht,
welche Scheu mich abhält, das Won zu Ende zu sagen, das Formel
und Grundbestimmung aller Romantik ist. Aber hat man be-
merkt, daß die Frauengestalt des Werkes, Lukrezia, nicht dem
Leben gehön, daß sie nur ein Bild ist und ein Schatten? Sie war
Palestrina's Weib, sie starb, und als sie starb, »da ward es trüb in
ihm und leer«, singt Ighino. Aber das ist eine besondere Art von
Trübheit und Leere, fruchtbarer augenscheinlich als manche Hel-
ligkeit und Fülle, denn Palestrina's höchstes Werk geht daraus
hervor, und die Geschiedene ist es, die es ihm einflüsten. Hätte die
Lebende es vermocht? Die Musik, wenn er vor ihrem Bilde steht,
findet Laute von überschwenglicher Schwärmerei, um seine Liebe
zu ihrem Schatten auszudrücken; würde sie soviel Schönheit
hervorzubringen Lust haben anläßlich der Liebe zu einer leben-
den Frau? Geradeheraus gefragt: wäre Palestrina der Mann, und
war er es, eine Lebende so zu lieben, wie er die Tote liebt? Und
allgemein gefragt: Ist der inspirierende Genius dieses Künstlers
überhaupt das Leben und nicht vielmehr-
Es gibt in der Palestrina-Partitur ein Thema- es istwohl eigentlich
das wichtigste von allen, und wir wären schon einmal beinahe
darauf zu sprechen gekommen -, dessen Bedeutung nicht ohne
weiteres klar und das nicht so geradhin bei einem Namen zu
nennen ist, wie etwa das Kaiser-Ferdinand- und das Konzil-Motiv
oder die Motive der Städte Rom, Bologna, Trident. Es ist eine
melodische Figur von außerordentlicher Schönheit, bestehend
aus zwei gleichsam mit wehmütig wissender Bestimmtheit hinge-
stellten Takten, an die eine edel empfundene, hoch aufsteigende
und im Schmuck einer Sechzehntel-Schlußfloskel ergeben zur
Dominante kehrende Kadenz sich fügt. Es erscheint schon im
Vorspiel, im Anschluß an Palestrina's eigentliches archaisches
Thema, und sein Wiederauftreten begleitet oder schafft stets
Augenblicke von geistiger und dichterischer Bedeutsamkeit. Es
beherrscht die musikalische Szene, als der Kardinal den müden
Meister aufforden, das erhaltende und krönende Werk zu schaf-
fen; es erklingt auch, als die Vorgänger ihm »den Sinn der Zeit«
und den seines eigenen Lebens verkünden; und es bildet, unwag-
nerisch-untheatralisch, den ruhevoll-resignierten Abschluß des
ganzen Gedichtes. Was also besagt es? Unzweifelhaft gehön es zu
Palestrina' s Persönlichkeit. Es ist das Symbol für einen Teil seines
Wesens oder für sein Wesen in einer bestimmten Beziehung: das
Symbol seines künstlerischen Schicksals und seiner zeitlichen
Stellung, das metaphysische Wort dafür, daß er kein Anfang,
sondern ein Ende ist, das Motiv des »Schlußsteins«, der Blick der
Schwermut, der Blick zurück ... Aber ich sagte noch nicht, an
welcher Stelle dies Thema noch ausgesprochen wird: dort näm-
lich, wo vom Abscheiden der Lukrezia die Rede ist,- wahrhaftig
und unverkennbar! Es bildet die symphonische Unterströmung
zu jenem Worte Ighino's: »Da wardes trübinihmundleer«;esist
also zugleich das Symbol des seelischen Zustandes, in den Pale-
strina durch den Tod seines Weibes versetzt wurde, das Symbol
seiner rückwärts oder vielmehr hinab, zum Schattenreich, ge-
wandten Liebe, die sich in jener schöpferischen Wundernacht als
inspirierende Kraft erweist; es ist, alles in allem, die zauberhaft
wohlklingende Formel für seine besondere Art der Produktivität,
eine Produktivität des Pessimismus, der Resignation und der
Sehnsucht, eine romantische Produktivität.
An einem Sommerabend zwischen der zweiten und dritten Pale-
strina-Aufführung unterhielt man sich, auf einer Gartenterrasse
sitzend, über das Werk, indemman es, was naheliegt, als Künstler-
drama und als Kunstwerk überhaupt mit den >Meistersingern<
verglich; man stellte lghino gegen David, Palestrina gegen Stol-
zing und Sachs, die Messe gegen das Preislied; man sprach von
Bach und der italienischen Kirchenmusik als stilisierenden Kräf-
ten. Pfitzner sagte: »Der Unterschied drückt sich am sinnfällig-
sten in den szenischen Schlußbildern aus. Am Ende der >Meister-
singer< eine lichtstrahlende Bühne, Volksjubel, Verlöbnis, Glanz
und Gloria; bei mir der freilich auch gefeierte Palestrina allein im
Halbdunkel seines Zimmers unter dem Bild der Verstorbenen an
seiner Orgel träumend. Die >Meistersinger< sind die Apotheose
des Neuen, ein Preis der Zukunft und des Lebens; im >Palestrina<
neigt alles zum Vergangenen, es herrscht darin Sympathie mitdem
Tode.« Man schwieg; und nach seiner Art, einer Musikantenart,
ließ er seine Augen auf eine Sekunde schräg aufwärts ins Vage
entgleiten.
Es ist nicht ohne weiteres verständlich, warum das letzte seiner
Worte mich so sehr erschütterte und erstaunte. Nicht, daß es mir
sachlich überraschend gekommen wäre, es war ja vollkommen an
seinem Platz. Was mich so betroffen machte, war die Formulie-
rung. »Sympathie mit dem Tode« ... ich traute meinen Ohren
nicht. Das Wort war von mir. Vor dem Kriege hatte ich einen
kleinen Roman zu schreiben begonnen, eine Art von pädagogi-
scher Geschichte, in der ein junger Mensch, verschlagen an einen
sittlich gefährlichen Aufenthaltsort, zwischen zwei gleicherma-
ßen schnurrige Erzieher gestellt wurde, zwischen einen italieni-
schen Literaten, Humanisten, Rhetor und Fortschrittsmann und
einen etwas anrüchigen Mystiker, Reaktionär und Advokatender
Anti-Vernunft,- er bekam zu wählen, der gute Junge, zwischen
den Mächten der Tugend und der Verführung, zwischen der
Pflicht und dem Dienst des Lebens und der Faszination der
Verwesung, für die er nicht unempfänglich war; und die Rede-
wendung von der »Sympathie mit dem Tode«,' war ein themati-
scher Bestandteil der Komposition. Nunhörteich sie wörtlich aus
dem Munde des Palestrina-Dichters. Und ohne jede Pointierung,
durchaus improvisationsweise, wie es schien, und nur eben, um
die Dinge beim rechten Namen zu nennen, hatte er sie hingespro-
chen. War das nicht überaus merkwürdig! Um sein pathetisch-
musikalisches Werk recht gründlich zu kennzeichnen, war dieser
bedeutende Zeitgenosse mit genauer Notwendigkeit auf eine
Formel meines ironischen Literaturwerkes verfallen. Wieviel
Brüderlichkeit bedeutet Zeitgenossenschaft ohne weiteres! Und
wieviel Ähnlichkeit in der Richtung der geistigen Arbeit ist nötig,
damit zwei fern voneinander, in ganz verschiedener Kunstsphäre
lebende Arbeiter im Geist sich, äußerlich zusammenhanglos, auf
das gleiche WOrtsymbol für ganze seelische Komplexe einigen!
»Sympathie mit dem Tode« - ein Wort der Tugend und des
Fortschritts ist das nicht. Ist es nicht vielmehr, wie ich sagte,
Formel und Grundbestimmung aller Romantik? Und jenes
schöne, wehmütig-schicksalsvolle Palestrina-Motiv, das wir
nicht gleich zu benennen wußten, es wäre also das Motiv der
schöpferischen Sympathie mit dem Tode, das Motiv der Roman-
tik, das Schlußwort der Romantik? Der Sänger des Palestrina war
derselbe, der in Basel als Evangelist in der Matthäus-Passion auf
Romain Rolland so starken Eindruck machte. Bei Nacht an
seinem Tische sah er ergreifenderweise dem Autor ähnlich: das
bekenntnishafte Gepräge der ganzen Darbietung wurde dadurch
vollkommen. Nicht sowohl um die Krönung der italienischen
Kirchenmusik handelte es sich, sondern um den »letzten Stein«
zum Gebäude der romantischen Oper, um den wehmutsvollen
Ausklang einer national-künstlerischen Bewegung, die mit Hans
Pfitzner, seiner eigenen Einsicht nach, sich ruhmvoll endigt.
Ich will alles sagen,- das ist der Sinn dieses Buches. Der Kompo-
nist des >Armen Heinrich<, der >Rose vom Liebesgarten< und des
>Palestrina<, der bis zum Hochsommer 1914 sich um Politik den
Teufel mochte gekümmert haben, der ein romantischer Künstler,
das heißt: national, aber unpolitisch gewesen war, erfuhr durch
57
den Krieg die unausbleibliche Politisierung seines nationalen·
Empfindens. Nach innen wie nach außen nahin er Stellung mit
einer Entschiedenheit, die bei aller >Literatur<, bei allem kosmo-
politischen Radikalismus nicht wenig anstoßen, nicht wenig Ver-
achtung erregen mußte. Wahrhaftig, dieser Zarte, Inbrünstige
und Vergeistigte nahm Stellung gegen den >Geist<, erwies sich als
>Machtmensch<, ersehnte den kriegerischen Triumph Deutsch-
lands, widmete demonstrativ, als die Wogen des V-Boot-Streites
am höchsten gingen, ein Kammermusikwerk dem Großadmiral
von Tirpitz; mit einem Worte: der nationale Künstler hatte sich
zum antidemokratischen Nationalisten politisiert. Wen wunderte
es? Er war musikalisch-deutsch gewesen wie keiner; sein Instinkt,
sein erhaltender Grundwille hatte aller künstlerischen >Demokra-
tie<, allem europäischen Intellektualismus tief feindlich entgegen-
gestanden; und wenn er gerade darum im Politischen ein fremdes
Wesen hatte erblicken müssen,- es kam der Tag, wo sich erwies,
daß einer bestimmten seelisch-geistigen Verfassung eben doch
eine bestimmte politische Haltung latent innewohnt oder von
weitem entspricht, die einzunehmen unter Weltumständen wie
den gegenwärtigen niemand umhinkann. Kein christlicher Kos-
mopolitismus aber kann mich hindern, im Romantischen und im
Nationalen eine und dieselbe ideelle Macht zu erblicken: die
herrschende des neunzehnten, des >Vorigen< Jahrhunderts. Alle
Zeitkritik verkündete vor dem Kriege das Ende der Romantik; der
>Palestrina< ist der Grabgesang der romantischen Oper. Und die
nationale Idee? Wer wollte mit ganz fester Stimme der Behaup-
tung widersprechen, daß sie in diesem Kriege verbrennt, - in
einem Feuer freilich, so riesenhaft, daß noch in Jahrzehnten der
ganze Himmel davon in Gluten stehen wird? Das neunzehnte
Jahrhundert war national. Wird auch das zwanzigste es sein?
Oder ist Pfitzners Nationalismus, auch er,- »Sympathie mit dem
Tode«?
ÜBER DIE KUNST RICHARD WAGNERS

Was ich Richard Wagner an Kunstglück und Kunsterkenntnis


verdanke, kann ich nie vergessen, und sollte ich mich noch so weit
im Geiste von ihm entfernen. Prosaist, Erzähler, Psycholog, hatte
ich von dem symphonischen Theatraliker, dessen dichterische
Wirkung, gleich der Klopstocks, außer dem Gebiet des Individu-
ellen liegt und dessen Prosastil meiner Liebe stets eine Verlegen-
heit war, nichts Direktes und Handwerkliches zu lernen. Aber die
Künste sind ja nur die Erscheinungsformen der Kunst, welche in
allen dieselbe ist, und Wagner hätte der große Vermiseher der
Künste nicht zu sein brauchen, der er war, um auf jede An von
Künstlerturn lehrend und nährend wirken zu können. Was über-
dies meinem Verhältnis zu ihm etwas Unmittelbares und Intimes
verlieh, war der Umstand, daß ich heimlich stets, dem Theater
zum Trotz, einen großen Epiker in ihm sah und liebte. Das Motiv,
das Selbstzitat, die symbolische Formel, die wörtliche und be-
deutsame Rückbeziehung über weite Strecken hin, - das waren
epische Mittel nach meinem Empfinden, bezaubernd für mich
eben als solche; und früh habe ich bekannt, daßWagnersWerke so
stimulierend wie sonst nichts in derWeltauf meinen jugendlichen
Kunsttrieb wirkten, mich immer aufs neue mit einer neidisch:.
verliebten Sehnsucht erfüllten, wenigstens im Kleinen und Leisen,
auch dergleichen zu machen. Wirklich ist es nicht schwer, in
meinen >Buddenbrooks<, diesem epischen, von Leitmotiven ver-
knüpften und durchwobenen Generationenzuge, vom Geiste des
•Nibelungenringes< einen Hauch zu verspüren.
Lange Zeit stand des Bayreuthers Name überall meinem künstle-
rischen Denken und Tun. Lange Zeit schienmir, daß alles künstle-
rische Sehen und Wollen in diesen gewaltigen Namen münde. Zu
keiner Zeit aber, auch nicht, als ich keine >Tristan<-Aufführung
des Münchner Hoftheaters versäumte, wäre mein Bekenntnis
über Wagner eigentlich ein Bekenntnis zu Wagner gewesen. Als
Geist, als Charakter schien er mir suspekt, als Künstler unwider-
stehlich, wenn auch tieffragwürdig in bezug auf den Adel, die
Reinheit und Gesundheit seiner Wirkungen, und nie hat meine
Jugend sich ihm mit jener venrauensvollen Hingabe überlassen,
mit der sie den großen Dichtern und Schriftstellern anhing,-jenen
Geistern von denen Wagner als von »Literaturdichtern« fast
mitleidig sprechen zu dürfen glaubte. Meine Liebe zu ihm war eine

59
Liebe ohne den Glauben, - denn stets schien es mir pedantisch,
nicht lieben zu können, ohne zu glauben. Es war ein Verhältnis,-
skeptisch, pessimistisch, hellsichtig, fast gehässig, dabei durchaus
leidenschaftlich und von unbeschreiblichem Lebensreiz. Wun-
derbare Stunden tiefen, einsamen Glückes inmitten der Theater-
menge, Stunden voller Schauer und kurzer Seligkeiten, voll von
Wonnen der Nerven und des Intellekts, von Einblicken in rüh-
rende und große Bedeutsamkeiten, wie nur diese nicht zu über-
bietende Kunst sie gewährt!
Heute jedoch glaube ich nicht mehr, wenn ich es jemals glaubte,
daß die Höhe eines Kunstwerks in der Unüberbietbarkeit seiner
Wirkungsmittel bestehe. Und ich meine zu wissen, daß Wagners
Stern am Himmel deutschen Geistes im Sinken begriffen ist.
Ich rede nicht von seiner Theorie. Wäre sie nicht so durchaus
etwas Sekundäres, nicht so ganz nur eine nachträgliche und
überflüssige Verherrlichung seines Talentes, so wäre sein Werk
ohne Zweifel so unhaltbar geworden wie sie, und nie hätte jemand
sie auch nur einen Augenblick ernst genommen ohne das Werk,
das sie, solange man im Theater sitzt, zu beweisen scheint, und das
doch eben nichts weiter beweist als sich selber. Ja, hat überhaupt je
jemand ernstlich an diese Theorie geglaubt? An die Addition von
Malerei, Musik, Wort und Gebärde, dieWagnerfür die Erfüllung
aller künstlerischen Sehnsucht auszugeben die Unbefangenheit
hatte? An eine Rangordnung der Gattungen, in welcher der
>Tasso< dem >Siegfried< nachstünde? Werden denn Wagners
Kunstschriften auch nur gelesen? Woher eigentlich dieser Mangel
an Interesse für den Schriftsteller Wagner? Daher, daß seine
Schriften Parteischriften und nicht Bekenntnisse sind? Daß sie
sein Werk, worin er wahrhaftig in seiner leidenden Größe lebt,
sehr mangelhaft, sehr mißverständlich kommentieren? Man
müßte diese Entschuldigung gelten lassen. Es ist wahr, man kann
aus Wagners Schriften nicht viel über Wagner lernen.
Nein, ich spreche von seinem mächtigen Werke selbst, das heute
beim bourgeoisen Publikum den Höhepunkt seiner Popularität
erreicht hat, von seiner Kunst als Geschmack, als Stil, als Welt-
empfindung. Man lasse sich nicht täuschen durch den Begeiste-
rungslärm der jungen Leute im Stehparterre. In Wahrheit ist heute
in der höheren Jugend viel Wagnerkritik, viel instinktives, wenn
auch stummes Mißtrauen, ja, es muß gesagt werden, viel Gleich-
gültigkeit gegen Wagner vorhanden. Und wie könnte das anders
sein? Wagner ist neunzehntesJahrhundertdurch und durch, ja, er
ist der repräsentative deutsche Künstler dieser Epoche, die viel-
leicht als groß und gewiß als unglückselig im Gedächtnis der
6o
Menschheit fortleben wird. Denke ich aber an das Meisterwerk
des zwanzigsten Jahrhunderts, so schwebt mir etwas vor, was sich
von dem Wagner'schen sehr wesentlich und, wie ich glaube,
vorteilhaft unterscheidet, - irgend etwas ausnehmend Logisches,
Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges und Heiteres, von
nicht geringerer Willensspannung als jenes, aber von kühlerer,
vornehmerer und selbst gesunderer Geistigkeit, etwas, das seine
Größe nicht im Barock-Kolossalischen und seine Schönheit nicht
im Rausche sucht, - eine neue Klassizität, dünkt mich, muß
kommen.
Aber noch immer, wenn unverhofft ein Klang, eine beziehungs-
volle Wendung aus Wagners Werk mein Ohr trifft, erschrecke ich
vor Freude, eine Art Heim- und Jugendweh kommt mich an und
wieder, wie einstmals, unterliegt mein Geist dem klugen und
sinnigen, sehnsüchtigen und abgefeimten Zauber.
WIE STEHEN WIR HEUTE
ZU RICHARD WAGNER?

Ich hörte mit aufrichtigem Anteil von der Lohengrin-Neueinstu-


dierung Ihres Theaters, die Sie auch literarisch begehen wollen. Sie
erinnern mich an manches, was ich in Büchern und Schriften über
Wagner und auch gegen Wagner gesagt habe; aber ich meine, daß
bei einer solchen Gelegenheit situationskritische Feststellungen
über den Niedergang des Wagnersternesam Himmel des deut-
schen Geistes- man könnte sogar von einem vollendeten Versun-
kensein unter den Horizont sprechen - sehr schlecht am Platze
wären. Die literatenhafte Genieerledigung auf Grund armseliger
Bescheidwisserei war mir immer in tiefster Seele zuwider, und ich
würde mich selbst verachten, wenn ich auch nur das Bedürfnis in
mir spürte, mich durch Verleugnung tiefster, lehrreichster, be-
stimmendster Jugenderlebnisse urteilend an die Tete zu bringen.
Ich weiß ganz gut, daß Bayreuth heute mehr eine Angelegenheit
des Herrn aus San Franzisko als des deutschen Geistes und seiner
Zukunft ist. Aber das ändert nichts daran, daß Wagner, als
künstlerische Potenz genommen, etwas nahezu Beispielloses,
wahrscheinlich das größte Talent aller Kunstgeschichte war. Wo
ist zum zweitenmal eine solche Vereinigung von Größe und
Raffinement, von Sinnigkeit und sublimer Verderbtheit, von
Popularität und Teufelsartistik? Er bleibt das Paradigma welter-
obernden Künstlertums, und Europa erlag seinem Können, genau
wie es der Staatskunst Bismarcks erlag. Sie wußten nicht viel von
einander, aber zusammen bilden sie den Höhepunkteiner roman-
tischen Hegemonie des deutschen Geistes.
Wir wollen vom Menschlichen, Sittlichen, Dichterischen reden,
wenn es sich um Goethe handelt. Der ·Ring< bleibt mir der
Inbegriff des Werkes. Wagner war, im Gegensatz zu Goethe, ein
Mann des Werkes ganz und gar, ein Macht-, Welt- und Erfolgs-
mensch durch und durch, ein politischer Mensch in dieser Bedeu-
tung, und trotz der Rundheit, Geschlossenheit und Restlosigkeit
seines Lebenswerkes denke ich zuweilen, seinesgleichen lebe
nicht vollständig. Um vollständig zu leben, hätte er, so meine ich
dann, neben dem politischen Weltwerk etwa ein geheimes und
ganz wahrhaftiges Tagebuch führen müssen- ich weiß nicht, ob
ich mich verständlich mache. Er war ein homme d'action, ohne
tiefere Intimität. Seine Autobiographie ist null und nichtig. Man
61
könnte sagen, nicht er sei unsterblich, sein Werk sei es, dies
wirksame Werk, worin sein Leben restlos aufgegangen.
Unseren Werkinstinkt zu stacheln, ist niemand besser geschaffen
als er. Unser menschlich-dichterisches Teil wendet sich zu Goe-
the. In ersterer Beziehung schulde ichihmUnaussprechliches und
zweifle nicht, daß die Spuren meines frühen und fortlaufenden
Wagner-Werk-Erlebnisses überall deutlich sind in dem, was ich
herstellte. Den >Lohengrin< lernte ich am ehesten kennen, habe ihn
unzählige Male gehört und weiß ihn nach Wort und Musik noch
heute fast auswendig. Sein erster Akt ist ein Phänomen von
dramatischer Ökonomie und theatralischer Wirkung; das Vor-
spiel etwas absolut Zauberhaftes, der Gipfel der Romantik. Es gab
Zeiten, wo ich keine Aufführung des >Tristan< im Münchner
Hoftheater versäumte, diese.s höchsten und gefährlichsten unter
Wagners Werken, das in seiner sinnlich-übersinnlichen Inbrunst,
seiner wollüstigen Schlafsucht recht etwas für junge Leute ist, für
das Alter, wo das Erotische dominiert. Ober die >Meistersinger<
hat Nietzsche das psychologisch Blendendste gesagt. Ich denke
hier nicht an seine bewunderungswürdige Analyse des Vorspiels,
sondern an eineNotizüber dasWerk überhaupt und seine geistige
Stellung: >>>Meistersinger«<, schreibt er,>>- gegen die Zivilisation;
das Deutsche gegen das Französische.« Was hier mit der Zivilisa-
tion gemeint sei und mit dem Deutschen, darüber habe ich
während des Krieges in den> Betrachtungen eines Unpolitischen<
breit gehandelt. Der kulturpsychologischen Feststellung Nietz-
sche's aber kann man hinzufügen, daß die >Meistersinger< ein
großer und allerseits zugegebener deutscher Sieg, ein voller
Triumph des gegenzivilisatorischen Deutschtums waren und es
unter allen Umständen historisch bleiben werden.
Heute ist mein Interesse merkwürdigerweise namentlich auf
Wagners Altersdrama, den >Parsifal< konzentriert, vielleicht, weil
ich es am spätesten kennenlernte und immer noch am wenigsten
beherrsche. Es ist, trotz >Tristan und Isolde< und trotz einem
gewissen Schon-mechanisch-geworden-sein aller Mittel, das ex-
tremste seiner Werke, von einer seelisch-stilistischen Anpas-
sungsfähigkeit, die selbst das bei Wagner gewohnte Maß zum
Schlusse noch überbietet, voll von Lauten, denen ich mit immer
erneuter Beunruhigung, Neugier und Verzauberung nachhänge.
. [1927]
LEIDEN UND GROSSE RICHARD WAGNERS

II y a Ia mes blämes, mes


eloges et tout ce que j'ai dit.
Maurice Barres
Leidend und groß, wie das Jahrhundert, dessen vollkommener
Ausdruck sie ist, das neunzehnte, steht die geistige Gestalt Ri-
chard Wagners mir vor Augen. Physiognomisch zerfurcht von
allen seinen Zügen, überladen mit allen seinen Trieben, so seheich
sie, und kaum weiß ich die Liebe zu seinem Werk, einem der
großartig fragwürdigsten, vieldeutigsten und faszinierendsten
Phänomene der schöpferischen Welt, zu unterscheiden von der
Liebe zu dem Jahrhundert, dessen größten Teil sein Leben aus-
füllt, dies unruhvoll umgetriebene, gequälte, besessene und ver-
kannte, in Weltruhmesglanz mündende Leben. Wir Heutigen,
beansprucht wie wir sind von Aufgaben, die an Neuheit und
Schwierigkeit allerdings ihresgleichen suchen, haben keine Zeit
und wenig Lust, der Epoche, die hinter uns versinkt (wir nennen
sie die bürgerliche), Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; wir
verhalten uns zum neunzehnten Jahrhundert wie Söhne zum
Vater: voller Kritik, wie billig. Wir zucken die Achseln über
seinen Glauben sowohl, der ein Glaube an Ideen war, wie über
seinen Unglauben, das heißt seinen melancholischen Relativis-
mus. Seine liberale Anhänglichkeit an Vernunft und Fortschritt
scheint uns belächelnswert, sein Materialismus allzu kompakt,
sein monistischer Weltenträtselungsdünkel außerordentlich
seicht. Und doch wurde sein wissenschaftlicher Stolz kompen-
siert, ja überwogen von seinem Pessimismus, seiner musikali-
schen Nacht- und Todverbundenheit, die es wahrscheinlich ein-
mal stärker kennzeichnen wird als alles andere. Damit aber hängt
ein Zug und Wille zusammen zum großen Format, zum Standard-
werk, zum Monumentalen und grandios Massenhaften- verbun-
den, merkwürdig genug, mit einer Verliebtheit in das ganz Kleine
und Minutiöse, das seelische Detail. Ja, Größe, und zwar eine
düstere, leidende, zugleich skeptische und wahrheitsbittere,
wahrheitsfanatische Größe, die im Augenblicksrausch hin-
schmelzender Schönheit ein kurzes, glaubensloses Glück zu fin-
den weiß, ist sein Wesen und Gepräge; seine Statue müßte eine
atlasmäßige moralische Muskelbelastung und -spannung aufwei-
sen, die an Michelangelo's Figurenwelt denken ließe. Welche
64
Riesenlasten wurden damals getragen, epische Lasten, im letzten
Sinn dieses gewaltigen Wortes, -weshalb man dabei nicht nur an
Balzac und Tolstoi, sondern auch an Wagner denken soll. Als
dieser dem Freunde Liszt (man schrieb I 8 5I) in einem feierlichen
Brief den Plan zu seinen >Nibelungen< entwickelt hatte, antwor-
tete ihm Liszt aus Weimar: »Mach Dich nur heran und arbeite
ganz rücksichtslos an Deinem Werk, für welches man allenfalls
dasselbe Programm stellen könnte, wie das Domkapitel zu Sevilla
bei Erbauung der Kathedrale dem Architekten stellte: >Bauen Sie
uns solch einen Tempel, daß die künftigen Generationen sagen
müssen, das Kapitel war närrisch, so etwas Außerordentliches zu
unternehmen.< Und doch steht die Kathedrale da!« -Das ist
neunzehntes Jahrhundert!
Der Zaubergarten der impressionistischen Malerei Frankreichs,
der englische, französische, russische Roman, die deutschen Na-
turwissenschaften, die deutsche Musik, - nein, das ist kein
schlechtes Zeitalter, im Rückblick ist das ein Wald von großen
Männern. Und der Rückblick, die Distanz auch erst erlaubt uns,
die Familienähnlichkeit zwischen ihnen allen zu erkennen, dies
gemeinsame Gepräge, das bei allenUnterschieden ihres Seins und
Könnens die Epoche ihnen aufdrückt. Zola und Wagner etwa, die
>Rougon-Macquart< und >Der Ring des Nibelungen<-vorfünfzig
Jahren wäre nicht leicht jemand darauf verfallen, diese Schöpfer,
diese Werke zusammen zu nennen. Dennoch gehören sie zusam-
men. Die Verwandtschaft des Geistes, der Absichten, der Mittel
springt heute ins Auge. Es ist nicht nur der Ehrgeiz des Formates,
der Kunstgeschmack am Grandiosen und Massenhaften, was sie
verbindet, auch nicht nur, im Technischen, das homerische Leit-
motiv, es ist vor allem ein Naturalismus, der sich ins Symbolische
steigert und ins Mythische wächst; denn werwollte in Zola' s Epik
den Symbolismus und mythischen Hang verkennen, der seine
Figuren ins überwirkliche hebt? Ist jene Astarte des Zweiten
Kaiserreichs, Nana genannt, nicht ein Symbol und ein Mythus?
Woher hat sie ihren Namen? Er ist ein Urlaut, ein frühes, sinn-
liches Lallen der Menschheit; Nana, das war ein Beiname
der babylonischen Ischtar. Hat Zola das gewußt? Aber desto
merkwürdiger und kennzeichnender, wenn er es nicht gewußt
hat.
Auch Tolstoi hat das naturalistisch Umfangsmächtige, die demo-
kratische Massenhaftigkeit. Auch er hatdas Leitmotiv, das Selbst-
zitat, die stehende Sprachwendung, die seine Figuren charakteri-
siert. Seine Unerbittlichkeit im Ausführen, im Wiederholen und
Einschärfen, seine Entschlossenheit, dem Leser nichts zu sehen-
ken, sein großartiger Wille zur Langweiligkeit ist ihm oft zum
Vorwurf gemacht worden; und von Wagner sagt Nietzsche, er sei
jedenfalls das unhöflichste aller Genies, er nehme den Hörer
gleichsam, als ob-, er sage eine Sache so oft, bis man verzweifele,
bis man's glaube. Auch das ist eine Verwandtschaft, aber eine
tiefere liegt in dem sozialethischen Element, das ihnen gemeinsam
ist, wobei es wenig besagen will, daß Wagner in der Kunst ein
heiliges Arkanum, ein Allheilmittel gegen die Schäden der Gesell-
schaft sah, während T olstoi gegen das Ende seines Lebens sie als
frivolen Luxus verwarf. Denn als Luxus hat auch Wagner sie
verworfen. Ihre Reinigung und Heiligung galt ihm als Reini-
gungs- und Heiligungsmittel für eine verdorbene Gesellschaft, er
war ein kathartischer, ein reinigender Mensch, der durch das
Mittel ästhetischer Weihung die Gesellschaft von Luxus, Geld-
herrschaft und Lieblosigkeit befreien wollte, in seinem Sozial-
ethos dem russischen Epiker ganz nahe. Und gemeinsam ist ihnen
auch das Geschick, daß man in beider Leben einen Bruch hat
finden wollen, der ihren Charakter, ihre Gesinnung gespalten und
etwas wie einen moralischen Kollaps bedeutet habe,- während in
Wahrheit diese Lebensläufe die vollkommenste Folgerichtigkeit
und Geschlossenheit aufweisen. Wenn es den Leuten schien, als
sei Tolstoi im Alter einer Art von religiösem Wahnsinn verfallen,
so sahen sie nicht, daß das Endstadium seines Lebens in seinem
vorangegangenen vorgebildet war; sie vergaßen oder hatten nicht
bemerkt, daß in Gestalten wie dem Pierre Besuchow in> Krieg und
Frieden< oder dem Lewin in >Anna Karenina< der alte Tolstoi
seelisch schon präexistent ist. Und wenn Nietzsche es so darstellt,
als sei Wagner gegen sein Ende plötzlich, ein Überwundener, vor
dem christlichen Kreuz niedergebrochen, so übersieht er oder will
übersehen lassen, daß schon die Gefühlswelt des >Tannhäuser<
diejenige des >Parsifal< vorwegnimmt und daß dieser aus einem im
tiefsten romantisch-christlichen Lebenswerk die Summe zieht
und es mit großartiger Konsequenz zu Ende führt. Das letzte
Werk Wagners ist auch sein theatralischstes, und nicht leicht war
eine Künstlerlaufbahn logischer als seine. Eine Kunst der Sinn-
lichkeit und des symbolischen Formelwesens (denn das Leitmotiv
ist eine Formel- mehr noch, es ist eine Monstranz, es nimmt eine
fast schon religiöse Autorität in Anspruch) führt mit Notwendig-
keit ins zelebrierend Kirchliche zurück, ja, ich glaube, daß die
heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz alles Theaters der Ritus
ist, aus dem es bei Heiden und Christen hervorgegangen. Theater-
kunst, das ist in sich selbst schon Barock, Katholizismus, Kirche;
und ein Künstler, der, wie Wagner, gewoP,nt war, mit Symbolen

66
zu hantieren und Monstranzen emporzuheben, mußte sich
schließlich als Bruder des Priesters, ja selbst als Priester fühlen.-
Oft habe ich den Beziehungen nachgehangen, die Wagner und
Jbsen verbinden, und fand es schwer, zwischen der epochalen
Verwandtschaft und einer intimeren noch zu unterscheiden, als
Zeitgenossenschaft sie hervorbringt. Es war mir unmöglich, in
dem Dialog von Ibsens bürgerlichem Schauspiel nicht Mittel,
Wirkungen, Bestrickungen, tiefste Reize wiederzuerkennen, die
mir aus Wagners Klangwelt vertraut waren, nichteine Brüderlich-
keit festzustellen, die wohl zum Teil einfach in ihrer Größe, aber
so vielfach auch in ihrer Art, groß zu sein, bestand. Wieviel
Gemeinsames in der ungeheuren Geschlossenheit, Sphärenrund-
heit, Restlosigkeit ihrer gewaltigen, jugendlich sozialrevolutionä-
ren und alternd ins Mystisch-Zeremonielle verbleichenden Le-
benswerke? >Wenn wir Toten erwachen<, die schaurig gehauchte
Beichte des Werkmenschen, der bereut, die späte, zu späte Liebes-
erklärung an das >Leben< - und >Parsifal<, das Oratorium der
Erlösung -, wie bin ich gewohnt, sie in eins zu sehen, in eins zu
empfinden, die beiden Abschiedsweihespiele und letzten Worte
vor ewigem Schweigen, die zelesten Greisenwerke in ihrer maje-
stätisch-sklerotischen Müdigkeit, dem Schon-mechanisch-ge-
worden-Sein all ihrer Mittel, dem Spätgepräge von Resümee,
Rückschau, Selbstzitat, Auflösung.
War nicht, was man >Finde siede< nannte, ein recht klägliches
Satyrspiel der kleinen Zeit zu dem eigentlichen und verehrungs-
würdigen Ausklang des Jahrhunderts, der sich in den Alterswer-
ken der beiden Magier vollzog? Denn nordische Magier, schlimm
verschmitzte alte Hexenmeister waren sie beide, tief bewandert in
allen Einflüsterungskünsten einer so sinnigen wie ausgepichten
Teufelsartistik, groß in der Organisation der Wirkung, im Kultus
des Kleinsten, in aller Doppelbodigkeit und Symbolbildung, in
diesem Zelebrieren des Einfalls, diesem Poetisieren des Intellektes
-Musiker dabei, wie es sich für Nordmenschen von selbst ver-
steht: nicht nur der eine, der die Musik, bewußt und weil er sie als
Eroberer brauchte, erlernt hatte, sondern auch der andere, auch
Ibsen, obschon nur heimlicher-, geistigerweise und hinter dem
Wort.
Was sie aber gar zumVerwechseln einander ähnlich macht, ist der
von niemandem als möglich geahnte Sublimierungsprozeß, den
unter den Händen des einen wie des anderen eine vorgefundene,
und zwar in geistig bescheidenem Zustandevorgefundene Kunst-
form erfuhr. Diese Kunstform war in Wagners Fall die Oper, im
Falle Ibsens das Gesellschaftsstück. Goethe sagt: »Alles Vollkom-
67
mene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas
anderes, Unvergleichbares werden. In manchen Tönen ist die
Nachtigall noch Vogel, dann steigt sie über ihre Klasse hinüber
und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich
Singen heiße.« Ganz so haben Wagner und Ibsen die Oper, das
zivile Schauspiel vollkommen gemacht: sie machten etwas ande-
res, Unvergleichbares daraus. Und selbst jener Rest und Rück-
schlag im Beispiel von Goethe's Nachtigall findet sich bei ihnen
wieder: zuweilen, und zwar bis hoch hinauf, bis in den >Parsifal,
hinein, gibt es bei Wagner noch Oper; zuweilen noch klappert bei
Ibsen dieTechnikdes Dumas-Dramas. Aber beide sind sie schöp-
ferisch in dem perfektionierend-übersteigernden Sinn, daß sie aus
dem Gegebenen das Neue und Ungeahnte entwickeln.

Was erhebt das Werk Wagners geistig so hoch über das Niveau
alles älteren musikalischen Schauspiels? Es sind zwei Mächte, die
sich zu dieser Erhebung zusammenfinden, Mächte und geniale
Begabungen, die man für feindlich einander entgegengesetzt hal-
ten sollte und deren kontradiktorisches Wesen man wirklich
gerade heute wieder gern behauptet: sie heißen Psychologie und
Mythus. Man will ihre Vereinbarkeit leugnen, Psychologie er-
scheint als etwas zu Rationales, als daß man sich entschließen
könnte, etwa kein unüberwindliches Hindernis auf dem Wege ins
mythische Land darin zu erblicken. Sie gilt als Widerspruch zum
Mythischen, wie sie als Widerspruch zum Musikalischen gilt,
obgleich ebendieser Komplex von Psychologie, Mythus und
Musik uns gleich in zwei großen Fällen, in Nietzsche und Wagner,
als organische Wirklichkeit vor Augen steht.
Ober den Psychologen Wagner wäre ein Buch zu schreiben, und
zwar über die psychologische Kunst des Musikers wie des Dich-
ters, sofern diese Eigenschaften bei ihm zu trennen sind. Die
Technik des Erinnerungsmotivs, in der alten Oper gelegentlich
schon verwandt, wird allmählich zu einem tiefsinnig virtuosen
System ausgebaut, das die Musik in einem Maße wie nie zuvor
zum Werkzeug psychologischer Anspielungen, Vertiefungenj
Bezugnahmen macht. Die U mdeutungdes naiv-epischen Z:.luber-
motivs des »Liebestrankes« in ein bloßes Mittel, eine schon
bestehende Leidenschaft frei zu machen- in Wirklichkeit könnte
es reines Wasser sein, was die Liebenden trinken, und nur ihr
Glaube, den Tod getrunken zu haben, löst sie seelisch aus dem
Sittengesetze des Tages-, ist die dichterische Idee eines großen
Psychologen. Wie geht das Dichterische bei WagnervonAnfang
an übers Librettomäßige hinaus -, und zwar weniger sogar im
68
Sprachlichen als im Psychologischen! >>Die düstre Glut<<, sagt der
Holländer in dem schönen Duett mit Senta im zweiten Akt-

Die düstre Glut, die hier ich fühle brennen,


Sollt' ich Unseliger sie Liebe nennen?
Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil:
Würd' es durch solchen Engel mir zuteil!

Das sind sangbare Verse, aber nie war etwas so kompliziert


Gedachtes, seelisch so Verschlungenes vordem gesungen oderfür
den Gesang bestimmt worden. Der Verdammte liebt dieses Mäd-
chen auf den ersten Blick, aber er sagt sich, daß seine Liebe
eigentlich nicht ihr gilt, sondern dem Heil, der Erlösung. Sie nun
aber wieder steht ihm als die Verkörperung der Heilsmöglichkeit
gegenüber, so daß er zwischen der Sehnsucht nach geistlicher
Rettung und der Sehnsucht nach ihr nicht zu unterscheiden
vermag und nicht unterscheiden will. Denn seine Hoffnung hat
ihre Gestalt angenommen, und er kann nicht mehr wollen, daß sie
eine andere habe, das heißt, er liebt in der Erlösung dies Mädchen.
Weiche Verschränkung eines Doppelten, welcher Blick in die
schwierigen Tiefen eines Gefühls! Es ist Analyse- und dies Wort
drängt sich in einem noch moderneren, noch kühneren Sinn auf,
wenn man das frühlingshaft keimende und hervorsprießende
Liebesleben des Knaben Siegfried betrachtet, wie Wagner es im
Wort und mit Hilfe der deutend untermalenden Musik lebendig
macht. Da ist ein ahnungsvoller und aus dem Unterbewußten
heraufschimmernder Komplex von Mutterbindung, geschlechtli-
chem Verlangen und Angst- ich meine jene Märchenfurcht, die
Siegfried erlernen möchte-, ein Komplex also, der den Psycholo-
gen Wagner in merkwürdigster, intuitiver Übereinstimmung
zeigt mit einem anderen typischen Sohn des neunzehnten Jahr-
hunderts, mit Sigmund Freud, dem Psychoanalytiker. Wie in
Siegfrieds Träumerei unter der Linde der Muttergedanke ins
Erotische verfließt, wie in der Szene, wo Mime den Zögling über
die Furcht zu belehren sucht, im Orchesterdas Motiv der im Feuer
schlafenden Brünnhilde auf eine dunkel entstellte Weise sein
Wesen treibt,- das ist Freud, das ist Analyse, nichts anderes; und
wir wollen uns erinnern, daß auch bei Freud, dessen seelische
Radikalforschung und Tiefenkunde bei Nietzsche in großem Stil
vorweggenommen ist, das Interesse fürs Mythische, Menschlich-
Urtümliche und Vorkulturelle mit dem psychologischen Inter-
esse aufs engste zusammenhängt.
»Die Liebe in vollster Wirklichkeit«, sagt Wagner, »ist bloß
innerhalb des Geschlechtes möglich: nur als Mann und Weib
können die Menschen am wirklichsten lieben, während alle an-
dere Liebe nur eine von dieser abgeleitete, von ihr herrührende,
auf sie sich beziehende oder ihr künstlich nachgebildete ist. Irrig
ist es, diese Liebe« (die sexuelle nämlich) »nur für eine Offen-
barung der Liebe überhaupt zu halten, während neben ihr andere
und wohl gar höhere Offenbarungen anzunehmen wären.« -
Diese Zurückführung aller, Liebe< aufs Sexuelle hat unverkennbar
analytischen Charakter. Derselbe psychologische Naturalismus
spricht aus ihr, der sich in Schopenhauers metaphysischer Formel
vom »Brennpunkt des Willens« und in Freuds Kultur- und Sub-
limierungstheorien bekundet. Sie ist echt neunzehntes Jahr-
hundert.-
übrigens findet der erotische Mutterkomplex sich auch im >Parsi-
fal, wieder, in der Verführungsszene des zweiten Aktes,- und
damit sind wir bei der Figur der Kundry, der stärksten, dichterisch
kühnsten, die Wagner je konzipiert hat: erselbsthatwohlgefühlt,
welche außerordentliche Bewandtnis es mit ihr hatte. Sein Sinnen
ging nicht zuerst von ihr aus, sondern von Karfreitagsgefühlen,
aber bald sammelt sich das ideelle und formende Interesse mehr
und mehr um sie, und die Eingebung, daß die wilde Gralsbotin ein
und dasselbe Wesen sein sollte mit dem verführenden Weib, der
Gedanke der seelischen Doppelexistenz also, ist die entschei-
dende Erleuchtung und Verlockung, sie erzeugt die heimlichste
Lust zu dem wundersamen Unternehmen. »Seitdem mir dies
aufgegangen«, schreibt er, »ist mir fast alles an diesem Stoff klar
geworden.« Und ein anderes Mal: »Namentlich geht mir eine
eigentümliche Schöpfung, ein wunderbar weltdämonisches Weib
(die Gralsbotin) immer lebendiger und fesselnder auf. Wenn ich
diese Dichtung noch einmal zustande bringe, müßte ich damit
etwas sehr Originelles leisten.« -Originell, das ist ein rührend
stilles, bescheidenes Wort für das, was tatsächlich zustande kam.
Die Heldinnen Wagners kennzeichnet überhaupt ein Zug von
Edelhysterie, etwas Somnambules, Verzücktes und Seherisches,
das ihre romantische Heroik mit eigentümlicher und bedenk-
licher Modernität durchsetzt. Aber die Figur Kundry's, der Höl-
lenrose, ist geradezu ein Stück mythischer Pathologie; in ihrer
qualvollen Zweiheit und Zerrissenheit, als instrumenturn diaboli
und heilssüchtige Büßerin, ist sie mit einer klinischen Drastik und
Wahrheit, einer naturalistischen Kühnheit im Erkunden und
Darstellen schauerlich krankhaften Seelenlebens gemalt, die mir
immer als etwas Äußerstes an Wissen und Meisterschaft erschie-
nen ist. Und nicht sie allein unter den Gestalten des >Parsifal< hat
diesen seelisch extremen Charakter. Wenn es im Entwurf zu
diesem letzten und äußerstenWerk von Klingsor heißt, er sei der
Dämon der verborgenen Sünde, das Wüten der Ohnmacht gegen
die Sünde, so fühlen wir uns in eineWeltchristlichen Wissens um
entlegene und höllische Seelenzustände versetzt, in die Welt
Dostojewski's.-
Wagner als Mythiker, als Entdecker des Mythus für die Oper, als
Erlöser der Oper durch den Mythus, das ist das zweite; und
wirklich, er hat seinesgleichen nicht an seelischer Affinität mit
dieser Bild- und Gedankenwelt, nicht seinesgleichen in dem
Vermögen, den Mythus zu beschwören und neu zu beleben: er
hatte sich selbst gefunden, als er von der historischen Oper zum
Mythus fand; und wenn man ihm lauscht, möchte man glauben,
die Musik sei zu nichts anderem geschaffen und könne sich nie
wieder eine andere Aufgabe setzen, als dem Mythus zu dienen. Ob
dieser als Bote aus reiner Sphäre erscheint, der Unschuld zu Hilfe
gesandt, und leider, da der Glaube nicht standhält, dahin zurück-
kehren muß, woher er kam der Fahrt; oder als singendes, sagendes
Wissen von der Welt Anfang und Ende, als kosmogonische
Märchenphilosophie,-immer ist sein Geist, sein Wesen, sein Laut
mit einer Sicherheit und wahlverwandtschaftliehen Intuition ge-
troffen, seine Sprache mit einer Angeborenheit geredet, die in aller
Kunst ohne Beispiel ist. Es ist die Sprache des >Einst< in seinem
Doppelsinn aus »Wie alles war« und» Wie alles sein wird«; und die
mythologische Stimmungsdichtigkeit, etwa in der Nornenszene
zu Anfang der >Götterdämmerung<, in der die drei Erdatöchter
sich in einer Art von weihevollem W eitertklatsch ergehen, oder
der Erdaerscheinungen selbst im >Rheingold< und >Siegfried<, ist
unübertrefflich. Die übergewaltigen Akzente der Musik, die Sieg-
frieds Leiche·hinweggeleitet, gelten nicht mehr dem W aldkD.aben,
der auszog, das Fürchten zu lernen; sie belehren das Gefühl, was
eigentlich da hinter niedergehenden Nebelschleiern vorüber-
zieht: der Sonnenheld selbst liegt auf der Bahre, erschlagen von
bleicher Finsternis; und das andeutende Wort kommt der Emp-
findung zu Hilfe:.»EineswildenEbers Wut«, heißt es, und »Er ist
der verfluchte Eber«, sagt Gunther, auf Hagen weisend, »der
diesen Edeln zerfleischte«. Die Perspektive reißt auf bis ins Erste
und Früheste menschlichen Bildträumens. Tammuz, Adonis, die
der Eber schlug, Osiris, Dionysos, die Zerrissenen, die wieder-
kehren sollen als der Gekreuzigte, dem ein römischer Speer die
Seitenwunde reißen muß, auf daß man ihn erkenne, - alles, was
war und immer ist, die ganze Welt der geopferten, von Winter-
grimm gemordeten Schönheit umfaßt dieser mythische Blick -
und so sage man nicht, der Schöpfer des >Sieg/ried< sei sich untreu
geworden durch >Parsifal<.

Die Passion für Wagners zaubervollesWerk begleitet mein Leben,


seit ich seiner zuerst gewahr wurde und es mir zu erobern, es mit
Erkenntnis zu durchdringen begann. Was ich ihm als Genießen-
der und Lernender verdanke, kann ich nie vergessen, nie die
Stunden tiefen, einsamen Glückes inmitten der Theatermenge,
Stunden voll von Schauern und Wonnen der Nerven und des
lnt~llektes, von Einblicken in rührende und große Bedeutsamkei-
ten, wie eben nur diese Kunst sie gewährt. MeineNeugier nach ihr
ist nie ermüdet; ich bin nicht satt geworden, sie zu belauschen, zu
bewundern, zu überwachen -nicht ohne Mißtrauen, ich gebe es
zu; aber die Zweifel, Einwände, Beanstandungen taten ihr so
wenig Abbruch wie die unsterbliche Wagnerkritik Nietzsche's,
die ich immer als einen Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzei-
chen, als eine andere Form der Verherrlichung empfunden habe.
Sie war Liebeshaß, Selbstkasteiung. Wagners Kunstwardie große
Liebesleidenschaft von Nietzsche's Leben. Er hat sie geliebt, wie
Baudelaire, der Dichter der >Fleurs du Mal<, sie geliebt hat, von
dem man erzählt, er habe noch in der Agonie, in der Lähmung und
halben Verblödung seiner letzten Tage, vor Freude gelächelt,
wenn der Name Wagners genannt wurde- il a souri d'allegresse.
So pflegte Nietzsche in seiner paralytischen Nacht beim Klang
dieses Namens aufzuhorchen und zu erwidern: »Den habe ich
sehr geliebt.« Er hat ihn sehr gehaßt, aus geistigen, kulturmorali-
schen Gründen, die hier nicht zur Erörterung stehen. Aber es wäre
seltsam, wenn ich allein stände mit der Erfahrung, daß Nietzsche' s
Polemik gegen Wagner der Begeisterung eher ein Stachel ist, als
daß sie sie zu lähmen vermöchte.
Was ich beanstandete, von jeher, oder besser, was mich gleichgül-
tig ließ, war Wagners Theorie, - kaum habe ich mich je bereden
können, zu glauben, daß überhaupt je jemand sie ernst genommen
habe. Was sollte ich anfangen mit dieser Addition von Musik,
Wort, Malerei und Gebärde, die sich als das allein Wahre und als
die Erfüllung aller künstlerischen Sehnsucht ausgab? Mit einer
Kunstlehre, der zufolge der >Tasso< dem >Siegfried< nachzustehen
hätte? Es war ein starkes Stück, fand ich, die Einzelkünste aus dem
Zerfall einer ursprünglich theatralischen Einheit abzuleiten, in die
sie zu ihrem Glück dienend zurückkehren sollten. Die Kunst ist
ganz und vollkommen in jeder ihrer Erscheinungsformen; man
braucht nicht ihre Gattungen zu summieren, um sie vollkommen
zu machen. Das zu denken, ist schlechtes neunzehntes Jahrhun-
72
dert, eine schlimm mechanistische Denkungsweise, und Wagners
siegreiches Werk beweist nicht seine Theorie, sondern nur sich
selbst. Es lebt und wird lange leben, aber die Kunst wird es in den
Künsten überleben und die Menschheit durch sie bewegen, wie eh
und je. Es wäre kindliche Barbarei, zu glauben, Höhe und Intensi-
tät der Kunstwirkung ergäben sich aus dem gehäuften Maß ihrer
sinnlichen Aggression.
Wagner als leidenschaftlicher Theatraliker, man kann wohl sagen,
als Theatromane, neigte zu solchem Glauben, insofern ihm die
unmittelbarste und restloseste Mitteilung alles zu Sagenden an die
Sinne als die erste Forderung der Kunst erschien. Und es ist
merkwürdig genug, zu sehen, was dank diesem unerbittlichen
Bedürfnis im Falle seines Hauptwerkes, des >Ringes des Nibelun-
gen<, aus dem Drama wurde, dem doch allsein Trachten galt und
als dessen Grundgesetz ihm eben das restlos Sinnliche erschien.
Man kennt die Entstehungsgeschichte dieses Werkes. Wagner,
mit· der Gestaltung seines dramatischen Entwurfes >Siegfrieds
Tod< beschäftigt, ertrug es nicht, wie er selbst erzählt, daß so viel
vorauszusetzen war, so viel Handlung vor dem Anfang lag, deren
Mitteilung in das Stück hätte hineinkomponiert werden müssen.
Sein Bedürfnis, die Vorgeschichte zu sinnlicher Anschauung zu
bringen, war übermächtig, und so begann er nach rückwärts zu
schreiben: er dichtete den >Jungen Siegfried<, dann die 'Walküre<,
dann das >Rheingold<; er ruhte nicht, bis er alles in voller Gegen-
wart auf die Bühne gebracht hatte, in vier Abenden alles, von der
Urzelle, dem Erzbeginn, dem ersten Baßfagott-Es des Rhein-
goldvorspieles an, womit er denn feierlich und fast unhörbar zu
erzählen anhob. Etwas Herrliches entstand, und man versteht die
Begeisterung, die den Schöpfer angesichts seines so gewordenen,
an neuen und tiefen Wirkungsmöglichkeiten so reichen Riesen-
planes ergriff. Aber was war es eigentlich, was entstand? Die
Ästhetik hat gelegentlich das mehrteilige Drama als Form verwor-
fen. Grillparzer zum Beispiel tat das. Er meinte, die Beziehung
eines Teiles auf den anderen gebe dem Ganzen etwas Episches,
wodurch es freilich an Großartigkeit gewänne. Aber damit ist die
Wirkung des >Ringes< bestimmt, der Charakter seiner Größe, und
was wir feststellen, ist eben, daß Wagners Hauptwerk seine
Großartigkeit ihrer Art nach dem epischen Kunstgeist verdankt,
in dessen Sphäre der Stoff ja auch beheimatet war. Der >Ring< ist
ein szenisches Epos, hervorgegangen aus der Abneigung gegen
Vorgeschichten, die hinter der Szene spuken, einer Abneigung,
die die antike und die französische Tragödie bekanntlich nicht
teilten. Ibsen mit seiner analytischen Technik und seiner Kunst,

73
Vorgeschichten zu entwickeln, ist hierin dem klassischen Drama
viel näher. Und es liegt Humor darin, daß gerade das dramatische
Sinnlichkeitstheorem Wagners ihn auf eine so wundervolle Art
zum Epischen verführte.
Sein Verhältnis zu den Einzelkünsten, aus denen er sein »Gesamt-
kunstwerk« schuf, ist des Nachdenkens wert; es liegt etwas
eigentümlich Dilettantisches darin, wie denn Nietzsche in seiner
wagnerfrommen >Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung< über
Wagners Kindheit und Jugend sagt: »Seine Jugend ist die eines
vielseitigen Dilettanten, aus dem nichts Rechtes werden will. Ihn
schränkte keine strenge erb- und familienhafte Kunstübung ein.
Die Malerei, die Dichtkunst, die Schauspielerei, die Musikkamen
ihm so nahe als die gelehrtenhafte Erziehung und Zukunft; wer
oberflächlich hinblickte, möchte meinen, er sei zum Dilettantisie-
ren geboren.« - Tatsächlich und nicht nur oberflächlich, sondern
mit Leidenschaft und Bewunderung hingeblickt, kann man sagen,
auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden, daß Wagners Kunst
ein mit höchster Willenskraft und Intelligenz monurilentalisierter
und ins Geniehafte getriebener Dilettantismus ist. Die Ver-
einigungsidee der Künste selbst hat etwas Dilettantisches und
wäre ohne die mit höchster Kraft vollzogene Unterwerfung ih-
rer aller unter sein ungeheures Ausdrucksgenie im Dilettan-
tischen steckengeblieben. Es ist etwas Zweifelhaftes um seine
Beziehung zu den Künsten; so unsinnig es klingt, haftet ihr
etwas Amusisches an. Italien, die bildende Kunst lassen ihn im
Grunde völlig kalt. Der Wesendonck schreibt er nach Rom:
»Sehen Sie und schauen Sie für mich mit: ich habe es nötig, daß
es jemand für mich tut ... Mit mir hat es da eine eigne Bewandt-
nis: das habe ich wiederholt und endlich am bestimmtesten in
Italien kennengelernt. Ich werde eine Zeitlang durch bedeu-
tende Wirkung auf mein Auge lebhaft ergriffen: aber- es dauert
nicht lang ... Es scheint, daß das Auge mir als Sinn der Wahr-
nehmung der Welt nicht genügt.«
Sehr begreiflich! Er ist ja Ohrenmensch, Musiker und Dichter,
aber seltsam ist es doch, daß er aus Paris an dieselbe Adressatin
schreiben kann: »Ach, was schwelgt das Kind in Raphael und
Malerei! Was ist das schön, lieblich und beruhigend! Nur mich
will das nie einmal berühren! Ich bin immer noch der Vandale, der
seit einem Jahresaufenthalt in Paris nicht dazu gekommen ist, das
Louvre zu besuchen! Sagt Ihnen das nicht alles??«- Nicht alles,
aber doch manches und sonderbar Bezeichnendes. Die Malerei ist
eine große Kunst, so groß wie das Gesamtkunstwerk. Sie hat vor
diesem auf eigene Hand bestanden und tut es nach ihm; aber sie

74
berührt ihn nicht. Er müßte weniger groß sein, daß man sichnicht
dadurch in der Seele der Malerei gekränkt fühlen sollte! Denn die
bildende Kunst hat ihm weder als Vergangenheit noch als leben-
dige Gegenwart etwas zu sagen. Das Große, das neben seinem
Werk aufwächst, die französische impressionistische Malerei,
sieht er kaum, sie geht ihn nichts an. Seine Beziehungen dazu
beschränken sich auf die Tatsache, daß Renoir sein Porträt gemalt
hat- ein Bild, das seinen Gegenstand nicht gerade heroisiert und
ihm nicht sehr gefallen haben wird. Es ist klar, daß er zur Dichtung
ganz anders steht als zur bildenden Kunst. Sie hat ihm, namentlich
durch Shakespeare, sein Leben lang Unendliches gegeben, wenn
auch die Theorie, mit der er sein eigenes Talent glorifizierte, ihn
von den »Literatur-Dichtern«, wie er sagte, fast mitleidig reden
ließ. Aber was liegt daran, da er selbst der Dichtung Gewaltiges
geschenkt, sie mit seinen Werken bereichert hat, - bei denen
freilich nie zu vergessen ist, daß sie nicht gelesen werden sollen,
nicht eigentlich Sprachwerke, sondern »Musikdunst« sind, der
Ergänzung durch Bild, Gebärde, Musik bedürfen underst in ihrer
aller Zusammenwirken sich als Dichtung vollenden. Rein sprach-
lich gesehen, haben sie oft etwas Schwulstiges und Barockes, auch
Kindliches, etwas von großartiger und selbstherrlicher Unberu-
fenheit, -mit Einlagerungen von absoluter Genialität, von Kraft,
Gedrungenheit, Urschönheit, die jeden Zweifel entkräften-und
doch das Bewußtsein nicht auslöschen, daß es sich nicht um
Gebilde handelt, die innerhalb der Kultur der großen europäi-
schen Literatur und Dichtung stehen, sondern abseits davon, als
Anweisungen zu einer theatralischen Ausdrucksveranstaltung,
die unter anderem auch des Wortes bedarf. Ich denke bei jenenins
kühn Dilettantische eingesprengten Sprachgenialitäten besonders
an den >Ring des Nibelungen< und an den >Lohengrin<, der, als
Wortschöpfung genommen, vielleicht. das Reinste, Edelste und
Schönste darstellt, was Wagner gelungen ist.
Sein Genie ist eine dramatische Synthesis der Künste, die nur als
Ganzes, eben als Synthese, den Begriff des echten und legitimen
Werkes erfüllt. Den Bestandteilen, selbst der Musik als solcher
und sofern sie eben nicht Mittel zum Gesamtzweck ist, eignet
etwas Wildwüchsig-Illegitimes, das sich erst im erhabenen Gan-
zen aufhebt. Daß Wagners Verhältnis zur Sprache nicht dasjenige
unserer großen Dichter und Schriftsteller war, daß es der Strenge
und Delikatesse entbehrt, die dort walten, wo die Sprache als
höchstes Gut und anvertrautes Mittelder Kunstempfunden wird,
das zeigen seine Gelegenheitsgedichte, diese verzuckert romanti-
schen Huldigungen und Widmungspoeme an Ludwig den Zwei-

75
ten von Bayern, diese banausisch fidelen Reimereien an Freunde
und Helfer. Jedes hingeworfene Gelegenheitsreimehen Goethe's
ist goldschwere Dichtung und hohe Literatur gegen diese Sprach-
philistereien und versifizierten Männerscherze, bei denen die
Verehrung nur etwas mühsam zu lächeln vermag. Sie halte sich
dafür an Wagners Prosaaufsätze, diese ästhetischen, kulturkriti-
schen Manifeste und Selbsterläuterungen, - Künstlerschriften
von erstaunlicher Gescheitheit und denkerischer Willenskraft, die
man freilich als Sprach- und Geisteswerke nicht mit den kunstphi-
losophischen Arbeiten Schillers, etwa mit dem unsterblichen
Versuch >Über naive und sentimentalische Dichtung<, vergleichen
darf. Etwas schwer Lesbares, zugleich Verschwommenes und
Steifes gehört zu ihnen, wiederum etwas wild- und nebenwüchsig
Dilettantisches; sie gehören nicht eigentlich der Welt großer
deutscher und europäischer Essayistik an, sind nicht eigentlich
Werke eines geborenen Schriftstellers, sondern nebenbei, aus
Not, entstanden. Wagner war alles Einzelne nur aus Not. Glück-
lich, berufen, vollkommen, legitim und groß ist er erst im Großen
und Ganzen.
War er denn nicht auch Musiker nur aus Not, zum Zweck des
überwältigenden Ganzen und durch den Willen? Nietzsche be-
merkt einmal, daß die sogenannte Begabung nicht das W esent-
liche des Genies sein könne. >>Wie wenig Begabung zum Beispiel
bei Richard Wagner«, ruft er aus. >>Gab es je einen Musiker, der
in seinem achtundzwanzigsten Jahr noch so arm war?« Wirklich
wächst Wagners Musik aus zagen, kümmerlichen und unselbstän-
digen Anfängen auf, und diese Anfänge liegen viel später in seinem
Leben als bei großen Musikern sonst. Er selbst sagt:>> Ichentsinne
mich, noch um mein dreißigstesJahrherum mich innerlich zwei-
felhaft befragt zu haben, ob ich denn wirklich das Zeug zu einer
höchsten künstlerischen Individualität besäße: ich konnte in mei-
nen Arbeiten immer noch Einfluß und Nachahmung verspüren
und wagte nur beklommen, auf meine fernere Entwicklung als
durchaus originell Schaffender zu blicken.« Das ist ein Rückblick
aus der Zeit der Meisterschaft, im Jahre r 862. Aber nur drei Jahre
früher, mit sechsundvierzig Jahren, aus Luzern, in Tagen, da es
mit dem >Tristan< durchaus nicht vorwärtsgehen will, schreibt er
an Liszt: »Wie jämmerlich ich mich als Musiker fühle, kann ich
Dir gar nicht stark genug versichern; aus Herzensgrunde halte ich
mich für einen absoluten Stümper. Du solltest mich jetzt nur
manchmal so dasitzen sehen, wenn ich so denke, >es muß doch
gehen< - und dann ans Klavier gerate und einigen miserablen
Dreck zusammengreife, um dann blödsinnig es aufzugeben. Wie
mir da zu Mut ist! -Welch innige Überzeugung von meiner
eigentlichen musikalischen Lumpenhaftigkeit! Und nun kommst
Du, dem es aus allen Poren herausquillt wie Ströme und Quellen
und Wasserfälle, und - da soll ich mir nun noch so etwas sagen
lassen wie Deine Worte. Nicht zu glauben, daß dies völlige Ironie
sei, fällt mir da sehr schwer ... Liebster, das ist eine eigene
Geschichte, und glaub mir, mit mir ist's nicht weit her.«- Das ist
offenbare Depression, ungültig in jedem Wort, und Liszt antwor-
tet denn auch gebührend darauf. Er macht ihm »verrückte Unge-
rechtigkeit gegen sich selbst« zum Vorwurf. Übrigens kennt jeder
Künstler solche plötzliche Scham vor dem Meisterhaften neben
und vor ihm: sie kommt daher, daß jede Kunstübung eine neue
und ihrerseits schon sehr kunstvolle Anpassung des persönlich
und individuell Bedingten an die Kunst überhaupt darstellt und
der einzelne, selbst nach anerkannten, geglückten Leistungen,
beim Vergleich mit fremder Meisterschaft sich plötzlich fragen
kann: wie ist es möglich, mein persönliches Arrangement mit
jenen Dingen überhaupt in einem Atem zu nennen?- Und doch
hat ein solcher Grad von depressiver Selbsterniedrigung, von
Gewissensverzweiflung im Angesicht der Musik bei dem, der im
dritten Akt des >Tristan< hält, etwas Befremdendes und psycholo-
gisch Auffallendes. Wahrhaftig, die diktatorische Selbstgewißheit
von Wagners alten Tagen, als er in den >Bayreuther Blättern< gar
vieles Schöne, Mendelssohn, Schumann und Brahms, zum höhe-
ren Ruhm der eigenen Kunst verspottete und verdammte, - dies
Selbstbewußtsein ist mit vieler früheren Zerknirschung und Ver-
zagtheit vor der Kunst erkauft! Woher kamen diese Anfälle?
Gewiß nur daher, daß er selbst in solchen Augenblicken den
Fehler beging, sein Musikerturn zu isolieren und es so in Vergleich
mit dem Höchsten zu stellen, während es doch ebenso nur sub
specie seines Dichterturns betrachtet werden darf, wie umgekehrt,
- und diesem Fehler hauptsächlich entstammt ja der erbitterte
Widerstand, den seine Musik zu überwinden gehabt hat. Wir, die
wir der Wunderwelt dieser Klänge, ihrer intellektuellen Magie so
viel Beglückung und Entrückung, so viel Staunen über ein selbst-
geschaffenes, ungeheueres Können verdanken, wir begreifen nur
schwer diese Widerstände, diesen Abscheu; wir finden Aus-
drücke, wie sie gegen Wagners Musik gebraucht wurden, Be-
zeichnungen wie »kalt«, »algebraisch«, "formlos«, entsetzlich
mißverständlich und uneinsichtig, von einer dickhäuterischen
Verständnisarmut und U nempfänglichkeit zeugend, und wir sind
geneigt zu glauben, nur aus ganz unmusischerund philisterhafter,
gott- und musikverlassener Sphäre hätten solcheUrteile kommen

77
können. Aber dem war nicht so. Viele, die so urteilen, so urteilen
mußten, waren keine Spießer, es waren künstlerische Seelen und
Geister, Musiker und Liebende der Musik, Menschen, denen das
Schicksal der Musik am Herzen lag und die mit Recht den
Anspruch erhoben, zwischen Musik und Unmusik unterscheiden
zu können - und sie fanden, daß diese Musik keine sei. Ihre
Meinung ist vollkommen geschlagen worden, ihr war eine säku-
lare Niederlage beschieden. Aber wenn sie falsch war, war sie auch
unentschuldbar? Wagners Musik ist so ganz und so gar nicht
Musik, wie die dramatische Unterlage, die sie zur Dichtung
vervollständigt, Literatur ist. Sie ist Psychologie, Symbol, My-
thik, Emphatik - alles; aber nicht Musik in dem reinen und
vollwertigen Sinn jener verwirrten Kunstrichter. Die Texte, um
die sie sich rankt und die sie zum Drama erfüllt, sind nicht
Literatur, aber die Musik ist es. Sie, die wie ein Geysir aus
vorkulturellen Tiefen des Mythos hervorzuschießen scheint (und
nicht nur scheint: sie tut es wirklich), ist in Wahrheit und außer-
dem - gedacht, berechnet, hochintelligent, von ausgepichter
Klugheit, so literarisch konzipiert, wie ihre Texte musikalisch
konzipiert sind. Aufgelöst in ihre Urelernente muß die Musik
dazu dienen, mythische Philosopheme ins Hochrelief zu treiben.
Die unstillbare Chromatik des Liebestodes ist eine literarische
Idee. Das U rströmen des Rheines, die sieben primitiven Akkord-
klötze, die Walhall aufbauen, sind es nicht weniger. Ein berühm-
ter Dirigent, der eben den >Tristan< geleitet hatte, sagte auf dem
Heimweg zu mir: »Es ist gar keine Musik mehr.« Er sagte es im
Sinne unserer gemeinsamen Erschütterung. Aber was wir heute
als bewunderungsvolles Ja aussprechen, wie hätte es nicht anfangs
als zorniges Nein laute.n sollen? Solche Musik wie die von Sieg-
frieds Rheinfahrt oder wie die Totenklage für .den Gefällten,
Stücke von unnennbarer Herrlichkeit für unser Ohr, unseren
Geist, waren nie erhört worden, sie waren unerhört im anstößig-
sten Sinne. Dies Aneinanderreihen symbolischer Motivzitate, die
wie Felsbrocken im Gießbach musikalischer Elementarvorgänge
liegen, als Musik im Sinne Bachs, Mozarts und Beethovens zu
empfinden, war zuviel verlangt. Es war zuviel verlangt, den
Es-Dur-Dreiklang, der das Rheingoldvorspiel ausmacht, bereits
Musik nennen zu sollen. Es war auch keine. Es warein akustischer
Gedanke: der Gedanke des Anfanges aller Dinge. Es war die
selbstherrlich dilettantische Nutzbarmachung der Musik zur
Darstellung einer mythischen Idee. Die Psychoanalyse will wis-
sen, daß die Liebe sich aus lauter Perversitäten zusammensetzte.
Darum bleibt sie doch die Liebe, das göttlichste Phänomen der
78
Welt. Nun denn, das Genie Richard Wagners setzt sich aus lauter
Dilettantismen zusammen.

Aber aus was für welchen! Er ist ein Musiker der Art, daß er auch
die Unmusikalischen zur Musik überredet. Das mag ein Einwand
sein für Esoteriker und Aristokraten der Kunst- aber wenn unter
den Unmusikalischen sich nun Menschen und Artisten wie Bau-
delaire befinden? Für Baudelaire war die Begegnung mit Wagner
einfach die mit der Musik. Er war unmusikalisch, er schrieb es
selbst an Wagner, daß er nichts von der Musik versteheundnichts
gekannt habe als ein paar schöne Stücke von Weber und Beetho-
ven. Und nun eine Hingerissenheit, die ihm den Ehrgeiz eingab,
mit der Sprache zu musizieren, mit ihr allein es Wagner gleichzu-
tun, was weitgehende Folgen für die französische Lyrik gehabt
hat. Solche Erweckte und Proselyten kann eine uneigentliche, eine
Laienmusik sich gefallen lassen; mancher Strenge könnte sie um
solche beneiden, und nicht nur um sie. In dieser exoterischen
Musik gibt es Dinge von einer Genialität und Herrlichkeit, durch
die solche Unterscheidungen der Lächerlichkeit verfallen. Das
Schwanenmotiv aus >Lohengrin< und >Parsifal<; die Sommer-
mondnachtklänge am Schlusse des zweiten Meistersingeraktes
und das Quintett im dritten; die As-Dur-Partie im zweiten Akt
von >Tristan und Isolde< und Tristans Vision der übers Meer
schreitenden Geliebten; die Karfreitagsmusik im >Parsifal< und die
gewaltige Verwandlungsmusik im dritten Akt dieses Werkes; der
herrliche Zwiegesang zwischen Siegfried und Brünnhilde zu An-
fang der >Götterdämmerung< mit der volksliedhaften Intonation
»Willst du mir Minne schenken« und dem hinreißenden» Heil dir,
Brünnhild', prangender Stern!«; gewisse Partien aus der Venus-
berg-Bearbeitung der Tristan-Zeit,- das sind Eingebungen, vor
denen die absolute Musik selbst vor Neid erblassen oder vor
Entzücken erröten könnte. Und dabei ist es Zufall und Willkür,
daß ich gerade sie nenne. Eb~nsogut könnte ich andere anführen
oder an die erstaunliche Kunst erinnern, die Wagner im Abbiegen,
Verändern und Umdeuten eines im musikalischen Verlauf schon
gegebenen Motivs bewährt, wie es etwa im Vorspiel zum dritten
Akt der >Meistersinger< mit Hans Sachsens Schusterlied geschieht,
das uns aus der Humoristik des zweiten Aktes als derber Band-
werkssang bekannt war und nun bei seiner Wiederkehr in diesem
Vorspiel zu ungeahnter Poesie verklärt wird. Oder man denke an
die rhythmische und klangliche Umgestaltung und Neuaus-
legung, die das sogenannte Glaubensmotiv, schon aus den Anfän-
gen der Ouvertüre bekannt, oftmals im Laufe des >Parsifal<

79
und zuerst in der großen Erzählung des Gurnemanz erfährt. Es
ist schwer, von diesen Dingen zu sprechen, wenn einem nur das
Wort zu Verfügung steht, um sie heraufzurufen. Warum wird,
indem ich von Wagners Musik rede, gerade eine solche Einzel-
heit, eine bloße Arabeske, mir im Ohre wach wie die technisch
leicht beschreibbare und im Grunde doch unbeschreibliche
Hornfigur, die in der Totenklage für Siegfried das Liebesmotiv
seiner Eltern harmonisch vorbereitet? Man weiß in solchen
Augenblicken kaum zu unterscheiden, ob es Wagners beson-
dere und persönliche Kunst oder die Musik selbst ist, die man
bewundert und die es einem so antut. Mit einem Wort, es ist
himmlisch - man schämt sich eines Wortes nicht, wie es so
feminin und schwärmerisch eben nur die Musik einem auf die
Lippen zu zwingen vermag. -
Der allgemeine seelische Charakter von Wagners Musik hat etwas
pessimistisch Schweres, langsam Sehnsüchtiges, im Rhythmus
Gebrochenes und aus dunklem Wirrsal nach Erlösung im Schö-
nen Ringendes; es ist die Musik einer beladenen Seele, nicht
tänzerisch zu den Muskeln redend, sondern ein Wühlen, Sich-
schieben und Drängen von unsüdlicher Mühsal, die Lenbachs
Mutterwitz schlagend kennzeichnete, als er eines Tages zu Wag-
ner sagte: »Ihre Musik-ach was, das ist ja ein Lastwagen nach dem
Himmelreich.«- Aber sie ist nicht nur das. über ihrer Seelen-
schwere darf man das Kecke, Stolze und Heitere nicht vergessen,
das sie ebenfalls hervorbringen kann, in den ritterlichen Themen
etwa, den Motiven Lohengrins, Stolzings und Parsifals, nicht das
Elbisch-Naturneckische und Liebliche der Rheintöchterterzette,
den parodischen Witz und gelehrten Übermut des Meistersinger-
vorspiels, auch nicht die Ländlerlustigkeit des Volkstanzes im
dritten Akt. Wagner kann alles. Er ist ein Charakteristiker ohne-
gleichen, und seine Musik als Charakterisierungsmittel verstehen,
heißt sie ohne Maß bewundern. Diese Kunst ist pittoresk, ja
grotesk und auf Distanz berechnet, wie das Theater es verlangt,
aber von einem Erfindungsreichtum auch im Kleinen, einer be-
weglichen Fähigkeit des Eingehens in die Erscheinungen, des
Redens und Gestikulierens aus ihnen heraus, die in solcher Aus-
prägung vorher nie da war. Sie triumphiert in den Einzelfiguren:
in der musikalisch-dichterischen Gestalt des Holländers etwa,
ihrer Umflossenheit von öde und Verdammtheit, ihrerverzwei-
felten Umtostheit von Meereswildnis ... In Loge's elementari-
scher Unberechenbarkeit und tückischer Anmut. Im Geblinzel
und Geknick von Siegfrieds zwergischem Pflegevater. In Heck-
messers närrischer Bosheit und Torheit. Der dionysische Schau-
So
spieler-seine Kunst, seine Künste, wenn man so will-offenbaren
sich in dieser Omnipotenz und Ubiquität der Verwandlung und
Darstellung; er wechselt nicht nur die menschliche Maske, er geht
ein in die Natur, er spricht aus Sturm und Gewitter, aus Blätter-
säuseln und Wellengeglitzer, aus Flammentanz und Regenbogen.
Alberichs Tarnkappe ist das Generalsymbol dieses Vermum-
mungsgenies und imitativen Allvermögens, das im niedrigen
Leben der Kröte, in ihrem schwammigenHüpfen und Kriechen so
wahrhaftig zu Hause ist wie im sorglos sich wiegenden Wolken-
dasein der Asen. Es ist diese charakterisierende Allmacht, die
Werke von solcher seelischen Heterogenität nebeneinander zu
stellen vermag wie die lutherisch derben und deutschen >Meister-
singer< und die todessüchtige, todestrunkene Welt des >Tristan<.
Sie sondert jedes der Werke vom anderen, entwickelt jedes aus
einem Grundlaut, der es von allen anderen unterscheidet, so daß
innerhalb des Gesamtwerkes, das doch selbst ein persönlicher
Kosmos ist, jedes Einzelwerk wiederum eine solche geschlossene
und sternenhafte Einheit bildet. Es gibt musikalische Berührun-
gen und Verbindungen zwischen ihnen, in denen die organische
Einheit des Ganzen sich andeutet. Im >Parsifal< IaufenMeistersin-
gerakzente unter; in der Musik des >Holländer< sind Antizipatio-
nen aus dem >Lohengrin< erlauschbar und in seinem Text solche
Vordeutungen auf die religiöse Verzücktheit der Parsifalsprache
wie die Worte »Ein heil'ger Balsam meinen Wunden- Dem
Schwur, dem hohen Wort entfließt«; im christlichen •Lohengrin<
ergeben die in Ortrud personifizierten heidnischen Rückstände
seiner Sphäre schon Nibelungenklänge. Im ganzen aber ist jedes
Werk auf .eine Art stilistisch gegen die übrigen abgesetzt, die das
Geheimnis des Stiles als Kern der Kunst und fast als die Kunst
selbst sichtbar und fühlbar macht: es ist das Geheimnis der
Vermählung des Persönlichen mit dem Sachlichen. Wagner ist in
jedem Werk ganz er selbst, und jeder Takt darin kann nurvon ihm
sein, zeigt seine unverwechselbare persönliche Formel und Hand-
schrift. Und doch ist jedes zugleich besonders undeinestilistische
Welt für sich, das Produkt einer sachlichen Einfühlsamkeit, die
der persönlichen Eigenwilligkeit die Waage hält und sich rein in
ihr aufhebt. Das stärkste Wunder in diesem Betracht ist vielleicht
das Werk des Siebzigjährigen, der >Parsifal,, der im Erkunden und
Zum-Reden-Bringen entlegener schauerlicher und heiliger Wel-
ten etwas Äußerstes leistet- trotz >T ristan und Isolde< das extrem-
ste unter Wagners Werken und Zeugnis von einer seelisch-stilisti-
schen Anpassungsfähigkeit, die selbst das bei ihm gewohnte Maß
zum Schluß noch überbietet, voll von Lauten, denen man mit
immer neuer Beunruhigung, Neugier und Verzauberung nach-
hängt.
»Eine üble Geschichte das!<< schreibt Wagner im Mai 1859 aus
Luzern, mitten aus der verzehrenden Arbeit am dritten Akt des
>Tristan< heraus, die ihm zu der längst erschauten und entworfe-
nen Figur des Amfortas neue Aufregung bringt. »Eine üble
Geschichte! Denken Sie um des Himmels willen, was da los ist!
Mir ward es plötzlich schrecklich klar: Amfortas ist mein Tristan
des dritten Aktes mit einer undenklichen Steigerung.« -Diese
»Steigerung« ist das unwillkürliche, auf Selbstverwöhnung beru-
hende Lebens- und Wachstumsgesetz seiner Produktion. An den
Qual- und Sündenzerknirschungsakzenten des Amfortas hat er
sein Leben lang geübt. Sie sind schon da in Tannhäusers »Ach,
schwer drückt mich der Sünden Last!«, sie sind im >Tristan< ein
scheinbares Nonplusultra an zerreißendem Ausdruck geworden,
aber im >Parsifal< werden sie, wie er mit Schrecken erkennt, zu
überbieten sein, eine »undenkliche Steigerung« erfahren müssen.
Es handelt sich um ein Auf-die-Spitze-Treiben von Akzenten, zu
denen unbewußt immer stärkere und tiefere Anlässe und Situatio-
nen gesucht werden. Die Stoffe, die Einzelwerke sind Stufen und
sich übersteigernde Abwandlungen einer Einheit des in sich
geschlossenen und sphärenrunden Lebenswerkes, das >sich ent-
wickelt<, aber gewissermaßen von Anfang an da ist. Damit hängt
die Verschachtelung, das Ineinander der Konzeptionen zusam-
men, die es mit sich bringt, daß ein Künstler dieser Art und
geistigen Form es niemals nur mit dem Werk, der Aufgabe zu tun
hat, woran er gerade arbeitet, sondern daß gleichzeitig noch alles
andere mit auf ihm liegt und den produktiven Augenblick belastet.
Etwas scheinbar (nur halb scheinbar) Planmäßiges, Lebensplan-
mäßiges tritt hervor, derart, daß Wagner im Jahre 1862, während
der Komposition der >Meistersinger<, in einem Brief an Bülow aus
Biebrich mit aller Bestimmtheit voraussagt, der >Parsifal< werde
sein letztes Werk sein, rund zwanzig Jahre, bevor er zur Ausfüh-
rung kommt. Denn vorher ist ja der >Siegfried<, in den >Tristan<
und >Meistersinger< eingelegt werden, und die ganze >Götterdäm-
merung< aufzuarbeiten, damit die Lücken des Werkplanes gefüllt
seien. Am >Ring< hat er während des ganzen >Tristan< zu tragen, in
den von Anfang an der >Parsifal< hineinspricht. Dieser ist auch
während der lutherisch gesunden >Meistersinger< gegenwärtig
und wartet tatsächlich seit dem Jahre der DresdnerUraufführung
des >Tannhäuser<, 1845. Ins Jahr 1848 fällt der Prosaentwurf, der
den Nibelungenmythus zum Drama verdichtet, die Niederschrift
von >Siegfrieds Tod<, woraus die >Götterdämmerung< werden soll.
82
Dazwischen aber ist I 846 bis I 847 der> Lohengrin< entstanden und
schon die Handlung der >Meistersinger< skizziert, die ja als Satyr-
spiel und humoristisches Gegenstück zu >Tannhäuser< gehören.
Diesevierziger Jahre, in deren Mitte er zweiunddreißig Jahre alt
wird, bringen eigentlich vom >Holländer< bis zum >Parsifal< den
ganzen Arbeitsplan seines Lebens geschlossen zusammen, der in
den folgenden vier Jahrzehnten, bis I 88 I, ineinander verschach-
telt, in gleichzeitiger innerer Arbeit an allem ausgeführt wird. Sein
Werk hat, genaugenommen, keine Chronologie. Es entsteht zwar
in der Zeit, ist aber von vorhinein und auf einmal da. Das letzte, als
solches weit im voraus erkannt, ausgeführt mit neunundsechzig
Jahren, ist auch insofern Erlösung, als es Ende, Ausgang und
Vollendung bedeutet und nach ihm nichts mehr kommt; die
Arbeit des alten Mannes daran, eines Künstlers, der sich ganz
ausgelebt hat, ist eben nur noch Arbeit hieran,- es ist vollbracht,
das Riesentagwerk, und ein Herz, das unter extremen Zumutun-
gen siebzig Jahre ausgehalten hat, kann in einem letzten Krampf
stillestehen.

Diese Schöpfungslast nun liegt auf Schultern, die keineswegs die


eines Christephorus sind, einer Konstitution, so hinfällig dem
Anschein und dem subjektiven Befinden nach, daß niemand es
gewagt hätte, ihr zuzutrauen, sie werde lange aushalten und
eine solche Bürde zum Ziele tragen. Es ist eine Natur, die sich
jeden Augenblick am Rande der Erschöpfung fühlt und die
Erfahrung des Wohlseins nur als Ausnahme kennt. Konstipiert,
melancholisch, schlaflos, allgemein gepeinigt, ist dieser Mensch
mit dreißig Jahren in einem Zustande, daß er sich oft nieder-
setzt, um eine Viertelstunde lang zu weinen. Er wird die Voll-
endung des >Tannhäuser< nicht erleben, er kann es nicht glau-
ben. Mit sechsunddreißig die Ausführung des Nibelungenpla-
nes zu unternehmen, dünkt ihn vermessen, und als er vierzig ist,
»denkt er täglich an den Tod«, - er, der mit fast siebzig den
>Parsifal< schreiben wird.
Es ist ein Nervenleiden, das ihn martert, eine jener organisch
ungreifbaren Krankheiten, die ihren Mann durch dieJahrenarren
und ihm das Leben unmöglich zu machen drohen, ohne >lebensge-
fährlich< zu sein. Zu glauben, daß sie es nicht sind, fällt ihrem
Opfer aus guten Gründen sehr schwer, und mehr als eine Stelle in
Wagners Briefen bekundet seine Überzeugung, daß er ein Kind
des Todes ist. »Meine Nerven«, schreibt er mit neununddreißig
Jahren seiner Schwester, »sind bereits in voller Abzehrung begrif-
fen: vielleicht gelingt es einer äußeren Wendung meiner Lebens-
8J
lage, den Tod mir künstlich noch einige Jahre abzuhalten: dies
könnte aber nur eben dem Tode gelten, mein Sterben kann es nicht
mehr aufhalten.« Und in demselben Jahre: »Ich bin sehrnerven-
krank und habe nach mancherlei Versuchen zu radikalen Heilun-
gen auch keine Hoffnung mehr auf Genesung ... Meine Arbeit ist
alles, was mich aufrechterhält: schon sind aber meine Gehirnner-
ven so ruiniert, daß ich nie über zwei Stunden täglich zur Arbeit
verwenden kann, und auch diese gewinne ich nur dann, wenn ich
nach der Arbeit mich neue zwei ausstrecken und endlich ein wenig
schlafen kann.«- Zwei Stunden täglich. In so kleinen Tagwerken
ist also, zuzeiten wenigstens, dies gigantische Lebenswerk aufge-
schichtet, im Kampf mit einer jedesmal rasch erschöpften Kraft,
Geschenk einer elastischen Zähigkeit, aus der sich die schnell
abgesunkene Energie kurzfristig immer wieder erneuert und
deren moralischer Name Geduld lautet. »Die echte Geduld zeugt
von großer Elastizität«, notiert N ovalis; und Schopenhauer preist
die Geduld als die wahre Tapferkeit. Es ist diese körperlich-
moralische Einheit von Elastizität, Geduld und Tapferkeit, die
diesen Mann seine Sendung vollenden läßt; und nicht leicht ist an
einem anderen Künstlerleben die eigentümliche vitale Konstitu-
tion des Genies, diese Mischung aus Sensibilität und Kraft, Zart-
heit und Ausdauer so gut zu studieren - diese Mischung des
Trotzdem und der Selbstüberraschungen, aus der die großen
Werke kommen und die begreiflicherweise mit der Zeit das
Gefühl des Hingehaltenseins durch eine eigenwillige Aufgabe
erzeugt. Ja, es ist schwer, hier nicht an einen metaphysischen
Eigenwillen des Werkes zu glauben, das nach Verwirklichung
strebt und dem das Leben seines Erzeugers nur Werkzeug und
freiwillig-unfreiwilliges Opfer ist. »In Wahrheit, man befindet
sich elend, aber man befindet sich.« Das ist so ein Ausruf kopf-
schüttelnder und desperater Selbstverspottung aus Wagners Brie-
fen. Und er verfehlt nicht, einen Kausalnexus zwischen seinem
Leiden und seinem Künstlerturn herzustellen, Kunst und Krank-
heit als ein und dieselbe Heimsuchung zu begreifen - mit dem
Ergebnis, daß er zu echappieren versucht, und zwar naiverweise
vermittelst einer Kaltwasserkur. "Vor einem Jahr«, schreibt er,
"befand ich mich in einer Wasserheilanstalt, mit der Absicht, ein
ganz und gar sinnlich gesunder Mensch werden zu wollen. Mei-
nem Wunsch lag im geheimen die Gesundheit vor, die es mir
möglich machen sollte, der Marter meines Lebens, der Kunst,
gänzlich ledig zu werden; es war ein letztes verzweifeltes Ringen
nach Glück, nach wirklicher, edler Lebensfreude, wie sie nurdem
bewußten Gesunden beschieden sein kann.«
Was für eine kindlich-wirre und ergreifende Äußerung! Mit
kaltem Wasser will er sich von der Kunst kurieren, das heißt von
der Konstitution, die ihn zum Künstler macht! Sein Verhältnis zur
Kunst, seinem Schicksal, ist von einer kaum zu entwirrenden
Kompliziertheit, höchst widerspruchsvoll verwickelt, zuweilen
scheint er wie in einem logischen Netz darin zu zappeln. »Und so
etwas soll ich noch machen?« ruft der Sechsundvierzigjährige,
nachdem er sich bewegt über die seelischen und symbolischen
Inhalte des Parsifalplanes ergangen. »Und gar noch Musik dazu
machen? -Bedanke mich schönstens! Das kann machen, wer Lust
hat; ich werde mir's bestens vom Halse halten!«- Manhöreden
Tonfall femininer Koketterie in diesen Worten, voll von zittern-
der Begier nach dem Werk, voll von dem Wissen »Du mußt« und
wollüstiger Abwehr! Der Traum, von der Kunst loszukommen,
leben zu dürfen, statt schaffen zu müssen, glücklich zu sein, kehrt
immer wieder in seinen Briefen; das Won »Glück«, »edles
Glück«, »edler Lebensgenuß« zieht sich als Gegensatzbegriff zum
Künstlerdasein hindurch, zusammen mit der Auffassung der
Kunst als eines Ersatzmittels für jede Genußunmittelbarkeit. An
Liszt schreibt der Neununddreißigjährige: »Mit mir geht es von
Tag zu Tag einem tieferen Verfalle zu: ich lebe ein unbeschreiblich
nichtswürdiges Leben! Vom wirklichen Genusse des Lebens
kenne ich gar nichts: für mich ist •Genuß des Lebens, der Liebe<«
(diese Unterstreichung ist von ihm) »nur ein Gegenstand der
Einbildungskraft, nicht der Erfahrung. So mußte mir das Herz in
das Hirn treten, und mein Leben nur noch ein künstliches werden:
nur noch als >Künstler< kann ich leben, in ihm ist mein ganzer
>Mensch< aufgegangen.« -Man muß gestehen, daß die Kunst nie
mit krasseren Worten und mit verzweifelterer Offenheit als
Rauschmittel, Haschisch, Paradis artificiel gekennzeichnet wor-
den ist. Und es gibt Anfälle toller Revolte gegen dies künstliche
Dasein, so wenn er an Liszt von seinem vierzigsten Geburtstage
schreibt: »Da will ich mich neu taufen lassen: möchtest Du nicht
Pate sein? - Ich wollte - wir beide machten uns dann von hier
strikte auf, um in die weite Welt zu gehen! ... Komm mit mir in die
weite Welt: wär' s auch, drin flott zugrunde zu gehen, in irgendei-
nem Abgrunde lustig zu zerschellen!«- Man denkt an Tannhäu-
ser, der Wolfram umklammen hält, ihn mit sich in den Venusberg
zu ziehen,- denn wirklich sind hier die Welt, das> Leben< von einer
Phantasie der Entbehrung vollkommen als Venusberg, als Stätte
eines radikal boberneohaften »Je m 'en fichisme« und des Z ugrun-
degehens in toller Lust gedacht, kurz: alles dessen, wofür die
Kunst ihm »nichtswürdiger« Weise Ersatz bieten muß.
Daneben aber, oder vielmehr in sonderbarer Verschränkung da-
mit, erscheint diese ihm in einem ganz anderen Licht: als Mittel der
Erlösung nämlich, als Quietiv, als Zustand reiner Anschauung
und Willenlosigkeit, denn so hat die Philosophie sie ihn zu sehen
gelehrt, und mit der geistigen Gutwilligkeit und Lernbereitschaft
des Künstlerkindes möchte er ihr folgen. Oh, er ist Idealist! Das
Leben hat seinen Sinn nicht in sich selbst, sondern in Höherem,
der Aufgabe, dem Schaffen, und »so immer und ewig im Kampf
für die Herbeischaffung des Nötigen zu sein«, wie er es ist, »Oft
ganze lange Zeitperioden gar nichts anderes bedenken zu dürfen,
als wie ich es anzufangen habe, um für eine kurze nächste Zeit mir
Ruhe nach außen und das Erforderliche für das Bestehen zu
erschwingen und hierzu so ganz aus meiner eigentlichen Gesin-
nung treten zu müssen, denjenigen, durch die ich mich versorgen
will, ein ganz anderer erscheinen zu müssen, als ich bin, - das ist
doch eigentlich empörend ... Alle diese Sorgenstehen demjenigen
so gut und natürlich an, dem eben das Leben Selbstzweck ist, und
der in der Sorge für die Herbeischaffung des Nötigen gerade die
Würze für den imaginärenGenuß des endlich Beschafften findet:
deshalb kann auch im Grunde niemand recht begreifen, warum
unsereinem das so absolut widerwärtig ist, da es doch das Los und
die Bedingung für alle ist. Daß jemand einmal das Leben eben
nicht als Selbstzweck ansieht, sondern als unerläßliches Mittel für
einen höheren Zweck, wer begreift das so recht innig und klar?«
(Brief an Mathilde Wesendonck aus Venedig, Oktober 18 58).- In
der Tat, das ist schändlich und höchst entwürdigend, so um das
Leben kämpfen und dafür betteln gehen zu müssen, wenn man das
Leben gar nicht meint, sondern seinen höheren, über und außer
ihm gelegenen Zweck: die Kunst, das Schaffen, für das man sich
Ruhe und Frieden erkämpfen muß und das selbst im Lichte der
Ruhe und des Friedens erscheint. Ist aber die Freiheit zum Eigent-
lichen, zur Arbeit, deren Bedingungen ziemlich anspruchsvoll
sind, mit Mühe und Not gewonnen, so setzt erst die eigentliche
und höhere Willensfron ein, die produktive, der Kampf der
Kunst, über deren Wesen er sich im niederen Kampf um das Leben
philosophischen Täuschungen hingab, da sie keineswegs erlö-
sende Erkenntnis und reine »Vorstellung«, sondern höchster
Willenskampf, erst recht und in Wahrheit das »Rad des lxion «ist.
Reinheit und Frieden - in seiner Brust lebt, komplementär zu
seinem Lebensdurst, ein tiefes Verlangen nach ihnen, und sobald
es, im Rückschlag auf sein vergebliches Trachten nach direktem
Genuß, dominiert, erscheint ihm die Kunst - das ist eine neue
Komplikation seines Verhältnisses zu ihr- als das Hindernis des
86
Heils. Es ist die Tolstoi'sche Verwerfung der Kunst, seine grau-
same Verneinung der eigenen Naturgabe um des >Geistes< willen,
die sich hier verwandt~chaftlich wiederholt. Ach, die Kunst! Wie
recht hatte Buddha, sie als den allerbestimmtesten Abweg vom
Heil zu bezeichnen! Es ist ein langer, stürmischer Brief an die
Wesendonck aus Venedig, vom Jahre 1 858, worin er der Freundin
dies auseinandersetzt, nachdem er ihr von seinem Plan eines
buddhistischen Dramas >Die Sieger< erzählt. Buddhistisches
Drama, da eben liegt der Haken. Es ist eine contradictio in adjecto
- das ist ihm klar. geworden angesichts der Schwierigkeit, den
vollkommen befreiten, aller Leidenschaft enthobenen Menschen,
den Buddha eben, für die dramatische und namentlich musikali-
sche Darstellung brauchbar zu machen. Das Reine, Heilige, durch
Erkenntnis Pazifiziene ist künstlerisch tot, Heiligkeit und Drama
sind nicht zu vereinen, das ist klar. Und es ist ein Glück, daß
<;::akyamuni-Buddha den Quellen zufolge v:or ein letztes Problem
gestellt, in einen letzten Konflikt verwickelt wird: er hat sich zu
dem Entschlusse durchzuringen, das Tschandalamädchen Sawitri
gegen seine bisherigen Grundsätze in die Gemeinschaftder Heili-
gen aufzunehmen. Gottlob, er wird dadurch zu einem möglichen
Objekt der Kunst. Wagner freut sich- und im gleichen Augen-
blick fällt ihm die Lebensverbundenheit der Kunst, die Erkennt-
nis ihrer Verführermacht schwer aufs Gewissen. Hat er sich nicht
dabei ertappt, das Drama zu wollen und nicht die Heiligkeit?
Ohne die Kunst könnteer-ein Heiliger sein, mit ihrwird er's nie.
Das höchste Wissen, die tiefste Einsicht, wenn sie ihm zuteil
würden, sie würden ihn immer nur wieder zum Dichter, zum
Künstler machen; in seelenvoller Anschaulichkeit würden sie vor
ihm stehen als entzückendes Bild, das schöpferisch auszuführen er
nicht umhinkönnen würde. Ja, mehr noch: an dieser teuflischen
Antinomie hat er gleich noch einmal Gefallen! Sie ist abscheulich,
aber sie ist bezaubernd interessant, - gleich möchte man eine
psychologisch-romantische Oper daraus machen, was Wagner
denn auch in dem Brief an Frau Wesendonck schon so ziemlich
tut. Dieser Brief ist der Entwurf zu einer solchen. Goethe konsta-
tien: "Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst,
und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.«
Man sehe, was aus der gelassen dankbaren Feststellung im Kopf
eines Romantikers wird!
Aber wie es nun stehe mit der Kunst, welch ein Betrug um
wahrhaftes Sinnenglück und um das Heil zugleich sie nun sei -das
Werk, dank elastischer Kräfte, die er im stillen bewundern muß,
schreitet unaufhaltsam fon; die Partituren häufen sich, und das ist
die Hauptsache. Dieser Mensch weiß so wenig wie wir alle, wie
richtig zu leben wäre; er wird gelebt, und das Leben erpreßt von
ihm, was es haben will, seinWerk nämlich, unbekümmert darum,
in welchen Gedankennetzen er sich windet: »Kind! Dieser >Tri-
stan< wird was Furchtbares! Dieser letzte Akt!!! Ich fürchte, die
Oper wird verboten- falls durch schlechte Aufführung nicht das
Ganze parodiert wird-; nur mittelmäßige Aufführungen können
mich retten! Vollständig gutemüssen die Leute verrückt machen-
ich kann mir's nicht anders denken. So weit hat's noch mit mir
kommen müssen!! 0 weh!- Ich war eben im vollsten Zuge!
Adieu!« Ein Zettel an die Wesendonck. Ein unbuddhistischer
Zettel, erfüllt von phantastisch-erschrockenem Gelächter über
die lebenstolle Verruchtheit dessen, was er da treibt. Gewaltige
Ressourcen von guter Laune, von unverwüstlicher Lebens-
schnellkraft finden sich in diesem mürben Melancholiker, dessen
Krankheit eben nur eine unbürgerliche Abart der Gesundheit ist.
W eieher vitale Zauber muß ausgegangen sein von dem Menschen,
dessen persönlichen Umgang Nietzsche nicht aufhörte das eine
große Glückserlebnis seiner Tage zu nennen! Vor allem fehlt es
nicht an der unschätzbaren Fähigkeit, das Pathos beiseite zu
werfen und sich der Banalität zu überlassen; nach getanem hoch-
gespannten Tagewerk den Eintritt menschlicher Fidelitas zu er-
klären, wie er es in Bayreuth mit dem stehenden Ausruf: »Nun
aber kein ernstes Wort mehr!« unter seinen Künstlern zu tun
pflegt, diesem Theatervölkchen, das er zur Verwirklichung seines
Werkes braucht und mit dem er sich, selbst Theaterblut durch und
durch, ein guter Kamerad vom Thespiskarren, trotz großen Ab-
standes im Geistigen, vortrefflich versteht. Seinschlichter Freund
Hecke! aus Mannheim, der erste Aktionär von Bayreuth, weiß
Prächtiges darüber zu berichten. »Sehr oft«, schreibt er,
»herrschte im persönlichenVerkehr zwischenWagnerund seinen
Künstlern heitere Ausgelassenheit. Bei der letzten Clavierprobe
im Saale des Hotels •Sonne< stellte er sich tatsächlich aus Obermut
auf den Kopf«- Das erinnert wieder an Tolstoi- ich meine die
Szene, wo der greise Prophet und betrübte Christ seinem Schwie-
gervater Behrs aus purem vitalen Übermut auf die Schulter turnt.
Man ist Künstler, so gut wie die Tenöre und Theaterlerchen, die
einen >Meister< nennen - das heißt: ein im Grunde lustiger und
zum Belustigen gewillter Mensch, ein Veranstalter von Unterhal-
tungen und Lebensfesten -, in tiefem und der Gesundheit sehr
zuträglichem Gegensatz hierin zum erkennenden, wissenden und
richtenden Menschen, zum Menschen des absoluten Ernstes
gleich Nietzsche. Es ist ratsam einzusehen, daß der Künstler, auch
88
der in den feierlichsten Regionen der Kunst angesiedelte, kein
absolut ernster Mensch ist, daß es ihm um Wirkung, um hohe
Vergnüglichkeit zu tun ist und daßTragödieund Posse aus ein und
derselben Wurzel kommen. Eine Beleuchtungsdrehung verwan-
delt die eine in die andere; die Posse ist ein geheimes Trauerspiel,
die Tragödie- zuletzt- ein sublimer Jux. Der Ernst des Künstlers
-ein nachdenkliches Kapitel. Auch anstößig kann man es finden:
sofern nämlich der geistige, der Wahrheitsernstdes Künstlermen-
schen in Frage steht, denn der künstlerische, der berühmte >Ernst
im Spiel<, steht außer Frage, -diese reinste und rührendste Form
menschlichen Hochsinns. Aber was ist von jenem anderen zu
halten, von dem Ernste zum Beispiel des W ahrheitssuchers, des
Denkers und Bekenners Richard Wagner? Durch die asketisch-
christlichen Ideen und Lehrmeinungen seines Alters, diese
Abendmahlsphilosophie der Heiligung durch Enthaltung vom
»Fleischgenuß« in jedem Sinne des Wortes- durch diese Gesin-
nungen und Erkenntnisse, deren >Ausdruck< das Parsifalwerk ist,
und durch den >Parsifal, selbst -, wird unleugbar der Sinnlich-
keitsrevolutionarismus von Wagners jungen Tagen, der die At-
mosphäre, den Gesinnungsgehalt des >Siegfried< bildet, von
Grund aus dementiert, durchstrichen und widerrufen. Es gibt ihn
nicht mehr, es dürfte ihn nicht mehr geben. Wäre es dem Künstler
im geistigen Sinne ernst mit den neuen, späten und doch wohl
endgültigen Wahrheiten, so müßten die Werke der früheren
Epoche, da sie als irrtümlich, sündig, verderblich erkannt sind,
verleugnet und getilgt, von ihres Schöpferseigner Hand verbrannt
werden, um nie wieder die Menschheit ihren das Heil verhindern-
den Wirkungen auszusetzen. Aber er denkt nicht daran. Er
kommt tatsächlich nicht einmal auf den Gedanken! Wer wollte so
schöne Werke zerstören? Alles bleibt nebeneinander bestehen
und wird weitergespielt, denn der Künstler ehrt seine Biographie.
Er gibt sich den verschiedenen physiologischen Stimmungen der
Lebensalter hin und stellt sie in Werken dar, die einander geistig
widersprechen, die aber alle schön und erhaltenswert sind. Neue
>Wahrheits<-Erlebnisse bedeuten dem Künstler neue Spielreize
und Ausdrucksmöglichkeiten, weiter nichts. Er glaubt genau so
weit an sie- er nimmt siegenauso weit ernst-, als es erforderlich
ist, um sie zum höchsten Ausdruck zu bringen und den tiefsten
Eindruck damit zu machen. Es ist ihm folglich sehr ernst damit, zu
Tränen ernst,- aber nicht ganz, und also gar nicht. Sein künstleri-
scher Ernst ist >Ernst im Spiel< und absoluter Natur. Sein geistiger
ist nicht absolut, denn er ist Ernst zum Zwecke des Spiels. Unter
Kameraden ist der Künstler denn auch derart bereit, seine Feier-
lichkeit zu verspotten, daß Wagner die Parsifaldichtung an Nietz-
sche mit der Eintragung schicken konnte: »Richard Wagner,
Oberkirchenrat.« Aber Nietzsche war kein Künstler-Kamerad;
ein so gutmütig augenblinzelndes Entgegenkommen vermochte
nicht seinen tödlich-grämlichen, seinen absoluten Ernst versöhn-
lich zu stimmen gegen die römelnde Christlichkeit eines Spielpla-
nes, von dem er doch sagte, er sei eine höchste Herausforderung an
die Musik. Wenn Wagner kindisch war und eine Brahmspartitur
wütend vom Flügel hinunterschmiß, so war eine solche Eskapade
von Künstlereifersucht und Alleinherrschaftswillen ein tiefer
Schmerz für Nietzsche, und er sagte: »In diesem Augenblick war
Wagner nicht groß!« Wenn Wagner sich im Trivialen erholte,
dalberte und sächsische Anekdoten erzählte, so wurde Nietzsche
rot für ihn - und wir verstehen seine Scham über eine solche
Behendigkeit im Wechsel des Niveaus, obgleich etwas in uns- es
mag unser Künstlerturn sein - uns rät, sie nicht zu gut zu ver-
stehen.

Die Bekanntschaft mit der Philosophie Arthur Schopenhauers ist


das große Ereignis im LebenWagners; keine frühere intellektuelle
Begegnung, etwa die mit Feuerbach, kommt dieser an persönli-
cher und historischer Bedeutung gleich: denn sie bedeutete höch-
sten Trost, tiefste Selbstbestätigung, geistige Erlösung für den,
dem sie in so vollkommenem Sinne >zukam<, und sie hat ohne
Zweifel erst seiner Musik den entfesselnden Mut zu sich selbst
gegeben. Wagner glaubte wenig an die Wirklichkeit der Freund-
schaft; die Schranken der Individuation, die die Seelen trennen,
machten in seinen Augen, nach seiner Erfahrung, die Einsamkeit
unüberwindbar, volles Verstehen unmöglich. Hier fühlte er sich
verstanden und verstand vollkommen: »Mein Freund Schopen-
hauer.«- »Ein Himmelsgeschenk in meine Einsamkeit.«- »Aber
einen Freund habe ich«, schreibt er, »den ich immer von neuem
lieber gewinne. Das ist mein alter, so mürrisch aussehender und
doch so tief liebevoller Schopenhauer! Wenn ich mit meinem
Fühlen am weitesten und tiefsten geraten bin, welche ganz einzige
Erfrischung, beim Aufschlagen jenes Buches mich plötzlich so
ganz wieder zu finden, so ganz verstanden und deutlich ausge-
drückt zu sehen, nur eben in der ganz anderen Sprache, die das
Leiden schnell zum Gegenstande des Erkennens macht ... Das ist
eine ganz wundervolle Wechselwirkung und ein Austausch der
allerbeglückendsten Art: und immer ist diese Wirkung neu, weil
sie immer stärker ist ... Wie schön, daß der alte Mann gar nichts
davon weiß, was er mir ist, was ich mir durch ihn bin.«
90
Das Glück eines solchen Wiedererkennens ist unter produktiven
Menschen nur möglich, wo verschiedene Sprachen geredet wer-
den; sonst wird es zur Katastrophe, zum tödlichen Falle des >Er
oder ich<. In einer Beziehung wie dieser, von einer Kategorie zur
anderen, von der Gestalt zum Gedanken, ist alle Eifersucht
aufgehoben, die sonst das Nebeneinander, die Duplizität der
seelischen Fälle erzeugt. Das »Pereant qui ante nos nostra dixe-
runt« gilt nicht mehr, auch nicht die Goethe'sche Künstlerfrage:
»Lebt man denn, wenn andere leben?« Im Gegenteil,.daß der
andere lebt, ist Hilfe in der Not, selig-unverhoffte Bekräftigung
und Erläuterung des eigenen Seins. Niemals wahrscheinlich in
aller Seelengeschichte hat die Bedürftigkeit des dunklen, des
getriebenen Menschen, des Künstlers nach geistiger Stütze, nach
Rechtfertigung und Belehrung durch den Gedanken eine so wun-
dervolle Befriedigung erfahren, wie es diejenige war, die Wagner
durch Schopenhauer zuteil wurde.
>Die Welt als Wille und Vorstellung<- wieviel Erinnerung an
eigenen jugendlichen Geistesrausch, an eigenes Empfängnisglück
voller Melancholie und Dankbarkeit kommt herauf beim Gedan-
ken an die Verbindung des Wagnerwerkes mit diesem weit-
kritisch-weltordnenden Buch, dieser Erkenntnis-Dichtung und
Künstlermetaphysik von Trieb und Geist, Wille und Anschau-
ung, diesem ethisch-pessimistisch-musikalischen Gedanken-
wunderbau, der so tiefe, epochale und menschliche Verwandt-
schaft aufweist mit der Tristanpartitur! Die alten Worte bieten
sich an, mit denen der Jüngling im Roman das Schopenhauer-
Erlebnis seines bürgerlichen Helden beschrieb: »Eine unge-
kannte, große und dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er emp-
fand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig
überlegenes Gehirn sich des Lebens, dieses so starken, grausamen
und höhnischen Lebens, bemächtigt, um es zu bezwingen und zu
verurteilen ... die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte
und Härte des Lebens sein Leiden beständig schamvoll und bösen
Gewissens versteckt hielt und plötzlich aus der Hand eines Gro-
ßen und Weisen die grundsätzliche und feierliche Berechtigung
erhält, an der Welt zu leiden - dieser besten aller denkbaren
Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die
schlechteste aller denkbaren sei.« Sie steigen wieder empor, die
alten Dankes- und Verherrlichungsworte, die einer für immer
nachzitternden geistigen Beglückung gelten, diesem nächtlichen
Erwachen aus kurzem, tiefem Schlaf, einem Aufwachen, jäh und
köstlich erschrocken, im Herzen den Keim einer Metaphysik, die
das Ich als Täuschung, denTodals Befreiung aus seiner U nzuläng-
91
lichkeit, die Welt als Produkt des Willens und als sein ewiges
Eigentum erweist, solange er sich nicht in Erkenntnis selbst
verneint und aus dem Wahn zum Frieden findet. Das ist der
Nachsatz, die angefügte Weisheits- und Heilslehre einer Willens-
philosophie, die mit Friedensweisheit und Ruhe ihrer Konzeption
nach wenig zu tun hat- einer Konzeption, die nurvon einer durch
Unbändigkeit gequälten Willens- und Triebnatur gefaßt werden
konnte, in welcher freilich der Trieb zur Läuterung, Vergeisti-
gung, Erkenntnis ebenso stark war wie der finster drängende
Trieb - einer welterotischen Konzeption, die ausdrücklich das
Geschlecht als den Brennpunkt des Willens anspricht und den
ästhetischen Zustand als denjenigen reiner und interesseloser
Anschauung verstanden wissen will, als die einzige und vorläufige
Möglichkeit, von der Tortur des Triebes loszukommen. Aus dem
Willen, aus der Begierde wider besseres Wissen ist diese Philoso-
phie geboren, die des Willens intellektuelle Verneinungist, und so
hat Wagner, eine dem Philosophen tief und brüderlich verwandte
Natur, sie erlebt und als ganz sein eigen, ganz ihn aussprechend
mit höchster Dankbarkeit aufgegriffen. Auch seine Natur setzte
sich ja zusammen aus dunkeldrängendem und quälendemMacht-
und Genußwillen und Drang nach sittlicher Läuterung und Erlö-
sung, aus Leidenschaft und Ruhesehnsucht; und ein Gedanken-
system, das die eigentümlichste Mischung aus Pazifismus
und Heroik darstellt, das das >Glück< für Schimäre erklärt
und zu begreifen gibt, das Höchst- und Besterreichbare sei ein
heroischer Lebenslauf- wie mußte es eine Natur wie Wagner
beglücken und ihr wie von ihm selbst abgezogen, für sie geschaf-
fen erscheinen!
Man findet in wagneroffiziellenWerken allen Ernstes die Behaup-
tung, der >Tristan< sei unbeeinflußt von Schopenhauerscher Phi-
losophie. Das zeugt von sonderbarer U neinsichtigkeit. Die erzro-
mantische Nachtverherrlichung dieses erhaben morbiden, ver-
zehrenden und zaubervollen, in alle schlimmsten und hehrsten
Mysterien der Romantik tief eingeweihten Werkes ist freilich
nichts spezifisch Schopenhauerisches. Die sinnlich-übersinnli-
chen Intuitionen des >Tristan< kommen von weiter her: von dem
inbrunstvollen Hektiker Novalis, der schreibt:» Verbindung, die
auch für den Tod geschlossen ist, ist eine Hochzeit, die uns eine
Genossin für die Nacht gibt. Im Tode ist die Liebe am süßesten;
für den Liebenden ist der Tod eine Brautnacht, ein Geheimnis
süßer Mysterien.« Und der in den >Hymnen an die Nacht< klagte:
»Muß immer der Morgen wieder kommen? Endet nie des Irdi-
schen Gewalt? Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig bren-
nen ?« T ristan und Isolde nennen sich »Nachtgeweihte«- das steht
wörtlich bei Novalis: »Der Nacht Geweihte.« Und geistesge-
schichtlich noch merkwürdiger, noch bezeichnender für die Her-
kunft, den Gefühls- und Gedankengrund des T ristanwerkes sind
seine Beziehungen zu einem Büchlein von üblem Leumund, zu
Friedrich von Schlegels >Lucinde<, worin es heißt: »Wir sind
unsterblich wie die Liebe. Ich kann nicht mehr sagen, meine Liebe
oder deine Liebe, beide sind gleich und vollkommen eines, so viel
Liebe als Gegenliebe. Es ist Ehe, ewige Einheit und Verbindung
unserer Geister, nicht bloß für das, was wir diese oder jene Welt
nennen, sondern für eine wahre, unteilbare, namenlose, unend-
liche Welt, fürunser ganzes, ewiges Sein und Leben.«- Hier ist das
Gedankenbild des Todes- und Liebestrankes: »Darum würde ich
auch, wenn es mir Zeit schiene, ebenso froh und ebenso leicht eine
Tasse Kirschlorbeerwasser mit dir ausleeren wie das letzte Glas
Champagner, was wir zusammen tranken mit den Worten von
mir: >So laß uns den Rest unseres Lebens austrinken!<«- Hier ist
auch der Gedanke des Liebestodes: »Ich weiß, auch du würdest
mich nicht überleben wollen, du würdest dem voreiligen Gemahle
auch im Sarge folgen und aus Lust und Liebe in den flammenden
Abgrund steigen, in den ein rasendes Gesetz die indischen Frauen
zwingt und die zartesten Heiligtümer der Willkür durch grobe
Absicht und Befehl entweiht und zerstört.«- Hier ist die Rede von
dem »Enthusiasmus der Wollust«, was zugleich eine echt Wagne-
rische Formel ist. - Hier ist in Prosa ein erotisch-quietistischer
Lob- und Preisgesang auf den Schlaf, das Paradies der Ruhe, der
heilige Stille der Passivität, die im>Tristan< einlullendes Hornmo-
tiv und Gesang der geteilten Violinen geworden ist.- Und es war
nicht mehr und nicht weniger als ein literarhistorischer Fund, als
ich schon als junger Mensch in dem Liebesdialog zwischen Lu-
cinde und Julius die ekstatische Replik anstrich: Ȇ ewige Sehn-
sucht! -Doch endlich wird des Tages fruchtlos Sehnen, eitles
Blenden sinken und erlöschen, und eine große Liebesnacht sich
ewig ruhig fühlen« -und an den Rand schrieb: » T ristan. « Ich weiß
noch heute nicht, ob diese wörtliche Anlehnung, diese Wieder-
kehr des Gleichen als unbewußte Reminiszenz je sonst bemerkt
worden ist, - sowenig ich weiß, ob philologisch bekannt ist, daß
Nietzsche's Buchtitel >Die fröhliche Wissenschaft< aus Schlegels
>Lucinde< stammt.
Durch seinen Nachtkultus, seine Verfluchung des Tages kenn-
zeichnet der >Tristan< sich als romantisches und mit allem roman-
tischen Denken und Empfinden tief verbundenes Werk, das der
Patenschaft Schopenhauers als solches nicht bedurft hätte. Die

93
Nacht ist Heimatund Reich aller Romantik, ihre Entdeckung, im-
mer hat sie sie als die Wahrheit ausgespielt gegen das eitle Wähnen
des Tages, -das Reich der Sensibilität gegen die Vernunft. Ich
vergesse nicht, welchen Eindruck es mir machte, als ich zuerst
Linderhof, das Schloß Ludwigs des kranken und schönheitssüch-
tigen Königs, besuchte und in den Größenverhältnissen der In-
nenräume ebendiese Präponderanz der Nacht ausgedrückt fand.
Die Wohn- und Tagesräume des in wundervoller Bergeinsamkeit
gelegenen Lustschlößchens sind klein und vergleichsweise un-
scheinbar, bloße Kabinette. Nur einen Saal von verhältnismäßig
ungeheueren Maßen gibt es darin, in Gold und Seide und weitläu-
fig schwerer Pracht: das Schlafzimmer mit seinem Prunkbett
unterm Baldachin und flankiert von goldenen Kandelabern, -der
eigentliche Festsaal des Königshauses, der Nacht geweiht. Dies
betonte Dominieren der >schöneren Hälfte< des Tages, der Nacht,
ist ur- und erzromantisch; die Romantik ist darin verbunden mit
allem mütterlich-mondmythischen Kultus, der seit menschlichen
Frühwelten der Sonnenverehrung, der Religion des männlich-
väterlichen Lichtes entgegensteht; und im allgemeinen Bezie-
hungsbann dieser Welt steht Wagners >Tristan<.
Wenn nun aber die Wagnerschriftsteller erklären, >Tristan und
Isolde< sei ein Liebesdrama, das als solches die höchste Bejahung
des Willens zum Leben in sich schließe und darum nichts mit
Schopenhauer zu tun habe; wenn sie darauf bestehen, die darin
besungene Nacht sei die Nacht der Liebe, »WO Liebeswonne uns
lacht«, und solle dies Drama durchaus eine Philosophie enthalten,
so sei diese das genaue Gegenteil der Lehre von der Verneinung
des Willens, und darum eben sei das Werk unabhängig von
Schopenhauers Metaphysik, - so herrscht da eine befremdende
psychologische Unempfindlichkeit. Die Verneinung des Willens
ist der moralisch-intellektuelle Bestandteil von Schopenhauers
Philosophie, deressentiell wenig entscheidend ist. Er ist sekundär.
Sein System ist eine Willensphilosophie von erotischem Grund-
charakter, und eben sofern sie das ist, ist der >Tristan< erfüllt,
durchtränkt von ihr. Die Fackel, deren Erlöschen zu Beginn des
zweiten Aktes des Mysterienspieles im Orchester vom Todesmo-
tiv akzentuiert wird; der verzückte Ausruf der Liebenden »Selbst
dann bin ich die Welt« mit dem Sehnsuchtsmotiv aus derTiefe der
psychologisch-metaphysisch untermalenden Musik, -das sollte
nicht Schopenhauer sein? Wagner ist im >Tristan< nicht weniger
Mythepoet als im >Ring<: auch in dem Liebesdramahandelt es sich
um einen Weltentstehungsmythus. »Sehnsüchtig«, schrieb er
r86o aus Paris an Mathilde W esendonck, »blicke ich oft nach dem

94
Lande Nirwana. Doch Nirwana wird mir schnell wieder T ristan;
Sie kennen die buddhistische W eltentstehungstheorie. EinHauch
trübt die Himmelsklarheit« -und er schreibt die vier chromatisch
aufsteigenden Töne hin, mit denen sein Opus metaphysicum
beginnt und mit denen es aushaucht, das gis-a-ais-h -; »das
schwillt an, verdichtet sich, und in undurchdringlicher Massen-
haftigkeit steht endlich die ganze Weltwiedervor mir.« Es ist der
symbolische Tongedanke, den man als »Sehnsuchtsmotiv« zu
bezeichnen pflegt und der in der Kosmogonie des >Tristan< den
Anfang aller Dinge bedeutet, wie im >Ring< das Es-Dur des
Rheinmotives. Es ist Schopenhauers »Wille«, repräsentiert durch
das, was Schopenhauer den »Brennpunkt des Willens« nannte, das
Liebesverlangen. Und diese mythische Gleichsetzung des süßlei-
dig-weltschöpferischen Prinzips, das zuerst die Himmelsklarheit
des Nichts trübte, mit dem sexuellen Begehren ist dermaßen
schopenhauerisch, daß die Ableugnung der A~epten zum wun-
derlichen Eigensinn wird.
»Wie könnten wir sterben«, fragt Tristan in Wagners erstem
Entwurf, der noch nicht versifizierten Vorform der Dichtung,
»was wäre an uns zu töten, was nicht Liebe wäre? Sind wir nicht
ganz nur Liebe? Kann unsere Liebe je enden? Könnte ich die Liebe
je nicht mehr lieben wollen? Wollt' ich nun sterben, stürbe da die
Liebe, die wir ja doch nur sind?« Die Stelle zeigt die unumwun-
dene dichterische Gleichsetzung von Wille und Liebe. Diese steht
einfach für den Willen zum Leben, der im Tode nichtenden kann,
sondern frei wird aus den bedingenden Fesseln der Individuation.
Es ist übrigens von großem Interesse, wie in dem Drama der
Liebesmythus geistig festgehalten wird und vor jeder historisch-
religiösen Trübung und Störung bewahrt bleibt. Wendungen wie
»Fahr' er zur Hölle oder zum Himmel«, die noch im Entwurf
stehen, fallen bei der Ausführung weg. Das ist ohne Zweifel eine
bewußte Entfärbung vom Historischen, aber sie bleibt auf das
Geistig-Philosophische beschränkt und findet nur diesem zuliebe
statt. Sie geht bewunderungswürdigerweise zusammen mit der
intensivsten landschaftlich-rassenmäßig-kulturellen Koloristik,
einer stilistischen Spezialisierung von unglaubwürdiger Sicher-
heit des Fühlens und Könnens,- Wagners Mimikrykunst trium-
phiertnirgends geheimnisvoller als in der Stilgebung des >T ristan<,
die sich nicht aufs Sprachliche beschränkt, sich nicht in Redewen-
dungen aus dem Geist der höfischen Epik erschöpft, sondern auf
irgendeine intuitiv-geniale Weise das Keltische, eine englisch-
normannisch-französische Atmosphäre in den Wort-Ton-Kom-
plex aufzunehmen und ihn damit zu durchdringen weiß, - mit

95
einer Einfühlung, die zu erkennen gibt, wie sehr und eigentlich die
Wagnerische Seele in einer vornationalstaatliehen europäischen
Sphäre beheimatet ist. Nur im Gedanklich-Spekulativen herrscht
die Enthistorisierung und freie Vermenschlichung, im Dienste des
erotischen Mythus. Um seinetwillen werden Himmel und Hölle
ausgeschlossen. Es gibt kein Christentum, das doch als historisch-
atmosphärisch gegeben wäre. Es gibt überhaupt keine Religion.
Es gibt keinen Gott, - niemand nennt ihn, ruft ihn an. Es gibt
ausschließlich erotische Philosophie, atheistische Metaphysik,
den kosmogonischen Mythus, in dem das Sehnsuchtsmotiv die
Welt hervorruft.
Wagners gesunde Art, krank zu sein, seine morbide Art, heroisch
zu sein, ist nur ein Beispiel für das Kontradiktorische und Ver-
schränkte seiner Natur, ihre Doppel- und Mehrdeutigkeit, die
sich uns schon in der Vereinigung scheinbar so widersprechender
Grundanlagen wie der mythischen und der psychologischen be-
kundete. Der Begriff des Romantischen ist noch der tauglichste,
sein Wesen auf einen Nenner zu bringen; aber gerade er ist ja
dermaßen komplex und schillernd, daß er mehr den Verzieht auf
Definition als diese selbst bedeutet.
Nur im Romantischen vereinigen sich die Möglichkeiten von
Popularität und letzter Ausgesuchtheit, reizverwöhnter »Ver-
ruchtheit« (um ein Lieblingswort E. T. A. Hoffmanns zu brau-
chen) der Mittel und Wirkungen- es macht allein jene »doppelte
Optik« möglich, von der Nietzsche anläßlich Wagners spricht
und die zugleich auf die Gröbsten und die Feinsten Rücksicht zu
nehmen weiß - unbewußt natürlich, es wäre banal, hier den
Gedanken des Spekulativen hineinzutragen-, mit dem Effekt, daß
Schöpfungen wie >Lohengrin< Geister wie den Dichterder>Fleurs
du Mal< beseligen und zugleich einer schlichten Erhebung im
Volkstümlichen dienen können, ein Kundry'sches Doppelleben
als Sonntagsopern und Liebesobjekt vielerfahrener, leidender und
überfeinerter Seelen führen. Das Romantische- im Bunde mit der
Musik nun gar, nach der es von Grund aus trachtet und ohne die es
sich nicht zu erfüllen vermochte- kennt keine Exklusivität, kein
»Pathos der Distanz«, es bedeutet niemanden: »Das ist nichts für
dich«; mit einer Seite seines Wesens ist es auch für den Letzten,
und man sage nicht, daß das bei aller großen Kunst so sei. Das
Kindliche mit dem Erhabenen zu vereinigen, mag großer Kunst
auch sonst wohl gelungen sein; die Vereinigung aber des Mär-
chentreuherzigen mit dem Ausgepichten, der Kunstgriff, das
Höchstgeistige als Orgie des Sinnenrausches zu verwirklichen
und >populär< zu machen, die Fähigkeit, das Tiefgroteske in
Abendmahlsweihe und klingelnden Wandlungszauber zu klei-
den, Kunst und Religion in einer Geschlechtsoper von größter
Gewagtheit zu verkoppeln und derlei heilige Künstlerunheilig-
keit mitten in Europa als Theater-Lourdes und Wundergrotte für
die Glaubenslüsternheit einer mürben Spätwelt aufzutun,- dies
alles ist nur romantisch, es ist in der klassisch-humanen, der
eigentlich vornehmen Kunstsphäre durchaus undenkbar. Der
Personenzettel des >Parsifal< - was für eine Gesellschaft im
Grunde! Weiche Häufung extremer und anstößiger Ausgefallen-
heit! Ein von eigener Hand entmannter Zauberer; ein desperates
Doppelwesen aus Verderberin und büßender Magdalena mit
kataleptischen übergangszuständen zwischen den beiden Exi-
stenzformen; ein liebesiecher Oberpriester, der auf die Erlösung
durch einen keuschen Knaben harrt, dieser reine Tor und Erlöser-
knabe selbst, so anders geartet als der aufgeweckte Erwecker
Brünnhilde's und in seiner Art ebenfalls ein Fall entlegener Son-
derbarkeit -:sie erinnern an das Sammelsurium von Unheimlich-
keiten, zusammengepackt in Achim von Arnims berühmter Kut-
sche: die zweideutige Zigeunerhexe, den toten Bärenhäuter, den
Golem in Weibergestalt und den Feldmarschall Cornelius N epos,
der eine unterm Galgen gewachsene Alraunwurzel ist. Der Ver-
gleich mutet blasphemisch an, und doch stammen die feierlichen
Charaktere des >Parsifal< aus derselben Geschmackssphäre eines
romantischen Extremismus wie Arnims skurrile Personnagen;
ihre novellistische Einkleidung würde das leichter erkennbar
machen; nur die mythisierenden und heiligenden Kräfte der
Musik verhüllen die Verwandtschaft, und ihr pathetischer Geist
ist es, aus dem das Ganze sich nichtwie bei dem Literaturromanti-
ker als schaurig-scherzhafter Unfug, sondern als hochreligiöses
Weibespiel gebiert.
Die Reizbarkeit durch das irisierende Problem der Kunst und des
Künstlertums, der melancholische Sinn für die Ironien, die da
zwischenWesenund Wirkung spielen, ist typisch jugendlich, und
ich erinnere mich an manche hierher gehörende Äußerung meiner
jungen Jahre, die kennzeichnend war für die durch Nietzsche's
Kritik hindurchgegangene Wagnerpassion, diktiert von jenem
»Erkenntnisekel«, den man als das Jugendlich-Eigenste von ihm
zu lernen wußte. Nietzsche erklärt, erfasse die Tristanpartiturnur
mit Handschuhen an. »Wer wagt das Wort«, ruft er, »das eigent-
liche Wortfür die ardeurs der Tristan-Musik?« Ich bin der etwas
tantenhaften Komik dieser Fragestellung heute viel zugänglicher
als mit fünfundzwanzig Jahren. Denn was ist da zu wagen?
Sinnlichkeit, ungeheure, spiritualisierte, ins Mystische getriebene

97
und mit äußerstem Naturalismus gemalte, durch keine Erfüllung
zu stillende Sinnlichkeit, das ist das »Wort«- und man fragt sich,
woher au'f einmal bei Nietzsche, dem »freien, sehr freien Geiste«,
die Gehässigkeit gegen das Geschlechtliche kommt, das in seiner
Frage auf so psychologisch-denunziatorische Weise angedeutet
wird. Fällt er nicht aus seiner Rolle eines Beschützers des Lebens
gegen die Moral? Kommt nicht der Erzmoralist, der Pastorensohn
zum Vorschein? Er wendet auf den >Tristan< die Mystikerformel
»Wollust der Hölle« an. Gut, und man braucht die Tristanmystik
nur mit derjenigen von Goethe's »Seliger Sehnsucht« und ihrer
»Höheren Begattung« zu vergleichen, um innezuwerden, wie
wenig wir überhaupt uns bei Wagner in Goethischer Sphäre
befinden. Aber wievielleidender die Seelenlage des Abendlandes
im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gegen die Epoche Goe-
the' s geworden, dafür ist Nietzsche selbst am Ende kein schlechte-
res Beispiel als Wagner. Wirkungen zugleich narkotischer und
aufpeitschender Art, wieWagnersie zeitigt, bringt auch das Meer
hervor - in dessen Angesicht niemand es passend fände, Enthül-
lungspsychologie zu treiben. Was großer Natur recht ist, sollte
großer Kunst billig sein, und Baudelaire, wenn er durchaus posi-
tiv-moralinfrei, in naiver Künstlerbegeisterung von der »Ekstase
aus Wonne und Erkenntnis« spricht, in die das Lohengrinvorspiel
ihn versetzt habe, und von »Räuschen des Opiums« schwärmt,
von der »außerordentlichen Lust, die in den hohen Orten kreist«,
bekundet entschieden mehr Lebensmut und Freigeistigkeit als
Nietzsche mit seiner suspektvollen >Vorsicht<. Nur freilich bleibt
sein Wort von der Wagnerei als von einer »leichteren Sinnlich-
keitsepidemie, die es nicht weiß«, zu Recht bestehen, und eben nur
dieses ,. Die es nicht weiß« ist es, was einem gewissen Klarheitsbe-
dürfnis auf dieN erven fallen magangesichtsvon Wagners roman-
tischer Popularität; es mag einen Grund abgeben, »lieber nicht
dabei zu sein.«

Wagners dramatische Fähigkeit, das Volkstümliche und das Gei-


stige in einer Gestalt zu binden, offenbart sich am schönsten in
dem Helden seiner revolutionären Epoche, in Siegfried. Das
»atemlose Entzücken«, das der zukünftige Theaterdirektor von
Bayreuth eines Tages als Zuschauer einer Kasperltheatervorstel-
lung empfand- er erzählt davon in seinem Aufsatz >Über Schau-
spieler und Sänger<-, dies Entzücken ist praktisch, ist produktiv
geworden in der Inszenierung des >Ringes<, dieser idealen Volks-
belustigung mit ihrem unbedenklichen Helden. Wer wollte die
hohe Ähnlichkeit dieses Siegfried mit dem kleinen Pritschen-
98
schwinger des Jahrmarkts verkennen? Zugleich jedoch ist er
Lichtsohn und nordischer Sonnenmythos, was ihn nicht hindert,
drittens etwas sehr Modernes aus dem neunzehnten Jahrhundert,
der freie Mensch, der Brecher alter Tafeln und Erneuerer einer
verderbten Gesellschaft, Bakunin, wie Bernard Shaws vergnügter
Rationalismus ihn einfach immer nennt, zu sein. Ja, er ist Hans-
wurst, Lichtgott und anarchistischer Sozialrevolutionär auf ein-
mal, das Theater kann nicht mehr verlangen; und diese Kunst der
Mischung ist nur der Ausdruck von Wagners eigenem gemischten
und in allen Stücken mehrdeutigen Wesen. Er ist kein Dichterund
ist kein Musiker, sondern etwas Drittes, worin diese beiden
Eigenschaften auf eine sonst nicht vorkommende Weise. ver-
schmelzen, nämlich ein Theaterdionysos, der unerhörte Aus-
drucksvorgänge dichterisch zu unterbauen und gewissermaßen
zu rationalisieren weiß. Aber soweit er also eben dennoch Dichter
ist, ist er es nicht in einem modernen, kulturellen und literarischen
Sinn, nicht aus dem Geiste und dem Bewußtsein, sondern auf eine
viel frömmere und tiefereWeise: die Volksseele ist es, die aus ihm
und durch ihn dichtet; er ist nur ihr Mundstück und Werkzeug,
nur »Bauchredner Gottes«, um Nietzsche's guten Witz zu wie-
derholen. Zum mindesten ist dies die korrekte und orthodoxe
Auffassung seines Dichtertums, und eine gewisse mächtig gear-
tete Stümperei, die, kulturell und literarisch gesprochen, darin
einschlägig ist, scheint diese Auffassung zu stützen. Dabei aber ist
er imstande, in einem Brief zu schreiben: »Schlagen wir die Kraft
der Reflexion nicht zu gering an, das bewußtlos produzierte
Kunstwerk gehört Perioden an, die von derunseren fernab liegen:
das Kunstwerk der höchsten Bildungsperiode kann nicht anders
als im Bewußtsein produziert werden.«- Das ist ein Schlag ins
Gesicht für die Theorie einer durchaus mythischen Herkunft
seiner Produktion; und wirklich findet sich in dieser neben Din-
gen, die den Stempel der Inspiration und blind-seligen Hingeris-
senheit an der Stirne tragen, so viel sinnig und witzig Gedachtes,
Anspielungsvolles, verständig Gewobenes, so viel kluge Zwer-
genarbeit neben dem Riesen- und Götterwerk, daß es unmöglich
ist, an Trance- und Dunkelschöpfung zu glauben. Der außeror-
dentliche Verstand, den er in seinen kritischen Schriften bekun-
det, dient zwar nicht eigentlich dem Geiste, der >Wahrheit<, der
abstrakten Erkenntnis, sondern seinem Werk, das er erläutert,
rechtfertigen, dem er innerlich und äußerlich den Weg bereiten
soll, - aber eine Tatsache ist er darum nicht weniger. Es bliebe die
Möglichkeit, daß er bei der Produktion ganz und gar ausgeschaltet
gewesen sei und der einflüsternden Volksseele den Platz geräumt

99
habe. Aber unser Gefühl, daß dem nicht so gewesen sein könne,
wird durch allerlei mehr oderwenigerauthentische Überlieferun-
gen aus seinem Lebenskreis bestätigt, des Inhalts, daß Ausdauer
sehr oft bei ihm habe für Spontaneität eintreten müssen; daß er
nach eigener Aussage sein Bestes nur mit Hilfe der Reflexion habe
leisten können; durch solche ihm in den Mund gelegten Äußerun-
gen wie: »Ach, ich habe versucht und versucht, nachgedacht und
nachgedacht, bis ich endlich das herausbekam, was ich
brauchte.«
Kurzum, sein Dichter- und Künstlerturn unterhältsowohl Bezie-
hungen zu Perioden, »die von den unseren fernab liegen«, wie es
solchen angehört, in denen die Entwicklung des Großhirns ins
Modern-Intellektualistische sich längst vollzogen hat; und dem
entspricht die unauflösliche Mischung von Dämonie und Bürger-
lichkeit, die sein Wesen ausmacht,- sehr ähnlich wie bei Schopen-
hauer, der gerade hierin ihm zeitgenössisch und individuell aufs
nächste verwandt ist. Der unbürgerliche Extremismus seiner
Natur, den er der Musik in die Schuhe schiebt- »Sie macht mich
nun einmal eigentlich ganz zum exklamativen Menschen«, sagte
er, »und das Ausrufungszeichen ist im Grunde die einzige mir
genügende Interpunktion, sobald ich meine Töne verlasse!«-,
dieser Extremismus äußert sich in dem enthusiastischen Charak-
ter aller seiner Zustände, namentlich der depressiven; er tritt
zutage in seinen äußeren Schicksalen (denn Schicksal ist ja nur
Auswirkung des Charakters), in seinem Mißverhältnis zur Welt,
seinem zerrissenen, verfemten, gehetzten, hin und her geworfe-
nen Leben, wie er es in dramatischer Lyrik durch den Mund seines
Wehwalt-Siegmund ausspricht: »Mich drängt' es zu Männern
und Frauen: wie viel ich traf, wo ich siefand, ob ich um Freund, um
Frauen warb,- immer doch war ich geächtet, Unheillag auf mir.
Was rechtes je ich riet, andern dünkte es arg; was schlimm immer
mir schien, andre gaben ihm Gunst. In Fehde fiel ich, wo ich mich
fand; Zorn traf mich, wohin ich zog; gehrt' ich nach Wonne,
weckt' ich nur Weh.«- Da kommt jedesWortaus Erfahrung; es ist
keines darin, das nicht genau auf sein eigenes Leben gemünzt
wäre, und nichts anderes sagen diese schönen Verse, als was er in
Prosa an Mathilde Wesendonck schreibt: »-da mich die Welt,
genau genommen, doch eigentlich nicht will«, oder an ihren
Mann: »-daß ich so schwer in dieserWeltunterzubringen bin, so
daß es an tausend Irrungen dabei nichtfehlen kann. Es ist eine liebe
Not mit mir ... So sind wir denn, dieWeltund ich, zwei Starrköpfe
gegeneinander, von denen natürlich der mit dem dünneren Schä-
del eingeschlagen werden muß - wovon ich wahrscheinlich oft
IOO
meine nervösen Kopfschmerzen habe.« - Diese verzweifelte
Scherzhaftigkeit gehört zum Bilde. Gelegentlich- um sein acht-
undvierzigstes Jahr- spricht er von der »tollen Laune«, mit der er,
in Weimar, alle Welt erfreut habe, und zwar einfach, weil er nicht
.ernst werden dürfe, überhaupt nicht mehr, ohne in fast auflösende
Weichheit zu verfallen. »Dies ist ein Fehler meines Temperamen-
tes, der jetzt immer mehrüberband nimmt: ich wehre dem noch,
so gut ich kann, denn es ist mir, als ob ich mich einmal geradezu
verweinen müßte.«- Welche ausschweifende Schwäche! Welche
Kapellmeister-Kreisler-Exzentrizität! Er hat das leidenschaftli-
che Auf und Ab, die wilde und tragische Pathetik seines Wesens,
ganz ins Schwarze, Verfluchte und nach Ruhe, Erlösung
Schmachtende stilisiert, am eindrucksvollsten im >Holländer<
gemalt, es zur Belebung und Färbung dieser Figur wundervoll
benutzt: es sind die großen Intervalle, in denen die Gesangspartie
des Holländers hin und her wogt, womit allein schon, und beson-
ders charakteristisch, dieser Eindruck wilder Bewegtheit erzielt
wird.
Nein, das ist kein bürgerlicher Mensch im Sinne irgendwelcher
Regelrechtheit und Angepaßtheit. Und doch ist die Luft der
Bürgerlichkeit um ihn, die Luft seines Zeitalters, wie sie um
Schopenhauer, den kapitalistischen Philosophen, ist: der morali-
stische Pessimismus, die Verfallsstimmung mit Musik, die echt
neunzehntesJahrhundertsind und die es mit Monumentalität, mit
großer Form verbindet, als sei Größe das Zubehörder Moral. Um
ihn, sage ich, ist die Atmosphäre des Bürgerlichen, und zwar nicht
nur in dieser allgemeinen Bedeutung, sondern in einerviel persön-
licheren noch. Ich will nicht darauf bestehen, daß er ein Revolutio-
när von x848, ein Mittelklassenkämpfer und also ein politischer
Bürger war; denn er war es auf seine besondere Weise, als Künstler
und im Interesse seiner Kunst, die revolutionär war und für die er
sich ideelle Vorteile, verbesserte Wirkungsbedingungen vom
Umsturz des Bestehenden versprach. Aber intimere Züge seiner
Persönlichkeit muten mitten in aller Genialität und Besessenheit
ausgesprochen bürgerlich an, so wenn er nach dem Einzuge ins
Asyl auf dem grünen Hügel bei Zürich aus dem Gefühl des
Behagens an Liszt schreibt: »Alles ist nach Wunsch und Bedürfnis
für die Dauer hergerichtet und eingeräumt; alles steht am Platz,
wo es stehen soll. Mein Arbeitszimmer ist mit der Dir bekannten
Pedanterie und eleganten Behaglichkeit hergerichtet; der Ar-
beitstisch steht an dem großen Fenster ... « Die pedantische
Ordnung und auch die bürgerliche Eleganz der Umgebung, die er
zur Arbeit braucht, stimmen zu dem Einschlage von überlegtheit
IOI
und klugem Kunstfleiß, dessen die Dämonie seiner Produktion
nicht entbehrt und der eben ihr bürgerliches Teil ausmacht: seine
spätere Selbstinszenierung als >Deutscher Meister< mitder Dürer-
mütze hatte ihre gute innere und natürliche Berechtigung, und
man täte unrecht, über dem Feuerflüssig-Vulkanischen in dieser
Produktion das altdeutsch-kunstmeisterliche Element zu überse-
hen- das Treublickend-Geduldige, Handwerksfromme und Sin-
nig-Arbeitsame, das auch darin und ihr wesentlich ist. An Otto
Wesendonck schreibt er: Ȇber den Stand meiner Arbeit lassen
Sie sich kurz berichten. Als ich sie ergriff, gab ich mich der
Hoffnung hin, sie in vorzüglicher Schnelle beenden zu können ...
Teils war ich von Sorgen und Kummer aller Art so sehr gefangen,
daß ich an und für sich oft lange Zeit zur Produktion unfähig war;
teils aber lernte ich auch bald mein eigentümliches Verhalten zu
meinen jetzigen Arbeiten (die ich nun einmal durchaus nicht
flüchtig machen kann, sondern an denen ich nur so weit Gefallen
finden darf, als ich das kleinste Detail davon nur guten Einfällen
verdanke und es demgemäß ausarbeite) so fest und unveränderlich
erkennen, daß ich auf eine nur so hingeworfene, skizzenhafte
Arbeit, wie sie einzig in der kurzen Zeit möglich gewesen wäre,
verzichten mußte.« -Das ist die »Treue und Redlichkeit«, die
Schopenhauer von seinen kaufmännischen Vorfahren geerbt und
ins Intellektuelle übertragen zu haben erklärte. Es ist Solidität,
bürgerliche Arbeitsakkuratesse, wie sie sich in seinen keineswegs
hingewühlten, sondern höchst sorgfältig-reinlichen Partituren
spiegelt, - derjenigen seines entrücktesten Werkes zumal,
der Tristanpartitur, einem Musterbild klarer, penibler Kalli-
graphie.
Es ist nun aber sogar nicht zu leugnen, daß Wagners Liebhaberei
für bürgerliche Eleganz eine Neigung zur Ausartung zeigt, die
starke Neigung, einen Charakter anzunehmen, der nichts mehr
mit deutschem sechzehnten Jahrhundert, Meisterwürde und Dü-
rermütze zu tun hat, sondern schlimmes internationales neun-
zehntes Jahrhundert ist- mit einem Worte: den Charakter des
Bourgeoisen. Der nicht nur altbürgerliche, sondern modern
bourgeoise Einschlag in seiner menschlichen und künstlerischen
Persönlichkeit ist unverkennbar- der Geschmack am Üppigen,
am Luxus, am Reichtum, Samt und Seide und Gründerzeitpracht:
ein Zug des Privatlebens zunächst, der aber tief ins Geistige und
Künstlerische reicht. Am Ende sind Wagners Kunst und das
Makartbukett(mit Pfauenfedern), das die gesteppten und vergol-
deten Salons der Bourgeoisie schmückte; ein und derselben zeit-
lichen und ästhetischen Herkunft, und es ist bekannt, daß er
102
beabsichtigte, sich von Makart Kulissen malen zu lassen. An Frau
Ritter schreibt er: »Ich habe seit einiger Zeit wieder einen Narren
am Luxus (wer sich denken kann, was er mir ersetzen soll, wird
mich allerdings für sehr genügsam halten): des Vormittags setze
ich mich in diesem Luxus hin und arbeite: -das ist nun das
Notwendigste, und ein Vormittag ohne Arbeit ist ein Tag in der
Hölle ... « - Man weiß nicht, was bürgerlicher anmutet: die
Luxusliebe oder daß ein Vormittag ohne Arbeit so ganz unerträg-
lich erscheint. Aber wir nähern uns hier dem Punkt, wo das
Bourgeoise ins unheimlich Künstlerische, Tolle und Anrüchige
zurückschlägt, ein Gepräge rührender und ehrwürdig interessan-
ter Krankhaftigkeit annimmt, worauf das Wort »bürgerlich«
schon wieder durchaus nicht mehr passen will, - dem wunder-
lichen Gebiete der Stimulation, das Wagner in einem Brief an Liszt
mit recht zurückhaltendenWortenumschreibt: »Doch eigentlich
nur mit wahrer Verzweiflung nehme ich immer wieder die Kunst
auf: geschieht dies und muß ich wieder der Wirklichkeit entsagen,
-muß ich mich wieder in die Wellen der künstlerischen Phantasie
stürzen, um mich in einer eingebildeten Weh zu befriedigen, so
muß wenigstens meiner Phantasie auch geholfen, meine Einbil-
dungskraft muß unterstützt werden. Ich kann dann nicht wie ein
Hund leben, ich kann mich nicht auf Stroh betten und mich in
Fusel erquicken: ich muß irgendwie mich geschmeichelt fühlen,
wenn meinem Geist das blutig schwere Werk der Bildung einer
unvorhandenen Weh gelingen soll ... Als ich jetzt wieder den Plan
der Nibelungen und ihrer wirklichen Ausführung faßte, mußte
vieles dazu wirken, um mir die nötige künstlerisch-wollüstige
Stimmung zu geben: ich mußte ein besseres Leben, als zuletzt,
führen können!« - Der »Narr«, den er »am Luxus hat«, das
sclimeichlerische Mittel, das seiner Einbildungskraft zu Hilfe
kommen muß, ist bekannt. Es sind die eiderdaunengefütterten
seidenen Schlafröcke, in die er sich hüllt, die mit Blenden und
Rosengirlanden gezierten Atlasbettdecken, unter denen er
schläft, diese tastbaren Andeutungen verschwenderischer Üppig-
keit, für die er Schulden zu Tausenden macht. Die bunten Atlasge-
wänder sind der Luxus, in dem er sich vormittags zur Arbeit, zum
blutig schwerenWerke setzt. Mit ihnen ausstaffiert, gewinnt er die
»künstlerisch-wollüstige Stimmung«, urnordische Heroik, hehre
Natursymbolik heraufzuführen, den sonnenblonden Helden-
knaben am sprühenden Amboß sein Siegschwert schmieden zu
lassen,- Bilder, die die Brust deutscherJugendvon Hochgefühlen
männlicher Herrlichkeit schwellen lassen.
Der Gegensatz beweist nicht das mindeste. Niemand empfindet
I03
Schillers faule Äpfel im Pult, von deren Geruch Goethe beinahe
ohnmächtig geworden wäre, als Argument gegen die echte Erha-
benheit seines Werkes. Wagners Arbeitsbedingungen waren zu-
fällig kostspieliger, und übrigens könnte man sich kostümliehe
Nachhilfen denken, mönchische, soldatische etwa, die dem stren-
gen Kunstdienste besser entsprächen als Atlasschlafröcke. Aber
hier wie dort handelt es sich um ein Stück harmlos-unheimlicher
Künstlerpathologie, von der nur Spießbürger sich verwirren las-
sen. Ein Unterschied freilich ist nicht wegzuleugnen. In Schillers
Werk ist nichts von den faulen Äpfeln, deren Moderduft ihn
stimulierte. Aber wer wollte verkennen, daß der Atlas auf irgend-
eine Weise auch in Wagners Werk enthalten ist? Es ist wahr:
Schillers idealistischer Wille verwirklicht sich in der Wirkung
seines Werkes, in der Art, wie es die Menschheit eroberte, reiner
und unzweideutiger, als Wagners ethische Gesinnung sich in der
Wirkungsart seines Werkes ausprägt. Seine kulturreformatori-
sche Meinung war gegen die Kunst als Luxus, gegen den Luxus in
der Kunst gerichtet, sie galt der Reinigung, Vergeistigung des
Operntheaters, dessen Begriff ihm schlechthin mitdemder Kunst
zusammenfiel. Er nannte Rossini verächtlich »den im üppigsten
Schoße des Luxus dahinlächeln den, wollüstigen Sohn Italias«, die
italienische Opernmusik überhaupt eine »Lustdirne«, die franzö-
sische eine »kaltlächelnde Kokette.« Äußert dieser kunstmorali-
sche Haß und Gegenwille sich mit vollem Glück in dem Wesen
und den Mitteln seiner Kunst, in dem, wodurch sie die bürgerliche
Gesellschaft Europas und der Welt in ihren Bann zog und sich
unterwarf? Ist es nicht das Wonnevolle, das Sinnlich-Zehrende,
Sinnlich-Verzehrende, das Schwerberauschende, Hypnotisch-
Streichende, das dick und üppig Abgesteppte, mit einem Worte
das höchst Luxuriöse seiner Musik, was ihr die bürgerlichen
Massen in die Arme trieb? Eichendorff, in dem Liede von den
kecken Gesellen, deren einer sein Leben in böser Lust vertut,
spricht, um das Element der Verführung zu kennzeichnen, von
den »buhlenden Wogen«, von »der Wogen farbig klingendem
Schlund.« Das ist wunderbar. Nur ein Romantiker vermag so
suggestiv die Sünde zu schildern, und Wagner hat es ihm im
>Tannhäuser< und >Parsifal< darin gleichgetan. Aber ist nicht auch
sein Orchester ein solcher »farbig klingender Schlund«, aus dem
man, wie Eichendorffs junger Fant, »müde und alt« erwacht?
Wenn etwas an diesen Fragen zu bejahen ist, so handelt es sich um
das, was man eine »tragische Antinomie« nennt, um einen der
Gegensätze und verschlungenen Widersprüche in Wagners W e-
sen, denen wir hier nachhängen. Ihrer sind viele; und da ein gut
104
Teil dav,on das Verhältnis von Meinung und Wirkung betrifft, ist
es sehr wichtig, die vollkommene und ehrwürdige Reinheit und
Idealität seines Künstlerturns zu betonen und jedes Mißverständ-
nis davon abzuwehren, das sich aus der Massigkeit, dem massen-
berückenden Charakter von Wagners Erfolg ergeben könnte.
Jede Kritik, auch die Nietzsche's, neigt dazu, die Wirkungeneiner
Kunst als bewußte und berechnende Absicht in den Künstler
zurückzuverlegen und die Idee des Spekulativen zu suggerieren-
sehr fälschlich, ganz irnümlich und gerade, als ob nicht jeder
Künstler genau das machte, was er ist, was ihn selber gut und schön
dünkt -, als ob es ein Künstlerturn gäbe, dessen Wirkungen ihm
selber ein Gespött und nicht zuerst auch Wirkungen auf ihn, den
Künstler, gewesen wären! Möge Unschuld das letzte Wort sein,
das auf eine Kunst anwendbar sei, -der Künstler ist unschuldig.
Ein Monstreerfolg, wie Wagners Musiktheater ihn •erzielt< hat, ist
großer Kunst sonst überhaupt niemals zugefallen. Der Erdball ist,
fünfzig Jahre nach des Meisters Tode, allabendlich in diese Musik
eingehüllt. Imperialistisch-weltunterwerfende, gewaltig aga-
r;ante, despotische, aufwiegelnd-demagogische Elemente sind
enthalten in dieser Kunst des Theaters und der Massenerschütte-
rung, die auf Ehrgeiz, ungeheuren cäsarischen Machtwillen als auf
ihr eigentliches Agens schließen lassen könnten. Die Wahrheit
sieht anders aus. »So viel sage ich Ihnen«., schreibt Wagner aus
Paris an die Geliebte, »nur das Gefühl meiner Reinheit gibt mir
diese Kraft. Ich fühle mich rein: ich weiß in meinem tiefsten
Inneren, daß ich stets für andere, nie für mich wirkte; und meine
steten Leiden sind mir des Zeugen.« Wenn das nicht wahr ist, so ist
es doch dermaßen wahrhaftig, daß jede Skepsis verstummt. Er
weiß von keinem Ehrgeiz. »Aus Größe, Ruhm und Volksherr-
schaft«, versichert er Liszt, »mache ich mirgar nichts.«- Auch aus
Volksherrschaft nicht? Vielleicht in der milden,. meisterlichen
Form der Volkstümlichkeit, wie sie als Ideal, Wunschtraum,
1

romantisch-demokratische Kunst und Künstlergesinnung mit so


viel Biederkeit und herzlichem Pomp aus den >Meistersingern<
spricht. Ja, die Popularität des Hans Sachs, gegen den die »ganze
Schul« nichts ausrichtet, weil halt das Volk ihn so auf Händen
trägt, ist ein Wunschtraum. Es ist in den >Meistersingern< ein
Liebäugeln mit dem Volk als höchstem Kunstrichter, das das
Gegenteil kunstaristokratischer Strenge bedeutet und kennzeich-
nend ist für Wagners demokratisch-revolutionäres Kunstgefühl,
seine Auffassung der Kunst als eines freien Appells an das Volks-
gefühl, - sehr im Gegensatz zu einem klassisch-höfischen, vor-
nehmen Kunstbegriff von einst, aus dem Voltaire's Wort kam:
105
»Quand la populace se mele de raisonner, tout est perdu.« -
Dennoch, wenn dieser Künstler Plutarch liest, empfindet er,
anders als Karl Moor, Widerwillen gegen die »großen Männer«,
und um alles möchte er nicht ihresgleichen sein. »Häßliche, kleine,
gewaltsame Naturen, unersättlich- weil sie so gar nichts in sich
haben und deshalb immer nur von außen in sich hineinfressen
müssen. Gehe man mir mit diesen großen Männern! Da lobe ich
mir Schopenhauers Wort: nicht der Welteroberer, sondern der
Weltüberwinderist der Bewunderung wert! Gott soll mir diese
•gewaltigen< Naturen, dieseNapoleone usw. vom Halse halten.«-
War er ein Weltüberwinder oder ein Welteroberer? Für welches
von beidem ist sein »Selbst dann bin ich die Welt«, akzentuiert mit
dem Thema der Welterotik, die Formel?-
Die Insinuation des Ehrgeizes in irgendeinem gemeinweltlichen
Sinn ist auf alle Fälle schon darum hinfällig, weil hier zunächst
ganz ohne Hoffnung auf unmittelbare Wirkung, ohne jede Aus-
sicht darauf, die ja die wirklichen Umstände und Zustände gar
nicht zuließen, geschaffen wurde - im leeren Phantasieraum, für
eine imaginäre Ideal bühne, an derenVerwirklichungvorerst nicht
zu denken war. Wahrhaftig, es ist nicht von kluger Berechnung
und ambitiöser Ausnützung gegebener Möglichkeiten die Rede in
Worten, wie er sie an Otto W esendonck schreibt: »Denn das sehe
ich: ganz bin ich nur, was ich bin, wenn ich schaffe. Die eigentliche
Aufführung meiner Werke gehört einer geläuterteren Zeit an,
einer Zeit, wie ich sie erst durch meine Leiden vorbereiten muß!-
Meine verwandtesten Kunstfreunde haben eben nur Staunen für
meine neuen Arbeiten: zur Hoffnung fühlt sich jeder, der unserem
öffentlichen Kunstleben nähersteht, zu schwach. Ich begegne da
nur Mitleid und Wehmut.- Und sie haben ja so recht. Nichts lehrt
mich mehr, wie furchtbar ich alles um mich her übersprungen
habe.« - Nie hat die Einsamkeit, Wirklichkeitsfremdheit des
Genies ergreifendere Worte gefunden. Aber wir nun, die letzten
Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts und das erste Drittel
des zwanzigsten mit dem Weltkriege und dem in Zersetzung
übergehenden Spätkapitalismus- wir, in deren Tagen Wagners
Kunst die großen Theater beherrscht und an allen Punkten der
zivilisierten Welt in vollkommenen Aufführungen triumphiert-,
wir wären diese »geläuterte Zeit«, die er »durch seine Leiden
vorbereiten mußte«? Ist die Menschheit von 188o bis 1933 die
rechte, um durch den Riesenerfolg, den sie einer Kunst bereitet,
die Höhe und Güte dieser Kunst zu erweisen?
Fragen wir nicht. Sehen wir, wie seine Größe sich darin bewährt,
daß sie der Welt entgegenkommen, sich ihr anbequemen möchte-
106
und es nicht vermag! Einkomisches Operchen, ein Satyrspiel zum
>Tannhäuser<, zur Erholung für ihn und die Leute, der beste Wille
zum Leichten und praktisch Genießbaren: es werden die >Mei-
stersinger< daraus. Etwa,s Italienisches nun einmal, Melodiöses
und lyrisch Sangbares, mit wenigen Personen, leicht aufzuführen,
es muß doch gehen: und was ihm unter den Händen entsteht, ist
der >Tristan<. -Man kann sich nicht kleiner machen als man ist,
man kann sich nicht anders machen; man macht, was man ist, und
Kunst ist Wahrheit- die Wahrheit über den Künstler.

Es hat also mit der ungeheueren Weltwirksamkeit dieser Kunst


persönlich und ursprünglich eine sehr geistige und reine Bewandt-
nis: kraftihres Niveaus vor allem schon, das keine tiefere Verach-
tung kennt als die für den Effekt, die >>Wirkung ohne Ursache«;
dann aber, weil alles Imperiale, Demagogische, Massenunterwer-
fende darin zunächst völlig überpraktisch und ideal zu verstehen
ist, auf ganz erst zu revolutionierende Bedingungen bezogen
werden muß - und vornehmlich gilt diese künstlerische Un-
schuld, wo ein vielfältig instrumentierter Begeisterungswille sich
im nationalen Appell, als Feier und Verherrlichung des Deutsch-
tums, äußert, wie es unmittelbar etwa im> Lohengrin< durch König
Heinrichs »Deutsches Schwert<< und in den >Meistersingern<
durch Hans Sachsens biederen Mund geschieht. Es ist durch und
durch unerlaubt, Wagners nationalistische Gesten und Anreden
den heutigen Sinn zu unterlegen - denjenigen, den sie heute
hätten. Das heißt sie verfälschen und mißbrauchen, ihre roman-
tische Reinheit beflecken.
Die nationale Idee stand damals, als Wagner sie als traulich-
wirksames Element in seinWerk eingehen ließ, das heißt bevor sie
verwirklicht war, in ihrer heroischen, geschichtlich legitimen
Epoche, sie hatte ihre gute, lebensvolle und echte Zeit, war Poesie
und Geist, ein Zukunftswert. Demagogie ist es, wenn heute die
Bassisten die Verse vom >Deutschen Schwert< oder gar jenes Kern-
und Schlußwort der >Meistersinger<: »Zerging' in Dunst das
Heil'ge Röm'sche Reich, uns bliebe gleich die heil'ge deutsche
Kunst<< tendenziös ins Parterre donnern, um eine patriotische
Nebenwirkung damit zu erzielen. Gerade diese Verse, die ersten,
die feststanden und sich schon am Schlusse der frühesten Skizze,
der Marienbader vom Jahre 1845, finden, beweisen die vollen-
dete Geistigkeit und Politikfremdheit des Wagnerischen Natio-
nalismus: sie bekunden eine schlechthin anarchische Gleichgül-
tigkeit gegen das Staatliche, falls eben· nur das geistig Deutsche,
die »Deutsche Kunst« bewahrt bleibt. Daß er dabei nicht eigent-
lieh an die deutsche Kunst, sondern an sein Musiktheater dachte,
das nicht durchaus deutsch ist und nicht nur Weber, Marschner
und Lortzing, sondern auch Spontini und die große Oper in
sich aufgenommen hat, ist eine Sache für sich. Im Grund.e
mochte er denken, wie der größte Unpatriot, Goethe, nach
Börne's Vorwurf dachte:» Was wollen die Deutschen? Sie haben
ja mich.«
Richard Wagner als Politiker war sein Leben lang mehr Sozialist
und Kulturutopist im Sinne einer klassenlosen, vom Luxus und
vom Fluche des Goldes befreiten, auf Liebe gegründeten Gesell-
schaft, wie er sie sich als das ideale Publikum seiner Kunst
erträumte, denn Patriot im Sinne des Machtstaates. Sein Herz war
für die Armen gegen die Reichen. Die Teilnahme an den revolutio-
nären Umtrieben von 1848, die ihn ein zwölfjähriges quälendes
Exil kostete, hat er später, als er sich des »ruchlosen« Optimismus
schämte und die gegebene Tatsache von Bismarcks Reich, so gut es
gehen wollte, mit der Verwirklichung seiner Träume verwech-
selte, nach Möglichkeit verkleinert und verleugnet. Er ist denWeg
des deutschen Bürgertums gegangen: von der Revolution zur
Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, macht-
geschützten Innerlichkeit. Dennoch steht das in einem gewissen
Sinn sehr undeutsche Wort in seinen Schriften: »Wer sich unter
der Politik hinwegstiehlt, belügt sich selber!« Ein so lebendiger
und radikaler Geist war sich selbstverständlich der Einheit des
humanen Problems, der Untrennbarkeit von Geist und Politik
bewußt; er hat nicht der bürgerlich-deutschen Selbsttäuschung
angehangen, man könne ein unpolitischer Kulturmensch sein -
diesem Wahn, der Deutschlands Elend verschuldet hat. Sein
Verhältnis zum Vaterland war bis zur Reichsgründung und bis zu
seiner Bayreuther Niederlassung das des Einsamen, Unverstan-
denen, Abgestoßenen, voll von Kritik und Hohn. »Ach, wie bin
ich voll Enthusiasmus für den deutschen Bund germanischer
Nation!« schreibt er aus Luzern im Jahre 1859. »Daß mir um
Gotteswillen der Frevler L. Napoleon nichts an meinem lieben
deutschen Bunde betaste: ich wäre zu tief betrübt, wenn da irgend
etwas anders würde!« Die Sehnsucht nach Deutschland, die ihn im
Exil verzehrt, wird durch die Wirklichkeitserfahrungen der
Heimkehr bitter enttäuscht. »Es ist ein elendes Land«, ruft er,
»und ein gewisser Ruge hat Recht, wenn er sagt: >Der Deutsche ist
niederträchtig.<«- Wohlgemerkt: so böse Äußerungengeltennur
der deutschen U nbereitschaft, seinWerk aufzunehmen; sie haben
den kindlich-persönlichsten Akzent. Deutschland ist gut oder
schlimm in dem Maß, wie es an ihn glaubt oder in solchem
108
Glauben versagt. Noch 1875 aber antwortet er in einer Gesell-
schaft auf die rühmende Bemerkung, so wie ihm sei das deutsche
Publikum noch keinem entgegengekommen, mit bitterem Hu-
mor: »Ü ja! der Sultan und der Khedive von Ägypten haben
Patronatsscheine genommen.«
Es ehrt sein Künstlerherz, daß er gleichwohl, anders als Nietz-
sche, in der Neugründung des Reiches durch Bismarcks Kriege die
Erfüllung seiner deutschen Wünsche erblicken konnte, im
»Reich«, für das Nietzsche nicht genug Worte leidenschaftlicher
Vermaledeiung fand, den rechten und echten Boden für sein Kul-
turwerk zu erkennen bereit und fähig war. Die- kleindeutsche-
Wiedererstehung des Deutschen Reiches, ein Phänomen über-
wältigenden historischen Erfolges, stärkte, wie der Freund Hek-
kel sagt, in Wagner den Glauben an die Entwicklung einer deut-
schen Kultur und Kunst, das heißt: an die Wirkungsmöglichkeit
seines Kunstwerks, der sublimierten Oper. Aus diesem Vertrauen
kam der •Kaisermarsch<, es kam daraus das Gedicht an das deut-
sche Heer vor Paris, das nur beweist, daßWagnerohne Musik kein
Dichter ist; es kam daraus die unglaubwürdig geschmacklose, in
jedem Sinn selbstverräterische Satire auf das agonierende Paris im
Jahre 1871 •Eine Kapitulation<. Vor allem entstammte diesem
Vertrauen sein Manifest >Über die Aufführung des Bühnenfest-
spiels <Der Ring des Nibelungen><-worauf eine einzige Freundes-
anmeldung, eben von dem Pianofortehändler Heckel in Mann-
heim, erfolgte. Die Widerstände gegenWagnersWollen und seine
Ansprüche, die Scheu, sich zu ihm zu bekennen, blieben groß;
aber in die Zeit der Reichsgründung fällt auch die Gründung des
ersten Wagnervereins und die Ausgabe der Patronatsscheine für
die Bühnenfestspiele; die Etablierung, die Verwirklichung, kom-
promißreich wie jede andere, begann. Wagner war Politiker
genug, seine Sache mit der des Bismarck'schen Reiches zu verbin-
den: er sah einen Erfolg ohnegleichen, er schloß den seinen daran,
und die europäische Hegemonie seiner Kunst ist das kulturelle
Zubehör zur politischen Hegemonie Bismarcks geworden. Der
große Staatsmann, mit dessen Werk er das seine vermählte, ver-
stand von diesem überhaupt nichts, hat sich nie auch nur geküm-
mert und hielt Wagner für einen verdrehten Kerl. Aber der alte
Kaiser, der auch nichts davon verstand, kam nach Bayreuth und
sagte: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie's durchsetzen würden!«
Das Wagnerwerk war als nationale Angelegenheit installiert, war
reichsoffiziell geworden und ist gewissermaßen mit diesem
schwarzweißroten Reiche verbunden geblieben- so wenig wie es
seinem tiefsten Wesen nach und selbst nach der Art seines
109
Deutschtums mit irgendwelchen Macht- und Kriegsreichen zu
tun hat.
Wo von Wagners kontradiktorischer Natur in der Verschlungen-
heit ihrer .Widersprüche die Rede ist, darf das grandioseZugleich
und Ineinander von Deutschheit und Mondänität nicht übergan-
gen werden, das zu dieser Natur gehört und sie in absolut einmali-
ger, zum Nachdenken anreizender Weise auszeichnet. Es gab
immer und gibt auch heute eine deutsche Kunst hohen Ranges-
ich denke besonders an das Gebiet der Literatur-, die so ganz dem
stillen und heimlichen Deutschland angehört, so speziell und
intim deutsch ist, daß sie - sehr edler Weise - eben nur im
>Heimlichen< zu wirken und Verehrung zu erzeugen vermag-und
der europäischen, der Weltmöglichkeit entbehrt. Das ist ein
Schicksal wie ein anderes, es hat nichts mit dem Werte zu tun. Viel
geringeres Erzeugnis, demokratische Gebrauchs- und Aller-
weltsware, überschreitet mit Leichtigkeit alle Grenzen und wird,
da sie gemein ist, überall nur zu gut verstanden; aber auch Werke,
die jener exklusiven Heimkunst an Rang und Würde nichts
nachgeben, erweisen sich als mit dem Tropfen demokratisch-
europäischen Öles gesalbt, der ihnen die Welt öffnet, ihnen
internationales Verständnis sichert.
Wagners Kunst ist dieser Art; nur daß bei ihr nicht gut von einem
>>Tropfen« jenes Salböls die Rede sein kann- sie trieft davon. Ihre
Deutschheit ist tief, mächtig und unbezweifelbar. Die Geburt des
Dramas aus der Musik, wie sie sich mindestens einmal, auf der
Höhe von Wagners Schaffen, in >Tristan und Isolde,, rein und
zauberhaft vollendet, konnte nur aus deutschem Leben kommen,
und als deutsch im höchsten Sinne des Wortes darf man ihre
gewaltige Sinnigkeit, ihren mythischen Hangundmetaphysischen
Drang, vor allem schon ihr tiefernstes Selbstgefühl als Kunst
ansprechen, den hohen und feierlichen Begriff der Kunst, eigent-
lich des Theaters, von dem sie erfüllt ist und den sie mitteilt. Bei
alldem ist sie aber von einer W eltgerechtheit, W eltgenießbarkeit,
wie sie keiner deutschen Kunst dieses Ranges je mitgegeben
wurde, und man hält sich in dem bevorzugten Gedankenkreis
ihres Schöpfers, wenn man von der empirischen Erscheinung auf
ihren »Willen«, ihren Charakter zurückschließt. Schon früher
einmal habe ich auf das Buch eines Nichtdeutschen, des Schweden
Wilhelm Peterson-Berger, >Richard Wagner als Kulturerschei-
nung<, hingewiesen, das sich über diesen Punkt mit besonderer
Klugheit äußert. Der Verfasser spricht da von Wagners Nationa-
lismus, von seiner Kunst als einer national deutschen, und be-
merkt, daß die deutsche Volksmusik die einzige Richtung sei, die
IIO
von seiner Synthese nichtumfaßt werde. Zu Charakterisierungs-
zwecken könne er mitunter, wie in den >Meistersingern< und im
>Siegfriedc, den deutschen Volkston anschlagen, aber dieser bilde
nicht den Grundton und den Ausgangspunkt seiner Tondichtung,
sei niemals der Ursprung, aus dem sie spontan hervorsprudele,
wie bei Schumann, Schubert und bei Brahms. Es sei notwendig,
zwischen Volkskunst und nationaler Kunst zu unterscheiden; der
erstere Ausdruck ziele nach innen, der letztere nach außen. Wag-
ners Musik sei mehr national als volkstümlich; sie habe wohl viele
Züge, die namentlich der Ausländer als deutsch empfinde, aber sie
habe - so drückt der Schwede sich aus - dabei ein unverkennbar
kosmopolitisches Cachet. -
Hier ist, wie mir scheint, die eigentümliche Bewandtnis, die es mit
Wagners Deutschtum hat, mit großer Feinheiterfühlt und ausge-
deutet. Ja, Wagner ist deutsch, ist national, auf beispielhafte-
vielleicht allzu beispielhafte Weise. Denn außerdem, daß dieses
Werk eine eruptive Offenbarung deutschen Wesens ist, ist es auch
eine schauspielerische Darstellung davon, und zwar eine Darstel-
lung, deren Intellektualismus und plakathafte Wirksamkeit bis
zum Grotesken, bis zum Parodischen geht und bestimmt scheint,
ein neugierig schauderndes Weltpublikum zu dem Ausrufe hin-
zureißen: »Ah! lia c'est bien allemand par exemple!« Dies
Deutschtum also, so wahr und mächtig es sei, ist modern gebro-
chen und zersetzt, dekorativ, analytisch, intellektuell, und seine
Faszinationskraft, seine eingeborene Fähigkeit zu kosmopoliti-
scher, zu planetarischer Wirkung kommt daher. Wagners Kunst
ist die sensationellste Selbstdarstellung und Selbstkritik deut-
schen Wesens, die sich erdenken läßt, sie ist danach angetan, selbst
einem Esel von Ausländer das Deutschtum interessant zu machen,
und die leidenschaftliche Beschäftigung mit ihr ist immer zugleich
eine leidenschaftliche Beschäftigung mit diesem Deutschtum
selbst, das sie kritisch-dekorativ verherrlicht. Darin beruht
ihr Nationalismus, aber dieser Nationalismus ist in einem Maße
mit europäischer Artistik durchtränkt, das ihn zu irgendwelcher
Simplifizierung, auf deutsch: Versimpelung, im tiefsten untaug-
lich macht.
»Sie werden der Sache dessen dienen, den die Zukunft zum
berühmtesten unter den Meistern machen wird.« Diesen Satz
schreibt Charles Baudelaire im Jahre I 849 an einen wagner-
begeisterten jungen deutschen Musikkritiker. Die Voraussage,
deren Sicherheit erstaunlich ist, kommt aus leidenschaftlicher
Liebe, wahlverwandtschaftlicher Passion, und es zeugt von dem
kritischen Genie Nietzsche's, daß er diese Verwandtschaft er-
111
kannte, ohne von ihren Außerungen zu wissen. >>Wenn Baudelaire
seinerzeit der erste Prophet und Fürsprecher Delacroix' war«,
sagt er in den Studien zum >Fall Wagner<, »vielleicht, daß er heute
der erste >Wagnerianer< von Paris sein würde. Es ist viel Wagner in
Baudelaire.« Erst Jahre später kommt ihm der Brief vor Augen,
worin Wagner dem französischen Dichter für seine Huldigungen
dankt, und er triumphiert. Ja, Baudelaire, der früheste Verehrer
Delacroix', dieses Wagners der Malerei, war in der Tat auch der
erste Wagnerianer von Paris und einer der ersten wirklichen,
tiefergriffenen und künstlerisch verständnisvollen Wagnerianer
überhaupt. Seine Tannhäuser-Schrift vom Jahre r86r war das
erste entscheidende und bahnbrechende Wort über Wagner und
ist das historisch wichtigste geblieben. Ein Glück des Sich-selbst-
Wiederfindens in den künstlerischen Intentionen eines anderen,
wie Wagners Musik es ihm bereitete, hat er sonst nur einmal noch,
bei der literarischen Bekannschaft mit Edgar Allan Poe erfahren.
Sie beide, Wagner und Poe, sind Baudelaire's Götter - eine
sonderbare Zusammenstellung für das deutsche Ohr! Die Nach-
barschaft rückt Wagners Kunst auf einmal in eine Beleuchtung, sie
fügt sie in seelische Zusammenhänge, in denen ihre patriotischen
Ausleger uns nicht gewöhnt haben sie zu sehen. Eine farbige und
phantastische, tod- und schönheitsverliebte Welt abendländi-
scher Hoch- und Spätromantik tut sich auf bei seinem Namen,
eine Welt des Pessimismus, der Kennerschaft seltener Rauschgifte
und einer Überfeinerung der Sinne, die allerlei synästhetischen
Spekulationen schwärmerisch nachgehängt, den Träumen Hoff-
mann-Kreislers von der Entsprechung und innigen Verbindung
zwischen den Farben, Klängen und Düften, von der mystischen
Wandlung der einsgewordenen Sinne .. In diese Welt ist Richard
Wagner hineinzusehen, hineinzuverstehen: der glorreichste Bru-
der und Genosse all dieser am Leben leidenden und dem Mitleid
zugetanen, die Verzückung suchenden, die Künste vermischen-
den Symbolisten und Anbeter des »art suggestif« mitdem Bedürf-
nis »d'aller au dela, plus outre que l'humanite«, wie Maurice
Barres sagte, der letzte mit diesen Wassern Getaufte, der Liebha-
ber Venedigs, der Tristanstadt, der Dichter des Blutes, der Lust
und des Todes, der Nationalist am Ende und Wagnerianer von
Anfang bis zu Ende.

Sind es Wellen I sanfter Lüfte?


Sind es Wogen I wonniger Düfte?
Wie sie schwellen, I mich umrauschen,
soll ich atmen, I soll ich lauschen?
IU
Soll ich schlürfen, I untertauchen,
süß in Düften I mich verhauchen?
In des Wonnemeeres I wogendem Schwall,
in der Duftwellen I tönendem Schall,
in des Weltatems I wehendem All-
ertrinken - I versinken -
unbewußt- I höchste Lust!

Das ist das äußerste und höchste Wort dieser Welt, ihre Krönung,
ihr Triumph, geprägt und gesättigt von ihrem Geiste, dessen
europäische, mystisch- sinnliche Artistik durch Wagner und den
frühen Nietzsche die Stilisierung ins Deutsch-Bildungsmäßige
erhält, die Beziehung auf die Tragödie, mit den Richtpunkten
Euripides, Shakespeare und Beethoven. Nietzsche, in seiner Ge-
reiztheit durch eine gewisse deutsche Unklarheit in psychologi-
schen Dingen, korrigiert das später reuig, indem er Wagners
europäische Artistik überbetont und sein deutsches Meisterturn
verhöhnt. Mit Unrecht. Wagners Deutschtum war echt und
mächtig. Und daß das Romantische auf deutsch und in der Maske
treuen Meistertums auf seinen Gipfel kam und seinen Welterfolg
beging, war ihm seinem Wesen nach vorbestimmt.

Ein letztes Wort über Wagner als Geist, über sein Verhältnis zu
Vergangenheit und Zukunft. Denn auch hier besteht eine Dop-
peltheit und Verschränktheit scheinbarer Widersprüche inseinem
Charakter, die dem Gegensatz von Deutschtum und Europäismus
entspricht. Es sind reaktionäre Züge in Wagners Erscheinung,
Züge von Rückwärtsgewandtheit und dunklem Vergangenheits-
kult; man könnte die Vorliebe fürs Mystische und Mythisch-
Ursagenhafte, den protestantischen Nationalismus der >Meister-
singer< sowohl als das Katholisieren im >Parsifal<, die Neigung
zum Mittelalter, Ritter- und Fürstenwesen, zu Wundern und
Glaubensinbrunst in diesem Sinne deuten. Und doch verbietet
jedes Gefühl für die eigentliche und wahreNaturdieses durch und
durch auf Neuerung, Änderung, Befreiung gestellten Künstler-
turns es aufs strikteste, seine Sprache und Ausdrucksweise wört-
lich zu nehmen und nicht als das, was sie ist: ein Künstleridiom
eben sehr uneigentlicher Art, mit dem auf Schritt und Tritt ganz
anderes, vollkommen Revolutionäres gemeint ist. Diesen bei aller
seelischen Schwere und Todesverbundenheit lebengeladenen und
stürmisch-progressiven Schöpfergeist, den Verherrlicher des aus
freiester Liebe geborenen Weltzertrümmerers; diesen verwege-
nen musikalischen Neuerer, der im >T ristan< mit einem Fuß schon
IIJ
auf atonalem Boden steht und dessengleichen man heute ganz
sicher einen Kulturbolschewisten nennen würde; diesen Mann
des Volkes, der Macht, Geld, Gewalt und Krieg sein Leben lang
innig verneint hat und sein Festtheater, was auch die Epoche
daraus gemacht haben möge, einer klassenlosen Gemeinschaft zu
errichten gedachte: ihn kann kein Geist des frommen oder bruta-
len Zurück- es darf ihn jeder zukünftig gerichtete Wille für sich in
Anspruch nehmen.
Aber es ist müßig, große Männer aus der Verewigung insJetzt zu
beschwören, um ihnen ihre - etwaige - Meinung über Probleme
gegenwärtigen Lebens abzufragen, die ihnen so nicht gestellt
waren und denen sie geistesfremd sind. Wie würde Richard
Wagner sich stellen zu unseren Fragen, Nöten und Aufgaben?
Dies »würde« ist hohl und phantomhaft, es ist keine Denkbarkeit.
Meinungen sind sekundär, schon zu ihrer Zeit; wie sehr sind sie
es erst später! Was bleibt, ist der Mensch und das Produkt seines
Kampfes, sein Werk. Begnügen wir uns, Wagners Werk zu vereh-
ren als ein gewaltiges und vieldeutiges Phänomen deutschen und
abendländischen Lebens, von dem tiefste Reize ausgehen werden
allezeit auf Kunst und Erkenntnis.
RICHARD WAGNER
UND DER >RING DES NIBELUNGEN<

Meine Damen und Herren,


in dem Vortrag über Richard Wagner, mit dem ich, vor nun bald
fünf Jahren, im Auditorium maximumder Münchner Universität,
ohne es zu wissen oder zu ahnen, von Deutschland Abschied
nahm,. brauchte ich die Worte: »Die Passion für Wagners zauber-
volles Werk begleitet mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr
wurde und es mir zu erobern, es mit Erkenntnis zu durchdringen
begann. Was ich ihm als Genießender und Lernender verdanke,
kann ich nie vergessen, nie die Stunden tiefen, einsamen Glückes
inmitten der Theatermenge, Stunden voll von Schauern und
Wonnen der Nerven und des Intellekts, von Einblicken in rüh-
rende und große Bedeutsamkeiten, wie eben nur diese Kunst sie
gewährt.« - Aus den angeführten Worten spricht eine Bewunde-
rung, die durch keine Skepsis, auch durch keinen feindseligen
Mißbrauch, zu dem ihr großer Gegenstand etwa die Handhabe
bietet, je im geringsten hat beeinträchtigt oder auch nur berührt
werden können: Glücklicherweise! Denn die Bewunderung ist
das Beste, was wir haben, - ja, wenn man mich fragte, welchen
Affekt, welches Gefühlsverhältnis zu den Erscheinungen der
Welt, der Kunst und des Lebens, ich für das schönste, glücklichste,
förderlichste, unentbehrlichste halte, würde ich ohne Zögern
antworten: Es ist die Bewunderung. Wie denn auch anders? Was
wäre der Mensch, der Künstler gar, ohne Bewunderung, Enthu-
siasmus, Erfülltheit, Hingegebenheit an etwas, was nicht er selbst
ist, was viel zu groß ist, um er selbst zu sein, aber was er als das
Hochverwandte und mächtig Zusagende empfindet, dem näher
zu kommen, das »mit Erkenntnis zu durchdringen« und sich ganz
zu eigen zu machen ihn leidenschaftlich verlangt? Bewunderung
ist die Quelle der Liebe, sie ist schon die Liebe selbst - die keine
tiefe Liebe, keine Passion und vor allen Dingen ohne Geist wäre,
wenn sie nicht auch zu zweifeln, an ihrem Gegenstand zu leiden
wüßte. Bewunderung istdemütigund stolz zugleich, stolz auf sich
selbst, sie kennt die Eifersucht, die jugendlich herausfordernde
Frage: »Was wißt denn ihr davon?« Sie ist das Reinste und
Fruchtbarste zugleich, der Aufblick und der Antrieb zum Wett-
streit, sie lehrt den hohen Anspruch und ist das stärkste und
erzieherisch strengste Stimulans zum eigenen geistigen Beitrag,
die Wurzel alles Talentes. Wo sie nicht ist, wo sie abstirbt, da keimt
nichts mehr, da ist Verarmung und Wüste.
Ich bin, meine Damen und Herren, mit diesem entschiedenen
Glauben an die Bewunderung als produktive Kraft nichts weiter
als ein Schüler des ungeheueren Künstlers, über den ich damals in
München sprach und heute wieder spreche. In der berühmten
·Mitteilung an meine Freunde< hat Wagner geradehin das künstle-
rische Vermögen auf die Gabe der Bewunderung oder, wie er sich
ausdrückt, auf die »Kraft des Empfängnisvermögens« zurückge-
führt. »Der erste künstlerische Wille«, sagt er, »ist nichts anderes
als die Befriedigung des unwillkürlichen Triebes der Nachah-
mung dessen, was am einnehmendsten auf uns wirkt.« Ein Satz,
überaus kennzeichnend zunächst für den, der ihn aufstellt, und für
sein persönliches Genie, das im Schauspielerisch-Imitatorischen
wurzelt, aber zugleich ein Satz von vielemobjektivem Wahrheits-
gehalt. Den künstlerischen Charakter bestimme dies eine, sagt er,
daß er sich- ganz im Gegensatz zum politischen, der die Außen-
welt nur auf sich und seinen Vorteil, sich selbst aber niemals auf sie
beziehe - rückhaltlos den Eindrücken hingebe, die sein Empfin-
dungswesen sympathisch berühren: Eindrücken des Lebens und
vor allem der Kunst; denn das, was den Künstler als solchen zuerst
bestimme, seien unbedingt die rein künstlerischen Eindrücke.
Ihre Macht aber bemesse sich eben nach der Kraft des Empfäng-
nisvermögens, das bis zu einem entzückenden Übermaß von den
Eindrücken erfüllt sein müsse, um zum Mitteilungsdrang zu
werden. Die künstlerische Kraft liege in der Fülle dieses Überma-
ßes, dieses Enthusiasmus bedingt; sei nichts anderes als das Be-
dürfnis, das überwuchernde Empfangene in der Mitteilung wie-
der von sich zu geben. Kraft, Lebens-und Liebeskraft, Kraft der
Aneignung des Verwandten und Nötigen sei das Wesen des
Genies, jene Empfängniskraft also, die in ihrer vollendetsten
Stärke notwendig zur produktivsten Kraft werden müsse.
Noch einmal, der sachliche Wahrheitsgehaltdieses Bekenntnisses
ist unbestreitbar. Es ist eine ebenso hochherzig-schöne wie zu-
treffende Feststellung, daß die Gabe der Bewunderung, die Fähig-
keit zu lieben und zu lernen, die Kraft der Aneignung, Assimila-
tion, Verwandlung, persönlichen Fortbildung jeder großen Bega-
bung zu Grunde liegt. Und uns, die wir zusammengekommen
sind, ein großes Werk zu bewundern, uns im Geist auf seine
festliche Anschauung vorzubereiten, steht es wohl an, mit einer
überzeugenden Huldigung an die Bewunderung selbst den An-
fang zu machen.
Er war ein großer Bewunderer, der Meister dieses Werkes,-nicht
116
nur im klassischen Lebensalter des Enthusiasmus, der Jugend,
sondern, seiner gewaltigen Vitalität gemäß, bis ins hohe Alter
hinein und bis an sein Ende. Uns ist überliefert, wie er während
seiner letzten Lebenszeit im Vendramin-Palast zu Venedig, und
übrigens auch schon früher in Bayreuth, seiner Familie und den
Freunden als Abendunterhaltung allerlei Dichtungen und Musik-
stücke vorzulesen und vorzuspielen pflegte: Shakespeare, Calde-
ron und Lope, Indisches und Altnordisches, Bach, Mozart und
Beethoven - unter beständigen Kommentaren, lobpreisenden
Erörterungen und Charakteristiken von begeisterter Schlagkraft.
Es ist rührend, ihn von deJ:Il »zarten Licht- und Liebesgenius
Mozarts« sprechen zu hören, den er gewiß immer tief bewundert
hat, dem er aber vielleicht erst jetzt, im betrachtenden Alter, wo
sein eigenes, so viel weniger zelestes, so viel schwerfüßigeres und
beladeneresWerk abgetan und in Sicherheit gebracht ist, in ganz
reiner und freier Hingabe zu huldigen vermag. Ja, es scheint, daß
die Bewunderung für fremdes Schönheitsgut, weit entfernt das
Vorrecht aktiver und kämpfender Jahre zu sein, vielleicht im
Alter, nach getanem eigenen Tagewerk, wenn nicht mehr das Ich
sich darauf zu beziehen, sich darin zu spiegeln, sich damit zu
vergleichen braucht, erst recht frei w~rd und in lauterer Unbefan-
genheit walten kann. »Schön ist«, sagt Kant, »was ohne Interesse
gefällt.« Nun, demjenigen, dem selbst aufgegeben war, gewaltig
Schönes hervorzubringen, kann anderes Schönes ganz erst viel-
leicht »ohne Interesse« gefallen. Das Lob, das er ihm spendet,
braucht nicht mehr ihm selbst zu schmeicheln, ihn selbst zu
bestätigen und zu verteidigen. Der alte Meister bewundert Felix
Mendelssohn, er nennt ihn »das Beispiel eines besonnenen und
maßvollen, feinen künstlerischen Sinnes«. Das sind Lobesworte,
die nicht gerade vorzugsweise auf ihn selbst passen; es ist objek-
tive, unegoistische Bewunderung. - Beethoven war immer das
Höchste und Größte,- »man kann«, sagt er noch als Greis, »von
ihm nicht reden, ohne in den Ton der Verzückung zu verfallen«.
Aber nach dem Vortrag der >Hammerklaviersonate< bricht er,
hingerissen von diesen »reinen Spektren des Daseins«, in die
merkwürdigen Worte aus: »So etwas ist aber auch nur für Klavier
zu denken- vor der Menge zu spielen, barer Unsinn.« Das sagt der
große Theatraliker und Massenerschütterer, der Orchesterheros,
der immer auf eine hohe Art an die Menge appellierte und sie zur
Erfüllung seiner Sendung brauchte. Ist nicht, was er über die
Klaviersonate sagt, ein freies, selbstvergessenes Zugeständnis an
eine seelische Intimität und Ausschließlichkeit, die nicht seine
Sache war, die liebende, ja eifersüchtige Inschutznahme eines
117
Ranges, mit dem er sich nicht mißt? Ist es nicht ganz uneigennüt-
zige Bewunderung?
Neben Beethoven weiß er nur Shakespeare zu stellen,- neben das
höchste Idealische die höchste Realität, das furchtbare Gleichnis
des Lebens. Er liest den Seinen die Königsdramen, den >Hamlet<,
den >Macbeth<, und manchmal muß der Schöpfer des>T ristan< sich
unterbrechen, Tränen künstlerischen Entzückens in den alten
Augen. »Was hat der Mann gesehen!« ruft er aus. "Was hat er
gesehen! Er bleibt der ganz Unvergleichliche! Er ist nur als
Wunder zu verstehen!« Wie, das Wortdrama, die »Literaturdich-
tung«, wie es früher zuweilen mit schlimmem Akzente hieß, hat da
einmal das Unvergleichliche, das Wunder gezeitigt? Wasistesmit
der Heilsbotschaft vom Gesamtkunstwerk, das allein die Kunst
verwirklichen und dem die Zukunft gehören sollte?- Das war
Kampfdialektik, leidenschaftliche und unentbehrliche Propa-
ganda seiner selbst. Es mag im Buch stehen bleiben. Mündlich
huldigt er, der sich ganz erfüllt hat und nun von anderem frei
erfüllt sein kann, Gipfeln der Welt- und Menschengestaltung im
bloßen Worte, die er gewiß ebenso hoch über sich sieht, wie
Goethe sie zeit seines Lebens über sich zu sehen erklärte.
Und Goethe selbst? Auch ihm begegnen wir an diesen veneziani-
schen Abenden, auch ihm sehen wir die Bewunderungsfreudig-
keit des alten Meisters begegnen, und zwar auf höchst charakteri-
stischem Gebiet. Es ist die >Klassische Walpurgisnacht< aus dem
zweiten Teil des >Faust<, die der große Mythiker in jenem engen
Kreise mit Vorliebe liest und über die er sich dabei in Äußerungen
staunender Sympathie ergeht. ,. Dies ist wohl das Originellste und
künstlerisch Vollendetste«, pflegte er zu sagen, »was Goethe
geschaffen hat. Eine solche völlig eigenartige Wiederbelebung des
Altertums in freiester Form, mit solchem meisterlichen Humor
und genial gesehener Lebendigkeit, in einer auf das Feinste künst-
lerisch gebildeten Sprache«, rief er immer wieder, sei eine unver-
gleichliche Erscheinung.- Es tut wohl, den Wagnerischen Genius
sich hier im Privaten einmal- denn in den Schriften geschieht es
niemals, daß ich wüßte- vor dem Goethe's neigen zu sehen; es ist
ein hochmerkwürdiges Vorkommnis, die Berührung dieser sonst
so entgegengesetzten, so polarisch von einander entfernten Sphä-
ren; es beruhigt und beglückt, dies Erlebnis, zwei gewaltige und
kontradiktorische Ausformungendes vielumfassenden Deutsch-
tums, die nordisch-musikalische und die mittelländisch-plasti-
sche, die wolkenschwer-moralistische und die erleuchtet-him-
melsheitere, die volk-und sagenhaft urtümliche und die europä-
ische, Deutschland als mächtigstes Gemüt und Deutschland als
118
Geist und vollendetste Gesittung,- aufeinmal befreundet zusam-
mentreten zu sehen. Denn dies beides sind ja wir,- Goethe und
Wagner, beides ist Deutschland. Es sind die höchsten Namen für
zwei Seelen in unserer Brust, die sich von einander trennen wollen
und deren Widerstreit wir doch als ewig fruchtbar, als Lebens-
quell inneren Reichtums immer aufs neue empfinden lernen
müssen; für die deutsche Doppeltheit, den deutschen Zwiespalt,
der immer im Seeleninneren des höheren deutschen Menschen
selbst verläuft, und den wir hier durch Wagners selbstlose Alters-
bewunderung für Goethe's griechische Phantasmagorie mit tie-
fem Vergnügen einen Augenblick überbrückt sehen.
Ein Zufall ist es natürlich nicht, daß gerade der Mythus den Boden
abgibt für die Begegnung. Der alte Mythenbildner und -deuter,
der schon nach dem >Fliegenden Holländer< erklärte, fortan nur
noch Märchen erzählen zu wollen, ist entzückt, seinenhochurba-
nen Gegenspieler in diesem V rbereich, seinem eigensten Bezirke,
anzutreffen und kann sich nicht genug freuen und wundern über
die leichte und überlegen geistvolle Anmut, mit der dieser sich
darin bewegt. Welch ein Unterschied in der Tat zwischen der
Wagnerischen und der Goethe' sehen Art, den Mythus zu traktie-
ren, - selbst abgesehen von der Verschiedenheit der mythischen
Sphären, also davon, daß Goethe sein geistiges Theater nicht mit
Lindwürmern, Riesen und Zwergen, sondern mit Sphinxen, Grei-
fen, Nymphen, Sirenen, Psyllen und Marsen bevölkert, das heißt:
nicht mit ur-germanischen, sondern mit ur-europäischen Wesen,
gewiß nicht seelendeutsch genug in Wagners Augen, um musikfä-
hig zu sein. Aber auch sonst - welch ein Antagonismus der
künstlerischen Haltung und Gesinnung! Größe, unzweifelhafte
Größe da wie dort. »Gestalten groß, groß die Erinnerungen.«
Aber die Großartigkeit der Goethe'schen Vision ist ohne jeden
pathetischen und tragischen Akzent; er zelebriert den Mythus
nicht, er scherzt mit ihm, er behandelt ihn mit liebevoll-vertrauli-
cher Neckerei, er beherrscht ihn bis ins Kleinste und Entlegenste
und macht ihn im heiteren, witzigen Wort mit einer Genauigkeit
sichtbar, die mehr von Komik, ja von zärtlicher Parodie als von
Erhabenheit hat. Es ist eine mythische Belustigung, dem Welt-
Revue-Charakter der Faustdichtung ganz gemäß. Aber nichts
kann unwagnerischer sein, als Goethe's ironische Art, den My-
thus zu beschwören, und dem jüngeren, selbst noch werkgebun-
denen Wagner hat die >Klassische Walpurgisnacht< gewiß wenig
oder nichts zu sagen gehabt. Erst sein zu reinobjektiver Anschau-
ung befreiter Kunstverstand vermag sie zu bewundern.
Wagners persönlicher Weg zum Mythus, will sagen: sein Wachs-
119
turn aus dem hergebrachten Opernwesen zum Revolutionär der
Kunst und der Entdecker einer neuen, aus Mythus und Musik
geborenen Spezies des Dramas, geeignet, den geistigen Rarig, die
künstlerische Würde der Opernbühne ungeheuer zu erhöhen, ihr
einen wahrhaft deutschen Ernst zu verleihen,- dieser Weg, dieses
Wachsturn sind immer aufs neue der Betrachtung wert, sie werden
kunst-und theatergeschichtlich immer höchst merk- und denk-
würdig bleiben. Aber auch das menschliche Interesse des Vor-
gangs ist groß, denn mit seinen ästhetisch-artistischen Motiven
und Antrieben verbinden sich sittliche, sozial-ethische, kunst-
moralische, die ihm erst sein volles Pathos verleihen: Es handelt
sich um einen kathartischen Prozeß, einen Prozeß der Läuterung,
Reinigung und Durchgeistung, der menschlich um so höher zu
veranschlagen ist, weil es die leidenschaftlichste, von heftigen und
dunklen Trieben nach gewaltiger Wirkung, Macht und Genuß
durchwühlte Natur war, die ihn sich auferlegte und in der er sich
vollzog.
Man weiß, wie der Drang dieser bis ZtJr Gefährlichkeit vielfach
begabten Künstlernatur sich zunächst auf die große historische
Oper warf und in der gegebenen, dem Publikum vertrauten Form,
mit dem >Rienzi<, einen Triumph errang, der jeden anderen be-
stimmt hätte, sein Leben lang auf diesem gangbaren Wege fortzu-
schreiten. Was Wagner daran hindert, ist die Tiefe seines geistigen
Gewissens, seine Fähigkeit zum Ekel, sein instinktiver, noch
ungeklärter Widerwille gegen die flach und luxuriös unterhal-
tende Rolle, die das musikalische Theater in der ihn umgebenden
bürgerlichen Gesellschaft spielt; es ist insbesondere sein Verhält-
nis zur Musik, über die er zu fromm, zu deutsch in einem alten,
hohen Sinne des Wortes denkt, um nicht ihr innerstes Wesen als
mißbraucht zu empfinden durch die große Oper: sie dünkt ihn zu
schade, schlicht gesagt, um einem pomphaften bürgerlichen Spek-
takel als tönender Aufputz zu dienen, sie sehnt sich in ihm nach
reineren, gernäßeren dramatischen Verbindungen. Im >Fliegen-
den Holländer<, >Tannhäuser< und >Lohengrin< sehen wir ihn mit
wachsendem Glück bemüht, der Musik solche würdigeren Ver-
bindungen zu gewinnen. Seine produktive Vertiefung ins Roman-
tisch-Sagenhafte kommt der Eroberung des Rein-Menschlichen
gleich, das er, im Gegensatz zum Historisch-Politischen, als die
eigentliche Heimatsphäre der Musik empfindet; sie bedeutet ihm
aber zugleich die Wendung hinweg von einer bourgeoisen Welt
der Kulturverrottung, der falschen Bildung, der Geldherrschaft,
sterilen Gelehrtheit und gelangweilten Seelenlosigkeit- zu einer
Volkhaftigkeit, Volkstümlichkeit, die ihm mehr und mehr als das
120
sozial und künstlerisch Zukünftige, das Erlösende und Reini-
gende erscheint.
Wagner hat die moderne Kultur, die Kultur der bürgerlichen
Gesellschaft durch das Medium und im Bilde des Operntheater-
Betriebes seiner Zeit erlebt. Die Stellung der Kunst oder doch
dessen, was künstlerisch seine Sache war, in dieser modernenWeh
wurde ihm zum Kriterium für den Wert der bürgerlichen Kultur
überhaupt- was Wunder, daß er sie verachten und hassen lernte?
Er sah die Kunst zum üppigen Genußmittel, den Künstler zum
Sklaven der Geldmacht erniedrigt, sah Leichtfertigkeitund trägen
Schlendrian, wo er sich heiligen Ernst und schöneWeihe ersehnte,
sah mit Ingrimm die Vergeudung ungeheuerer Mittel- nicht für
die hohe Wirkung, sondern für das, was er als Künstlerammeisten
verachtete: für den Eff~kt; und da er niemanden an alldem leiden
sah, wie er selber litt, schloß er auf die Nichtswürdigkeit der
politischen und sozialen Zustände, die dergleichen hervorbrach-
ten und mit denen es zusammengehörte, - er schloß auf die
Notwendigkeit ihrer revolutionären Umgestaltung.
So wurde Wagner zum Revolutionär. Er wurde es als Künstler,
weil er sich von der Veränderung aller Dinge glücklichere Bedin-
gungen für die Kunst, für seine Kunst, das mythisch-musikalische
Volksdrama versprach. Ein eigentlich politischer Mensch zu sein,
hat er stets geleugnet und aus seinem Widerwillen gegen das
Treiben der politischen Parteien nie ein Hehl gemacht. Wenn er
die Revolution von I 848 bejahte und anihrteilnahm, so geschah es
aus allgemeiner revolutionärer Sympathie und kaum um ihrer
konkreten Ziele willen, über die sein wahres Träumen undWollen
weit hinausging, denn es ging über das bürgerliche Zeitalter selbst
hinaus. Man muß sich darüber klar sein, daß ein Werk, wie >Der
Ring des Nibelungen<, das Wagner nach dem >Lohengrin< konzi-
pierte, im Grunde gegen die ganze bürgerliche Kultur und Bil-
dung gerichtet und gedichtet ist, wie sie seit der Renaissance
herrschend gewesen war, daß es sich in seiner Mischung aus
Urtümlichkeit und Zukünftigkeit an eine inexistente Welt klas-
senloser Volklichkeit wendet. Die Widerstände, auf die es stieß,
die Empörung, die es erregte, richteten sich viel weniger gegen das
Revolutionäre seiner Form und dagegen, daß es mit den Regeln
einer Kunstgattung, der Oper, brach, aus der es offenkundig
heraustrat. Es trat noch aus ganz anderem heraus. Der deutsche
Goethemensch, der seinen >Faust< auswendig wußte, erhob zor-
nig-verächtlichen Protest dagegen, -einen respektablen Protest,
der aus der noch bestehenden Verbundenheit mit der Bildungs-
welt des deutschen Klassizismus und Humanismus kam, von
12I
welcher dieses Werk sich lossagte. Der deutsche Bildungsbürger
lachte über das »Wagalaweia« undalldie Stabf"eimerei wie über
eine barbarische Schrulle, und wenn es das Wort schon gegeben
hätte, so hätte er Wagner einen Kulturbolschewisten genannt.-
nicht ohne Fug. Der ungeheuere, man kann sagen: planetarische
Erfolg, den dann dennoch die bürgerliche Welt, die internationale
Bourgeoisie dieser Kunst dank gewisser sinnlicher, nervöser und
intellektueller Reize, die sie ihr bot, bereitete, ist ein tragikomi-
sches Paradox und darf nicht vergessen machen, daß sie einem
ganz anderen Publikum zugedacht ist und sozial-sittlich weit
hinauszielt über alle kapitalistisch-bürgerliche Ordnung in eine
von Machtwahn und Geldherrschaft befreite, auf Gerechtigkeit
und Liebe gegründete, brüderliche Menschenwelt.
Der Mythus ist für Wagner die Sprache des noch dichterisch-
schöpferischen Volkes,- darum liebt er ihn und gibt sich ihm als
Künstler ganz und gar hin. Mythus, das ist ihm Einfalt, Bildungs-
fremdheit, Erhabenheit, Reinheit- kurz, das, was er das »Rein-
Menschliche« nennt und was zugleich das einzig Musikalische ist.
Mythus und Musik, das ist das Drama, das ist die Kunst selbst,
denn nur das Rein-Menschliche erscheint ihm kunstfähig. Wie
untauglich fürdie Kunst, oderfür das, was er unter Kunst versteht,
alles Historisch-Formelle und Verhältnishafte - im Gegensatz
zum Quellrein-Ewig-Menschlichen- ist, begreift er erst recht, als
er sich vor die Wahl zwischen zwei Stoffen gestellt findet, die sich
schon während der Komposition des >Lohengrin< seiner Phantasie
bemächtigen: >Friedrich der Rotbart< und >Siegfrieds Tod<. Es gibt
einen langen, mit viel theoretischer Grübelei verquickten Kampf
um die Entscheidung zwischen diesen beiden Gegenständen, und
wie darin der U rheldenmythus über die Kaiser-Historie siegt, das
erzählt Wagner selbst in der großen, später in der Schweiz ge-
schriebenen Mitteilung an seine Freunde, die überhaupt zum
Aufschlußreichsten gehört, was wir der Bekenntnisfreudigkeit
dieses großen Künstlers verdanken. Er setzt da auseinander, wie er
den Stoff des >Rotbart<, der ihn als Gegenstand deutscher Vergan-
genheit anzog, eben seines politisch-historischen Charakters we-
gen nur in Form des Sprechdramas hätte behandeln können und
auf die Musik, deren er doch zur Ergänzung und Erfüllung seines
Dichterturns bedurfte, ganz dabei hätte verzichten müssen. Zur
Zeit des >Rienzi<, als er noch Opernkomponist war, hätte er wohl
darandenken können, ein Friedrich-Drama in Musik zu setzen.
Aber er war kein Opernkomponist mehr und konnte auf diese
Stufe zurückzutreten um so weniger wünschen, als er sein persön-
liches künstlerisches Schicksal stets in voller Naivität der Kunst
122
selbst gleichsetzte und überzeugt war, daß die Oper wie das
gesprochene Drama, nachdem er sie überwunden, für immer zu
verschwinden hätten, daß das Neue, das er brachte, nämlich das
mythische Musik-Theater das Kunstwerk der Zukunft sei. Für
dieses aber taugte als Gegenstand allein das von aller Konvention
befreite Ungeschichtlich-Rein-Menschliche,- und wie glücklich
war also Wagner, daß er bei der Penetration des Stoffes, fürden er
sich entschied, der Siegfried-Sage, immer mehr historische
Schlacken aussondern, den Gegenstand schichtweise von späte-
ren Umkleidungen befreien und ihn bis dorthin zurückführen
konnte, wo er neugeboren, in reinster menschlicher Erscheinung,
aus dem dichtenden Volksgemüt hervorgegangen war. Dieser
sonderbare Revolutionär war ebenso radikal in Hinsicht auf die
Vergangenheit wie in Dingen der Zukunft. Die Sage genügte ihm
nicht: es mußte der Ur-Mythus sein. Das mittelalterliche Nibe-
lungenlied - das war schon Modernität, Entstellung, Kostüm,
Geschichte, bei weitem nicht volksfrüh und musikalisch genug,
um für die Kunst zu taugen, die er meinte. Er mußte zurückdrin-
gen bis zum Urquell und Anbeginn, bis auf den vordeutsch-
skandinavisch-frühgermanischen Edda -Grund des Mythus- erst
das war die heilige Vergangenheitstiefe, die seinemZukunftssinn
entsprach. Er wußte noch nicht, daß er auch innerhalb seines
Werkes es nicht über sich gewinnen würde, an einem schon
irgendwie historisch belasteten Anfang haltzumachen und einzu-
setzen, irgendwie in medias res einzutreten; daß er auch hier auf
eine herrliche Weise genötigt sein würde, bis zumUrsprungund
Erzbeginn aller Dinge, der Urzelle, dem ersten Contra-Es des
Vorspiels vom Vorspiel zurückzugehen; daß es ihm auferlegtsein
werde, eine musikalische Kosmogonie, ja einen mythischen Kos-
mos selbst zu erbauen und mit tiefsinnig organischem Bios zu
begaben: das tönende Schaugedicht von der Welt Anfang und
Ende. Das aber wußte er schon, daß er bei seinem unersättlichen
Zurückdringen in die letzte Tiefe und Frühe auch den Menschen
und Helden gefunden hatte, nach dem es ihn verlangte, den
Helden, den er, wie Brünnhilde, liebte, bevor er geboren war,
seinen Siegfried, eine Gestalt, die seine Vergangenheitsleiden-
schaft ebenso entzückte und befriedigte wie seine Zukunftslust,
denn sie war zeitlos: Den Menschen- ich gebrauche seine eigenen
Worte - »in der natürlichsten, heitersten Fülle seiner sinnlich
begabten Kundgebung, den männlich verkörperten Geist der
ewig und einzig zeugenden Unwillkür, den Wirker wirklicher
Taten, in der Fülle höchster, unmittelbarster Kraft und zweifel-
losester Liebenswürdigkeit«. Diese durch nichts bedingte und
Il3
beengte mythische Lichtgestalt also, den ungeschützten, ganz auf
sich selbst gestellten und aus sich selbst lebenden, in Freiheit
strahlenden Menschen, den furchtlos unschuldigen Täter und
Schicksalserfüller, der durch das erhabene Naturereignis seines
Todes die Dämmerung alter abgelebter Weltmächte heraufführt
und die Welt erlöst, indem er sie auf eine neue Stufe der Erkenntnis
und Sittlichkeit hebt,- ihn machte Wagner zum Helden des der
Musik zugedachten Dramas, das er - nicht mehr in modernen
Reimen, sondern in der alliterierenden Sprache seiner alt-nor-
dischen Quelle- entwarf und •Siegfrieds Tod< nannte.
Er sollte es nicht in der Heimat ausführen. In den Dresdener
Aufstand vom Jahre I 849 verwickelt, war Wagner von heute auf
morgen ein politischer Flüchtling und, wie unsere Sprache will, im
Elend, das heißt: im Ausland. Aber nicht das Ausland, wo er bald
Freunde fand, wie er sie in Deutschland noch nicht gefunden hatte
und in deren Schutz ihm sein ganzes ferneres Werk bis hin zum
>Parsifal< erwuchs, war sein Elend und Herzeleid, sondern
Deutschland war es, und er litt unter dem Fehlschlagen der
Revolution, wie er später unter dem Siege Preußens über Oster-
reich, der Errichtung der preußischen Hegemonie in Deutschland
litt. Die ganze deutsche politische Entwicklung bis I 87o-und wer
weiß, ob nur bis dahin- ist gegen seine Wünsche gegangen, die also
wohl falsche Wünsche waren. Aber die Anbetung der Fakten ist
keine sehr hochherzige Haltung vor der Geschichte, und diese ist
nichts so Großartiges, daß man die kleinen Völker, die nicht oder
möglichst wenig an ihr teilhaben, besonders bedauern müßte oder
daß man die von höheren Menschen gehegten Wünsche, die von
der Geschichte durchkreuzt wurden, darum nicht ehren sollte.
Vielleicht, wer weiß es, stände es besser um Deutschland und
besser um Europa, wenn die deutsche Geschichte sich nach den
Wünschen Wagners, nämlich im Sinne der Freiheit, gestaltet
hätte,- Wünschen, die er mitvielenhöheren Deutschen teilte, und
deren Fehlschlagen den Dichter von •Siegfrieds Tod< denn also in
die Schweiz verschlug.
Wir wollen das nicht bedauern. Nirgends, auch zu Hause nicht,
hätte sein Lebenswerk sich wundervoller entfalten können als
hier, und es fehlt nicht an Dokumenten dafür, daß er sich dessen
dankbar bewußt war. ,.Laßt mich nun still vollends ausarbeiten«,
schreibt er im Herbst I 8 59 an Otto W esendonck. ,. Laßt mich noch
die Werke schaffen, die ich dort empfing, im ruhigen, herrlichen
Schweizerlande, dort, mit dem Blick auf die erhabenen, goldbe-
kränzten Berge: es sind Wunderwerke, und nirgends (sonst) hätte
ich sie empfangen können.«- Wunderwerke- es ist schön, wie er
das in seinem tragischen, hochbezahlten Glück so offen aus-
spricht, einfach weil es die reine Wahrheit ist. Keine Bezeichnung
paßt besser auf diese unerhörten Manifestationen der Kunst, und
auf nichts sonst in der Geschichte künstlerischer Hervorbringung
paßt sie besser-gewisse Großschöpfungen der Baukunst, ein paar
gotische Dome allenfalls beiseite genommen. Auch soll am Ende
nicht einmal etwas unbedingt Höchstes damit gesagt sein: Wir
wären gar nicht so sehr versucht, anderes teure und unentbehrli-
che Kultur- und Seelengut, den >Hamlet< etwa, die >Iphigenie<
oder auch die IX. Symphonie, als "Wunderwerke« zu bezeichnen.
Aber die Tristan-Partitur - namentlich in ihrer seelisch kaum
faßbaren und fast vexatorischen Nachbarschaft mit den >Meister-
singern< - und dies beides wieder als bloße Erholung von dem
minutiösen Riesengedankenbau des >Ringes< genommen- das ist
Wunderwerk. Es ist das Werk einer durchaus einmaligen Erup-
tion von Talent und Genie, das zugleich tief ernste und berük-
kende Werk eines ebenso seelenvollen wie von Klugheit trunke-
nen Magiers.
Diesen außerordentlichen Menschen so lange umhegt und bei sich
zu Gast gehabt zu haben, muß der Schweiz höchst denkwürdig
sein, und eine Gesamtaufführung des >Nibelungenringes<, wie
jetzt das Stadttheater von Zürich sie zu bieten vorhat, ist ein
lebendiger Anlaß, der Beziehungen des Werkes zu dieser Stadt zu
gedenken, Beziehungen, wie ihrer keine andere sich rühmen kann.
Wenn das Zufall ist, so ist es ein sinnreicher und beifallswürdiger
Zufall. Ja, es ist recht und schicklich, daß dies kühne Werk
deutschen Geistes, das sich die Welt erobern sollte, in der freien
und zuträglichen Atmosphäre dieser Stadt entstand, einer Welt-
stadt, nicht dem Format, aber der Situation und Aufgabe nach, die
allem europäisch-avantgardehaften Wagen immer freundlich war
und hoffentlich bleiben wird. Hier hat Wagner gelebt in den
fünfzigerJahrendes vorigen Jahrhunderts, die die Ausgestaltung
der Dichtung und einen großen Teil der musikalischen Ausfüh-
rung sahen; hier, im" Unteren Saal des Dependance-Gebäudes des
Hotel de Baur«, hat an vier aufeinanderfolgenden Abenden, vom
16. bis 19. Februar 1853 die erste Vorlesung der Dramen vor
geladenem Publikum durch den Verfasser stattgefunden; von hier
sind eine Menge Briefe datiert, die von dem Fortschreiten des
Werkes, den Stockungen darin, den begeisterten Mühen damit
Kunde geben, sanguinisch-programmatische Nachrichten wie
diese vom März 1854 an die Nichte Clara Brockhaus: »Das
>Rheingold< ist seit November angefangen und fertig geworden:
nur instrumentiere ich noch dran. Im Sommer componiere ich die
125
•Walküre<; Frühjahr nächsten Jahres geht's an den >jungen Sieg-
fried<, so daß ich im Sommer übernächsten Jahres auch mit
>Siegfrieds Tod< fertig geworden zu sein denke ... «Das war ein
Irrtum. Wo und wann die >Götterdämmerung< vollendet wurde,
meldet erst die Gedenktafel am Hause von Triebschen. Der
Meister des ·Ringes< war ein äußerst kritischer und wählerischer
Künstler, der, wie er sich in einem anderen Briefe ausdrückt, >>an
seiner Arbeit nur so weit Gefallen finden durfte, als er das kleinste
Detail davon« (und sein Riesenwerk ist reich an »kleinstem
Detail«) »nur guten Einfällen verdankte«. Das geht nicht so
schnell. Wenn aber Zürich sich nun das Ring-Werk wiedereinmal
in seiner ganzen Größe vor Augen führt, so darf es wie Goethe's
Herzog vom Gedichte Tasso's davon sagen: »Und nenn' es in
gewissem Sinne mein.« ·
Aus Zürich, genauer: von einem Ausflug nach Albisbrunn, ist
auch der große Brief an Liszt vom 20. November r8p dadiert,
worinWagnerdem Weimarer Freund und Gönner den Plan seines
ungeheueren Unternehmens zum erstenmal entwickelt und be-
gründet. »Erfahre hiermit«, beginnt er feierlich, »der strengsten
Wahrheit gemäß, die Geschichte des künstlerischen Vorhabens,
in welchem ich jetzt seit längerer Zeit begriffen bin, und die
Wendung, die dieses notwendig nehmen mußte.« Und dann
erzählt er diese außerordentliche und für ihn glückselig bestür-
zende Geschichte, die man ihm nacherleben muß, um zu erfahren,
wie wenig ein Künstler ursprünglich von seinem Werke weiß, wie
schlecht er zunächst den Eigenwillen dessen kennt, worauf er sich
einläßt,- ohne Ahnung davon, was das Werk eigentlich werden
will, was es, eben als sein Werk, werden muß, und wovor der
Künstler dann oft genug mit dem Gefühle steht: »Das hab' ich
nicht gewollt, aber nun muß ich es, Gott helfe mir!«- Der bleiche
Ehrgeiz des Ich steht nicht am Anfang der großen Werke, er ist
nicht ihre Quelle. Der Ehrgeiz ist nicht des Künstlers, er ist des
Werkes, das sich selber viel größer will, als jener glaubte hoffen zu
dürfen und fürchten zu müssen, und das ihm seinen Willen
auferlegt. Wagner hatte sich nicht in den Kopf gesetzt, ein vier
Abende füllendes Weltepos zu inszenieren, damit die Welt staune.
Daß er es tun müsse, erfuhr er mit entsetzter und freilich auch
stolzer Freude von seinem Werk. Er hatte den •Lohengrin< ge-
macht, nun wollte er ·Siegfrieds Tod< machen; er hatte ihn schon
gedichtet, oder halb gedichtet, nämlich im Wort; nun wollte er ihn
als Musiker zu Ende dichten, aber das ging nicht, es ging noch
nicht. Man konnte das Werk nicht so ohne weiteres auf die Bühne
und vor das Publikum seines Traumes bringen, man hatte die
126
Pflicht, es darauf vorzubereiten. Wodurch? Durch ein anderes
Drama. Dieses hier war überfüllt mit Vorgeschichte. Es war
eigentlich nur das Schlußkapiteleines ganzen Mythos, dervor ihm
lag und der entweder berichtweise hineinkomponiert oder als
bekannt hätte vorausgesetzt werden müssen. Das erste bedeutete
eine künstlerische Unbequemlichkeit, das zweiteeinen Anspruch
an die Bildung. Und Wagner haßte Bildungsansprüche. Er war
nicht der Mann, solche zu stellen. Wo er ansWerk ging, da begann
die Weh von vorn, und niemand durfte nötig haben, etwas zu
wissen, um zu verstehen. Vielleicht ahnte ihm schon, daß gerade
hier und diesmal dieWeh wirklich ganz von vorn werde beginnen
müssen, aber das gestand er sich nicht ein. Was er sich fürs erste
eingestand, war nur, daß allzu viele Voraussetzungen und Zumu-
tungen an die Kombinationsfähigkeit des Zuschauers dem Cha-
rakter von mythischer Ur-Einfalt widersprachen, in dem sein
Werk ihm vorschwebte, und daß er zuerst einen>Jungen Siegfried<
schreiben müsse, in welchem die Vorgeschichte so weit wie nur
möglich zur unmittelbaren und sinnlich einfältigen Darstellung
zu kommen hatte.
Er schrieb das Waldstück und fand es reizend. Gleich machte er
sich auch daran, es in Musik zu setzen, und die Komposition ging
ihm bequem von der Hand. Plötzlich aber fiel ihm ein, daß er
zunächst etwas für seine Gesundheit tun müsse, und er begab sich
in eine Kaltwasser-Heilanstalt. Das war die Flucht in die Krank-
heit, die Flucht vor dem Werk. Er hatte die größte Lustzur Arbeit
und auch wieder gar keine rechte Lust- noch nicht. Etwas war hier
nicht in Ordnung, und dieses Etwas war nicht seine allerdings
delikate Gesundheit, an die er unter anderenUmständen gar nicht
gedacht haben würde, sondern sein Gewissen. Ein neues Selbstge-
ständnis war fällig: Der>Junge Siegfried< genügte nicht, auch mit
ihm konnte er nicht beginnen. Viel zu viele notwendige Beziehun-
gen, alles, was der Handlung und den Personen der beiden
vorliegenden Dramen die ergreifende, weithin wirkende Bedeu-
tung gab, mußte auch jetzt noch ungegenwärtig bleiben und dem
bloßen Gedanken anheimgegeben werden. Das war nicht nach
dem Sinn des Werkes, mochte es auch nach dem Sinn des Künstlers
sein, eines zagen Wesens, das im Grunde immer wünscht, der
Kelch möge an ihm vorübergehen. Aber dies war ein Kelch, der
getrunken sein wollte bis auf den Grund. Der Gedanke an U nge-
genwärtig-Einstiges war gut und würde sogar höchst ergreifend
und bedeutend sein, dafür wollte er sorgen. Aber das Einstige
mußte einmal gegenwärtig gewesen sein; man mußte sich wirklich
daran erinnern, weil man dabei gewesen war und nur durch seine
127
Musikdarangemahnt zu werden brauchte. Das mit Siegmund und
Sieglind und Wotans Not und Brünnhild, die ihm trotzt, indem sie
nach seinem wahren Willen handelt, - das alles mußte auf die
Bühne an einem ersten Abend, welch eine Heimsuchung von
Aufgabe es auch war und wieviel Lebensjahre es ihn nun kosten
mochte. Die >Walküre< war zu schreiben. Und als er dies wußte,
wußte er auch schon, daß es natürlich auchmit drei Abenden nicht
getan war und daß konsequenterweise ein viertes, vor-erstes Spiel
vorangehen müsse, worin alles bis aufs Letzte, das heißt aufs Erste
und Früheste, der Urvorgang: Der Raub des Goldes und Albe-
richs Flüche, der Fluch auf die Liebe und die Verfluchung des
Goldes, und das erste Aufblitzen des Schwertgedankens in Wo-
tans Haupt- vor die einfältigen Sinne des Volks gebracht werden
mußte. Am Anfang war der Rhein.
So schrieb es der Heimgesuchte an Liszt und flehte ihn an, doch ja
nicht zu glauben, daß der tolle Plan aus einer äußerlich kalkulie-
renden Grille entstanden sei. Vielmehr habe er sich ihm als die
notwendige Konsequenz des Wesens und des Inhaltes dieses
Stoffes aufgedrungen, der ihn nun einmalerfülle und zurvollstän-
digen Ausführung treibe. »Du wirst begreifen«, schreibt er, »daß
nicht etwa bloß Reflexion, sondern namentlich Begeisterung
meinen neuestenPlan mir eingab.«- Nichts ist glaubwürdiger
angesichts dessen, was im Laufezweier Jahrzehntezustande kam:
ein non plus ultra an fast unergründlicher Sinnigkeit und überwäl-
tigendem Bedeutungsreichtum. Die Begeisterung, die_ es erzeugt,
das Gefühl von Herrlichkeit, das uns so oft davor erfaßt und das
nur mit Gefühlen zu vergleichen ist, die die größte Natur, Hoch-
gebirgsipfel im Abendschein, das brandende Meer in uns erregt,
erlaubt zurückzuschließen auf die Begeisterung der Empfängnis.
Wieviel Anteil freilich gerade die Reflexion an dieser Begeiste-
rung, der des Schöpfers und der des Genießenden, hatte und hat;
ob gerade hier Reflexion und Begeisterung, Reflexion und Gefühl
scharf zu trennen sind, das sind andere Fragen, bei deren Beant-
wortung man sich, glaube ich, nicht unbedingt auf Versicherun-
gen Wagners stützen darf, ihm sei das Gefühl alles, der Verstand
nichts; seine Kunst wende sich nur an jenes, dieser dürfe nicht
mitreden. Es gibt Selbstmißverständnisse der Künstler, und Wag-
ner mag dem eigenen Verständnis näher gewesen sein, als er
schrieb: »Schlagen wir die Kraft der Reflexion nicht zu gering an,
das bewußtlos produzierte.Kunstwerk gehört Perioden an, die
von der unseren fernab liegen; das Kunstwerk der höchsten
Bildungsperiode kann nicht anders als im Bewußtsein produziert
werden.« Das sind seine Worte. Und wirklich findet sich in seiner
128
Produktion- und besonders auch in der Ring-Schöpfung- neben
Dingen, die den Stempel der Inspiration und blind-seliger Hinge-
rissenheit an der Stirne tragen, so viel sinnig und witzig Gedachtes,
Anspielungsvolles, verständig Gewobenes, so viel kluge
Zwergenarbeit neben dem Riesen- und Götterwerk, daß es un-
möglich ist, an Trance- und Dunkelschöpfung zu glauben. Eben
darauf, daß sein Genie eine ganz beispiellose Mischung von
höchster Modernität und Intellektualität mit Elementen einer
mythischen Ur-Popularität ist, beruht seine einzigartige Faszina-
tion; und daß bei ihm und seiner Wirkung eine scharfe Trennung
und Gegensätzlichkeit von Reflexion und Begeisterung sich wi-
derrät, dafür spricht vor allem sein Verhältnis zur Musik, das ein
hervorragend geistiges, ja intellektuelles warund die Entwicklung
des Nibelungen-Planes aus einem Drama zum tetralogischen
Mythos entscheidend bestimmte.
Davon ist nicht die Rede in dem großen Briefe an Liszt. Und doch
scheint gewiß, daß nicht das Dramaals solches, sondern die Musik
>schuld< war an dem, was Wagner mit dem Stoff widerfuhr.
Warum durfte er nicht mit der Handlung von >Siegfrieds Tod<
beginnen, sondern wurde zurückgeführt bis zum Anfang der
Dinge? Weil das Drama die Vorgeschichte nicht aufnehmen
wollte? Aber das Drama an sich hat nichts gegen Vorgeschichten.
Im Gegenteil findet es oft seine Lust darin, sie zu entwickeln, was
man die analytische Methode nennt. Das antike und das französi-
sche Drama übten diese Methode, und Ibsen übte sie, der hierin
dem klassischen Drama nahestand. Wäre Wagners Kunstmittel
nur das dichterische Wort gewesen, er hätte es machen können wie
sie. Aber er war nicht nur Dichter, sondern auch Musiker, und
zwar nicht eines neben und außer dem anderen, sondern beides auf
einmal und in Ur-Einheit: Er warMusikerals Dichter und Dichter
als Musiker; sein Verhältnis zur Dichtung war das des Musikers,
so daß seine Sprache durch die Musik in einen Primitiv-Zustand
zurückgezwungen wurde und seine Dramen ohne Musik nur
halbe Dichtungen waren; und seinVerhältniszur Musik war nicht
rein musikalisch, sondern dichterisch auf die Weise, daß das
Geistige, die Symbolik der Musik, ihr Bedeutungsreiz, ihr Erinne-
rungswert und Beziehungszauber dies Verhältnis entscheidend
bestimmten. Sein musikalisches Dichterturn war es ja gewesen,
was ihn zum allmählichenFallenlassen der hergebrachten Opern-
formen geführt und ihm seine neue thematisch-motivische Ge-
webstechnik eingegeben hatte, - neu insofern, als sie in dieser
beziehungsvollen Ausdehnung über das ganze Drama nie zuvor
angewandt worden war. Das hatte mit dem >Holländer< begon-
nen, dessen musikalischer Kern und Keim die Ballade der Senta im
zweiten Akt gewesen war: das verdichtete Bild des Dramas,
dessen Thematik sich dann als ein vollständiges Gewebe über das
ganzeWerk ausbreitete. Im >Tannhäuser< und >Lohengrin< wurde
das musikalisch-dichterische Verfahren weiter ausgebildet und
verfeinert, durch eine immer entwickeltere Kunst in der Umbil-
dung des thematischen Stoffes über die simple Reminiszenz hin-
ausgehoben, deren schon frühere Komponisten sich bedient hat-
ten (man denke etwa an die rührende Wiederkehr des Walzers aus
dem Volksfest in der letzten Szene von Gounods >Margarethe<)-
und hier nun, im Falle des Nibelungen-Mythos, verhieß diese
geistvoll-sinnige Technik Genüsse und Wirkungen von einer
Großartigkeit und Weihe wie nie zuvor:- unter Voraussetzun-
gen, die Wagner zum Grübeln und Zögern zwangen, weil sie ihm
nicht erfüllt schienen, als er so geradehin in die Komposition von
>Siegfrieds Tod< eintreten wollte. In das Drama konnte er eintreten
und es seine weitzurückreichende epische Vorgeschichte teils zu
verstehen geben, teils als bekannt voraussetzen lassen. In die
Musik konnte er nicht eintreten, denn auch sie mußte ihre Vorge-
schichte haben, eine ebenso urtiefe wie das Drama, und diese ließ
sich nicht mitteilen, das Drama konnte geistig nicht von ihr
zehren, musikalisch nicht von seinen Erinnerungen leben, und
nicht konnte es zu den höchsten, ergreifendsten Triumphen der
neuen thematischen Gewebs- und Beziehungstechnik kommen,
wenn diese Urmusik nicht irgendwann einmal wirklich und in
gegenwärtiger Verbundenheit mit dem dramatischen Augenblick
erklungen war. Gewiß, man konnte zum Tode des »hehrsten
Helden der Welt« und zu seinem Trauergeleit eine erschütternde
Musik schreiben, die aus dem tragischen Moment geboren war
und beziehungslos aus sich selber lebte. Aberwürdedas nicht sein
wie bei den alten Opernkomponisten, die Nummern schrieben,
und deren Erfindung immer nur einer Szene galt, ohne Beziehung
auf das Ganze und seine dichterische Absicht? Wie, wenn er seine
Methode, das Themen-Gewebe sich nicht nur über eine Szene,
sondern über das ganze Drama ausbreiten zu lassen, ungeheuer
erweiterte und sie nicht nur auf ein Drama, sondern auf eine ganze
epische Folge von Dramen anwandte, in denen alles von Anbeginn
aufgeführt würde? Das gäbe ein Beziehungsfest, eine ganze Welt
von geistvoll-tiefsinnigen Anspielungen, eine Rührung und
Großartigkeit des musikalischen Gedenkens zuweilen, daß nie-
mand dieTränen der Begeisterung würde zurückhalten können,-
der Begeisterung, die er selbst bei der bloßen Vorstellung emp-
fand, und vonderer Liszt berichtete. Dann würdedjeTotenklage
130
um Siegfried, der sogenannte Trauermarsch, etwas anderes wer-
den als eine noch so eindrucksvolle Opern-pompe funebre. Dann
würde es eine überwältigende Feier des Gedankens und des
Gedenkens sein. Die Sehnsuchtsfrage des Knaben nach der Mut-
ter; das Heroenmotiv seiner Sippe, die ein unfreier Gott sich
zeugte zu gottlos freier Tat; das Liebesmotiv seiner geschwister-'
liehen Eltern, wunderbar heraufgeführt; das mächtig aus der
Scheide fahrende Schwert; die große Fanfarenformel seines eige-
nen Wesens, vorzeiten als Verkündigung zuerst aus dem Munde
der Walküre vernommen; der Klang seines Hornes, in ungeheure
Rhythmen ausgedehnt; die holde Musik seiner Liebe zu der einst
Erweckten; die alte Klage der Rheintöchter um das geraubte Gold
und das düstere Tonmal für Alberichs Fluch: alldiese erhabenen,
gefühlsschweren, schicksalsvollen Mahnungen würden unter
Erdstößen und Wetterschlägen mit der hochgebahrten Leiche
vorüberziehen, - und das war nur ein Beispiel für all die geistige
Feierlichkeit und mythische Hochstimmung, die sich verhieß,
wenn das Drama zum szenischen Epos würde. Zurück zum
Anfang, zum Anfang aller Dinge und ihrer Musik! DenndieTiefe
des Rheines mit dem schimmernden Goldhort, an dem seine
Töchter sich tändelnd ergötzen, das war der unschuldsvolle,
:von Gier und Fluch noch unberührte Anfangszustand der Welt,
und in einem damit war es der Anfang der Musik. Nicht nur
mythische Musik: den Mythus der Musik selbst würde er, der
dichtende Musiker, geben, eine mythische Philosophie und ein
Schöpfungspoem der Musik, ihren Aufbau zu einer reichge-
fügten Symbolwelt aus dem Es-Dur-Dreiklang der strömenden
Rheinestiefe.
So wurde das Riesenwerk konzipiert, einWerk ohnegleichen, wie
man ohne Übertreibung und Untreue gegen Kunstschöpfungen
aus anderer, vielleicht sogar reinerer Sphäre sagen kann, denn es ist
sui generis, - ein scheinbar aus aller Modernität tretendes und
doch nach der Verfeinerung, Bewußtheit und entwickelten Spät-
heit seiner Mittel extrem modernes Werk, primitiv nach seinem
Pathos und seinem romantisch-revolutionären Willen: ein mit
Musik und weissagenderNaturverwachsenes Weltgedicht, wori~
die Ur-Elemente des Daseins agieren, Nacht und Tag Zwiespra-
che halten, mythische Grundtypen der Menschheit, die Lichten
und Goldhaarig-Frohgemuten und die in Haß, Gram und Auf-
ruhr Brütenden sich in tiefsinniger Märchenhandlung begegnen.
Der Gegenspieler Siegfrieds ist Hagen, eine Figur, die an düsterer
Wucht alle früheren und zeitgenössischen Ausformungen, den
Hagen des Nibelungenliedes wie den Hebbels, weit überragt.
IJI
Wagners theatralisch-dichterische Gestaltungskraft triumphiert
in der Figur des neiderzeugten Halb-Alben wie vielleicht nirgends
sonst, und das Wort hat mächtigen Anteil an dieser Gestaltung:
so, wenn Hagen auf die Frage, warum er am Brudereide nicht
teilnahm, höhnisch sich selbst charakterisiert:
Mein Blut verdürb' euch den Trank!
Nicht fließt mir's echt
und edel wie euch;
störrisch und kalt
stockt's in mir;
nicht will's die Wange mir röten.
Drum bleib' ich fern
vom feurigen Bund.
Das ist ein Bild, eine mythische Bühnen-Charakter-Maske in
gedrängten Worten. Hagen, aus dem Schlaf redend, im Nacht-
Gespräch mit Alberich; Hagen, einsam die Halle bewachend,
während die freien Söhne und frohen Gesellen ihm den Ring der
Weltherrschaft holen müssen; und namentlich Hagen als wild
humoristischer Rufer zu Gunthers unglückseliger Hochzeit-das
Theater kennt keine dem Dämonischen vertrauteren Szenen.
Wagners Dichterturn anzuzweifeln schien mir immer absurd.
Was gäbe es dichterisch Schöneres und Tieferes als W otans Ver-
hältnis zu Siegfried, die väterlich spottende und überlegene Nei-
gung des Gottes zu seinem Vernichter, die Liebesabdankungder
alten Macht zugunsten des Ewig-Jungen? Die wundervollen
Laute, die hier der Musiker findet, verdankt er dem Dichter. Aber
was auch wieder dankt nicht dieser alles dem Musiker, wie scheint
er sich oft erst selbst zu verstehen, wenn er seine zweite deutende
und ergänzende Sprache hinzuzieht, die bei ihm recht eigentlich
das Reich un,terschwelligen, droben im Wort unbekannten Wis-
sens ist! Mime's Versuch, Siegfried das Fürchten zu lehren, seine
linkische Schilderung des Grieselns und Grausens ist untermalt
mit der dunkel entstellten Musik der Lohe, zusammen mit dem
ebenfalls verfärbten und verzogenen Motiv der schlafenden
Brünnhilde. Zu des Zwerges Beschreibung der Furcht erklingt
also das, was in der Welt des ·Ringes< das Symbol alles Furchtma-
chenden ist, das Furchterregende und Abschreckendepar excel-
lence, das den Felsen Schützende: Das Feuer, das Siegfried nicht
fürchten, sondern das er, ohne die Furcht dabei zu lernen, durch-
brechen wird. Zugleich aber geistert drunten im Musikalischen
dunkel angedeutet das, was ihn wirklich die Furcht lehren wird:
die Erinnerung an die Schlafgebannte, von der er nichts weiß, zu
IJ2
deren Wecker er aber bestimmt ist. Der Schauende und Hörende
wird zurückversetzt an das Ende des Vorabends und versteht, daß
im Untersten von Siegfrieds in Dingen der Furcht so begriffsstut-
ziger Seele sich eine Ahnung regt von dem eigentlich Furchtma-
chenden: der Liebe, die· der Dumme auch nicht gelernt hat, aber
lernen soll, nebst der Furcht, denn das isthier seelisch-musikalisch
dasselbe. -.Vorher, unter der Linde, träumt er davon, wie seine
Mutter wohl ausgesehen habe, seine Mutter- ein Menschenweib.
Das Motiv der W eibesliebe, das Thema von ,, WeibesWonne und
Wert« aus Loge's Erzählung in der zweiten Szenedes >Rheingold<
wird hier im Orchester erinnert. Und wieder ist es dieser seelische
Komplex von Mutterbild und Weibesliebe, der im Worte aus-
bricht, als Siegfried die Walküre von der Brünne befreit und
entdeckt: >>Das ist kein Mann!<< - >>Feurige Angst faßt meine
Augen, mir schwankt und schwindelt der Sinn! Wen ruf' ich zum
Heil, daß er mir helfe? Mutter! Mutter! Gedenke mein!<<
Nichts kann wagnerischer sein als diese Mischung aus mythischer
Urtümlichkeit und psychologischer, ja psycho-analytischer Mo-
dernität. Es ist der Naturalismus des neunzehnten Jahrhunderts,
geweiht durch den Mythus. Ja, Wagner ist nicht nur ein unüber-
trefflicher Maler der äußeren Natur, von Sturm und Gewitter,
Blättersäuseln und Wellengeglitzer, Flammentanz und Regenbo-
gen, er ist auch ein großer Künder seelischer Natur, des ewigen
Menschenherzens: Um den Felsen der Jungfräulichkeit legt er
feurige Angst, die das U rmännliche, getrieben von seiner wecken-
den, zeugenden Bestimmung, durchbricht, um beim Anblick des
furchtsam Ersehnten in den Hilferuf nach dem Heilig-Weibli-
chen, woraus er selber kam, nach der Mutter auszubrechen. Um
seelische Ur-Poesie, das Erste und Einfachste, das Vor-Konven-
tionelle, Vor-Gesellschaftliche geht es allein in WagnersWelt und
Werk, und nur dies scheint ihm überhaupt für die Kunst geeignet.
Sein Werk ist der deutsche Beitrag zur Monumental-Kunst des
neunzehnten Jahrhunderts, die bei anderen Nationen vorzüglich
in der Gestalt der großen sozialen Romandichtung erscheint.
Dickens, Thackeray, Tolstoi, Dostojewski, Balzac, Zola,- ihre
mit demselben Hang zur moralistischen Größe getürmtenWerke
sind europäisches neunzehntes Jahrhundert, literarisch-gesell-
schaftskritische, soziale Welt. Der deutsche Beitrag, die deutsche
Erscheinungsform dieser Größe weiß vom Gesellschaftlichen
nichts und will nichts davon wissen; denn das Gesellschaftliche ist
nicht musikalisch und überhaupt nicht kunstfähig. Kunstfähig ist
allein das Mythisch-Rein-Menschliche, die unhistarisch -zeitlose
Urpoesie der Natur und des Herzens; sie ist ja die Zuflucht vor
133
dem Gesellschaftlichen, das Läuterungsmittel für seine Verderbt-
heit; und aus ihrem Grunde schafft der deutsche Geist das viel-
leicht Erhabenste, Zwingendste, was das Jahrhundert zu bieten
hat. Das Ungesellschaftlich-Urpoetische ist ja sein eigener My-
thus, seine typische und grundgegebene nationale Natur, die ihn
von anderen europäischen Nationalgeistern und Typen unter-
scheidet. Zwischen Zola und Wagner etwa, dem symbolischen
Naturalismus der Rougon-Macquart-Romane und Wagners
Kunst gibt es viel zeitlich Gemeinsames- ich denke nicht nur an
das »Leitmotiv«. Aber der wesentliche und typische nationale
Unterschied ist der Gesellschaftsgeist des französischen, der my-
thisch-urpoetische Geist des deutschen Werkes. Die alte, verwik-
kelte Frage »Was ist deutsch?« findet vielleicht mit der Feststel-
lung dieses Unterschieds ihre bündigste Beantwortung. Derdeut-
sche Geist ist sozial und politisch wesentlich uninteressiert, im
tiefsten (und das Werk der Kunst kommt am tiefstenher; man darf
es als maßgebend anerkennen) ist diese Sphäre ihm fremd. Das ist
durchaus nicht nur negativ zu werten, aber, wenn man will, kann
man hiervon einem Vakuum, einem Manko und Ausfall sprechen,
und es ist wohl wahr, daß in Zeiten, wo das gesellschaftliche
Problem dominiert, wo die Idee sozialen und ökonomischen
Ausgleiches, einer gerechteren wirtschaftlichen Ordnung von
jedem wachen Bewußtsein als die lebendigste, ihre Verwirkli-
chung als die dringlichste sittliche Aufgabe empfunden wird, -
daß unter solchen Umständen dieser oft so fruchtbare Ausfall
nicht zum glücklichstenhervortrittund zur Disharmonie mit dem
Willen des Weltgeistes führt. Angesichts zeitlicher Probleme
führt er zu Lösungsversuchen, die Ausweichungen sind und das
Gepräge mythischer Surrogate für das wirklich Soziale tragen. Es
ist nicht schwer, im heutigen deutschen Staats- und Gesellschafts-
experiment ein solches mythisches Surrogat zu erkennen. Aus der
politischen Terminologie ins Psychologische übersetzt besagt
dies Heutige: »Ich will überhaupt das Soziale nicht, ich will das
Volksmärchen.« Nur daß im politischen Bereich das Märchenzur
Lüge wird.-
Wenn ich zu Anfang von einem Mißbrauch sprach, der mit
Wagners großer Erscheinung getrieben werde, so wußte ich, daß
ich irgendwann darauf würde zurückkommen müssen; denn
unmöglich scheint es mir, heute von Wagner zu sprechen und sich
der Verwahrung gegen solchen Mißbrauch dabei zu entschlagen.
Wagner als künstlerischer Prophet einer politischen Gegenwart,
die sich in ihm spiegeln möchte:- nun, mehr als ein Prophet ja
schon hat sich von der Verwirklichung seiner Verkündigung mit
IJ4
Schaudern abgewandt und lieber in der Fremde sein Grab gesucht,
als daß er an der Stätte solcher Verwirklichungen auch nur hätte
begraben sein mögen. Aber es verstieße gegen das Beste in uns,
gegen die Bewunderung, zuzulassen, daß hier überhaupt von
Verwirklichung, sei es selbst im Sinn des Zerrbildes, die Rede sein
könne. Volk und Schwert und Mythus und nordische Heroik, das
sind in gewissem Munde nur schnöde Entwendungen aus dem
Vokabular von Wagners Künstler-Idiom. Der Schöpfer des >Rin-
ges< ist mit seiner Vergangenheits- und zukunftstrunkenen Kunst
aus dem Zeitalter bürgerlicher Bildung nicht herausgetreten, um
eine geistmörderische Staatstotalität dafür einzutauschen. Deut-
scher Geist war ihm alles, deutscher Staat nichts-wie er schon mit
dem Keimwort der >Meistersinger< bekundet: »Zerging' in Dunst
das Heil' ge Röm' sehe Reich, uns bliebe gleich die heil' ge deutsche
Kunst.« Er hat in dem großen Werk, das wir wiedersehen sollen,
den Fluch des Goldes gelehrt und die Machtgier zur inneren
Umkehr geführt, so daß sie nur noch ihren freien Vernichter
lieben kann. Seine wahre Prophetie ist nicht »Gut noch Gold noch
herrischer Prunk, nicht trüber Verträge trügender Bund«,- es ist
die himmlische Melodie, die am Schluß der >Götterdämmerung<
aus der brennenden Trutzburg der Erdherrschaft emporsteigt und
in Tönen dasselbe verkündet wie das Schlußwort des anderen
deutschen Lebens- und Weltgedichts:
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
[ 1937]
[ZU WAGNERS VERTEIDIGUNG]
[Brief an den Herausgeber des >Common Sense<]

Ich bin Ihnen sehr dankbar für die freundliche Zusendung der
November-Ausgabe Ihrer Zeitschrift, die den Artikel von Peter
Viereck, >Hitlerund Richard Wagner<, enthält. Sie nehmen an, daß
ich als eingestandener Bewunderer der Kunst Richard Wagners
gegen diesen Aufsatz viel einzuwenden habe und gestimmt sein
müsse, gegen ihn zu protestieren. Ich muß Sie enttäuschen. Das ist
nicht der Fall. Ich habe Herrn Vierecks Arbeit mit fast unausge-
setzter Zustimmung gelesen und halte sie für außerordentlich
verdienstvoll. Zum ersten Mal, soviel ich sehe, in Amerika, erfah-
ren hier diese verzwickten und peinlichen Verhältnisse, die Bezie-
hungen, welche unbestreitbar zwischen der Wagner'schen Sphäre
und dem nationalsozialistischen Unheil bestehen, eine scharfe
und unerbittliche Analyse, die vieler sentimentalen Ahnungs-
losigkeit den Garaus machen wird. Die Bestürzung, Verwirrung
und Desillusionierung, die sie in manchen gutgläubigen Köpfen
und Herzen anrichten mag, ist keine andere, als die, welche die
Erkenntnis überhaupt zunächst erregt, und muß in den Kauf
genommen werden um des Dienstes willen, der der Wahrheit
damit erwiesen wird.
Ich kann das bittere Gelächter nur zu wohl verstehen, das Ihren
Mitarbeiter ankam, als er bei jenem fashionablen Wagner-Kon-
zert den Sprecher festlich unterscheiden hörte zwischen dem
Deutschland Hitlers und dem Deutschland Wagners, welches
nämlich ein Deutschland der freien Kunst, der rassischen Duld-
samkeit und der Demokratie sei. Freie Kunst - das lasse ich mir
noch gefallen. Sie waren in der Tat sehrfreie Kunst, diese gefühl-
voll-intellektuellen Meisterwerke eines musikalisch-dramati-
schen Histrionengenies, die da in einer klassisch-humanistisch
gestimmten Welt ihren von empörtem Widerspruch und Hohn-
gelächter um brandeten Siegeszug antraten, und es ist ganz gewiß,
daß man Wagner zu seiner Zeit, hätte es das Wort schon gegeben,
einen Kultur-Bolschewisten genannt haben würde. Aber rassi-
sche Duldsamkeit? Demokratie? Da sieht es böse aus. Nietzsche
hatte mit Wagner noch nicht öffentlich gebrochen, und er hielt
sich wohl selbst noch für seinen Anhänger, als er sich schon
notierte: »Meistersinger- gegen die Zivilisation. Das Deutsche
gegen das Französische.« Das ist nochnicht Polemik, nur Feststel-
lung. Aber eine Art von Übergang von rein kritischer Erkenntnis
zur Absage an Wagners Deutschtum ist es bereits, und es läßt die
Tatsache sinnvoll erscheinen, daß es den >Meistersingern< be-
stimmt war, zur Lieblingsoper unseres armen Herrn Hitler zu
werden.
Wenn zweien dasselbe gefällt und einer davon ist minderwertig-
ist es dann auch der Gegenstand? Man lese das unvergleichliche
Stück Prosa, das Nietzsche dem >Meistersinger<-Vorspiel gewid-
met hat. Man lese wieder die berühmte Seite im >Ecce homo< über
den >Tristan<. Einer der frühesten Wagnerianer war Baudelaire.
Wen er, neben dem Autor des >Lohengrin<, besonders liebte, war
Edgar Allan Poe. Die Zusammenstellung, befremdlich bis zur
Unfaßbarkeit für deutsche Ohren (wenn »deutsch« denn ein
Synonym für kompletten Psychologiemangel ist), zeigt, werund
was Wagner eigentlich war- abgesehen davon, daß er ein »deut-
scher Meister« und »gegen die Zivilisation« war: nämlich ein
europäischer Künstler von ausgeprägtestem Raffinement, ein mit
allen Wassern romantischer Verführung gewaschener Tröster,
Beglücker, Bezauberer leidender und vielerfahrener Seelen, des-
sen Produktion nicht zufällig eine Weltwirkung geübt hat, wie sie
keinem Deutschen hohen Ranges sonst je beschieden gewesen ist;
der Schöpfer der überwältigendsten dramatischen Vision und
Schaustellung, die das moderne Abendland zu bieten hat, ein
genauso kluger wie seelenvoll-sinniger Regisseur des Mythos,
dessen unbändiger Begeisterungsdrang alle emotionellen Ele-
mente seines Jahrhunderts, das revolutionär-demokratische so-
wohl wie das nationalistische, in sein Wirkungssystem einbezog,
wie das späterd 'Annunzio in viel kleinerem Maßstab nachgeahmt
hat.
Nietzsche hat von der »doppelten Optik« gesprochen, von der
Wagners Riesentalent bestimmt sei, seinem Ehrgeiz, zugleich die
Gröbsten und die Feinsten zu gewinnen. Es ist ihm gelungen, und
die Folge ist ein gewisses Unbehagen, das ein Teil seiner Bewunde-
rer in Gesellschaft des anderen Teiles empfindet. Eine weitere
Folge der ambitiösen Zweideutigkeit dieser Kunst ist eine eben-
solche Zweideutigkeit aller höheren Kritik, deren Gegenstand sie
ist: einer solchen wird immer etwas Zwiespältiges und leiden-
schaftlich Ironisches anhaften, sie wird sich aus Hingerissenheit
und Mißtrauen eigentümlich zusammensetzen und an jene Liebe
der Philosophie zum »Leben« erinnern, von der Nietzsche sagt,
daß sie die Liebe zu einem Weibe sei, das »uns Zweifel macht«.
Wagner ist eines der schwierigsten, das psychologische Gewissen
am tiefsten herausfordernde, darum aber auch eines der faszinie-

137
rendsten Vorkommnisse der Kunst- und Geistesgeschichte,-und
was mich betroffen macht, ist, daß Herr Viereck, in seinem
vorzüglichen Artikel, den Anschein erweckt, als hätte ich mich
recht stumpf erwiesen vor der Bedenklichkeit des Phänomens und
zu der simplistischen Auffassung beigetragen, Wagner sei ein
eindeutiger Vertreter des »guten Deutschland« im Gegensatz zu
dem bösen des Herrn Hitler. Er führt an, was ich in einem
Vortrage über Wagners kunst-philosophische Elaborate gesagt
habe- führt es nicht ganz richtig, oder doch nicht vollständig an.
Ich habe gesagt, Wagners Künstlerschriften seien Aufsätze von
erstaunlichem Scharfsinn, die aber den Charakter der Propaganda
pro domo trügen und mit eigentlicher großer Essayistik nichts zu
tun hätten. Ober das Deutsch, in dem diese »Künstlerschriften«
abgefaßt sind, und das, rein als Prosa genommen und von allem
Inhalt abgesehen, zweifellos etwas stark Nationalsozialistisches
hat, habe ich damals aus Zartgefühl geschwiegen. Schließlich
handelte es sich um eine Festrede, die ausländische Gesellschaften,
Amsterdam, Paris, zum fünfzigsten Todestage Richard Wagners
von mir gefordert hatten. Aber Herr Viereck vergißt oder weiß
nicht, daß es genau diese Festrede vom Jahre 33 war, die den
Ausschlag für meine Emigration oder, richtiger gesagt, meine
Nicht-Rückkehr nach Deutschland gab, da ihre Begeisterung von
einer Gebrochenheit war, welche dieNazis in blinde Wut versetzt
hatte. Diesem Getier ist die Nuance, was dem Stieredas rote Tuch.
Aber die Nuance ist nun gerade, was bei jederUnterhaltungüber
Wagner das Aller-unentbehrlichste bleibt.
Darf ich sagen, daß ich in Herrn Vierecks einsichtsreicher W ag-
ner-Charakteristik die Nuance ein wenig vermisse? Ich meine die
Nuance der Liebe, der leidenschaftlichen persönlichen Erfahrung
in dieser schließlich doch über alle Maßen begabten und bewun-
dernswerten Kunst? Wagner hat in naivem Staunen von seinen
Werken als von »Wunderwerken« gesprochen. Schließlich-es ist
das richtige Wort. Keine Bezeichnung paßt besser auf diese
beispiellosen Manifestationen, und auf nichts sonst in der Ge-
schichte künstlerischer Hervorbringung paßt sie besser,- möge
auch, von uns aus, nicht einmal etwas unbedingt Höchstes damit
gesagt und gemeint sein. Wir wären gar nicht so sehr versucht,
anderes teure und unentbehrliche Kultur- und Seelengut, den
•Hamlet< etwa, die •lphigenie< oder auch die Neunte Symphonie,
als •Wunderwerke< zu bezeichnen. Aber die •Tristan<-Partitur-
namentlich in ihrer seelisch kaum faßbaren und fast vexatorischen
Nachbarschaft mit den >Meistersingern<- und dies beides wieder
als bloße Erholung von dem minutiösen Riesengedankenbau des
IJ8
>Ringes< genommen - das ist Wunderwerk. Es ist das Werk einer
wahren Eruption von Talent und Genie, das zugleich tief ernste
und bedrückende Werk eines ebenso seelenvollen wie vor Klug-
heit trunkenen Zauberers.
Es ist ein vollkommen einmaliger und - man muß das immer
wieder einräumen- geistig höchst kritisierbarer Fall, diese Kom-
bination von Dichter- und Musikertum, bei der notwendig beide
Qualitäten etwas von der Reinheit ihres Charakters einbüßen und
zu etwas anderem werden, als was sie gewöhnlich, in großen und
kleinen Fällen, sind. Wagner war Musiker als Dichterund Dichter
als Musiker; sein Verhältnis zur Dichtung war das des Musikers,
so daß seine Sprache durch die Musik in einen Primitiv-Zustand
zurückgezwungen wurde und seine Dramen ohne Musik nur
halbe Dichtungen waren; und sein Verhältnis zur Musik warnicht
rein musikalisch, sondern dichterisch auf die Weise, daß das
Geistige, die Symbolik der Musik, ihr Bedeutungsreiz und Bezie-
hungszauber dies Verhältnis entscheidend bestimmt. Aus dieser
ins absolut Großartige gesteigerten Zwitterbegabung erwuchs der
>Ring des Nibelungen< -ein Produkt sui generis, ein scheinbar aus
aller Modernität tretendes und doch nach der Verfeinerung,
Bewußtheit und entwickelten Spätheit seiner Mittel extrem mo-
dernes Werk, primitiv nach seinem Pathos und seinem roman-
tisch-revolutionären Willen: ein mit Musik und weis~agender
Natur verwachsenes Weltgedicht, worin die Ur-Elemente des
Daseins agieren, Tag und Nacht Zwiesprache halten, mythische
Grundtypen der Menschheit, die Lichten und Goldhaarig-Froh-
gemuten und die im Haß, Gram und Aufruhr Brütenden sich in
tiefsinniger Märchenhandlung begegnen. Das Ungeheueredaran
ist ein epischer Radikalismus, für den ich die Begeisterung nie
verlernen werde: dieser Radikalismus des Anfangens, dieses Zu-
rückgehen zumUrsprungund Erzbeginn aller Dinge, der Urzelle,
dem ersten Kontra-Es des Vorspieles vom Vorspiel, diese Beses-
senheit, eine musikalische Kosmogonie, ja einen musikalischen
Kosmos selbst zu erbauen und mit tiefsinnig organischem Bios zu
begaben,- das tönende Schaugedicht von der Welt Anfang und
Ende. Man nenne die Mischung aus Dichter- und Musikerturn
charlatanesk und unrein- sie ist es, ich gebe es zu. Es gibt Fälle, bei
denen man alles mögliche zugeben mag, und es bleibt immer etwas
überwältigendes zurück. Parallelismus von dichterischer Ding-
welt und Musik macht den epischen Anfang der Welt zugleich
zum Anfang der Musik: ihr Mythos ist verwoben mit demjenigen
der Welt, und vor unseren Sinnen erwächst eine mythische Phi-
losophie und ein Schöpfungspoem der Musik, vollzieht sich ihre
IJ9
Entfaltung zu einer reichgefügten Symbolwelt aus dem Es-dur-
Dreiklang der strömenden Rheinestiefe.
Es handelt sich um ein ungeheuer und exemplarisch deutsches
Werk - eine beunruhigende Feststellung, wenn man der von
Herrn Viereck aufgedeckten Beziehungen gedenkt. Sie führt zu
Identifikationen, an deren Ableugnung uns heute alles gelegen
sein müßte. Aber die Wahrheit ist es: nur aus deutschem Geist
konnte dies Werk kommen. Vielleicht- nicht sicher- hat jüdi-
sches Blut Anteil daran: gewisse Eigenschaften dieser Kunst, ihre
Sinnlichkeit und ihre Intellektualität sprechen dafür. Aber
deutsch ist sie vor allem und im höchsten Grade. Sie ist der
deutsche Beitrag zur Monumental-Kunst des neunzehnten Jahr-
hunderts, die bei anderen Nationen vorzüglich in der Gestalt der
großen sozialen Romandichtung erscheint. Dickens, Thackeray,
Tolstoi, Dostojewski, Balzac, Zola-ihre mit demselben Hang zur
moralistischen Größe getürmten Werke sind europäisches neun-
zehntes Jahrhundert, literarisch-gesellschaftskritische, soziale
Welt. Der deutsche Beitrag, die deutsche Erscheinungsform die-
ser Größe weiß vom Gesellschaftlichen nichts und will nichts
davon wissen; denn das Gesellschaftliche ist nicht musikalisch
und überhaupt nicht kunstfähig. Kunstfähig ist allein das My-
thisch-Rein-Menschliche, die unhistorisch-zeitlose U rpoesie der
Natur und des Herzens: so will es der deutsche Geist; es ist sein
Instinkt, lange vor jeder bewußten Entscheidung. Mit dem sym-
bolischenNaturalismusder Rougon-Macquart-Serie etwahat der
>Ring des Nibelungen< alles mögliche Zeitpsychologische ge-
meinsam. Aber der wesentliche und typische nationale Unter-
schied ist der Gesellschaftsgeist des französischen, der mythisch-
urpoetische Geist des deutschen Werkes. Die alte, verwickelte
Frage »Was ist deutsch?« findet vielleicht mit der Feststellung
dieses Unterschieds ihre bündigste Beantwortung. Der deutsche
Geist ist sozial und politisch wesep.tlich uninteressiert; im Tief-
sten ist diese Sphäre ihm fremd. Seine Leistungen erlauben nicht,
diese Tatsache rein negativ zu werten. Und doch kann man hier
von einem Vakuum, einem Manko und Ausfall sprechen, und es
ist wahr, daß in ausgesprochen sozialer und politischer Zeit, wie
der unsrigen, dieser oft so fruchtbare Ausfall einen verhängnisvol-
len, ja katastrophalen Charakter annimmt: angesichts zeitlicher
Probleme führt er zu Lösungsversuchen, die arge Ausweichungen
sind und das Gepräge mythischer Surrogate für das. wirklich
Soziale tragen. Aber damit sind wir beim National-Sozia-
lismus.
National-Sozialismus heißt: »Ich will überhaupt das Soziale
nicht, ich will das Volksmärchen.« Er ist damit, versteht sich, auf
seine allermildeste, allergeistigste Formel gebracht. Daß er außer-
dem, realiter, eine schmutzige Barbarei ist, kommt daher, daß im
politischen Bereich das Märchen zur Lüge wird.
National-Sozialismus, in all seiner unsäglichen empirischen Ge-
meinheit, ist die tragische Konsequenz der mythischen Politik-
fremdheit des deutschen Geistes. -Sie sehen, ich gehe ein wenig
weiter als Herr Viereck. Ich finde das nazistische Element nicht
nur in Wagners fragwürdiger »Literatur«, ich finde es auch in
seiner »Musik«, in seinem ebenso, wenn auch in einem erhabene-
ren Sinne, fragwürdigen Werk, -ob ich es gleich so geliebt habe,
daß ich noch heute, wenn irgendein abgerissener Klang aus dieser
Beziehungswelt mein Ohr trifft, erschüttert aufhorche. Die Be-
geisterung, die es erzeugt, das Gefühl von Herrlichkeit, das uns so
oft davor erfaßt und das nur mit Gefühlen zu vergleichen ist, die
die größte Natur, Hochgebirgsgipfel im Abendschein, das bran-
dende Meer in uns erregt, darf nicht vergessen machen, daß dieses
Werk, welches »gegen die Zivilisation«, gegen die ganze Kultur
und Bildung gerichtet und gedichtet ist, wie sie seit der Renais-
sance herrschend gewesen war, aus der bürgerlich-humanisti-
schen Epoche auf dieselbe Art und Weise heraustritt wie der
Hitlerismus; daß es mit seinem Wagalaweia und seinerStabreime-
rei, sejner Mischung aus Urtümlichkeit und Zukünftigkeit, sei-
nem Appell an eine klassenlose Volklichkeit, seinem mythisch-
reaktionären Revolutionarismus die genauegeistige Vorform der
»metapolitischen« Bewegung ist, die heute den Schrecken der
Welt bildet, und die geschlagen werden muß, wenn es zu einer
wirklichen gesellschaftlichen Neuordnung in Europa kommen
soll.
Machen wir uns nichts vor. Der Nationalsozialismus muß ge-
schlagen werden, das heißt praktisch heute leider: Deutschland
muß geschlagen werden. Es meint das aber, in einem sehr be-
stimmten Sinn, auch geistig. Denn es gibt nur ein Deutschland,
nicht zwei, nicht ein böses und ein gutes, und Hitler, in allseiner
Elendigkeit, ist kein Zufall: nie wäre er möglich geworden ohne
psychologische Vorbedingungen, die tiefer zu suchen sind, als in
Inflation, Arbeitslosigkeit, kapitalistischer Spekulation und poli-
tischer Intrige. Aber wahr ist, daß Völker nicht immer dasselbe
Gesicht bieten, und daß es auf Zeit und Umstände ankommt, wie
ihre konstanten Eigenschaften sich ausnehmen. Deutschland
nimmt sich heute fürchterlich aus. Es ist die Qual der Welt,-nicht
weil es »böse«, sondern geradeweil es zugleichauch »gut« ist, eine
Tatsache, auf die der angelsächsische Humor sich sehr wohl
versteht, wenn er durch den Mund des vortrefflichen Harold
Nicolson feststellt: >> The German character is one ofthefinest but
most inconvenient developments of human nature!<<
Deutschland muß geschlagen werden, das heißt: es muß genötigt
werden, alles, was auch sein eigener Traditionsfundus aus frühe-
ren Jahrhunderten an gesellschaftsfreundlichen Elementen birgt,
zu reaktivieren, um fähig zu sein, sich in die europäische Konföde-
ration, die Staatengesellschaft einzufügen, für die Europa reif ist,
und die von jedem Volke Opfer an staatlicher Souveränität und
nationalem Egoismus verlangen wird. Dieser Krieg wird zu
Deutschlands Gunsten geführt - im Augenblick wäre es wohl
zuviel verlangt, daß Deutschland das einsähe. Er wird geführt zur
Herstellung eines Zustandes, welcher Deutschland vom Fluche
der Machtpolitik befreit, unter dem es verdirbt wie kein anderes
Volk; für ein befriedetes, ein entpolitisiertes Europa, in dessen
Atmosphäre allein Deutschland groß und glücklich sein kann,
weil sie seinenWerken die politischeUnschuldund der Bewunde-
rung dafür das gute Gewissen zurückgibt, so daß sie nicht länger
seufzen muß: Es ist groß, es ist herrlich, aber es ist ••gegen die
Zivilisation<<.
WAGNER UND KEIN ENDE
An Emil Preetorius

Es hat doch länger gedauert, als ich wünschte, bis Ihrem Brief die
Wagner-Schrift nachfolgte. Wie sehr ich selber dem Gegenstand
verhaftet bleibe, zeigte mir die Spannung, mit der ich - bei soviel
Lese-Ansprüchen- gleich nach dem Büchlein griff und die bis
zum letzten Worte anhielt, während ich es in einem Zuge las. Dies
Austrinken auf einen Zug kommt bei mir seltel;l vor; ich ermüde
leicht, aber bei diesem Thema und dieser klug und liebevoll
eindringenden, aus tiefer Beschäftigung kommenden Darstellung
oder Darlegung war daran nicht zu denken. Auch reißt die Rede ja
mit, weil sie sich beständig erhebt: Zuerst scheint das Problem nur
unter dem Gesichtspunkt des modernen Ausstattungskünstlers
gefaßt- und der Satz, daß gerade unter diesem Gesichtspunkt »die
überzeitliche Geltung des Wagnerwerkes, die Möglichkeit seiner
weiter dauernden Wirkung zu einer ganz besonderen, höchst
nachdenklichen und schwer beantwortbaren Frage wird«, bleibt
wohl wirklich der Zentralsatz des Ganzen. Aber dann wächst das
Buch und weitet sich über alle spezielle Fragestellung hinaus zu
einer aus Eingeweihtheit kühnen Umschreibung und Explizie-
rung des ganzen kolossalen Phänomens überhaupt,- und wenn es
dabei dann manchmal- ohne daß man je vergäße, daß man einen
ästhetisch-philosophisch hochkultivierten Sprecher vor sichhat-
etwas zu pompös, verschwollen und >deutsch< zugeht, nun, so
können Sie nichts dafür, die Sache will's und bringt es mit sich.
Ach, diese Sache! Ich wollte, wir könnten bei TeeundZigaretten
drei Stunden darüber mündlich dischkurieren. Wir würden uns
gut verstehen in unserem Enthusiasmus, - und in seinen skepti-
schen Brechungen. In Ihrem Essay glauben SieWagnern allzuviel,
lassen unwillkürlich und notwendigerweise zuviel wegvon dem,
was gräßlich an ihm war, und verklären noch seinen Welterfolg,
daß es fast schon ans Unerlaubte grenzt. Glauben Sie ernsthaft-
Sie können es ja gar nicht glauben!- daß dieser Siegeszug über die
bourgeoise Welt der Sehnsucht zu danken ist, »zurückzutauchen
in den wiedervereinenden Abgrund und die heiligeN acht«,- und
nicht vielmehr der deutschen Mischung aus Barbarismus und
Raffinement, mit der ja auch Bismarck E uropaunterworfen hat,-
plus einem Erotizismus, wie er in Gesellschaft noch nie exhibiert

143
worden war? Können Sie die Pariser Venusbergmusik noch gut
hören? Es ist ja wirklich zuweilen unappetitlich. Und, wieder
anders: Können Sie Hans Sachsens Theatersinnigkeit noch recht
vertragen, die Gans, Evchen traut, den >Juden im Dorn<, Beck-
messer? Dabei ist dessen Pantomime, bis er das Lied findet,
einfach glänzend, das Vorspiel zu dem Akt ganz herrlich, das
Quintett ein wunderschönes Stück. überhaupt ein Können, ein
Talent, eine Vortragskunst-nicht zu sagen. Aber Manieren dabei,
ein Anspruch, eine Selbstverherrlichung und mystagogische
Selbstinszenierung- auch nicht zu sagen und zu ertragen. Warum
nun gerade dieses Werk, das es, bei persönlichster Synthese, doch
überallher hat, volkschaffend und welterlösend sein soll, das
wissen die Götter. Es ist da, in Wagners Bramarbasieren, ewigem
Perorieren, Allein-reden-Wollen, über alles Mitreden-Wollen
eine namenlose Unbescheidenheit, die Hitler vorbildet,- gewiß,
es ist viel >Hitler< in Wagner, und das haben Sie ausgelassen,
mußten es natürlich auslassen,- wie sollten Sie das Werk, dem Sie
dienen, mit Hitler in Verbindung bringen! Es hat lange genug mit
ihm in Verbindung gestanden.
Der zweite Akt >Tristan<, finde ich jetzt, mit seinem metaphysi-
schen Wonneweben, ist mehr etwas für junge Leute, die mit ihrer
Sexualität nicht wo ein und aus wissen. Aber als ich mir neulich
den ersten in seiner realistischen Dramatik wieder einmal vor-
führte, war ich vollständig begeistert. Der Gesang der Isolde von
dem »Kahn, der klein und schwach -«, die gespannte Szene
zwischen den beiden, beginnend mit »Begehrt, Herrin, was Ihr
wünscht« und beherrscht von dem einleitenden Thema,. Wüßtest
- du nicht, was ich - begehre«, - es schlägt an Ausdruckskraft
schlechthin alles. Und dabei ist die Sprache hier noch durch die
epische Vorlage in reinen stilistischen Grenzen gehalten. Den-
noch, deri ganzen >Tristan< könnte ich nicht mehr aushalten. Wohl
aber den >Lohengrin<, dessen Vorspiel vielleicht das Wunderbar-
ste ist, was er überhaupt geschrieben hat, und den ich in seiner
blau-silbernen Schönheit wohl immer noch am innigsten liebe -es
ist eine echte, bleibende, bei jedem Kontakt sich erneuernde
Jugendliebe. Ich habe noch eine alte Platte von der »goldischen
Delia« (die neulich hier leider ihren Liederabend mit Walter
wegen Unpäßlichkeit vorzeitig abbrechen mußte) als Eisa mit
dem »Einsam in trüben Tagen« und bei dem Einsatz der pp-
Trompete, wenn es heißt: ,. In lichter Waffen Scheine - ein Ritter
nahte da«, bin ich jedesmal helles Entzücken wie mit achtzehn
Jahren,- es ist der Gipfel der Romantik.
Ich möchte wohl den >Lohengrin< in Ihrer Ausstattung sehen!
144
Aber haben Sie nie den >Parsifal< gemacht? Das Alterswerk, viel
unterschätzt, ist doch eigentlich das Aller-Interessanteste. Die
großartigste Musik ist noch darin (Verwandlung im 111. Akt), und
die Figur der Kundry ist zweifellos seine höchste dichterische
Errungenschaft. Er wußte es.
So lange Briefe, mein Herr, schreibe ich sonst nie mehr. Ich werde
eben wieder jung, wenn es mit Wagner anfängt. Haben Sie Dank
für die Anregung und Wiederaufregung, die Ihr Buch mir ge-
bracht hat!
Auch Ihren schönen, sehr schönen Nachruf auf W olfskehl habe
ich damals erhalten und mit Rührung gelesen. Der ganze Mann iri
seiner Einzigartigkeit wurde mir wieder lebendig durch Ihren
warmen, liebenden Anruf.
Leben Sie recht wohl, und vielen Erfolg überall in der Welt!
[1949]
ÜBER DIE LEHRE SPENGLERS

Nietzsche bemerkt einmal, der Satz, ein Prophet gelte nichts im


eigenen Lande, sei falsch; »das Umgekehrte« sei die Wahrheit,-
was wohl nur heißen soll, daß niemand in der Fremde zu Ruhm
gelangt, dem nicht vor allem bei sich zu Hause Ruhm bereitet
wurde. So hat das große Werk des Herrn Oswald Spengler mit
dem kraß-katastrophalen Titel >Der Untergang des Abendlandes<
die Ruhmeszensur des eigenen Landes passiert; es hat W eltpopu-
larität erlangt auf Grund des außerordentlichen Erfolges, der ihm
in Deutschland zuteil wurde, eines Erfolges, der um so höher zu
veranschlagen ist, als es sich nicht um eine sogenannte unterhal-
tende Produktion, einen Roman im üblichen Sinne des Wortes
handelt, sondern um ein profundes philosophisches Werk, mit
dem erschreckend gelehrten Untertitel: >Versuch einer Morpho-
logie der Weltgeschichte<. Und so mag man, alles geistigen Wider-
standes ungeachtet, sogar mit nationaler Genugtuung auf einen
Erfolg blicken, dessen Voraussetzungen vielleicht heute nirgends
sonst in einem Grade gegeben sind wie bei uns.
Wir sind ein aufgewühltes Volk; die Katastrophen, die über uns
hingegangen, der Krieg, der nie für möglich gehaltene Umsturz
eines Staatssystems, das aere perennius schien, fernerwirtschaft-
lich-gesellschaftliche Umschichtungen radikalster Art, kurzum
das stürmischste Erleben, haben den nationalen Geist in einen
Zustand der Anstrengung versetzt, wie er ihm lange nicht mehr
bekannt gewesen. Die allgemeine geistige Weltsituation erhöht
diese Spannung. Alles ist in Fluß gekommen. Die Naturwissen-
schaften, denen um dieJahrhundertwende scheinbar nichts zu tun
übrigblieb, als das Errungene zu sichern und auszubauen, stehen
an allen Punkten in den Anfängen eines Neuen, dessen revolutio-
näre Phantastik es dem Forscher mag schwerfallen lassen, kaltes
Blut zu bewahren, und eine populäre Erschütterung weit in die
Laienwelt hinausträgt. Die Künste liegen in voller Krise, die
zuweilen zum Tode zu führen droht, zuweilen die Möglichkeit
neuer Formgeburten ahnen läßt. Die Probleme fließen ineinan-
der; man kann sie nicht gesondert halten, kann nicht etwa als
Politiker existieren, ohne von geistigen Dingen etwas zu wissen,
oder als Ästhet, als •reiner Künstler<, indem man sich um soziale
Gewissenssorgen den Teufel etwas kümmert. Die Frage des Men-
schen selbst, von der alle anderen nur Abwandlungen und Facet-
I46
tierungen sind, stand niemals drohender, fordernder vor den
Augen des ernstlich Lebenden; und wasWunder, wenn sie bei den
heimgesuchten, den niedergeworfenen Völkern, denen das Be-
wußtsein einer Zeit- und Weltwende unmittelbarer sich auf-
drängt, die Gewissen am schwersten belastet, zur Denktätigkeit
am schärfsten anhielte? Es wird seit Ausbruch des Krieges viel
gedacht, viel diskutiert, auf eine fast russisch uferlose Art disku-
tiert in Deutschland; und wenn jener Staatsmann recht hatte, der
erklärte: Demokratie, das sei Diskussion, so sind wir heute in der
Tat eine Demokratie.
Man liest gierig. Und nicht zu seiner Zerstreuung und Betäubung
tut man es, sondern um der Wahrheitwillen und um sich geistig zu
wappnen. Deutlich tritt die im engeren Sinne >schöne< Literatur im
öffentlichen Interesse zurück hinter die kritisch-philosophische,
den geistigen Versuch. Richtiger gesagt: eine Verschmelzungder
kritischen und dichterischen Sphäre, inauguriert schon durch
unsere Romantiker, mächtig gefördert durch das Phänomen von
Nietzsche's Erkenntnislyrik, hat sich weitgehend vollzogen: ein
Prozeß, der die Grenze von Wissenschaft und Kunst verwischt,
den Gedanken erlebnishaft durchblutet, die Gestalt vergeistigt
und einen Buchtypus zeitigt, der heute bei uns, wenn ich nicht irre,
der herrschende ist und den man den »intellektualen Roman«
nennen könnte. Zu ihm gehören Werke wie das >Reisetagebuch
eines Philosophen< vom Grafen Hermann Keyserling, das schöne
Nietzsche-Buch von Ernst Bertram und der monumentale >Goe-
the< des George-Propheten Gundolf. Unbedingt, schon kraft
seines literarischen Glanzes und der intuitiv-rhapsodischen Art
seiner Kulturschilderungen, gehört auch Spenglers >Untergang<
dazu, dessen Wirkung bei weitem die sensationellste war und dem
freilich noch jene "Welle von historischem Pessimismus« zu Hilfe
kam, die, nach einem Wort Benedetto Croce's, heute über
Deutschland dahingeht.
Spengler leugnet, Pessimist zu sein. Einen Optimisten wird er sich
noch weniger nennen wollen. Er ist Fatalist. Aber sein Fatalismus,
resümiert in dem Satze: »Wir müssen das Notwendige wollen
oder nichts«, ist weit entfernt, tragisch-heroischen Charakter zu
tragen, den dionysischen, in welchem Nietzsche den Gegensatz
von Pessimismus und Optimismus aufhob. Er trägt vielmehr den
einer boshaften Apodiktizität und einer Zukunftsfeindlichkeit,
die sich in wissenschaftliche Unerbittlichkeit vermummt. Er ist
nicht amor fati. Mit >amor< gerade hat er am allerwenigsten zu tun,
- und das ist das Abstoßende daran. Nicht Pessimismus oder
Optimismus ist die Frage: Man kann sehr dunkel denken vom
147
Schicksal des Menschen, der vielleicht zum Leide auf ewig verur-
teilt oder berufen ist; man kann, wenn vom >Glück<, vom angeb-
lich irgendwann einmal bevorstehenden >Glück< die Rede ist, sich
in tiefste Skepsis hüllen, - ohne darum der oberlehrerhaften
Sympathielosigkeit des Spengler'schen Fatalismus den mindesten
Geschmack abzugewinnen. Pessimismus ist nicht Lieblosigkeit.
Er bedeutet nicht notwendig ein froschkalt->wissenschaftliches<
Verfügen über die Entwicklung und eine feindselige Nichtach-
tung solcher Imponderabilien, wie des Menschen Geist und Wille
sie darstellen, indem sie der Entwicklung denn doch vielleicht ein
der berechnenden Wissenschaft unzugängliches Element von
Irrationalität beimischen. Solche Anmaßung aber und solche
Nichtachtung des Menschlichen sind Spenglers· Teil. Wäre er
zynisch wie ein Teufel! Aber er ist nur- fatal. Und er tut nicht
wohl daran, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche zu Vorläufern
seines hyänenhaften Prophetenturns zu ernennen. Das waren
Menschen. Er jedoch ist nur ein Defaitist der Humanität.
Ich spreche wie zu Leuten, die den >Untergang des Abendlandes<
gelesen haben. Ich tue es im Vertrauen auf jenen Weltruhm, den
dasWerk dank großer Eigenschaften, die niemand ihm abstreitet,
sich erworben hat. Seine Lehre, für alle Fälle kurz zusammenge-
faßt, ist diese. Die Geschichte besteht in dem Lebenslaufvegetati-
ver und strukturgleicher Organismen von individueller Physio-
gnomie und begrenzter Lebensdauer, die man »Kulturen« nennt.
Es sind bisher achtan der Zahl: die ägyptische, indische, babyloni-
sche, chinesische, antike, arabische, die abendländische (unsere
eigene) und die Kultur der Mayavölker Zentralamerikas. Obwohl
aber »gleich« nach ihrer allgemeinen Struktur und ihrem allgemei-
nen Schicksal, sind die Kulturen streng in sich geschlossene
Lebewesen, unverbrüchlich gebunden eine jede an die ihreigenen
Stilgesetze des Denkens, Schauens, Empfindens, Erlebens, und
eine versteht nicht ein Wort von dem, was die andere sagt und
meint. Nur Herr Spengler versteht sie samt und sonders und weiß
von einer jeden zu sagen und zu singen, daß es eine Lust ist. Im
übrigen, wie gesagt, herrscht tiefe Verständnislosigkeit. Lächer-
lich, von einem Zusammenhange des Lebens, von letzter geistiger
Einheit, von jenem Menschentum zu reden, das, nach N ovalis, der
höhere Sinn unseres Planeten, der Stern ist, der dieses Glied mit
der oberen Welt verbindet, das Auge, das er gen Himmel hebt.
Umsonst, sich zu erinnern, daß ein einziges Werk der Liebe, wie
Mahlers >Lied von der Erde<, welches altchinesische Lyrikmitder
entwickeltsten Tonkunst des Abendlandes .zu organischer
menschlicher Einheit verschmilzt, die ganze Theorie von der
148
radikalen Fremdheit, die zwischen den Kulturen herrscht, über
den Haufen wirft. Da es keine Menschheit gibt, gibt es nach
Spengler auch nicht etwa die Mathematik, die Malerei, die Physik,
sondern es gibt ebensoviel Mathematiken, Malereien und Physi-
ken, wie es Kulturen gibt, und es sind völlig wesensverschiedene
Dinge, eine babylonische Sprachenverwirrung; nur wiederum
Herr Spengler ist mit der Intuition begnadet, sie alle zu verstehen.
Jede Kultur, sagt er, durchläuft die Lebensalter des Einzelmen-
schen. Geboren aus einer mütterlichen Landschaft, erblüht sie,
reift, welkt und stirbt. Sie stirbt, nachdem sie sich charaktervoll
ausgelebt, alle pittoresken Ausdrucksmöglichkeiten ihres We-
sens, als da sind: Nationen, Religionen, Literaturen, Künste,
Wissenschaften und Staatsformen, erschöpft hat. Das Greisenal-
ter jeder Kultur, das den übergangzum Nichts, zum Erstarrungs-
tode der Geschichtslosigkeit, bildet, nennen wir »Zivilisation«.
Da aber jedes Altersstadium einer Kultur bei allen übrigen nach-
zuweisen ist, so ergibt sich erstens ein neuer und amüsanter Begriff
der »Gleichzeitigkeit«; zweitens aber für den Wissenden die
astronomische Sicherheit dessen, was k~mmt. Was zum Beispiel
für unsere eigene Kultur, die abendländische, die zu Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts ins Greisenstadium der Zivilisation
getreten ist und deren nächste Zukunft mit dem Jahrhundert der
römischen Soldatenkaiser »gleichzeitig« sein wird, im Kommen
begriffen ist, das steht fest. Es steht astronomisch-biologisch-
morphologisch fest. Es steht schauderhaft fest. Und wenn es etwas
noch Schauderhafteres gibt als das Schicksal, so ist's der Mensch,
der's, ohne ein Glied dagegen zu rühren, trägt.
Dies zu tun, ermahnt uns der eiserne Gelehrte. Man muß das
Notwendige wollen oder nichts, sagt er-und merkt nicht, daß das
gar keine Alternative ist und daß der Mensch, indem er nur das
will, was die unerbittliche Wissenschaft für das Notwendige
erklärt, einfach aufhört zu wollen, -was nicht eben sehr mensch-
lieh ist. Das Notwendige also, was ist es? Es ist derUntergangdes
Abendlandes, dies Schreckensplakat,- der Untergang nicht ge-
rade sans phrase, nicht im physischen Sinne, obgleich auch viel
physischer Untergang damit verbunden sein wird, sondern des
Abendlandes Untergang als Kultur. Auch ein China existiert ja
noch, und viele Millionen Chinesen leben, aber die chinesische
Kultur ist tot. Nicht anders steht es mit derjenigen Ägyptens, das
seit der Römerzeit nicht mehr von Ägyptern, einem National-,
einem Kulturvolk bewohnt ist, sondern von Fellachen. Das Fella-
chenturn ist nach Spengler Endzustand jedes Volkslebens. Ein
Volk tritt, wenn seine Kultur sich ausgelebt hat, ins Fellachenturn
149
über und wird wieder geschichtslos, wie es als Urvolk war. Das
geistig-politisch-wirtschaftliche Instrument aber, das diesen Zu-
stand herbeiführt, ist die Zivilisation, der Geist der Stadt: denn sie
führt den Begriff des vierten Standes, die Masse, herauf, und die
Masse, die nicht mehr Volk ist, das Nomadenturn der Weltstädte,
das ist die Formlosigkeit, das Ende, das Nichts. Für das Abend-
land, wie für jede Kultur, fällt das Heraufkommen formloser,
traditionsloser Gewalten (Napoleon) mit dem Beginn der Zivili-
sation zusammen. Der Napoleonismus aber geht in Cäsarismus
über, die parlamentarische Demokratie in die Diktatur~inzelner
Macht- und Rassenmenschen, skrupelloser Wirtschafts-Konqui-
stadoren vom Typus eines Cecil Rhodes. Die Entwicklungsstufe
des Cäsarismus ist in sämtlichen verfallenden Kulturen nachzu-
weisen und währt gut zwei Jahrhunderte. Bei den Chinesen heißt
sie die »Zeit der kämpfenden Staaten«. Sie ist die unsrige. Mit dem
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hat die private Machtpoli-
tik die immerhin von abstrakten Idealen bestimmte parlamentari-
sehe Parteipolitik abgelöst. Die persönliche Gewalt, der große
Einzelne herrscht über entnervte Fellachenmassen, die er als
Schlachtvieh traktiert. Ein Cäsar kann und wird wiederkommen,
ein Goethe niemals, und läppische Romantik wäre es, heute noch
Dingen der Kultur, der Kunst, der Dichtung und Bildung eine
irgendwie ernstliche Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das kommt
Fellachenvölkern nicht zu. Unser literarisches Leben zum Bei-
spiel hat nichts zu bedeuten als den gänzlich gleichgültigen Kampf
zwischen intellektualistisch durchzivilisierter Großstadtkunst
und idyllisch-rückständiger Heimatkunst. Wer sich auf das
Schicksal versteht, kümmert sich den Teufel um solche Quisqui-
lien, sondern hält sich an das, was einzig Zukunft ist und hat, an
den Mechanismus, die Technik, die Wirtschaft und allenfalls noch
die Politik. Lächerlichkeit über die, die eines guten Willens sind
und sich schmeicheln, Güte, Geist und Wille zu würdiger Men-
schenordnung gehörten auch zum Schicksal und könnten auf den
Gang der Welt einen korrigierenden Einfluß nehmen. Was
kommt, steht fest: Kolossalkriege der Cäsaren um Macht und
Beute, Ströme Blutes und, was die Fellachenvölker betrifft,
Schweigen und Dulden. Der Mensch, ins Zoologische, Kosmisch-
Geschichtslose zurückgesunken, lebt als Bauer mit der mütterli-
chen Scholle verbunden oder kümmert stumpf in den Ruinen der
ehemaligen Weltstädte hin. Als Narkotikum erzeugt seine arme
Seele die sogenannte »zweite Religiosität«, ein Surrogat der ersten
kulturvoll-schöpferischen, ohnmächtig und eben vermögend,
ihm sein Leiden in Ergebung tragen zu helfen.
150
Der Mann dieses erquicklichen Ausblickes ist eine eigentümlich
vexatorische Erscheinung. Seine Lehre, kalt-wissenschaftlich, af-
fektlos, erhaben über alle menschlichen Parteiungen, eisern deter-
ministisch, reine Erkenntnis, wie es scheint, bekundet durch sich
selbst dennoch einen Willen, eine Weltanschauung, Sympathie
und Antipathie; sie ist im Grunde nicht affektlos, denn sie ist
heimlich konservativ. Man stellt eine solche Lehre nicht auf, man
ordnet die Dinge nicht so, identifiziert nicht in dieser Weise
Geschichte und Kultur, stellt nicht in dieser Schärfe Form gegen
Geist, ohne ein Konservativer zu sein, ohne in seinem Herzen
Form und Kultur zu bejahen und die zivilisatorische Zersetzung
zu verabscheuen. Die Kompliziertheit und Perversität des Speng-
ler'schen Falles besteht nun darin, oder scheint darin zu bestehen,
daß ertrotz dieses heimlichen Herzenskonservativismus nicht die
Kultur bejaht, nicht für »Erhaltung« kämpft, nicht mit Tod und
Verwesung nur pädagogisch droht, um sie hintanzuhalten, son-
dern die »Zivilisation« bejaht, sie mit fatalistischer Wut in seinen
Willen aufnimmt, ihr gegen die Kultureisern-höhnisch recht gibt,
denn die Zukunft gehöre ihr, und alles Kulturhafte entbehre jeder
Lebensaussicht. Eine so grausame Selbstüberwindungund Selbst-
verneinung scheint der kalt-heroische Denker sich zuzumuten.
Ein heimlicher Konservativer, scheint er, der Kulturmensch,
verdrehterweise die Zivilisation zu bejahen; allein, das ist nur der
Anschein eines Anscheines, eine doppelte Vexation, denn er
bejaht sie wirklich, - nicht nur mit seinem Wort, dem etwa sein
Wesen widerstrebte, sondern auch mit seinem Wesen!
Was er verneint, indem er es prophezeit, er stellt es dar, er ist es
selbst - die Zivilisation. Alles, was zu ihr gehört, was ihr Ingre-
diens ist: Intellektualismus, Rationalismus, Relativismus, Kult
der Kausalität, des >Naturgesetzes<, -seine Lehre ist damit durch-
tränkt, sie b~steht daraus, und gegen ihren bleiernen Geschichts-
materialismus ist derjenige eines Marx nur idealistische Himmels-
bläue. Sie ist nichts alsNeunzehntes Jahrhundert, völlig vieuxjeu,
bourgeois durch und durch; und indem sie die »Zivilisation« als
das Kommende apokalyptisch an die Wand malt, ist sie selber ihr
Ausklang und Grabgesang.
Ihr Autor entlehnt von Goethe den Begriff der Morphologie; aber
in seinen Händen wird diese Idee etwa zu dem, was in denen
Darwins die ebenfalls Goethe'sche Idee der Entwicklung wurde.
Er hat von Nietzsche schreiben gelernt, ihm die verhängnishaften
Akzente abgeguckt; abervom Wesen dieses wirklich strengen und
liebenden Geistes, Inaugurators eines unsäglich Neuen, hat seine
lieblose und falsche Strenge nicht einen Hauch verspürt. Er ist
Ip
geistfeindlich - nicht im Sinne der Kultur, sondern in dem der
materialistischen Zivilisation, deren Reich das Gestern und nicht
das Morgen ist. Er ist ihr echter Sohn, ihr letztes Talent und
prophezeit sie dabei mit pessimistischer Unerbittlichkeit, indem
er zu verstehen gibt, daß er heimlich ein konservativer Kultur-
mensch sei.
Mit einem Wort, er ist ein Snob- und erweist sich als solcher auch
in seinem Attachement an die Natur, das Naturgesetz, seiner
Verhöhnung des Geistes. >>Sollten die unabänderlichen Gesetze
der Natur nicht Täuschung, nicht höchst unnatürlich sein?,, fragt
Novalis. »Alles geht nach Gesetzen, und nichts gehtnach Geset-
zen. Ein Gesetz ist ein einfaches, leicht zu übersehendes Verhält-
nis. Aus Bequemlichkeit suchen wir nach Gesetzen.« Auswissen-
schaftlicher Bequemlichkeit und herrisch-apodiktischer Lieb-
losigkeit, jawohl! Und auch aus jener Selbstgefälligkeit, welche,
lüstern nach Verrat, .für die Natur gegen den Geist und den
Menschen überheblich Partei nimmt, diesem im Namen jener
süffisante U nerbittlichkeiten sagt und sich wunder wie ehern und
vornehm dabei dünkt. Aber das Problem der Vornehmheit, aller-
dings beschlossen in dem Gegensatz zwischen Natur und Geist,
ist nicht gelöst durch solche Uberläuferei, und um dieNaturgegen
den Geist vertreten zu dürfen, wie Spengler es tut, müßte man vom
echten Adel der Natur sein, gleich Goethe, der sie gegen den
Geistesadligen Schiller vertrat, -sonst ist man das, als was ich den
talentvollen Verfasser des >Unterganges< soeben kennzeichnete,
nämlich ein Snob, und man gehört zur großen Zahl der modernen
Figuren, die unangenehmerweise lehren, was ihnen nicht
zukommt.
DIE STELLUNG FREUDS
IN DER MODERNEN GEISTESGESCHICHTE

In einem entscheidenden Aphorismus, den er >Die Feindschaftder


Deutschen gegen die Aufklärung< überschreibt, erörtert Nietz-
sche den Beitrag, den die Deutschen, ihre Philosophen, Historiker
und Naturforscher in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhun-
derts mit ihrer geistigen Arbeit qer allgemeinen Kultur gebracht
haben, und weist darauf hin, daß der ganze große Hang dieser
Denker und Forscher gegen die Aufklärung und gegen die Revo-
lution der Gesellschaft gerichtet war, »welche mit grobem Miß-
verständnis als deren Folge galt«, Die Pietät gegen alles noch
Bestehende, sagt er, habe sich in Pietät gegen alles, was bestanden
hat, umzusetzen gesucht, »nur damit Herz und Geist wieder
einmal voll würden und keinen Raum mehr für zukünftige und
neuemde Ziele hätten«. Er spricht von der Aufrichtung des
Gefühlskultus an Stelle des Kultus der Vernunft, von dem subli-
men Anteil, den die deutschen Musiker, erfolgreicher sogar als alle
Künstler des Wortes und Gedankens, an diesem Tempelbau
genommen; und bei voller Anerkennung der Einzelvorteile, die
die historische Billigkeit bei alledem davongetragen habe, will er
im ganzen doch nicht verkannt wissen, wie es »keine geringe
allgemeine Gefahr« gewesen sei, unter dem Anschein der voll-
und endgültigsten Erkenntnis des Vergangenen die Erkenntnis
überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und, nach den Wor-
ten Kants, dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem mandem
Wissen seine Grenzen wies. »Die Stunde dieser Gefahr«, schreibt
Nietzsche ( 1 8So!), »ist vorübergegangen.« Man atme wieder freie
Luft. Gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt
beschworen wurden, seien auf die Dauer den Absichten ihrer
Beschwörer am schädlichsten geworden, »die Historie, das Ver-
ständnis desUrsprungsund der Entwicklung, die Mitempfindung
für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und
der Erkenntnis, nachdem sie alle eine Zeitlang hilfreiche Gesellen
des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes
schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und
fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern
vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener
Aufklärung; wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklä-
rung«, schließt Nietzsche, »haben wir jetzt weiterzuführen-
unbekümmert darum, daß es eine >große Revolution< und wie-
derum eine >große Reaktion< gegen dieselbe gegeben hat, ja, daß es
beides noch gibt: es sind doch nur Wellenspiele im Vergleich mit
der wahrhaft großen Flut, in welcher wir treiben und treiben
wollen!«
Die brennende Lebendigkeit dieser Worte, ihre unmittelbare und
höchst stärkende Anwendbarkeit auf das Heute wird jeder emp-
finden, der sie, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Nieder-
schrift, wieder liest. Wer bemüht ist, sich von ephemeren» Wel-
lenspielen« der Zeit und des Tages den Blick in die offene Men-
schenzukunft nicht ganz verstellen- sich durch den'selbstgefälli-
gen Lärm der Zeichendeuter und Liebediener der Stunde nicht
verwirren zu lassen, wird ihnen mit Dankbarkeit wieder lauschen
und mit Ehrfurcht vor dem beherrschenden Genius Nietzsche's,
vor seiner überschattenden Größe, der unsere Gegenwart, sei sie
sich dessen bewußt oder nicht, mitallihrem Denken, Wollen,
Meinen und Streiten buchstäblich zu Füßen liegt, nämlich so, daß
all ihre Kämpfe und Krämpfe wie ein Satyrspiel und eine skurrile
Wiederholung seines geistigen Erlebens im Klein-Wirklichen
anmuten und sie um Probleme hadert, die in ihm, durch ihnlängst
in großem Stile entschieden sind . . . Oder was wären unsere
geistespolitischen Kontroversen anderes als die sozusagen jour-
nalistische Ausmünzung seines epochalen, durch und durch sym-
bolisch-repräsentativen Kampfes gegen Wagner, der Selbstüber-
windung der Romantik durch ihn und in ihm?
Ober Romantik und Aufklärung, Reaktion und Fortschritt nach-
zudenken, haben wir Heutigen allen Grund, und auch Vorsicht im
Gebrauch dieser Begriffe sollten wir, wenn anders es uns nicht
ganz allein ums Streiten und überwiegen, sondern auch und vor
allem um Erkenntnis zu tun ist, nachgerade gelernt haben: jene
Vorsicht, zu der schon die Oberschrift einer sehr frühen, in
>Menschliches, Allzumenschliches< aufzufindenden Studie
Nietzsche's rät, nämlich das Wort >Reaktion als Fortschritt<. Er
spricht dort von der Erscheinung mächtiger und fortreißender,
aber gleichwohl zurückgebliebener Geister, die eine vergangene
Epoche der Menschheit noch einmal heraufbeschwören, zum
Zeichen, daß die neuen Richtungen, denen sie entgegenwirken,
noch nicht kräftig genug sind, ihnen siegreich Widerpart zu
halten. Er exemplifiziert besonders auf Schopenhauer, den er als
einen solchen triumphal-rückschlägigen Genius anspricht, in des-
sen Lehre die ganze verwissenschaftliche, mittelalterlich-christ-
liche Weltbetrachtung und Menschenempfindung noch einmal,
trotzder längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dog-
men, eine Auferstehung gefeiert habe. Und nun ist die Besonnen-
heit vorbildlich, mit der Nietzsche die Vorteile zu erwägen gibt,
die wir aus dem Wirken solcher Geister ziehen mögen: indem sie
unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsar-
ten derWeltund Menschen zurückzwingen, zu welchen sonst uns
so leicht kein Pfad führen würde, bieten sie der Historie und der
Gerechtigkeit einen unschätzbaren Gewinn. Die historische Be-
trachtungsart der Aufklärung, so gibt Nietzsche zu verstehen,
habe dem Christentum und seinen asiatischen Verwandten nicht
gerecht werden können. Schopenhauers Metaphysik habe die
aufklärerische Betrachtungsart aus genial-rückschlägigem Erle-
ben korrigiert, und erst nach diesem großen Erfolge der Gerech-
tigkeit dürften wir die Fahne der Aufklärung- »die Fahne mit den
drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire«- von neuem weiter
tragen. »Wir haben«, sagt er, »aus der Reaktion einen Fortschritt
gemacht.«
Man sieht, das ist eine Vorbildung des Aphorismus aus der
·Morgenröte<, den ich vorhin in Erinnerung brachte, und überdie
verwickelte und doppelgesichtige, zur Behutsamkeit auffor-
dernde Natur alles Geistigen gibt es schon ebenso lehrreiche
Auskunft. Reaktion als Fortschritt, der Fortschritt als Reaktion,
diese Verschränktheit ist eine immer wiederkehrende geschichtli-
che Erscheinung. Luthers Reformation als Gesinnungswerk be-
trachtet- werwürdeunter dem Gesichtswinkel von Reaktion und
Fortschritt klug daraus? Sie war ebensowohl Fortschritt und
Befreiung, die deutsche Form der Revolution und Vorläuferinder
französischen, wie Rückfall ins Mittelalter und ein fast tödlicher
Reif auf den zagen Geistesfrühling der Renaissance- ein Ineinan-
der von beidem, eine Mischung des Lebens, der Tat, der Persön-
lichkeit, welcher mit Kriterien des puren Geistes keineswegs
beizukommen ist. Ja, das Christentum selbst, welche unschätz-
bare Bedeutung für die Vermenschlichung des Menschen, für
seine seelisch-sittliche Verfeinerung es auch gewonnen haben
möge und welche Fortschrittsmacht es also vom Augenblick
seiner Haupterhebung an darstellte: wer begreift denn nicht, daß
es mit seinem schauerlichen Heraufholen und Wiederbeleben des
Ur-Religiösen, seiner seelischen Vory.reltlichkeit, seinen Blut-
und Bundesmahlzeiten vom Fleisch eines göttlichen Schlachtop-
fers der zivilisierten Antike als ein wahrer Greuel von Rückfällig-
keit und Atavismus erscheinen mußte, durch welchen buchstäb-
lich und in jedem Sinn das Unterste der Welt zuoberst gekehrt
wurde?
Wie sehr schon das Christentum selbst, das Luther •reformierte<,
eine Reformation gewesen, nämlich eine Rückkehr zum religiö-
sen Urtümlichen und die seelische Wiederherstellung desselben;
wie wenig überhaupt >Reformationen< ihrer Natur nach mitFort-
schritt zu schaffen haben, da sie ja zu einer Zeit, wo schon Neues
da ist, das Alte und Älteste in einem extrem konservativen Sinn
wiederherstellen, wenn auch gewissermaßen im Bunde mit jenem
Neuen, das wurde mir recht anschaulich, als ich jetzt gewisse Sei-
ten von >Totem und Tabu< wieder las, Seiten, auf denen F reud die
Totem-Mahlzeit- und die ihr zugrunde liegende, sehr realistische
Auffassung der Blutsgemeinschaft als Identität der Substanz -
behandelt: dieses erste Fest der Menschheit, die Wiederholung
und Gedenkfeier einer verbrecherischen Urtat, der Vatertötung,
»mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisa-
tionen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion«. Wie er
hier »durch die Länge der Zeiten die Identität der Totem-Mahlzeit
mit dem Tieropfer, dem theanthropischen Menschenopfer und
mit der christlichen Eucharistie verfolgt« und diese ganze
schauerliche und kulturell hochproduktive Krankheitswelt von
Inzestangst, Mördergewissensnot und Erlösungsdrang mit der
behutsam-unerbittlichen Sonde des Arztes durchforschtund ana-
lytisch durchleuchtet, das hält zu mehreremNachdenken an als
nur über die seelisch-urgreuelhafte Herkunft des Religiösen und
die tief konservative Natur aller Reformationen: es legt vor allem
Gedanken nahe über den Autor selbst und seine geistesgeschicht-
liche Stellung und Zugehörigkeit.
Freud, als Tiefenforscher und Psychologe des Triebes, fügt sich
durchaus in die Reihe der Schriftsteller des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts, die, sei es als Historiker, Philosophen,
Kulturkritiker oder Archäologen, entgegen dem Rationalismus,
Intellektualismus, Klassizismus, mit einem Worte: dem Geist-
glauben des achtzehnten und etwa auch noch des neunzehnten
Jahrhunderts, die Nachtseite der Natur und der Seele als das
eigentlich Lebenbestimmende und Lebenschaffende betonen,
kultivieren, wissenschaftlich hervorkehren und den Primat alles
Erdgöttlich-Vorgeistigen, des »Willens«, der Leidenschaft, des
Unbewußten oder, wie Nietzsche sagt, des »Gefühls« vor der
»Vernunft« revolutionär vertreten. Das Wort >revolutionär< steht
hier in einem paradoxen und nach logischer üblichkeitverkehrten
Sinn; denn während wir sonst gewohnt sind, den Begriff des
Revolutionären an die Mächte des Lichtes und der Vernunfteman-
zipation, an die Idee der Zukunft also, zu knüpfen, lauten Bot-
schaft und Aufruf hier durchaus entgegengesetzt: im Sinne näm-
lich des großen Zurück ins Nächtige, Heilig-Ursprüngliche,
rs6
Lebensträchtig-Vorbewußte, in den mythisch-historisch-roman-
tischen Mutterschoß. Das ist das Wort der Reaktion. Aber es ist
revolutionär betont, und um welches Gebiet geistespolitischer
Bemühung ums Menschliche es sich nun handle: um die Historie,
in der Arndt, Görres, Grimm die Idee des Volkhaft-Urtümlichen
derjenigen der Humanität entgegenstellen; um die Ergrundung
von Welt und Natur, in der Carus das bewußtlos bildende Leben
auf Kosten des Geistes feiert und Schopenhauer den Intellekt tief
unter den Willen demütigt, bevor er diesem moralische Umkehr
und Selbstaufhebung empfiehlt; um die Altertumskunde, in der
von Zoega, Creuzer, Müller bis zu Bachofen, dem Juristen der
Mutterherrschaft, alle erkennende Sympathie- in tendenzvollem
Widerspruch zur Vernunftästhetik der Klassizisten-dem Chtho-
nischen, der Nacht, dem Tode, dem Dämonischen, kurzum einer
vorolympischen Ur- und Erdreligiosität zugewandt ist, immer
gibt der Wille sich kund, »unsere Empfindungen in ältere, mäch-
tige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzuzwin-
gen«, immer wird die Idee heiliger Vergangenheit und Todes-
fruchtbarkeit einem als seicht und überaltert empfundenen Idea-
lismus und Optimismus des Zukunftskults und apollinischer
Tageshelle als das neue Wort, das Wort des Lebens revolutionär
entgegengestellt und die Ohnmacht des Geistes und der Vernunft
im Vergleich mit den Mächten des Seelenuntersten, der Leiden-
schaftsdynamik, dem Irrationalen, dem Unbewußten mit kriege-
rischer Frömmigkeit behauptet und aufgezeigt. Diese Linie setzt
sich fort bis zu Klages, dem Wiederentdecker, Wiedererwecker
Bachofens, und zu dem Geschichtspessimismus Spenglers, bis
hinein also in gegenwärtigste Stimmungen und Denkformen,
welche aktuelle Gelegenheit gewähren, das eigentümliche psy-
chologischeZusammenfallen von Geistesunglauben und Geistes-
haß zu studieren. Denn nicht etwa, daß hier die Einsicht in die
Schwäche von Geist und Vernunft, in ihre oft erwieseneUnfähig-
keii:, das Leben zu bestimmen, den Wunsch einflößte, sie zu
schützen und ihnen irgendwelchen Sukkurs des Erbarmens zu
leisten: im Gegenteil behandelt man sie in dieser Schule, als
bestünde die Gefahr, sie könnten je zu stark werden, es könnte je
zu viel davon geben auf Erden; des Geistes Ohnmacht ist hier ein·
Grund mehr, ihn zu hassen und ihn als Totengräber des Lebens
religiös zu verrufen,
Niemandem entgeht, daß es sich bei alldem um jene »Feindschaft
gegen die Aufklärung« handelt, die Nietzsche in seinem Aphoris-
mus beschreibt. Die Gefahr, meint er, welche mit diesen oft
genialisch geführten und mit Entdeckungen reich gesegneten
157
Bestrebungen verbunden gewesen, sei- gottlob- vorübergegan-
gen; auf die Dauer hätten auch sie und gerade sie sich als Förderer
eben jener Aufklärung erwiesen, gegen die ihre Meister sie be-
schworen, als Wellenspiele nur im Vergleich mit der wahrhaft
großen Flut, welche die Menschheit ins Weite trage. Ist dies auch
unsere Empfindung und innere Erfahrung? Können auch wir die
Gefahr für die Humanität, die Nietzsche meint, als glücklich
vorübergegangen ansehen? Ja, wenn wir uns zu seinem überblick
erheben und unser besseres Wissen um die Hauptströmung des
Lebens, die Richtung des Weltganges im Großen zu Rate ziehen;
durchaus nicht, wenn wir uns den Eindrücken überlassen, die der
Tag und die Stunde uns bieten und aufzwingen.
Das große neunzehnte Jahrhundert, dessen Herabsetzung und
Schmähung zu den insipidesten Gewohnheiten eines modernen
Literatenturns gehört, war ja >romantisch< nicht nur in seiner
ersten Hälfte. Die Jahrzehnte seiner zweiten, die eigentlich bür-
gerlich-liberalen, monistisch-naturwissenschaftlichen, bildungs-
blind-materialistischen Jahrzehnte, sind durchsetzt mit Verfalls-
produkten und Elementen der Romantik; sie sind es, die dazu
anhalten, das Romantische als ein Ingrediens der Bürgerlichkeit
zu betrachten, und man darf nicht vergessen, daß erst in ihnen die
Kunst Richard Wagners triumphierte- diese Kunst, groß wie das
Jahrhundert, physiognomisch zerfurcht von allen seinen Zügen,
überladen mit allen seinen Trieben und würdig, demBesieger,und
Drachentöter der Epoche, Nietzsche, dem Initiator alles Neuen
und Besseren, was aus der anarchischen Verworrenheit unserer
Gegenwart zum Lichte ringt, als symbolischer Gegenstand seines
Heldenkampfes zu dienen. Wenn also heute die Fiktion versucht
wird -und dieser Versuch ist außerordentlich beliebt-, als sei der
geistesgeschichtliche Augenblick derselbe wie zu Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts, als habe man in der Geistfeindlichkeit
von heute, in diesem an Bachofen und die Romantik anknüpfen-
den Kultus der Naturdynamik und des Instinktiven eine Bewe-
gung echt revolutionären Charakters gegen den Intellektualismus
und rationalen Fortschrittsglauben abgelaufener Jahrzehnte zu
erblicken; als stünde zum Beispiel wiederum, wie damals, das
romantische Zubehör des Nationalismus, die völkische Idee mit
vollem revolutionären Recht gegen die »zurückbleibende Huma-
nität«, gegen einen ergreisenden Kosmopolitismus, als das Neue,
Jugendvolle und Zeitgewollte, so ist das alles durchaus unhaltbar
und muß als das gekennzeichnet werden, was es ist: als eine
Fiktion voller Tagestendenz, bei der wir an dem Punkte stehen,
wo der Geist aufhört und die Politik beginnt. Wir werden von
158
diesem Unwesen zu sprechen haben. Wo aber wären die Jahr-
zehnte optimistischer Vernunftseligkeit und fader Humanitäts-
duselei, deren revolutionäre Oberwindung wir heute erlebten?
Der Weltkrieg, diese Riesenexplosion der Unvernunft, in dem die
positiv-kosmopolitischen Mächte der Zeit, die Kirche sowohl wie
der Sozialismus, gegen die negativ-kosmopolitische Macht, das
imperialistische Kapital, den internationalen Nationalismus, un-
terlagen, wäre ein sonderbarer Abschluß für eine solche Epoche
gewesen. Noch einmal, das neunzehnteJahrhundertwar >roman-
tisch< nicht nur in seiner ersten Hälfte, sondern durch alle seine
Jahrzehnte hin wird sein szientifischer Stolz kompensiert, ja
überwogen von seinem Pessimismus, seiner musikalischen
Nacht- und Todverbundenheit, um derentwillen wir es lieben und
gegen die Geringschätzung einer Gegenwart soviel geringeren
Formates verteidigen. Durch Nietzsche hindurch, dessen Streit
gegen die Instinktfeindschaft des Sokrates unseren Propheten des
Unbewußten behagt, während sie ihn seiner psychologischen
Erkenntnismethode wegen für unfähig erklärten, den Mythus zu
verstehen und sich im ,. Heiligen Dunkel der Vorzeit« zurechtzu-
finden, durch ihn hindurch setzen die antirationalen Tendenzen
des neunzehnten Jahrhunderts sich fort bis in unsere Gegenwart,
in schlimmeren Fällen freilich nicht sowohl durch ihn hindurch als
über ihn hinweg. Ist es nicht buchstäblich vorgekommen, daß ein
berauschter Editor des >Mutterrechts< es unternahm, »Nietzsche
an Bachofen zu messen«? Das bedeutete den absurden Versuch,
das viel Größere am zweifellos Großen, aber ganz unvergleichlich
Kleineren zu messen, weshalb ich mir erlaubte, von einer vermes-
senen und maßvergessenen Art von Messung zu sprechen.
Wir haben es uns, nicht unbelehrt über die geistig verwickelte
Natur alles Lebens, zur intellektuellen Pflicht gemacht, die Worte
>Fortschritt< und >Reaktion< mit Vorsicht zu behandeln. Durch
das historische Vorkommen jener Erscheinung, die Nietzsche mit
>Reaktion als Fortschritt< bezeichnet, ist das Problemder Revolu-
tion gestellt, das in seiner Zwiespältigkeit und Doppelgesichtig-
keit heute die Köpfe - und namentlich die der Jugend - derart
verwirrt, daß das Abgestorbenste als wunder wie anziehende
Lebensneuigkeit sich vermummen kann und eine reinliche Klä-
rung des Begriffs, seine Zurückführung aufs Einfache, wodurch er
vor gefährlichem Mißbrauch geschützt wird, sehr dringlich ge-
worden ist. Er bestimmt sich nach dem Verhältnis des Willens und
der Lebensstimmung zum Vergangenen und zur Zukunft. Das
revolutionäre Prinzip, es ist schlechthin der Wille zur Zukunft, die
Novalis »die eigentlich bessere Welt« genannt hat. Es ist das zu
I 59
höheren Stufen leitende Prinzip der Bewußtwerdung und der
Erkenntnis; der Drang und Wille, durch das Bewußtmachen des
U nbewußten verfrühte, auf Bewußtlosigkeit unsicher und mora-
lisch verdienstlos ruhende Scheinvollkommenheiten und Schein-
harmonien des Lebens zu zerstören und auf dem Wege der
Analyse, der >Psychologie<, über Phasen der Auflösung, die man
unter dem Gesichtswinkel der Kultureinheit als Anarchie be-
zeichnen mag, in denen es aber kein Halt und kein Zurück, keine
>Restauration< und irgend haltbare Wiederherstellung gibt, hin-
überzuführen zu echter, durch Bewußtsein gesicherter und freier
Lebenseinheit, zur Kultur des zu vollkommenem Selbstbewußt-
sein entwickelten Menschen. Nur dies heißt revolutionär. Nur
dem durch Bewußtmachung und analytische Auflösung führen-
den Willen zur Zukunft gebührt der Name der Revolution. Man
muß das heute der Jugend sagen. Es gibt keine Predigt und keinen
Imperativ des großen Zurück, keine Inbrunst zur Vergangenheit
um der Vergangenheit willen, die anders als zu dem offenkundi-
gen Zweck der Verwirrung diesen Namen für sich in Anspruch
nehmen könnten, womit nicht gesagt sein soll, daß etwa der
revolutionäre Wille von Vergangenheit und Tiefe nichts wüßte.
Das Gegenteil soll besagt werden. Er muß und will sehrviel davon
wissen, sehr gründlich darin zu Hause sein; nur daß diese dunkle
Welt ihn nicht um ihrer selbst willen lockt, daß er sie nicht um
scheinfrommer, scheinreligiöser Erhaltung willen, kurz aus reak-
tionärem Instinkt zu seiner Sache macht, sondern als ein Erken-
nender und ein Befreier in ihre mit Greueln und Schätzen gefüllten
Verliese dringt.
Eine solche Bestimmung des reaktionären und des revolutionären
Willens nachdem Vorherrschen der Vergangenheits- oderderZu-
kunftsidee grundsätzlich angenommen- ich weiß keine andere-,
wäre es nun ein ausgemachter geistesgeschichtlicher Irrtum, in
der deutschen Romantik eine reaktionäre, eine eigentlich geist-
feindliche Bewegung zu sehen. Das wäre zum mindesten ein
höchst einseitiges Urteil. Es gibt innerhalb der Romantik eine
historische Schule, die man nach dem hier geltendenWortsinnals
reaktionär kennzeichen mag. Man findet ja jene fromme Nacht-
schwärmerei, jenen Joseph-Görres-Komplex von Erde, Volk,
Natur, Vergangenheit und Tod, eine Gedanken- und Gefühlswelt
von fast unwiderstehlichem Zauber, die als besonders deutsch zu
empfinden uns aber, trotz Nietzsche, darum nicht ganz leichtfällt,
weil dies ganze chthonische Erlebnis zum letzten Male von einem
Franzosen, dem Nationalisten Maurice Barres, mit größtem
Glanz, in größtem Stil der europäischen Aufmerksamkeit darge-
r6o
boten worden ist. Im übrigen ist historische Stimmung selbst,
ihrer Natur nach, konservative Stimmung, Vergangenheitsstim-
mung; ein Historiker mit revolutionären Sympathien dürfte
schwer aufzufinden sein. Die deutsche Romantik nun aber ist, so
sonderbar es herkömmlichem Vorurteil klingen mag, wesentlich
nicht historisch gestimmt, sondern zukünftig, und dies so sehr,
daß man sie als die revolutionärste und radikalste Bewegung des
deutschen Geistes bezeichnen kann. Jenes Wort des Novalis von
der Zukunft als der »eigentlich besseren Welt« spricht im allge-
meinsten und entscheidendsten für diese Behauptung, aber im
einzelnen sprechen dafür hundert Züge, Lehren und enthusiasti-
sche Paradoxa dieser Geistesschule, auf welche WOrt für WOrt
zutrifft, was wir vorhin über das Wesen der Revolution zu sagen
versuchten, -kein Wunder, denn offen gestanden, es ist von ihr
abgeleitet. Sinnen und Dichten der Romantik ist auf Erweiterung
der Bewußtseinswelt gerichtet, und so geschärft war ihr Gewissen
für die Irreligiosität und Inhumanität alles Dumpfheitskonserva-
tismus, daß selbst Wackenroder, der musikverliebte !Uosterbru-
der, sein Grauen bekannte vor der »frevelhaften Unschuld, der
furchtbaren, orakelmäßig-zweideutigen Dunkelheit der Musik«.
Dies Grauen, dieser Gewissensskrupel, ist romantisch. Es ist
romantisch, in der Kunst nicht etwa >Natur< zu sehen, sondern das
Gegenteil davon: in der Zweiheit von Geist und Natur, deren
Verschmelzung im Dritten Reich aller Romantik als Ziel der
Humanität vorschwebt, ordnet sie die Kunst durchaus der Sphäre
des Geistes zu, denn ihres Wissens ist Kunst wesentlich Sinn,
Bewußtsein, Einheit, Absicht. So meinte es Novalis, als er den
>Wilhelm Meister< »ganz ein Kunstprodukt, ein Werk des Ver-
standes« nannte, und nie haben die Romantiker den Begriff der
Kunst anders verstanden denn als Gegensatz des Instinktiven,
Natürlichen, Unbewußten. Es fehlte nicht viel, daß sie darin nach
ihrer radikalen Art zu weit gegangen und das geist-körperliche
Wesen der Kunst verbannt hätten, welche ja einer Proserpina
gleicht, die den chthonischen Mächten und denen des Lichts
zugleich gehört. Dieser geistige Sinn aber für die neue Stufe, für
das Moderne, das Heutige und Zukünftige, für das Revolutionäre
mit einem Wort, ist das eigentlich Romantische.
über den revolutionären Charakter der deutschen Romantik
irreführen könnte einzig dies, daß das gesellschaftlich revolutio-
näre Interesse in ihr fehlt oder nur undeutlich hervorblickt, daß
ihre Geist- und Seelenhaftigkeit den Eifer für politische Ziele
scheinbar vermissen läßt. Aber in jeder geistigen Haltung ist das
Politische latent, und wieviel >Französische Revolution< sichetwa
161
in des Novalis seelischem Radikalismus wiederfindet, welche
Entsprechung von einem Volksgenie zum anderen hier waltet, das
hat am glücklichsten Georg Brandes in seiner Schrift über die
>Romantische Schule in Deutschland< erkannt und dargestellt.
Man muß einsehen, daß das Revolutionäre sich nicht notwendig
als Vernunftkult und intellektualistische Aufklärung auf Erden zu
manifestieren braucht, daß Aufklärung im engeren, historischen
Sinn des Wortes nur ein geistestechnisches Mittel unter anderen
zur Erneuerungund Förderung des Lebens bedeuten magund daß
auch mit entgegengesetzten Mitteln die große und allgemeine
Aufklärung gefördert werden kann und im Wechsel und Wellen-
spiel geistiger Stimmungen und Gesinnungen gefördert wird.
Und man muß versuchen, sich diesen großen, duldsamen und
gläubigen Gesichtspunkt zu eigen zu machen, wenn man nach
alldem die Geistfeindlichkeit von heute wieder ins Auge faßt:
diesen überall verbreiteten, die Zeit beherrschenden antiidealisti-
schen und antiintellektualistischen Willen, den Primat des Geistes
und der Vernunft zu brechen, ihn als die unfruchtbarste der
Illusionen zu verhöhnen und die Mächte der Dunkelheit und der
Tiefe, das Instinktive, das Irrationale triumphierend wieder in ihr
Lebensurrecht einzusetzen. Diesen Zeitwillen, der heute fast
überall, am besten aber in Deutschland zu Hause ist, romantisch
zu nennen, wäre kritisch gewagt; Geistliebe, leidenschaftlicher
Utopismus, Zukunftsorientierung, Bewußtheitsrevolutionaris-
mus sind viel zu entscheidende Elemente und Merkmale der
Romantik, als daß ihr Name hier eigentlich anwendbar sein
könnte. So wenig ferner die Romantik, an deren seelische Ver-
wandtschaft mit der Französischen Revolution wir erinnerten, als
reiner Rückschlag gegen das achtzehnte Jahrhundert und seinen
Klassizismus verstanden werden kann, so wenig und noch weni-
ger handelt es sich bei der heutigen Verherrlichung des Irrationa-
len um eine reine Gegenbewegung gegen,das neunzehnte Jahr-
hundert und seinen angeblichen Mangel an Lebenstiefgang. Eine
Epoche, die noch in ihrer zweiten Hälfte beherrscht war von
Genien wie Schopenhauer, Wagner, Bismarck und endlich Nietz-
sche, wird schwerlich als eine solche asthenisch-rationaler Le-
bensverdünnung gekennzeichnet werden dürfen, die eine Refor-
mation des Mythus und des erneuten Kults der Unteren als einzig
mögliche Reaktion herausgefordert hätte. Das Verhältnis unserer
Gegenwart zu jener groß-problematischen und schwermütig-
tendenzenreichen Epoche ist noch verwickelter als das der Ro-
mantik zum achtzehnten Jahrhundert. Die Bewegung von Geist-
feindlichkeit, Vernunftverachtung, Gegenaufklärung, deren Zeu-
genwir sind, wird durchkreuzt und ergänzt von Tendenzen eines
jungen Geistglaubens und menschheitlich-universalistischen
Vernunftwillens, kurz eines Neuidealismus, der ein Verwandt-
schaftsverhältnisdes zwanzigstenJahrhundertszum achtzehnten
herstellt und sich zur Menschenfeindlichkeit, dem Pessimismus
und Rationalismus des neunzehnten mit mehr Fug in revolutionä-
ren Gegensatz fühlen dürfte als irgendwelche Instinktvergötte-
rung. Wir sind wenig geneigt, gewisse beschämende Fehlleistun-
gen des neunzehnten Jahrhunderts als physiognomisch bestim-
mend für diese Epoche anzuerkennen; wir leugnen, daß die
Philistereider monistischen Aufklärung wirklich Herr über seine
tieferen Anlagen geworden wäre. Diejenigen seiner Elemente,
gegen die der moderne Irrationalismus eine notwendige und echte
Korrektur bedeutet, und gegen die lohnenderweise heute der
Gedanke im Felde liegt, sind uns freilich bekannt. Die Wirrheit
und Enge seiner Fachlichkeit, ideenlos und den höchsten und
tiefsten Fragen der Menschheit entfremdet, hat die fruchtbare
Sehnsucht nach Zusammenschau und höherem Sch:wung der
Erkenntnis auf den Plan gefordert. Seine Begrifflichkeit, sein
Kritizismus, die strenge Trostlosigkeit seiner Forschungsmetho-
den wird abgelöst oder ausgeglichen durch eine neue Unmittel-
barkeit, eine Lebensforschung, in der Gefühl, Intuition, seelische
Verbundenheit ihr Recht erkämpfen und das Künstlerische sich
als echtes Erkenntnismittel behauptet, so daß man 'von einer
Genialisierung der Wissenschaft und einer neuen Möglichkeit
sprechen mag, mit ihrem Begriff wieder den der Weisheit zu
verbinden, ein Vorgang, viel zu menschlich beglückend, als daß
irgendein Einschlag von Antivernunft und Geringschätzung des
Geistes uns bestimmen könnte, den widersacherischenBegriff der
Reaktion darauf anzuwenden. Wenn ein Buch wie >Urwelt, Sage
und Menschheit< von Dacque heute von der >Strengen<, der >kor-
rekten< Wissenschaft in vollkommen falscher Vornehmheit abge-
lehnt wird und seinem Verfasser die akademische Laufbahn ver-
dirbt, so gibt es keinen Zweifel, auf welcher Seite wir zu finden
sind- auf der des Buches, das echte Revolution ist, oder auf Seite
jener akademischen >Ablehnung< mit der wahrhaftig so gar nichts
geschehen ist. Ich halte an dem Einzelbeispiel nicht fest, aber
nichts ist sicherer, als daß der »unschätzbare Gewinn« für Gerech-
tigkeit und Erkenntnis, den Nietzsche gewissen antirationalen
»zurückzwingenden« Betrachtungsarten der Welt und der Men-
schen nachrechnet, auch dieser neuen Wissenschaftlichkeit zu
danken sein wird, eine Betrachtungs- und Forschungsart, deren
geistige Gesinnung und Technik nicht diejenige rationaler Auf-
163
klärung ist, die aber, revolutionär-zukünftig gerichtet, dennoch,
wir sind dessen sicher, der Aufklärung im menschlich großen Sinn
des Wortes dient. Wenn hier von einer Gefahr die Rede sein kann,
nämlich derjenigen, die Nietzsche mit solchen geistigen Bewe-
gungen verbunden sah, die dazu neigen, »die Erkenntnis unter das
Gefühl hinabzudrücken« und so dem zurückbildenden Geiste
dienstlich zu sein, so liegt diese Gefahr nur insofern in der neuen
Wissenschaft selbst, als sie die Möglichkeit zu bieten scheint,
durch die wirkliche Reaktion, die Mächte der Umkehr und der
Rückbildung mißbraucht zu werden, indem diese, ohne nach
ihrer Erlaubnis zu fragen, ein dreistes und spiegelfechterisches
Bündnis mit ihr eingehen. Das ist die Gefahr des Tages und der
Stunde. Keine Gefahr auf die Dauer und auf große Sicht, aber eine
Gefahr augenblicklicher Verwirrung und der Ablenkung wert-
voller Kräfte von den Zielen des Lebens und der Zukunft.
Hier ist von einem modernen Unwesen die Rede, und jeder sieht,
daß der Begriff der Revolution es ist, mit dessen Hilfe dieser
Unfug gestiftet wird, nämlich durch die Reaktion, die ihn usur-
piert, sich darin vermummt und es solcherart fertigbringt, daß
dem geraden und auf solche Kunststücke nichtvorbereitetenSinn
der Jugend, wie wir sagten, das .Älteste und Abgestorbenste als
wunder wie anziehende Lebensneuigkeit erscheinen mag. Man
k~n hier wirklich von einer Neuigkeit sprechen in bezug auf die
Erscheinung und das Kunststück selbst. Dergleichen war kaum je
schon da, es war nicht da in dieser gleichsam verabredeten und
einer Parole gehorchenden Durchführung. Immer hat es die auf
Erhaltung und Wiederherstellung bedachte Abneigung gegen das
fortschreitende Leben, die fromme und si.tinige, melancholische
oder vertrotzte Rückwärtsgewandtheit, die Sympathie mit dem
Tode gegeben, die viel Geist besitzen kann, ja, oft mehr davon
besitzt als ein allzu fröhlicher Fortschritt, nämlich gerade dann,
wenn sie weiß, wie sie ist, und nichts anderes sein möchte, wenn sie
sich nicht darüber täuscht, von Lebens wegen verurteilt zu sein,
aber sich vornehmer weiß oder dünkt als das Leben und in einer
Stimmung stolzer und beharrender Hoffnungslosigkeit ihr ironi-
sches Genüge findet. Solche Haltung und Lebensstimmung gibt es
auch heute, Charaktere und Werke, deren schicksalsbewußter
Konservatismus keineswegs der menschlichen Ehrwürdigkeit
entbehrt. Ich sprach einmal in aller Liebe und Ausführlichkeitvon
einem solchen Werk: von Hans Pfitzners >Palestrina<, diesem als
geistiges Werk die zeitgenössische Opernproduktion um Haup-
teslänge überragenden musikalisch-dramatischen Bekenntnis,
das ein klassischer und psychologisch ergiebigster Ausdruck
164
dieser Seelenstimmung ist. über dies ernste Sein, dies zeitabge-
wandte Sich-zu-Ende-Leben des Vergangenen im Gegenwär-
tigen namens des Lebens und des Fortschritts moralisieren zu
wollen wäre Philisterei. Hier ist keine Gefahr, hier ist nur Melan-
cholie, und nur der ästhetische Gesichtspunkt hat Geltung. Un-
geduld und Abscheu aber beginnen bei dem Versuch des Lebens-
widrigen, die Gebärde jugendlicher Zukünftigkeit zu stehlen und
in sie verstellt seine dunkle Sache zu betreiben.
Ich glaube, daß hier Widerstand zu leisten, daß einige kritische
Aufklärung über dies Treiben am Platze ist. Noch einmal, dieser
Ehrgeiz des Alten ist neu. Das Alte wollte sonst das Alte sein und
wetterte unmißverständlich gegen das Neue. Heut will es selber
das Neue sein, es schminkt sich die Farbe des Lebens an, und eine
Zeitbeleuchtung von frühmorgendlicher Unsicherheit ermög-
licht bis zu einem gewissen Grade die Täuschung. Das Geist-
widrige als Revolution, die Finte ist möglich, weil es tatsächlich
eine Revolution wider den Geist gibt: die neue Wissenschaft, den
neuen Tiefensinn, eben jene intuitionistische Lebensforschung,
welche, mit Nietzsche zu reden, ·die Vernunft unter das Gefühl
hinabzudrücken« bestrebt ist, indem sie die Botschaft des Seelen-
untersten, des U nbewußten, derTriebdynamik, der Sinnlichkeit-
oder mit welchem Namen man das Dämonisch-Natürliche nun
umschreiben mag- verkündet und vor dem 'fhrone des Lebens
über den Geist eine sowohl anklägerische wie abschätzige Sprache
führt. Wie schmeichelhaft diese Sprache dem bösen Willen ins
Ohr lautet, ihm, dessen Geisdeindlichkeit ganz anderer und
unvergleichlich •echterer< Art ist als die ihre; wie ihr Pessimismus,
berechtigt und notwendig als Mittel bei ihrer Arbeit an einem
neuen, vertieften Welt- und Menschenbilde, von ihm verdreht
wird zu einem Defaitismus der Humanität, welchem nur daran
liegt, in den Herzen allen Glauben an »zukünftige und neuemde
Ziele« zu zerstören und solchen Glauben als platte und altmodi-
sche Aufklärung von vorgestern in Verruf zu bringen, darum
kümmert die geistige Gegen-Geistigkeit sich nicht und mag nicht
Grund sehen, sich darum zu kümmern. Aber wir haben Grund,
die ermutigende Wirkung zu beobachten, die ihre Lehren auf die
rückwärtsstrebenden Mächte ausüben, ja, haben vielleicht
G_rund, von» keinergeringenallgemeinen Gefahr« zu sprechen.
Wirklich gibt es heute keinen falschen und scheinfrommen Be-
wahrungswillen, keine Zukunftsfeindschaft, Zukunftsangst,
Duckmäuserei und Dummheitstreue, keine brutale Rückwärtse-
rei und kein Verlangen nach Stillstand, Restauration, Umkehr auf
dem Wege der Bewußtwerdung und Erkenntnis-es gibt, sage ich,
165
nichts dergleichen, was sich nicht durch die irrationalen Sympa-
thien der neuen Lebensforschung bekräftigt fühlte, sich nicht mit
ihnen in Kontakt zu setzen suchte, sich nicht auf sie beriefe, sich
nicht geflissentlich mit ihnen verw~chselte und nicht vor allem
darauf bedacht wäre, sie zu politisieren, sie ins gesellschaftlich
Antirevolutionäre zu übersetzen und so die krude Reaktion in
revolutionärem Licht erscheinen zu lassen. Das ist sehr einfach. Ist
der Geist nur ein ohnmächtiger Feind des Lebens, sind Natur,
Trieb, Macht, Instinktdas Ein-und-Alles der W eltgestaltung, und
ist diese Entdeckung das Neueste und Jugendlichste, nun, dann ist
alles Alte in Wahrheit das Neue und Junge, alles Vor- und
Untervernünftige das Wahre und Rettende; und wer von Ideen
spricht, von Freiheit etwa, von Gerechtigkeit, der versteht nicht
die Zeichen der Zeit und gehört der »zurückbleibenden Humani-
tät«. Dann ist jeder Versuch, der Vernunftüberden Instinkt-und
zwar über den schlechten Instinkt - zum Siege zu verhelfen, ein
Verbrechen wider das Leben; denn schlechte Instinkte gibt es
nicht, wenn der Instinkt chthonische Heiligkeit besitzt. Dann ist
es öder und rückständiger Intellektualismus, die Wirklichkeit
dem Erkenntnisstande anpassen zu wollen, den der Geist schon
erreicht hat, auf die Lösung der krankhaften Spannung bedacht zu
sein, die heute, gefährlicher denn je, zwischen beiden waltet.
Soziale Gutwilligkeit, Anteilnahme an dem Suchen der Zeit nach
neuen und gesünderen Wirtschaftsformen ist dann marxistischer
Materialismus von vorgestern, die Unterstützung menschheidi-
che~; Forderungen, das Mitfühlen einer Weltsehnsucht nach gei-
stiger Einheit, politischer Synthese, Völkergemeinschaft ist seich~
ter Internationalismus, pazifistische Vemünftelei, und gegen all
dies altmodisch ideologische Gerümpel steht in revolutionärer
Jugendfrische das dynamische Prinzip, die geistbefreite Natur,
die völkische Seele, der Haß, der Krieg.
Das ist die Reaktion als Revolution, das große Zurück, geputzt
und aufgeschminkt als stürmendes Vorwärts. Wer versteht diese
Eitelkeit? Denn Eitelkeit ist es, Anschlußbedürfnis, der Wunsch,
sich, wenn auch nurverdrehungsweise, mit dem Leben im Bunde
zu fühlen, sich keineswegs und um keinen Preis gottverlassen
vorkommen zu müssen. Es ist, im Grunde, ein starkes Kompli-
ment an die Idee der Revolution, ein Beweis mehr für ihre
zeitbeherrschende Macht. Man kommt nicht in Betracht ohne sie,
das fühlt auch das Absterbende; so nennt es sich revolutionär,
ungefähr wie im Jahre achtzehn der Feudalkonservatismus die
Flagge einer Volkspartei hißte.
Und die Jugend? Wird sie wirklich dem plumpen Mißbrauch des
166
Tiefensinns neuer Lebenserkenntnis durch das roh Geistfeind-
liche zum Opfer fallen? Ja, es scheintso-oder es scheint doch
zuweilen so, da und dort. Das niederschlagende Schauspiel ist uns
nicht mehr ungewohnt, daß junge Körper greisenhafte Ideen
trag~n, sie in keckem Geschwindschritt, Jugendlieder auf den
Lippen, den Arm zumrömischen Gniß erhoben, dahertragen und
den schönen Schwung ihrer Seele daran verschwenden. Es muß
die Verwirrung steigern, wenn Jugend dem Alten und vor Alter
Bösen ihre biologische Liebenswürdigkeit leiht. Aber es ist nur
eine Verwirrung des Augenscheins, ein unbeständiges Trugbild.
Das Altersböse wird nicht gut und schön dadurch, daß Jugend es
trägt; es würde nicht lebensgerechtund liebenswürdig-und wenn
sie tragischerweise ihr Blut dafür vergösse. Irrungen und Mißver-
ständnisse dieser Art halten nicht stand, sie sind dazu bestimmt,
geordnet und beigelegt zu werden; und um den Prozeß der
Richtigstellung zu beschleunigen, wäre, sie meine ich, der Jugend
die Beschäftigung mit einer Erscheinungsform moderner Lebens-
forschung zu empfehlen, die wirksamer als jede andere jeden
Versuch vereitelt, sie zur Verdunkelung des Revolutionsbegriffes
zu mißbrauchen. Ich meine die Psychoanalyse.
Man spricht, das versteht sich, von dieser Lehre heute nicht mehr
als von einer - anerkannten oder umstrittenen - therapeutischen
Methode. Sie ist - gewiß ohne daß ihr ärzdicher Urheber sich das
anfänglich hätte träumen lassen- dem bloß medizinischen Bezirk
längst entwachsen und zu einer Weltbewegung geworden, vonder
alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissenschaft sich
ergriffen zeigen: Literatur- und Kunstforschung, Religions-
geschichte und Prähistorie, Mythologie, Volkskunde, Pädagogik
und so fort, nämlich kraft des ausbauenden und anwendenden
Eifers von Adepten, die um ihren psychiatrisch-medizinischen
Kern diese Aura von Wirkungen gelegt haben, derjenigen zu
vergleichen, die um das persönlich Werk Stefan George's liegt.
Dabei aber hat sie, Heilmethode ihrem Ursprung nach, ihren
ärzdichen Charakter diese humanistisch-ethische Tendenz zur
Wiederherstellung des Menschlichen aus jedweder Leidensver-
wirrung und -verzerrung, im Großen und Geistigen bewahrt, und
daß in ihr, unverkennbar, der tiefste Kennersinn für die Krankheit
nicht endgültig um der Tiefe und um der Krankheit willen, nicht
im vernunftfeindlichen Sinn also, am Werke ist; daß es hier
vielmehr, bei allen Vorteilen, die der Lebenserkenntnis aus der
Erkundung des Dunkels erwachsen, zuerst und zuletzt um Lö-
sung und Heilung, um >Aufklärung< in des Wortes menschen-
freundlichster Bedeutung geht- die ärztliche Willensmeinung der
167
Analyse also, meine ich, ist es, die ihre besondere Stellung inner-
halb der wissenschaftlichen Bewegung unserer Tage bestimmt.
Sie gehört zu dieser Bewegung, das ist klar. Sie isteinTeil vonihrer
Kraft, von ihrem Geist, welchervom Geist alslebensbestimmen-
der Macht nicht eben viel wissen will. Sie ist, mit ihrer Betonung
des Dämonischen in der Natur, ihrer Forscherpassion für die
nächtigen Gebiete der Seele, so antirational wie nur irgendeine
Ausprägung des neuen Geistes, der mit den mechanistisch-mate-
rialistischen Elementen des neunzehnten Jahrhunderts in siegrei-
chem Kampfe liegt. Sie ist Revolution durchaus nach seinem Sinn.
»Als Psychoanalytiker«, erklärt Freud ge~egentlich in einer klei-
nen autobiographischen Skizze, •muß ich mich mehrfür affektive
als für intellektuelle Vorgänge, mehr fürdas unbewußte als für das
bewußte Seelenleben interessieren.« Ein äußerst schlichter Satz,
der viel enthält. Was vor allem auffällt, ist die Selbstverständlich-
keit, mit der darin von »unbewußtem Seelenleben« die Rede ist.
Wirklich macht man sich heute kaum noch eine Vorstellung
davon, welch revolutionärer Affront für alle Schulpsychologie
und jede philosophische Gewohnheit beim ersten Auftreten der
Psychoanalyse in dieser Wortkoppelung lag. »Unbewußtes See-
lenleben«, das erschien aufrührerisch irri vollkommensten Sinn
des ·Wortes, als ein toller Widerspruch im Beiwort, der, falls er
et\Va kein Widerspruch war, tatsächlich den Aufruhr für alle
Psychologie bedeutet. Das Psychische und das Bewußte war man
zusammenzudenken gewöhnt; als Inhalt der Seele galten die
Bewußtseinsphänomene, und unbewußtes Psychisches, das war
hoffentlich ein närrischer Unbegriff. Die Hoffnung trog. Freud
bewies, daß das Seelische an sich unbewußt istund die Bewußtheit
nur eine Eigenschaft, die zum seelischen Akt hinzutreten kann,
aber nichts an ihm ändert, wenn sie ausbleibt. Seine Neurosen-
lehre beruhte hierauf, denn sie behauptete und erwies das Phäno-
men der Verdrängung, der Nichtzulassung eines Triebes ins
Bewußtsein und seiner Umwandlung in das neurotische Sym-
ptom- ein Nachweis, dessen übermedizinische Tragweite, dessen
Bedeutung für alles Wissen vom Menschen dem, der ihn er-
brachte, gewiß nicht bewußt war, heute aber in aller Welt begrif-
fen wird. Er war revolutionär, dieser Nachweis, durchaus im Sinn
der antirationalen, antiintellektualistischen Gesamtbewegung
unserer Zeit und stand deutlich in geistesgeschichtlichem Zusam-
menhang mit ihr.
Was die Psychoanalyse aus dieser Bewegung heraushebt, ist der
entschieden mehr als rückschlägige Charakter ihres Revolutiona-
rismus. Wenn der unscheinbare Ausspruch, den ich anführte, von
r68
einem Interesse spricht, das notwendig mehr den affektiven Vor-
gängen als den intellektuellen gehöre, so gibt das Veranlassung,
über die Psychologie des Interesses nachzudenken, bei der es alles
in allem nicht ohne Gefahren und Fallstricke abgeht. Ein Interesse
gerät sehr leicht in ein Verhältnis der Solidarität und der endgülti-
gen Sympathie mit seinem Gegenstande, es gelangt leicht dahin,
zu bejahen, was es nur zu erkennen ausgegangen war. Ein Inter-
esse ist selbst interessant; wo es besteht, ist die Frage, aus welchem
Grunde und zu welchem Zweck es besteht; es fragt sich zum
Beispiel, ob ein vorwaltendes Interesse fürs Affektive selbst affek-
tiver Natur ist odervonintellektueller Art. Im ersten Fall bedeutet
es Verherrlichung- was ein Interesse wohl eigentlich nicht bedeu-
ten sollte. Freuds Forscherinteresse fürs Affektive artet nicht in
die Verherrlichung seines Gegenstandes auf Kosten der intellek-
tuellen Sphäre aus. SeinAntirationalismus bedeutet die Einsicht in
die tatsächlich-machtmäßige Überlegenheit des Triebes über den
Geist; er bedeutetnichtdas bewunderungsvolle Auf-dem-Bauch-
Liegen vor dieserüberlegenheitund die Verhöhnungdes Geistes.
Er gibt keinen Anlaß zu Verwechslungen und wird selbst nicht
zum Opfer einer solchen. Unverkennbar, unverwechselbar ist
sein »Interesse« für den Trieb nicht geistverleugnende und natur-
konservative Liebedienerei vor diesem, sondern er dient dem in
der- Zukunft revolutionär erschauten Siege der Vernunft und des
Geistes, er dient- das verpönteWortwerde nach seinem größten,
von Wellenspielen der Zeit unabhängigsten Sinn hier eingesetzt-
der Aufklärung. ,. Wir mögen«, sagt Freud, »noch so oft betonen,
der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum mensch-
lichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas
Besonders um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise,
aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende,
nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.«
Das sind seine Worte; und es wäre schwer, irgendwelche reaktio-
näre Brauchbarkeit einer Lehre abzugewinnen, in welcher der
Primat der Vernunft bündig »das psychologische Ideal« genannt
wird.
Diese Lehre ist revolutionär nicht nur im wissenschaftlichen Sinn
und im Verhältnis zu früheren Erkenntnismethoden; sie ist es im
eigentlichsten, unmißverständlichsten und unmißbrauchbarsten
Sinn: durchaus der Bestimmung gemäß, die das Wort durch die
deutsche Romantik erfährt. Es ist das Rührende, daß Freud den
harten Weg seiner Erkenntnisse ganz allein, ganz selbständig,
ganz nur als Arztund Naturforscher gegangen ist, ohne derTrost-
und Stärkungsmittel kundig zu sein, die die große Literaturfür ihn
169
bereitgehalten hätte, ohne die Begünstigung durch persönliche
Beziehungen zu ihr. Es mußte wohl so sein; die Stoßkraft seiner
Erkenntnis ist durch solche Gunsdosigkeit zweifellos gesteigert
worden. Er hat Nietzsche nicht gekannt, bei dem man überall
Freud'sche Einsichtenblitzhaft vorweggenommen findet; und
daß er- offenbar- Novalis nicht unmittelbar gekannt hat, wäre
fast noch mehr zu bedauern, gesetzt, daß man wünschen dürfte, er
hätte es leichter gehabt. Aber ein Zusammenhang, in dem der
Begriff des Unbewußten eine so entscheidende psychologische
Rolle spielt, erlaubt wohl, von unbewußter Überlieferung, über-
persönlichen Beziehungen zu sprechen.
Es gibt eine selbständige Abhängigkeit; und von dieser Art sind
offenbar die höchst merkwürdigen Beziehungen Freuds zur deut-
schen Romantik - Beziehungen, deren Merkmale fast auffälliger
sind als die seiner unbewußten Herkunft von Nietzsche, bisher
aber wenig kritische Würdigung erfahren haben. Wenn etwa
Freud als den ersten Trieb denjenigen bezeichnet, zum Leblosen
zurückzukehren; wenn er eine Lösung des Triebproblems über-
haupt damit versucht, daß er »Selbst- und Arterhaltung unter den
Begriff des Eros zusammenfaßt, diesem »den geräuschlos arbei-
tenden Todes- oder Destruktionstrieb gegenüberstellt« und »den
Trieb ganz allgemein als eine Art Elastizität des Lebenden erfaßt,
als einen Drang nach Wiederherstellung einer Situation, die ein-
mal bestanden hat und durch eine äußere Störung aufgehoben
wurde«; wenn er von der im Wesen konservativen Natur der
Triebe spricht und das Leben als das Zusammen- und Gegenein-
anderwirken von Eros und Todestrieb bestimmt, so klingt das
alles wie eine Umschreibung des Aphorismus des Novalis: »Der
Trieb unserer Elemente geht auf Desoxydation. Das Leben ist
erzwungene Oxydation,« Auch N ovalis sieht im alles erhaltenden
Eros das Prinzip, das dahin drängt, das Ü}'ganische zu immer
größeren Einheiten zusammenzufassen, und der erotische Radi-
kalismus seiner Gesellschaftspsychologie ist ein mystischer Vor-
klang der naturwissenschafdichen Erkenntnisse und Spekulatio-
nen Freuds. •Amor ist es, der uns zusammendrückt.« Das ist
Novalis. Und wenn Freud voneinernarzißtischen Libidodes Ichs
spricht und sie aus den Libidobeiträgen ableitet, mit denen die
Somazellen aneinanderhaften, so liegt das so vollkommen auf der
Linie romantisch-biologischer Träumereien, daß man es einen
Gedanken nennen kann, der nur zufällig bei Novalis nicht aus-
drücklich vorkommt.
Was man fälschlich Freuds »Pansexualismus« genannt hat, seine
Libidolehre, ist, kurz gesagt, der Mystik entkleidete, Naturwis-
senschaft gewordene Romantik. Sie ist es, die ihn zum Psycholo-
gen der Tiefe, zum Edorscher des Unbewußten macht und ihn
durch die Krankheit das Leben erkennen läßt; die ihn einreiht in
die antirationale wissenschaftliche Gesamtbewegung von heute
und ihn auch wieder aus ihr heraushebt. Denn es ist in dieser Lehre
ein Element geistiger Gesinnung, das sie untauglich macht, in
irgendeinem geistfeindlich-reaktionären Sinn mißbraucht zu
werden; das ihren Antiintellektualismus auf die Erkenntnis be-
schränkt, ohne ihm zu gestatten, auf den Willen überzugreifen.
Und diese Geistigkeit ist gerade mit der Idee verbunden, deren
Prädomination seiner Lehre die heftigsten Widerstände geweckt
hat, weil das christliche Vorurteil uns gewöhnt hat, sie im Lichte
der Unreinheit und Sündhaftigkeit zu sehen: niit der Idee des
Geschlechts. Indem Freud den Todes- und Destruktionstrieb als
das Streben des Lebendigen beschreibt, zur Spannungslosigkeit
des Leblosen zurückzukehren und dieses ,.zurück!« vom Ge-
schlecht als dem »eigentlichen Lebenstriebe« durchkreuzen läßt,
mit dem allein alle innere Tendenz zur Höherentwicklung, Ver-
einigung und Vervollkommnung verbunden sei, verleiht er der
Sexualität eine Anlage zu revolutionärer Geistigkeit, die das
Christentum weit entfernt war, ihr zuzuschreiben.
Es ist bekannt, in welchem Grade Freuds ganze Kulturpsycholo-
gie auf Triebschicksale zurückgeht und welche Rolle die Begriffe
der Sublimierung und der Verdrängung darin spielen. Sein Sozia-
lismus, der aus mehr als einer Stelle seiner Schriften deutlich genug
hervorgeht, wurzelt hier, in seiner Neurosenlehre. Wir wissen,
daß für ihn das neurotische Symptom die Folge - nicht die
notwendige Folge, aber eben die pathologische Folge der Ver-
drängung ist. Sieht man genauer hin, so wird deutlich, daß er
unsereil ganzen heutigen Kulturzustand im Zeichen und Bilde der
Verdrängungsneurose erblickt, was mehr als ein Bild und Gleich-
nis, was zu gutem Teile ganz wörtlich und eigentlich zu verstehen
ist, wobei aber das Gleichnis über das Wörtliche hinausreicht.
Freud sieht in unserer Kultur eine durchaus ungesicherte, durch-
aus labile Scheinvollkommenheit und Scheinharmonie, dem Zu-
stande verwandt -und nicht nur verwandt-, in dem ein N euroti-
ker ohne Genesungswillen sich mit seinen Symptomen einrichtet
und abfindet; eine Lebensform, »die«, so sagt er, »weder Aussicht
hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient«. Hier nun setzt die
so überraschende und geistesgeschichtlich so bedeutende Ver-
wandtschaft seiner Lehre mit der Bewußtwerdungsphilosophie
jener Romantik ein, die Novalis vertritt. Sie hat die romantische
Gewissenempfindlichkeit gegen die Inhumanität alles Dumpf-
heitskonservatismus, gegen eine Frömmigkeit, die verfrühte, mo-
ralisch unverdiente und auf Bewußdosigkeit unsicher ruhende
Lebensformen um jeden Preis zu erhalten strebt. Sie bedeutet die
Notwendigkeit der Auflockerung, Auflösung solcherunendgül-
tiger Ordnungen durch kritische Einsicht; sie glaubt mit der
Romantik an die Transzendenz der Unordung, an höhere Stufen,
an die Zukunft. Der Weg, den sie vorschreibt, ist der der Bewußt-
machung, der Analyse, auf welchem es kein Haltund kein Zurück,
keine Wiederherstellung des >Guten-Alten< gibt; das Ziel, das sie
zeigt: eine neue, verdiente, durch Bewußtheit gesicherte, auf
Freiheit und Wahrhaftigkeit beruhende Lebensordnung. Man
kann sie aufklärerisch nennen nach ihren Mitteln und Zielen; aber
ihr Aufklärerturn ist durch zu vieles hindurchgegangen, als daß
seine Verwechslung mit heiterer Seichtheitvollziehbar wäre. Man
kann sie antirational nennen, da ihr Forschungsinteresse der
Nacht, dem Traum, dem Triebe, dem Vorvernünftigen giltund an
ihrem Anfange der Begriff des Unbewußten steht; abersieist weit
entfernt, sich durch dies Interesse zurDichterindes verdunkeln-
den, schwärmenden, zurückbildenden Geistes machen zu fassen.
Sie ist diejenige Erscheinungsform des modernen Irrationalismus,
die jedem reaktionären Mißbrauch unzweideutig widersteht. Sie
ist, wir wollen die Oberzeugung aussprechen, einer der wichtig-
sten Bausteine, die beigetragen worden sind zum Fundament der
Zukunft, der Wohnung einer befreiten und wissenden Mensch-
heit.
FREUD UND DIE ZUKUNFT

Meine Damen und Herren!


Was legitimiert einen Dichter, den Festredner zu Ehren eines
großen Forschers zu machen? Oder, wenn er die Gewissensfrage
auf andere abwälzen darf, die glaubten, ihm diese Rolle übertragen
zu sollen: wie rechtfertigt es sich, daß eine gelehrte Gesellschaft, in
unserem Fall eine Akademische Vereinigung für medizinische
Psychologie, nicht einen ihres Zeichens, einen Mann der Wissen-
schaft bestellt, damit er den hohen Tag ihres Meisters im Worte
begehe, sondern einen Dichter, das heißt also doch einen Men-
schengeist, der wesentlich nicht auf Wissen, Scheidung, Einsicht,
Erkenntnis, sondern auf Spontaneität, Synthese, aufs naive Tun
und Machen und HerV-orbringen gestellt ist und so allenfalls zum
Objektförderlicher Erkenntnis werden kann, ohne seiner Natur
und Bestimmung nach zu ihrem Subjekt zu taugen? Geschieht es
vielleicht in der Erwägung, daß der Dichter als Künstler, und zwar
als geistiger Künstler, zum Begehen geistiger Feste, zum Festefei-
ern überhaupt berufc:ner, daß er von Natur ein festlicherer
Mensch sei als der Erkennende, der Wissenschaftler? - Ich will
dieser Meinung nicht widersprechen. Es ist wahr, der Dichter
versteht sich auf Lebensfeste; er versteht sich sogar auf das Leben
als Fest - womit ein Motiv zum erstenmalleise und vorläufig
berührt wird, dem es bestimmt sein mag, in der geistigen Huldi-
gungsmusik dieses Abends eine thematische Rolle zu spielen. -
Aber der festliche Sinn dieser Veranstaltungliegt nach der Absicht
ihrer Veranstalter wohl eher in der Sache selbst, das heißt: in der
solennen und neuartigen Begegnung von Objekt und Subjekt, des
Gegenstandes der Erkenntnis mit dem Erkennenden, - einer
saturnalischen Umkehrungder Dinge, in welcherder Erkennende
und Traumdeuter zum festlichen Objekt träumerischer Erkennt-
nis wird, - und auch gegen diesen Gedanken habe ich nichts
einzuwenden: schon darum nicht, weil a\lch in ihm bereits ein
Motiv aufklingt, das eine bedeutende symphonische Zukunft hat.
Voller instrumentiert und verständlicher wird es wiederkehren,
denn ich müßte mich sehr täuschen oder gerade die Vereinigung
von Subjekt und Objekt, ihr Ineinanderfließen, ihre Identität, die
Einsicht in die geheimnisvolle Einheit vonWeltund Ich, Schicksal
und Charakter, Geschehen und Machen, in das Geheimnis also
der Wirklichkeit als eines Werkes der Seele - oder, sage ich,
173
gerade dies. wäre das A und 0 aller psychoanalytischen
Initiation ...
Auf jeden Fall: Entschließt man sich, einen Dichter zum Lobred-
ner eines genialen Forschers zu ernennen, so sagt das etwas aus
über den einen wie den anderen; es ist kennzeichnend für beide.
Ein besonderes Verhältnis des zu Feiernden zur Welt der Dich-
tung, der Literatur geht ebenso daraus hervorwie eine eigentümli-
ehe Beziehung des Dichters, des Schriftstellers zu der Erkenntnis-
sphäre, als deren Schöpfer und Meister jener vor der Welt steht;
und das wiederum Besondere und Merkwürdige bei diesem
Wechselverhältnis, diesem Einandernahesein ist, daß es beider-
seits lange Zeit ungewußt, im »Unbewußten« blieb: in jenem
Bereich der Seele also, dessen Erkundung und Erhellung, dessen
Eroberung für die Humanität die eigentlichste Sendung gerade
dieses erkennenden Geistes ist. Die nahen Beziehungen zwischen
Literatur und Psychoanalyse sind beiden Teilen seit längerem
bewußt geworden. Das Festliche dieser Stunde aber liegt, wenig-
stens in meinen Augen und für mein Gefühl, in der wohl zum
ersten Male sich ereignenden öffentlichen Begegnung der beiden
Sphären in der Manifestation jenes Bewußtseins, dem demonstra-
tiven Bekenntnis zu ihm.
Ich sagte, die Zusammenhänge, die tiefreichenden Sympathien
seien beiden Teilen lange Zeit unbekannt geblieben. Und wirklich
weiß man ja, daß der Geist, den zu ehren uns angelegen ist,
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse als Therapeu-
tik und allgemeiner Forschungsmethode, den harten Weg seiner
Erkenntnisse ganz allein, ganz selbständig, ganz nur als Arzt und
Naturforscher gegangen ist, ohne der Trost- und Stärkungsmittel
kundig zu sein, die die große Literaturfür ihn bereitgehalten hätte.
Er hat Nietzsche nicht gekannt, bei dem man überall Freud'sche
Einsichten blitzhaft vorweggenommen findet; nicht Novalis,
dessen romantisch-biologische Träumereien und Eingebungen
sich analytischen Ideen oft so erstaunlich annähern; nicht Kierke-
gaard, dessen christlicher Mut zum psychologisch Äußersten ihn
tief und förderlich hätte ansprechen müssen; und gewiß auch
Schopenhauer nicht, den schwermütigen Symphonikereiner nach
Umkehr und Erlösung trachtenden Triebphilosophie ... Es
mußte wohl so sein. Auf eigenste Hand, ohne die Kenntnis
intuitiver Vorwegnahmen mußte er wohl seine Einsichtenmetho-
disch erobern: die Stoßkraft seiner Erkenntnis ist durch solche
Gunstlosigkeit wahrscheinlich gesteigert worden, und überhaupt
ist Einsamkeit von seinem ernsten Bilde nicht wegzudenken-jene
Einsamkeit, von der Nietzsche spricht, wenn er in seinem hinrei-
174
ßenden Essay >Was bedeuten asketische Ideale?< Schopenhauer
einen »wirklichen Philosophen« heißt, »einen wirklich auf sich
gestellten Geist, einen Mann und Ritter mit erzenem Blick, der
den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst
auf Vordermänner und höhere Winke wartet-«. Im Bilde dieses
»Mannes und Ritters«, eines Ritters zwischen Tod und Teufel,
habe ich den Psychologen des Unbewußten zu sehen mich ge-
wöhnt, seitseine geistige Figur in meinen Gesichtskreis rückte.
Es geschah spät; viel später, als man bei der Verwandtschaft des
dichterisch-schriftstellerischen Impulses überhaupt und meiner
Natur im besonderen mit dieser Wissenschaft hätte erwarten
sollen. Zwei Tendenzen sind es vor allem, die diese Verwandt-
schaft ausmachen: Die Liebe zur Wahrheit erstens, ein Wahrheits-
sinn, eine Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für diese Reize
und Bitterkeiten, der Wahrheit, welche sich hauptsächlich als
psychologische Reizbarkeit und Klarsicht äußert, bis zu dem
Grade, daß der Begriff der Wahrheit fast in dem der psychologi-
schen Wahrnehmung und Erkenntnis aufgeht; und zweitens der
Sinn für die Krankheit, eine gewisse durch Gesundheit ausgewo-
gene Affinität zu ihr und das Erlebnis ihrer produktiven Bedeu-
tung.
Was die Wahrheitsliebe betrifft, die leidend-moralistisch ge-
stimmte Liebe zurWahrheitals Psychologie, so stammt sie aus der
hohen Schule Nietzsche's, bei dem in der Tat das Zusammenfallen
von Wahrheit und psychologischer Wahrheit, des Erkennenden
mit dem Psychologen in die Augen springt: sein Wahrheitsstolz,
sein Begriff selbst von Ehrlichkeit und intellektueller Reinlich-
keit, sein Wissensmut und seine Wissensmelancholie, sein Selbst-
kennertum, Selbsthenkerturn- alldies ist psychologisch gemeint,
hat psychologischen Charakter, und ich vergesse nie die erzieheri-
sche Bekräftigung und Vertiefung, die eigene Anlagen durch das
Erlebnis von Nietzsche's psychologischer Passion erfuhren. Das
Wort »Erkenntnisekel« steht im >Tonio Kröger<. Es hat gut
nietzsche'sches Gepräge, und seine Jünglingsschwermut deutet
auf das Harnlethafte in Nietzsche's Natur, in der die eigene sich
spiegelte,- einer Natur, zum Wissen berufen, ohne eigentlich
dazu geboren zu sein. - Es sind jugendliche Schmerzen und
T raurigkeiten, von denen ich da spreche, und die von den reifen-
denJahrenins Heitere, Ruhigere überführtworden sind. Aber die
Neigung, Wahrheit und Wissen psychologisch zu verstehen, sie
mit Psychologie gleichzusetzen, psychologischen Wahrheitswil-
len als den Willen zur Wahrheit überhaupt und Psychologie als
Wahrheit im eigentlichsten und tapfersten Sinn des Wortes zu
175
empfinden -diese Neigung, die man wohl naturalistisch nennen
und der Erziehung durch den literarischen Naturalismus zu-
schreiben muß, ist mir geblieben, und sie bildet eine Vorbedin-
gung der Aufgeschlossenheit für die seelische Naturwissenschaft,
die den Namen »Psychoanalyse« trägt.
Die zweite, sagte ich, ist der Sinn für die Krankheit, genauer: für
die Krankheit als Erkenntnismittel; und auch ihn könnte man von
Nietzsche herleiten, der wohl wußte, was er seiner Krankheit
verdankte, und auf jeder Seite zu lehren scheint, daß es kein
tieferes Wissen ohne Krankheitserfahrung gibt und alle höhere
Gesundheit durch die Krankheit hindurchgegangen sein muß.
Auch diesen Sinn also könnte man auf das Erlebnis Nietzsche's
zurückführen, wenn er nicht mit dem Wesen des geistigen Men-
schen überhaupt und des dichterischen zumal, ja mit dem Wesen
aller Menschheit und Menschlichkeit, von der der Dichter ja nur
ein auf die Spitze getriebener Ausdruck ist, eng verschwistert
wäre. »L'humanite«, hat Victor Hugo gesagt, »s'affirme par
l'infirmite« -ein Wort, das die zarte Verfassung aller höheren
Menschlichkeit und Kultur, ihre Kennerschaft auf dem Gebiet der
Krankheit mit stolzer Offenheit eingesteht. Der Mensch ist »das
kranke Tier« genannt worden um der belastenden Spannungen
und auszeichnenden Schwierigkeiten willen, die seine Stellung
zwischen Natur und Geist, zwischen Tier und Engel ihm aufer-
legt. Was Wunder, daß von der Seiteder Krankheitder Forschung
die tiefsten Vorstöße ins Dunkel der menschlichen Natur gelun-
gen sind, daß sich die Krankheit, nämlich die Neurose, als ein
anthropologisches Erkenntnismittel e~sten Ranges erwiesen
hat?
Der Dichter dürfte der letzte sein, sich darüber zu wundern. Es
dürfte ihn eher erstaunen, daß er, bei so starker allgemeiner und
persönlicher Disponiertheit, so spät der sympathischen Bezie-
hungen seiner Existenz zur psychoanalytischen Forschung und
dem Lebenswerke Freuds gewahr wurde: zu einer Zeit erst, als es
sich bei dieser Lehre längst nicht mehr bloß um eine- anerkannte
oder umstrittene - Heilmethode handelte, als sie vielmehr dem
bloß medizinischen Bezirk längst entwachsen und zu einer Welt-
bewegung geworden war, von der alle möglichen Gebiete des
Geistes und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten: Literatur-
und Kunstforschung, Religionsgeschichte und Prähistorie, My-
thologie, Volkskunde, Pädagogik und was nicht alles, - nämlich
dank dem ausbauenden und anwendenden Eifervon Adepten, die
um ihren psychiatrisch-medizinischen Kern diese Aura allgemei-
nerer Wirkungen gelegt hatten. Sogar wäre es zuviel gesagt, daß
I76
ich zur Psychoanalyse gekommen wäre: sie kam zu mir. Durch
das freundliche Interesse, das sie durch einzelne ihrer Jünger und
Vertreter immer wieder, vom >>Kleinen Herrn Friedemann<< bis
zum >Tod in Venedig<, zum >Zauberberg< und zum] osephsroman,
meiner Arbeit erwies, gab sie mir zu verstehen, daß ich etwas mit
ihr zu tun hätte, auf meine Art gewissermaßen >>vom Bau<< sei,
machte mir, wie es ihr denn wohl zukam, die latent vorhandenen,
die >>vorbewußten« Sympathien bewußt; und die Beschäftigung
mit der analytischen Literatur ließ mich im Denk- und Sprachge-
wande naturwissenschaftlicher Exaktheit vieles Vrvertraute aus
meinem früheren geistigen Erleben wiedererkennen.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in diesem autobio-
graphischen Stil ein wenig fortzufahren und verargen Sie es mir
nicht, wenn ich, statt von Freud zu reden, scheinbarvonmir rede!
über ihn zu sprechen, getraue ich mich kaum. Was sollte ich über
ihn der Welt N eues zu sagen hoffen können? Ich spreche zu seinen
Ehren, auch und gerade, wenn ich von mir spreche und Ihnen
erzähle, wie tief und eigentümlich vorbereitet ich durch entschei-
dende Bildungseindrücke meiner Jugend auf die von Freud kom-
menden Erkenntnisse war. Mehr als einmal, in Erinnerungen und
Geständnissen habe ich von dem erschütternden, in merkwürdig-
ster Mischung zugleich berauschenden und erziehlichen Erlebnis
berichtet, das die Bekanntschaft mit der Philosophie Arthur
Schopenhauers dem Jüngling bedeutete, der ihm in seinem Ro-
man von den >Buddenbrooks< ein Denkmal gesetzt hat. Der
unerschrockene W ahrheitsmut, der die Sittlichkeit der analyti-
schen Tiefenpsychologie ausmacht, war mir in dem Pessimismus
einer naturwissenschaftlich bereits stark gewappneten Metaphy-
sik zuerst entgegengetreten. Diese Metaphysik lehrte in dunkler
Revolution gegen den GlaubenvonJahrtausenden den Primat des
Triebes vor Geist und Vernunft, sie erkannte den Willen als Kern
und Wesensgrund der Welt, des Menschen so gut wie allerübrigen
Schöpfung, und den Intellekt als sekundär und akzidentell, als des
Willens Diener und schwache Leuchte. Nicht aus antihumaner
Bosheit tat sie das, die das schlechte Motiv geistfeindlicher Lehren
von heute ist, sondern aus der strengen Wahrheitsliebe eines
Jahrhunderts, das den Idealismus aus Idealismus bekämpfte. Es
war so wahrhaftig, dieses neunzehnte Jahrhundert, daß es durch
Ibsen sogar die Lüge, die >>Lebenslüge«, als unentbehrlich aner-
kennen wollte- und man sieht wohl: es istein großer V nterschied,
ob man aus schmerzlichem Pessimismus und bitterer Ironie, von
Geistes wegen, die Lüge bejaht oder aus Haß auf den Geist und die
Wahrheit. Dieser V nterschied ist heute nicht jedermann deutlich.
177
Der Psycholog des Unbewußten nun, Freud, ist ein echter Sohn
des Jahrhunderts der Schopenhauer und Ibsen, aus dessen Mitte er
entsprang. Wie nahe verwandt ist seine Revolution nach ihren
Inhalten, aber auch nach ihrer moralischen Gesinnung der Scho-
penhauer'schen! Seine Entdeckung der ungeheueren Rolle, die
das Unbewußte, das >Es< im Seelenleben des Menschen spielt,
besaß und besitzt für die klassische Psychologie, der Bewußtheit
und Seelenleben ein und dasselbe ist, die gleiche Anstößigkeit, die
Schopenhauers Willenslehre für alle philosophische Vernunft-
und Geistgläubigkeit besaß. Wahrhaftig, der frühe Liebhaber der
>Welt als Wille und Vorstellung<, ist bei sich zu Hause in der
bewunderungswürdigen Abhandlung, die zu Freuds >Neuen
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse< gehört und
>Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit< heißt. Da ist das
Seelenreich des Unbewußten, das >Es< mit Worten beschrieben,
die ebenso gut, so verhement und zugleich mit demselben Akzent
intellektuellen und ärztlich kühlen Interesses Schopenhauer für
sein finsteres Willensreich hätte gebrauchen können. Das Gebiet
des >Es<, sagt er, >>ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer
Persönlichkeit; das wenige, was wir von ihm wissen, haben wir
durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Sym-
ptombildung erfahren«. Er schildert es als ein Chaos, einen Kessel
brodelnder Erregungen. Das >Es<, meint er, sei sozusagen am Ende
gegen das Somatische offen und nehme da die Triebbedürfnisse in
sich auf, die in ihm ihren psychischen Ausdruck finden - unbe-
kannt, in welchem Substrat. Von den Trieben her erfülle es sich
mit Energie; aber es habe keine Organisation, bringe keinen
Gesamtwillen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen
unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaffen. Da
gelten keine logischen Denkgesetze, vor allem nicht der Satz des
Widerspruchs. »Gegensätzliche Regungen bestehen nebeneinan-
der, ohne einander aufzuheben oder sich von einander abzuzie-
hen, höchstens, daß sie unter dem herrschenden ökonomischen
Zwang zur Abfuhr der Energie zu Kompromißbildungen zusam-
mentreten ... « Sie sehen, meine Damen und Herren, das sind
Zustände, die nach unserer zeitgeschichtlichen Erfahrung sehr
wohl auf das Ich selbst, ein ganzes Massen-Ich, übergreifen
können, nämlich dank einer moralischen Erkrankung, die durch
die Anbetung des Unbewußten, die Verherrlichung seiner allein
lebenfördernden »Dynamik«, die systematische Verherrlichung
des Primitiven und Irrationellen erzeugt wird. -Denn das U nbe-
wußte, das >Es<, ist primitiv und irrational, es ist rein dynamisch.
Wertungen kennt es nicht, kein Gut und Böse, keine Moral. Es
178
kennt sogar nicht die Zeit, keinen zeitlichen Ablauf, keine Verän-
derung des seelischen Vorgangs durch ihn. »Wunschregungen«,
sagt Freud, »die das >Es< nie überschritten haben, aber auch
Eindrücke, die durch Verdrängung ins >Es< versenkt worden sind,
sind virtuell unsterblich, verhalten sich nach Dezennien, als ob
sie neu vorgefallen wären. Als Vergangenheit erkannt, entwertet
und ihrer Energiebesetzung beraubt können sie erst werden,
wenn sie durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind.«
Und darauf, fügt er hinzu, beruhe vornehmlich die Heilwirkung
der analytischen Behandlung.- Wir verstehen danach, wie anti-
pathisch die analytische Tiefenpsychologie einem Ich sein muß,
das, berauscht von einer Religiosität des U nbewußten, selbst in
den Zustand unterweltlicher Dynamik geraten ist. Es ist nur
allzu klar, daß und warum ein solches Ich von Analyse nichts
wissen will und der Name Freud vor ihm nicht genannt werden
darf.
Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so steht es fast
rührend, recht eigentlich besorgniserregend damit. Es ist ein
kleiner, vorgeschobener, erleuchteter und wachsamer Teil des
>Es<- ungefähr wie Europa eine kleine, aufgeweckte Provinz des
weiten Asiens ist. Das Ich ist »jener Teil des >Es<, der durch die
Nähe und den Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zu
Reizaufnahme und Reizschutz eingerichtet, vergleichbarder Rin-
denschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender Substanz um-
gibt«.- Ein anschauliches biologisches Bild. Freud schreibt über-
haupt eine höchst anschauliche Prosa, er ist ein Künstler des
Gedankens wie Schopenhauer und wie er ein europäischer
Schriftsteller.- Die Beziehung zur Außenweltistnachihmfürdas
Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe, sie beim >Es< zu
vertreten - zu dessen Heil! Denn ohne Rücksicht auf diese
übergewaltige Außenmacht würde das >Es< in seinem blinden
Streben nach Triebbefriedigung der Vernichtung nicht entgehen.
Das Ich beobachtet die Außenwelt, es erinnert sich, es versucht
redlich, das objektiv Wirkliche von dem zu unterscheiden, was
Zutat aus inneren Erregungsquellen ist. Es beherrscht im Auftrage
des >Es< die Hebel der Motilität, der Aktion, hat aber zwischen
Bedürfnis und Handlung den Aufschub der Denkarbeit einge-
schaltet, während dessen es die Erfahrung zu Rate zieht, und
besitzt eine gewisse regulative Überlegenheit gegenüber dem im
Unbewußten schrankenlos herrschenden Lustprinzip, das es
durch das Realitätsprinzip korrigiert. Aber wie schwach ist es bei
alldem! Eingeengt zwischen Unbewußtem, Außenwelt und dem,
was Freud das »Über-Ich« nennt, dem Gewissen, führt es ein
179
ziemlich nervöses und geängstigtes Dasein. Mit seiner Eigen-
Dynamik steht es nur matt. Seine Energien entlehnt es dem >Es<
und muß im ganzen dessen Absichten durchführen. Es möchte
sich wohl als den Reiter betrachten und das Unbewußte als das
Pferd. Aber so manches Mal wird es vom Unbewußten geritten,
und wir wollen nur lieber hinzufügen, was Freud aus rationaler
Moralität hinzuzufügen unterläßt, daß es auf diese etwas illegi-
time Weise unter Umständen am weitesten kommt.
Freuds Beschreibung aber des >Es< und Ich- ist sie nichtaufs Haar
die Beschreibung von Schopenhauers »Wille« und »Intellekt«,-
eine übersetzungseiner Metaphysik ins Psychologische? Und
wer nun ohnedies schon, nachdem er von Schopenhauer die
metaphysische Weihen empfangen, bei Nietzsche die schmerz-
lichen Reize der Psychologie gekostet hatte, wie hätten den nicht
Gefühle der Vertrautheit und des Wiedererkennens erfüllen sol-
len, als er sich, von Ansässigen ermutigt, erstmals umsah im
psychoanalytischen Reich?
Er machte auch die Erfahrung, daß die Bekanntschaft damit aufs
stärkste und eigentümlichste zurückwirkt auf jene früheren Ein-
drücke, wenn man sie nach solcher Umschau erneuert. Wie
anders, nachdem man bei Freud geweilt, wie anders liest man im
Licht seiner Erkundungen eine Betrachtung wieder wie Schopen-
hauers großen Aufsatz >über die anscheinende Absichtlichkeit im
Schicksal des Einzelnend Und hier, meine Damen und Herren,
bin ich im Begriff, auf den innigsten und geheimsten Berührungs-
punkt zwischen Freuds naturwissenschaftlicher und Schopen-
hauers philosophischer Welt hinzuweisen - der genannte Essay,
einWunder an Tiefsinn und Scharfsinn, bildet diesen Berührungs-
punkt. Der geheimnisvolle Gedanke, den Schopenhauer darin
entwickelt, ist, kurz gesagt, der, daß, genau wie im Traume unser
eigener Wille, ohne es zu ahnen, als unerbittlich-objektives
Schicksal auftritt, alles darin aus uns selber kommt und jeder der
heimliche Theaterdirektor seiner Träume ist,- so auch in der
Wirklichkeit, diesem großen Traum, den ein einziges Wesen, der
Wille selbst, mit uns allen träumt, unsere Schicksale das Produkt
unseres Innersten, unseres Willens sein möchten und wir also das,
das uns zu geschehen scheint, eigentlich selbst veranstalteten. -
Ich fasse sehr dürftig zusammen, meine Herrschaften, in Wahr-
heit sind das Ausführungen von stärkster Suggestionskraft und
mächtiger Schwingenbreite. Nicht nur aber, daß die Traumpsy-
chologie, die Schopenhauer zu Hilfe nimmt, ausgesprochen ana-
lytischen Charakter trägt - sogar das sexuelle Argument und
Paradigma fehlt nicht; so ist der ganze Gedankenkomplex in dem
r8o
Grade eine Vordeutung auf tiefenpsychologische Konzeptionen,
in dem Grade eine philosophische Vorwegnahme davon, daß man
erstaunt! Denn um zu wiederholen, was ich anfangs sagte: in dem
Geheimnis der Einheit von Ich und Welt, Sein und Geschehen, in
der Durchschauung des scheinbar Objektiven und Akzidentellen
als Veranstaltung der Seele glaube ich den innersten Kern der
analytischen Lehre zu erkennen.
Es kommt mir da ein Satz in den Sinn, den ein kluger, aberetwas
undankbarer Sprößling dieser Lehre, C. G. Jung, in seiner bedeu-
tenden· Einleitung zum ·Tibetanischen Totenbuch< formuliert.
»Es ist so viel unmittelbarer, auffallender, eindrücklicher und
darum überzeugender«, sagt er, »Zu sehen, wie es mir zustößt, als
zu beobachten, wie ich es mache.«- Ein kecker, ja toller Satz, der
recht deutlich zeigt, mit welcher Gelassenheit heute in einer
bestimmten psychologischen Schule Dinge angeschaut werden,
die noch Schopenhauer als ungeheuere Zumutung und »exorbi-
tantes« Gedankenwagnis empfand. Wäre dieser Satz, der das
»Zustoßen« als ein »Machen« entlarvt, ohne Freud denkbar? Nie
und nimmer! Er schuldet ihm alles. Beladen mit Voraussetzungen,
ist er nicht zu verstehen und hätte gar nicht hingesetzt werden
können ohne all das, was die Analyse über Versprechen und
Verschreiben, das ganze Gebiet der Fehlleistungen, die Flucht in
die Krankheit, den Selbstbestrafungstrieb, die Psychologie der
Unglücksfälle, kurz über die Magie des Unbewußten ausgemacht
und zutage gefördert hat. Ebensowenig aber wäre jener gedrängte
Satz, einschließlich seiner psychologischen Voraussetzungen,
möglich geworden ohne Schopenhauer und seine noch unexakte,
aber traumkühne und wegbereitende Spekulation. -Vielleicht ist
dies der Augenblick, meine Damen und Herren, festlicherweise
ein wenig gegen Freud zu polemisieren. Er achtet nämlich die
Philosophie nicht sonderlich hoch. Der Exaktheitssinn des Na-
turwissenschaftlers gestattet ihm kaum, eine Wissenschaft in ihr
zu sehen. Er macht ihr zum Vorwurf, daß sie ein lückenlos
zusammenhängendes Weltbild liefern zu können sich einrede,
den Erkenntniswert logischer Operationen überschätze, wohl gar
an die Intuition als Wissensquelle glaube und geradezu animisti-
schen Neigungen fröne, indem sie an Wortzauber und an die
Beeinflussung der Wirklichkeit durch das Denken glaube. Aber
wäre dies wirklich eine Selbstüberschätzung der Philosophie? Ist
je die Welt durch etwas anderes geändert worden als durch den
Gedanken und seinen magischen Träger, das Wort? Ich glaube,
daß tatsächlich die Philosophie den Naturwissenschaften vor-
und übergeordnet ist und daß alle Methodik und Exaktheit im
181
Dienst ihres geistesgeschichtlichen Willens steht. Zuletzt handelt
es sich immer um das >Quod erat demonstrandum<. Die Voraus-
setzungslosigkeit der Wissenschaft ist ein moralisches Faktum
oder sollte es sein. Geistig gesehen, ist sie wahrscheinlich das, was
Freud eine Illusion nennt. Die Sache auf die Spitze zu stellen,
könnte man sagen, die Wissenschaft habe nie eine Entdeckung
gemacht, zu der sie nicht von der Philosophie autorisiert und
angewiesen gewesen wäre.
Dies nebenbei. Lassen Sie uns zweckmäßig noch einen Augen-
blick bei dem Gedanken Jungs verweilen, dermit Vorliebe-und
so auch in jener Vorrede- analytische Ergebnisse zur Herstellung
einer Verständigungsbrücke zwischen abendländischem Denken
und östlicher Esoterik benutzt. Niemand hat so scharf wie er die
Schopenhauer-Freud'sche Erkenntnis formuliert, daß »der Ge-
ber aller Gegebenheiten in uns selber wohnt- eine Wahrheit, die
trotz aller Evidenz in den größten sowohl wie in den kleinsten
Dingen nie gewußt wird, wo es doch nur zu oft so nötig, ja
unerläßlich wäre, es zu wissen«. Eine große und opferreiche
Umkehr, meint er, sei wohl nötig, um zu sehen, wie die Welt aus
dem Wesen der Seele »gegeben« wird; denn das animalische
Wesen des Menschen sträube sich dagegen, sich als den Macher
seiner Gegebenheiten zu empfinden. Es ist wahr, daß sich der
Osten in der Oberwindung des Animalischen von jeher stärker
erwiesen hat als das Abendland, und wir brauchen uns daher nicht
zu wundern, wenn wir hören, daß seiner Weisheit zufolge auch die
Götter zu den »Gegebenheiten« gehören, die der Seele entstam-
men und mit ihr eins sind - Schein und Licht der Menschenseele.
Dies Wissen, das man nach dem >Totenbuch< dem Verstorbenen
mit auf den Weg gibt, ist für den abendländischen Geist ein
Paradoxon, das seiner Logik widerstreitet; denn dieseunterschei-
det zwischen Subjekt und Objekt und sträubt sich, dieses in jenes
hineinzuverlegen oder aus ihm hervorgehen zu lassen. Zwar
kannte die europäischeMystiksolche Anwandlungen, und Ange-
lus Silesius hat gesagt:
Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd' ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.
Im ganzen aber wäre eine psychologische Auffassung Gottes, die
Idee einer Gottheit, die nicht reine Gegebenheit, absolute Reali-
tät, sondern mit der Seele eins und an sie gebunden wäre, abend-
ländischer Religiosität unerträglich, -sie würde Gott dabei einbü-
ßen. Und doch heißt Religiosität gerade Gebundenheit, und in der
Genesis ist von einem »Bunde« zwischen Gott und Mensch die
Rede, dessen Psychologie ich in dem mythischen Roman >J oseph
und seine Brüder< zu geben versucht habe. Ja, lassen Sie mich hier
auf dieses mein eigenes Werk zu sprechen kommen- vielleicht hat
es ein Recht, genannt zu werden in einer Stunde festlicher Begeg-
nung zwischen dichtender Literatur und der psychoanalytischen
Sphäre. Merkwürdig genug - und vielleicht nicht nur für mich-,
daß darin eben jene psychologische Theologie herrschend ist, die
der Gelehrte der östlichen Eingeweihtheit zuschreibt: Dieser
Abram ist gewissermaßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und
hervorgedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zu-
schreibt, sind wohl Gottes ursprüngliches Eigentum, Abram ist
nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem Sinn ist er es dennoch, da er
sie erkennt und denkend verwirklicht. Gottes gewaltige Eigen-
schaften - und damit ·Gott selbst - sind zwar etwas sachlich
Gegebenes außer Abram, zugleich aber sind sie auch in ip.m und
von ihm; die Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen Augenblik-
ken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkt sich und
verschmilzt erkennend in eins mit ihnen, und das ist der Ursprung
des Bundes, den der Herr dann mit Abram schließt und der nur die
ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache ist. Er wird als
im beiderseitigen Interesse geschlossen charakterisiert, dieser
Bund, zum Endzwecke beiderseitiger Heiligung. Menschliche
und göttliche Bedürftigkeit verschränken sich derart darin, daß
kaum zu sagen ist, von welcher Seite, der göttlichen oder der
menschlichen, die erste Anregung zu solchem Zusammenwirken
ausgegangen sei. Auf jeden Fall aber spricht sich in seiner Errich-
tung aus, daß Gottes Heiligwerden und das des Menschen einen
Doppelprozeß darstellen und auf das innigste aneinander »gebun-
den« sind. Wozu, lautet die Frage, wohl sonst ein Bund?
Die Seele als Geberin des Gegebenen - ich weiß wohl, meine
Damen und Herren, daß dieser Gedanke im Roman auf eine
ironische Stufe getreten ist, die er weder als östlicheWeisheitnoch
als analytische Einsicht kennt. Aber die unwillkürliche und erst
nachträglich entdeckte Obereinstimmung hat etwas Erregendes.
Muß ich sie Beeinflussung nennen? Sie ist eher Sympathie,- eine
gewisse geistige Nähe, die der Psychoanalyse, wie billig, früher
bewußt war als mir und aus der eben jene literarischen Aufmerk-
samkeiten hervorgingen, die ich ihr von früh an zu danken hatte.
Die letzte davon war die Obersendung eines Sonderdrucks aus der
Zeitschrift >Imago<, die Arbeit eines Wiener Gelehrten aus der
Schule Freuds, betitelt >Zur Psychologie älterer Biographik<, -
eine recht trockene Überschrift, in der sich die Merkwürdigkeiten
kaum ankündigen, denen sie als Etikett dient.
183
Der Verfasser zeigt da, wie die ältere, naive, von der Legende und
vom Volkstümlichen her gespeiste und bestimmte Lebensbe-
schreibung, namentlich die Künstlerbiographie, feststehende,
schematisch-typische Züge und Vorgänge, biographisches For-
melgut sozusagen konventioneller Art in die Geschichte ihres
Helden aufnimmt, gleichsam um sie sich dadurch legitimieren,
sich als echt, als richtig ausweisen zu lassen - als richtig im Sinne
des »Wie es immer war« und ,. Wie es geschrieben steht«.
Denn dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen, er möchte
das Alte im N euen wiederfinden und das Typische im Individuel-
len. Darauf beruht alle Traulichkeit des Lebens, welches als
vollkommen neu, einmalig und individuell sich darstellend, ohne
daß es die Möglichkeit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden,
nur erschrecken und verwirren könnte.
- Die Frage jener Schrift geht nun aber dahin, ob sich denn die
Grenze zwischen dem, was Formelgut legendärer Biographik,
und dem, was Lebenseigentum des Künstlers ist, zwischen dem
Typischen und dem Individuellen also, scharf und unzweideutig
ziehen lasse, - eine Frage, verneint wie gestellt. Das Leben ist
tatsächlich eine Mischung von formelhaften und individuellen
Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle gleichsam
nur über das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt. Vieles Au-
ßerpersönliche, viel unbewußte Identifikation, viel Konventio-
nell-Schematisches ist bestimmend für das Erleben- nicht nur des
Künstlers, sondern des Menschen überhaupt. »Viele von uns«,
sagt der Verfasser, >leben< auch heute einen biographischen Ty-
pus, das Schicksal eines Standes, einer Klasse, eines Berufes ...
Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist offenbar
enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die wir als >Gelebte Vita<
bezeichnen.«- Und pünktlich, zu meiner Freude nur, kaum auch
zu meiner Überraschung, beginnt er, auf den Josephsroman zu
exemplifizieren, dessen Grundmotiv geradezu diese Idee der
>Gelebten Vita< sei, das Leben als Nachfolge, als ein In-Spuren-
Gehen, als Identifikation, wie besonders Josephs Lehrer Eliezer
sie in humoristischer Feierlichkeit praktiziert: Denn durch Zeit-
aufhebung rücken in ihm sämtliche Eliezers der Vergangenheit
zum gegenwärtigen Ich zusammen, so daß er von Eliezer, Abra-
hams ältestem Knecht, obgleich er realiter dieser bei weitem nicht
ist, in der ersten Person spricht.
Ich muß zugeben: Die Gedankenverbindung ist außerordentlich
legitim. Der Aufsatz bezeichnet haargenau den Punkt, wo das
psychologische Interesse ins mythische Interesse übergeht. Er
macht deutlich, daß das Typische auch schon das Mythische ist
184
und daß man für >gelebte Vita< auch >gelebter Mythus< sagen kann.
Der gelebteMythus aber ist die epische Idee meines Romans, und
ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler den Schritt vom Bürger-
lich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan habe, mein
heimliches Verhältnis zur analytischen Sphäre sozusagen in sein
akutes Stadium getreten ist. Das mythische Interesse ist der
Psychoanalyse genau so eingeboren, wie allem Dichterturn das
psychologische Interesse eingeboren ist. Ihr Zurückdringen in die
Kindheit der Einzelseele ist zugleich auch schon das Zurückdrin-
gen in die Kindheit des Menschen, ins Primitive und in die M ythik.
Freud selbst hat bekannt, daß alle Naturwissenschaft, Medizin
und Psychotherapie für ihn ein lebenslanger Um- und Rückwe'g
gewesen sei zu der primären Leidenschaft seiner Jugend fürs
Menschheitsgeschichtliche, für die Ursprünge von Religion und
Sittlichkeit, -diesem Interesse, das auf der Höhe seines Lebens in
>Totem und Tabu< zu einem so großartigen Ausbruch kommt. In
der Wortverbindung »Tiefenpsychologie« hat» Tiefe« auch zeitli-
chen Sinn: die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch
Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythus zu Hause ist
und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet. Denn Mythus
ist Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme
Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem U nbewußten
seine Züge reproduziert. Kein Zweifel, die Gewinnung der my-
thisch-typischen Anschauungsweise macht Epoche im Leben des
Erzählers, sie bedeutet eine eigentümliche Erhöhung seiner
künstlerischen Stimmung, eine neue Heiterkeit des Erkennens
und Gestaltens, welche späten Lebensjahren vorbehalten zu sein
pflegt, denn im Leben der Menschheit stellt das Mythische zwar
eine frühe wid primitive Stufe dar, im Leben des einzelnen aber
eine späte und reife. Was damit gewonnen wird, ist der Blick für
die höhere Wahrheit, die sich im Wirklichen darstellt, das lä-
chelnde Wissen vom Ewigen, Immerseienden, Gültigen, vom
Schema, in dem und nach dem das vermeintlich ganz Individuelle
lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst- und Einma-
ligkeit, wie sehr sein Leben Formel und Wiederholung, ein W an-
del in tief ausgetretenen Spuren ist.
Der Charakter ist eine mythische Rolle, die in der Einfalt illusio-
närer Einmaligkeit und Originalität gespielt wird, gleichsamnach
eigenster Erfindung und auf eigenste Hand, dabei aber mit einer
Würde und Sicherheit, die dem gerade obenaufgekommenen und
im Lichte agierenden Spieler nicht seine vermeintliche Erst- und
Einmaligkeit verleiht, sondern die er im Gegenteil aus dem tiefe-
ren Bewußtsein schöpft, etwas Gegründet-Rechtmäßiges wieder
r8s
vorzustellen und sich, ob nun gut oder böse, edel oder widerwär-
tig, jedenfalls in seinerArt musterhaft zu benehmen. Tatsächlich
wüßte er sich, wenn seine Realität im Einmalig-Gegenwärtigen
läge, überhaupt nicht zu benehmen, wäre haltlos, ratlos, verlegen
und verwirrt im Verhältnis zu sich selbst, wüßte nicht, mit
welchem Fuße antreten und was für ein Gesicht machen. Seine
Würde und Spielsicherheit aber liegtunbewußt gerade darin, daß
etwas Zeitloses mit ihm wieder am Lichte ist und Gegenwartwird;
sie ist mythische Würde, welche auch dem elenden und nichts-
würdigen Charakter noch zukommt, ist natürliche Würde, weil
sie dem Unbewußten entstammt.
Dies ist der Blick, den der mythisch orientierte Erzähler auf die
Erscheinungen richtet, und Sie sehen wohl: es ist ein ironisch
überlegener Blick; denn die mythische Erkenntnis hat hier ihren
Ort nur im Anschauenden, nicht auch im Angeschauten. Wie aber
nun, wenn dermythische Aspekt sich subjektivierte, ins agierende
Ich selber einginge und darin wach wäre, so daß es mit freudigem
oder düsterem Stolze sich seiner »Wiederkehr«, seiner Typik
bewußt wäre, seine Rolle auf Erden zelebrierte und seine Würde
ausschließlich in dem Wissen fände, das Gegründete im Fleisch
wieder vorzustellen, es wieder zu verkörpern? Erst das, kann man
sagen, wäre »gelebter Mythus«; und man glaube nicht, daß es
etwas Neues und Unerprobtes ist: das Leben im Mythus, das
Leben als weihevolle Wiederholung ist eine historische Lebens-
form, die Antike hat so gelebt. Ein Beispiel ist die Gestalt der
ägyptischen Kleopatra, die ganz und gar eine Ischtar-Astarte-
Gestalt, Aphrodite in Person ist, - wie denn Bachofen in seiner
Charakteristik des bacchischen Kultes, der dionysischen Kultur
in der Königin das vollendete Bild einer dionysischen Stimula
sieht, die, nach Plutarch, weit mehr noch durch erotische Geistes-
kultur als durch körperliche Reize das zu Aphrodite's irdischer
Verkörperung entwickelte Weib repräsentiert habe. Dieses ihr
Aphroditentum, ihre Rolle als Hathor-Isis ist aber nicht nur etwas
Kritisch-Objektives, das erst von Plutarch und Bachofen über sie
ausgesprochen worden wäre, sondern es war der Inhalt ihrer
subjeknven Existenz, sie lebte in dieser Rolle. Ihre Todesart
deutet darauf hin: Sie soll sich ja getötet haben, indem sie sich eine
Giftnatter an den Busen legte. Die Schlange aber war das Tier der
Ischtar, der ägyptischen Isis, die auch wohl in einem schuppigen
Schlangenkleid dargestellt wird, und man kennt eine Statuette der
Ischtar, wie sie eine Schlange am Busen hält. War also Kleopatra' s
Todesart diejenige der Legende, so wäre sie eine Demonstration
ihres mythischen Ichgefühls gewesen. Trug sie nicht auch den
186
Kopfputz der Isis, die Geierhaube, und schmückte sie sich nicht
mit den Insignien der Hathor, den Kuhhörnern mit der Son-
nenscheibe dazwischen? Es war eine bedeutende Anspielung,
daß sie ihre Antonius-Kinder Helios und Selene nannte. Kein
Zweifel, sie war eine bedeutende Frau- im antiken Sinn >be-
deutend< -, die wußte, wer sie war und in welchen Fußstapfen
sie ging!
Das antike Ich und sein Bewußtsein von sich war ein anderes als
das unsere, weniger ausschließlich, weniger scharf umgrenzt. Es
stand gleichsam nach hinten offen und nahm vom Gewesenen
vieles mit auf, was es gegenwärtig wiederholte, und was mit ihm
>wieder da< war. Der spanische Kulturphilosoph Ortegay Gasset
drückt das so aus, daß der antike Mensch, ehe er etwas tue, einen
Schritt zurücktrete, gleich dem Torero, der zum Todesstoß aus-
hole. Er suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie in
eine Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich geschützt und
entstellt, in das gegenwärtige Problem hineinzustürzen. Darum
sei sein Leben in gewisser Weise ein Beleben, ein archaisierendes
Verhalten.- Aber eben dies Leben als Beleben, Wiederbeleben ist
das Leben im Mythus. Alexander ging in den Spuren des Miltia-
des, und von Cäsar waren seine antiken Biographen mit Recht
oder Unrecht überzeugt, er wolle den Alexander nachahmen.
Dies »Nachahmen« aber ist weit mehr, als heut in dem Worte liegt;
es ist die mythische Identifikation, die der Antike besonders
vertraut war, aber weit in die neue Zeit hineinspielt und seelisch
jederzeit möglich bleibt. Das antike Gepräge der Gestalt Napole-
ons ist oft betont worden. Er bedauerte, daß die moderne Be-
wußtseinsl~ge ihm nicht gestatte, sich für den Sohn Jupiter-
Amons auszugeben, wie Alexander. Aber daß er sich, zur Zeit
seines orientalischen Unternehmens, wenigstens mit Alexander
mythisch verwechselt hat, braucht man nicht zu bezweifeln, und
später, als er sich fürs Abendland entschieden hatte, erklärte er:
»Ich bin Karl der Große.« Wohl gemerkt- nicht etwa: »Ich
erinnere an ihn«, nicht: »Meine Stellung ist der seinen ähnlich.«
Auch nicht: »Ich bin wie er«, sondern einfach: »Ich bin's.« Das ist
die Formel des Mythus.
Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war also in antiken
Zeiten die Wiederherstellung des Mythus in Fleisch und Blut; es
bezog und berief sich auf ihn; durch ihn erst, durch die Bezug-
nahme aufs Vergangene wies es sich als echtes und bedeutendes
Leben aus. Der Mythus istdie Legitimationdes Lebens; erst durch
ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußtsein, seine Rechtferti-
gung und Weihe. Bis in den Todführte Kleopatraihreaphroditi-
I87
sehe Charakterrolle weihevoll durch,- und kann man bedeuten-
der, kann man würdiger leben und sterben, als indem man den
Mythus zelebriert? Denken Sie doch auch an Jesus und an sein
Leben, das ein Leben war, »damit erfüllet werde, was geschrieben
steht«. Es ist nicht leicht, bei dem Erfüllungscharakter von Jesu
Leben zwischen den Stilisierungen der Evangelisten und seinem
Eigenbewußtsein zu unterscheiden; aber sein Kreuzeswort um
die neunte Stunde, dies »Eli, Eli, Iama asabthani?« war ja, gegen
den Anschein, durchaus kein Ausbruch der Verzweiflung und
Enttäuschung, sondern im Gegenteil ein solcher höchsten messia-
nischen Selbstgefühls. Denn dieses Wort ist nicht •originell<, kein
spontaner Schrei. Es bildet den Anfang des 22. Psalms, der von
Anfang bis zu Ende Verkündigung des Messias ist. Jesus zitierte,
und das Zitat bedeutete: »Ja, ich bin's! « So zitierte auch Kleopatra,
wenn sie, um zu sterben, die Schlange an ihren Busen nahm, und
wieder bedeutete das Zitat: »Ich bin's!«-
Sehen Sie mir, meine Damen und Herren, das Wort »zelebrieren«
nach, das ich in diesem Zusammenhang brauchte. Es ist entschuld-
bar und selbst geboten. Das zitathafte Leben, das Leben im
Mythus, ist eine Art von Zelebration; insofern es Vergegenwärti-
gung ist, wird es zur feierlichen Handlung, zum Vollzuge eines
Vorgeschriebenen durch einen Zelebranten, zum Begängnis, zum
Feste. Ist nicht der Sinn des Festes Wiederkehr als Vergegenwärti-
gung? Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegen-
kind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und
aufzufahren: Das Fest ist die Aufhebung der Zeit, ein Vorgang,
eine feierliche Handlung, die sich abspielt nach geprägtem Urbild;
was darin geschieht, geschieht nicht zum ersten Male, sondern
zeremoniellerweise und nach dem Muster; es gewinnt Gegenwart
und kehrt wieder, wie eben Feste wiederkehren in der Zeit und wie
ihre Phasen und Stunden einander folgen in der Zeit nach dem
Urgeschehen. Im Altertum war jedes Festwesentlich eine theatra-
lische Angelegenheit, ein Maskenspiel, die von Priestern vollzo-
gene szenische Darstellung von Göttergeschichten, zum Beispiel
der Lebens- und Leidensgeschichte des Osiris. Das christliche
Mittelalter hatte dafür das Mysterienspiel mit Himmel, Erde und
greulichem Höllenrachen, wie es noch in Goethe' s >Faust< wieder-
kehrt; es hatte die Fastnachtsfarce, den populären Mimus. Es gibt
eine mythische Kunstoptik auf das Leben, unter der dieses als
farcenhaftes Spiel, als theatralischer Vollzug von etwas festlich
Vorgeschriebenem, als Kasperliade erscheint, worin mythische
Charaktermarionetten eine oft dagewesene, feststehende und
spaßhaft wieder Gegenwart werdende •Handlung< abhaspeln und
r88
vollziehen. Und es fehlt nur, daß diese Optik in die Subjektivität
der handelnden Personnagen selbst eingeht, in ihnen selbst als
Spielbewußtsein, festlich-mythisches Bewußtsein vorgestellt
wird, damit eine Epik gezeitigt werde, wie sie sich in den >Ge-
schichten Jaakobs< wunderlich genug ergibt, besonders in dem
Kapitel >Der große Jokus<, worin zwischen Personen, die alle
wohl wissen, was sie sind und in welchen Spuren sie gehen,
zwischen Isaak, Esau und Jaakob, die bitter-komische Ge-
schichte, wie Esau, der Rote, der genasführte Teufel, geprelltwird
um seines Vaters Segen, zum Gaudium des Hofvolks als mythi-
sche Festfarce jokos und tragisch sich abspielt.- Und ist nicht vor
allem der Held dieses Romans ein solcher Zelebrant des Lebens:
Joseph selbst, der mit einer anmutigen Art von religiöser Hoch-
stapelei den Tammuz-Osiris-Mythus in seiner Person vergegen-
wärtigt, sich das Leben des Zerrissenen, Begrabenen und Aufer-
stehenden >>geschehen läßt« und sein festliches Spiel treibt mit
dem, was gemeinhin nur aus der Tiefe heimlich das Leben be-
stimmt und formt: dem Unbewußten? Das Geheimnis des Meta-
physikers und des Psychologen, daß die Geberin alles Gegebenen
die Seele ist, -dies Geheimnis wird leicht, spielhaft, künstlerisch,
heiter, ja spiegelfechterisch und eulenspiegelhaft in Joseph; es
offenbart in ihm seine infantile Natur ... Und dieses Wort läßt
uns zu unserer Beruhigung gewahr werden, wie wenig wiruns bei
scheinbar so großen Ausbeugungen von unserem Gegenstande,
dem Gegenstande unserer festlichen Huldigung entfernt- wie
wenig wir aufgehört haben, zu seinen Ehren zu reden.
Infantilismus, auf deutsch: rückständige Kinderei- welch eine
Rolle spielt dies echt psychoanalytische Element im Leben von
uns allen, einen wie starken Anteil hat es an der Lebensgestaltung
der Menschen, und zwar gerade und vornehmlich in der Form der
mythischen Identifikation, des Nachlebens, des In-Spuren-Ge-
hens! Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das Vaterspiel und
seine Übertragungen auf Vaterersatzbilder höherer und geistiger
Art - wie bestimmend, wie prägend und bildend wirken diese
Infantilismen auf das individuelle Leben ein! Ich sage: »bildend«;
denn die lustigste, freudigste Bestimmung dessen, was man Bil-
dung nennt, ist mir allen Ernstes diese Formung und Prägung
durch das Bewunderte und Geliebte, durch die kindliche Identifi-
kation mit einem aus innersterSympathiegewählten Vaterbilde.
Der Künstler zu mal, dieser eigentlich verspielte und leidenschaft-
lich kindische Mensch, weiß ein Lied zu singen von den geheimen
und doch auch offenen Einflüssen solcher infantilen Nach-
ahmung auf seine Biographie, seine produktive Lebensführung,
r89
welche oft nichts anderes ist als die Neubelebung der
Heroenvita unter sehr anderen zeitlichen und persönlichen Be-
dingungen und mit sehr anderen, sagen wir: kindlichen Mitteln.
So kann die imitatio Goethe's mit ihren Erinnerungen an die
Werther-, die Meister-Stufe und an die Altersphase von >Faust<
und ·Divan< noch heute aus dem Unbewußten ein Schriftsteller-
leben führen und mythisch bestimmen; - ich sage: aus dem
Unbewußten, obgleich im Künstlerdas U nbewußte jeden Augen-
blick ins lächelnd Bewußte und kindlichtief Aufmerksame hin-
überspielt.
Der Joseph des Romans ist ein Künstler, insofern er spielt,
nämlich mit seiner imitatio Gottes auf dem U nbewußten spielt,-
und ich weiß nicht, welches Gefühl von Zukunftsahnung, Zu-
kunftsfreude mich ergreift, wenn ich dieser Erheiterung des Un-
bewußten zum Spiel, dieser seiner Fruchtbarmachung für eine
feierliche Lebensproduktion, dieser erzählerischen Begegnung
von Psychologie und Mythus nachhänge, die zugleich eine festli-
che Begegnung von DichtungundPsychoanalyse ist. »Zukunft«-
ich habe das Wort in den Titel meines Vortrages aufgenommen,
einfach, weil der Begriff der Zukunft derjenige ist, den ich am
liebsten und unwillkürlichsten mit dem Namen Freuds verbinde.
Aber während ich zu Ihnen sprach, mußte ich mich fragen, ob ich
mich nicht mit meiner Ankündigung einer Irreführung schuldig
·gemacht: >Freud und der Mythus<, das wäre nach dem, was ich bis
jetzt und zum Schluß gesagt, etwa der richtige Titel gewesen. -
Und dennoch hängt mein Gefühl an der Verbindung von Name
und Wort und möchte einen Zusammenhangdieser Formel wahr-
haben mit dem, was ich sagte. Ja, so wahr ich mich zu glauben
erkühne, daß in dem Spiel der Psychologie auf dem Mythus, worin
jener der Freud'schen Welt befreundete Roman sich übt, Keime
und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls, einer kommen-
den Humanität beschlossen liegen, so vollkommen bin ich über-
zeugt, daß man in Freuds Lebenswerk einmal einen der wichtig-
sten Bausteine erkennen wird, die beigetragen worden sind zu
einer heute auf vielfacheWeise sich bildenden neuen Anthropolo-
gie und damit zum Fundament der Zukunft, dem Hause einer
klügeren und freieren Menschheit. Dieser ärztliche Psycholog
wird geehrt werden, so glaube ich, alsWegbereitereines künftigen
Humanismus, den wir ahnen, und der durch vieles hindurchge-
gangen sein wird, von dem frühere Humanismennichtswußten,-
eines Humanismus, der zu den Mächten der Unterwelt, des
Unbewußten, des >Es< in einem keckeren, freieren und heiteren,
einem kunstreiferen Verhältnis stehen wird, als es einem in neuro-
tischer Angst und zugehörigem Haß sich mühenden Men-
schentum von heute vergönnt ist. Freud hat zwar gemeint, die
Zukunft werde wahrscheinlich urteilen, daß die Bedeutung der
Psychoanalyse als Wissenschaft des Unbewußten ihren Wert als
Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissenschaft des
U nbewußten ist sie Heilmethode, überindividuelle Heilmethode,
Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als Dichterutopie, -
aber alles in allem ist der Gedanke nicht unsinnig, daß die Auflö-
sung der großen Angst und des großen Hasses, ihre Oberwindung
durch Herstellung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht
notwendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewußten
einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wissenschaft ange-
sprochen werden könnte.
Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Arg-
wohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die
Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, wel-
cher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann. Er
infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm
das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathetisierung,
indem er zum Geschmack am »Understatement<< erzieht, wie die
Engländer sagen, zum lieber untertreibenden als übenreibenden
Ausdruck, zur Kultur des mittleren, unaufgeblasenen Wortes, das
seine Kraft im Mäßigen sucht ... Bescheidenheit- vergessen wir
nicht, daß sie von Bescheid wissen kommt, daß ursprünglich das
Wort diesen Sinn führte und erst über ihn den zweiten von
modestia, moderatio angenommen hat. Bescheidenheit aus
Bescheid wissen - nehmen wir an, daß das die Grundstim-
mung der heiter ernüchterten Friedenswelt sein wird, die mit
herbeizuführen die Wissenschaft vom U nbewußten berufen sein
mag.
Die Mischung, die in ihr das Pionierhafte mit dem Ärztlichen
eingeht, rechtfertigt solche Hoffnungen. Freud hat seine Traum-
lehre einmal >>ein Stück wissenschaftlichen Neulandes« genannt,
»dem Volksglauben und der Mystik abgewonnen«. In diesem
»abgewonnen« liegt der kolonisatorische Geist und Sinn seines
Forschertums. »Wo Eswar,soll/chwerden«,sagteerepigramma-
tisch, und selber nennt er die psychoanalytische Arbeit ein Kul-
turwerk, vergleichbar der Trockenlegung der Zuidersee. So flie-
ßen uns zum Schluß die Züge des ehrwürdigen Mannes, den wir
feiern, hinüber in die des greisen Faust, den es drängt, »das
herrische Meer vom Ufer auszuschließen, der feuchten Breite
Grenze zu verengen«.
Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.

Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,


Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Es ist das Volk einer angst- und haßbefreiten, zum Frieden
gereiften Zukunft.
SCHOPENHAUER

Die Freude an einem metaphysischen System, die Befriedigung,


welche die geistige Organisation der Welt in einem logisch ge-
schlossenen, harmonisch in sich ruhenden Gedankenbau ge-
währt, ist immer hervorragend ästhetischer Art; sie ist derselben
Herkunft wie das Vergnügen, die hohe und im letzten Grund
immer heitere Genugtuung, mit der das ordnende, formende, die
Wirrnis des Lebens durchsichtig und übersichtlich machende
Wirken der Kunst uns beschenkt.
Wahrheit und Schönheit müssen aufeinander bezogen werden; sie
bleiben, für sich genommen und ohne die Stütze, die eines im
anderen findet, höchst schwankende Werte. Schönheit, die nicht
die Wahrheit für sich hätte, sich nicht auf sie berufen dürfte, nicht
aus ihr und durch sie lebte, wäre leere Chimäre - und »was ist
Wahrheit?« Unsere aus einem mundus phaenomenon, einerviel-
fach bedingten Anschauung geschöpften Begriffe sind, wie die
kritische Philosophie unterscheidet und gesteht, nur von imma-
nentem, nicht von transzendentem Gebrauch: dieses Material
unseres Denkens und nun gar die daraus zusammengesetzten
Urteile sind ein inadäquates Mittel, das Wesen der Dinge selbst,
den wahren Zusammenhang derWeltund des Daseins zu erfassen.
Auch mit der überzeugtesten-überzeugendsten, der innig erlebte-
sten Bestimmung dessen, was der Erscheinung zum Grunde liegt,
ist nicht die Wurzel der Dinge zutage gezogen. Was den Men-
schengeist allein zu dem inständigen Versuch, dies zu tun, ermu-
tigt und berechtigt, ist die notwendige Annahme, daß auch unser
selbsteigenes Wesen, das Tiefste in uns, jenem Weltgrunde ange-
hören und darin wurzeln muß und daß hieraus denn doch viel-
leicht einige Data zur Aufklärung des Zusammenhanges der Welt
der Erscheinungen mit dem wahren Wesen der Dinge zu gewin-
nen sein mögen.
Das lautet bescheiden. Es ist nicht weit entfernt von dem fausti-
schen »Und sehe, daß wir nichts wissen können!«, und alles
Au{trumpfen der Philosophie mit Redensarten wie »intellektuale
Anschauung« und »absolutes Denken« wirkt dagegen als Hybris
und pompöse Narrheit. In der Tat: verbindet sich mit der Her-
kunft aus der erkenntniskritischen Schule ein cholerisch-polemi-
sches Temperament, so geschieht es wohl, daß gegen solchen
Dünkel, gegen ein Philosophenturn des »absoluten Wissens« der
193
grimmig-verächtliche Vorwurf der »Windbeutelei« erhoben
wird. Und doch könnte das betroffene Denkerturn diesen Vor-
wurf mit einem gewissen Recht seinem Urheber zurückgeben.
Denn mit der Entwertung aller objektiven Erkenntnis durch die
Feststellung, daß sie nichts als Erscheinungen liefert; durch die
Bezweifelung des Intellekts als eines zulänglichen, irgend vertrau-
enswürdigen Erkenntnismittels; schon durch die Rechtfertigung
alles Philosophierens allein dadurch, daß unser eigenstes Selbst-
welches etwas ganz anderes und viel Früheres als der Intellekt-
eine wurzelhafte Verbindung mit dem Weltgrunde haben müsse:
mit alldem tritt in den Begriff der Wahrheitserkenntnis ein subjek-
tivistisches Element, ein Element des Intuitiven, des Gefühlsmä-
ßigen, um nicht zu sagen: des Affekthaften und Leidenschaftsbe-
tonten ein, das unter einem rein geistigen, intellektualen Gesichts-
punkt den Vorwurf der» Windbeutelei« wohl rechtfertigen würde
-insofern nämlich eine künstlerische Weltkonzeption, an welcher
nicht bloß der Kopf, sondern der ganze Mensch mit Herz und
Sinn, mit Leib und Seele beteiligt ist, diesen strengen Namen
verdient. Das Reich der Affekte und der Leidenschaft, das ist ja das
Reich der Schönheit; nach einem geheimnisvollen Gesetz, wel-
ches das Gefühl an die Form bindet, es immer nach ihr verlangen,
ja schon im Ursprunge eins mit ihr sein läßt, wird ein durch
Passion empfangenes, ein mit vollem Menschsein erlebtes und
erlittenes Weltbild in seiner Darstellung das Gepräge des Schönen
tragen. Nichts von der Dürre und sinnlichen Langweiligkeit
bloßer Verstandesspekulation wird ihm anhaften; als Geistes-
roman, als wunderbar gefügte, aus einem überall gegenwärtigen
Gedankenkern entwickelte Ideensymphonie, als Kunstwerk, mit
einem Wort, und wirkend durch allen Zauber der Kunst wird es
hervortreten, und wie der Schmerz nach alter Gunst und Gnade,
nach tiefer Affinität zwischen Leiden und Schönheit sich darin
durch die Form erlöst, so ist es die Schönheit, welche Gewähr
leistet für seine Wahrheit.
Die Philosophie Arthur Schopenhauers ist immer als hervorra-
gend künstlerisch, ja als Künstlerphilosophiepar excellence emp-
funden worden. Nicht weil sie in so hohem Grade, zu einem so
großen Teile Philosophie der Kunst ist- tatsächlich nimmt ihre
>Ästhetik< ein volles Viertel ihres ganzen Umfanges ein-; auch
nicht sowohl, weil ihre Komposition von so vollendeter Klarheit,
Durchsichtigkeit, Geschlossenheit, ihr Vortrag von einer Kraft,
Eleganz, Treffsicherheit, einem leidenschaftlichen Witz, einer
klassischen Reinheit und großartig heiteren Strenge des Sprach-
stils ist, wie dergleichen nie vorher in deutscher Philosophie ge-
194
wahnworden war: dies alles ist nur »Erscheinung«, der notwen-
dige und angeborne Schönheitsausdruck nur für das Wesen, die
innerste Natur dieses Denkenums, eine spannungsvolle, emotio-
nale, zwischen heftigen Kontrasten, Trieb und Geist, Leiden-
schaft und Erlösung spielende, kurzum dynamisch-künstlerische
Natur, die gar nicht anders als in Schönheitsformen, nicht anders
denn als persönliche, durch die Kraft ihrer Erlebtheit, Erlittenheit
überzeugende Wahrheitsschöpfung sich offenbaren kann.
So kommt es, daß diese Philosophie ganz vorzugsweise unter
Künstlern und Eingeweihten der Kunst ihre Bewunderer, Zeu-
gen, enthusiastischen Bekenner gefunden hat. Tolstoi hat Scho-
penhauer »den genialsten aller Menschen« genannt. Für Richard
Wagner, der durch einen Dichter, Georg Herwegh, zuerst auf ihn
hingewiesen wurde, war seine Lehre »ein wahres Himmelsge-
schenk«, die tiefste Wohltat, das erleuchtendste, produktiv-sti-
mulierendste geistige Erlebnis seiner Tage, nicht mehr und nicht
weniger als eine Offenbarung. Nietzsche, dessen Sendung es war,
Kunst und Erkenntnis, Wissenschaft und Leidenschaft einander
noch stärker zu nähern, Wahrheit und Schönheit noch tragisch-
rauschvoller ineinander übergehen zu lassen, als schon Schopen-
hauer es getan, sah in diesem seinen großen Lehrer und Meister; er
hat ihm, jung noch, eine seiner >Unzeitgemäßen Betrachtungen<,
>Schopenhauer als Erzieher<, gewidmet und bewegte sich nament-
lich zur Zeit seiner Wagner-Verherrlichung, als er die >Geburt der
Tragödie< schrieb, völlig in schopenhauerischen Gedankenbah-
nen. Aber auch nach der Absage des großen Selbstüberwinders an
Wagner und Schopenhauer, die ein großes und entscheidendes
geistesgeschichtliches Ereignis war, hat er nicht aufgehört zu
lieben, wo er nicht mehr loben durfte, und wie sich noch in dem
schauerlich heiteren, in letzter Einsamkeitsüberreizung phospho-
reszierenden Spätwerk >Ecce homo< eine Seite über den >Tristan<
findet, die von Entfremdung nichts und desto mehr von Leiden-
schaft spüren läßt, so hat dieser so edle wie gegen sich selbst
schonungslose Geist dem großen Charakterbilde des philosophi-
schen Bildners seiner Jugend bis ans Ende die ausdrucksvollsten
Huldigungen dargebracht, und man kann sagen, daß seinDenken
und Lehren nach der >Überwindung< Schopenhauers mehr eine
Fonbildung und Umdeutung von dessen Weltbild als eine wirk-
liche Trennung davon bedeutete.

Die Geschichte des schopenhauerischen Gedankens leitet zurück


zu dem Quellpunkt abendländischen Erkenntnislebens, von wo
der Wissenschaftssinn sowohl wie der Kunstgeist Europas ihren
195
Ausgang nehmen, und an dem beide noch eines sind: sie führt
zurück zu Platon. Die Dinge dieser Welt, lehrte der griechische
Denker, haben kein wahres Sein: sie werden immer, sind aber nie.
Zu Objekten eigentlicher Erkenntnis taugen sie nicht, denn solche
kann es nur geben von dem, was an und für sich und immer auf
gleiche Weise ist; sie aber, in ihrer Vielheit und ihrem bloß
relativen, geborgten Sein, das man ebensowohl ein Nichtsein
nennen könnte, sind immer nur das Objekt eines durch sinnliche
Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. Sie sind Schatten. Das
allein wahrhaft Seiende, das immer ist und nie wird und vergeht,
sind die realen Urbilder jener Schattenbilder, die ewigen Ideen,
die Urformen aller Dinge. Diese haben keine Vielheit, denn jedes
ist seinem Wesen nach nur Eines, das Urbild eben, dessen Nach-
bilder oder Schatten lauter ihm gleichnamige, einzelne, vergängli-
che Dinge derselben Art sind. Nicht wie diesen kommt den Ideen
ein Entstehen und Vergehen zu: sie sind zeitlos und wahrhaft
seiend, nicht werdend und untergehend, wie ihre hinfälligen
Nachbilder. Von ihnen allein also auch gibt es eigentliche Er-
kenntnis, als von dem, was immer und in jedem Betrachte ist.
Konkret gesprochen: Der Löwe, das ist die Idee, ein Löwe, das ist
bloße Erscheinung und kann folglich nicht Gegenstand reiner
Erkenntnis sein. Zwar ließe sich, banal genug, der Einwand
erheben, daß nur das Erscheinungsbild des einzelnen, >empiri-
schen< Löwen uns die Möglichkeit gewährt, über den Löwen als
solchen und überhaupt, den Löwen als Idee, Erkenntnisse zu
gewinnen. Aber eben die sofortige geistigeUnterordnungder am
einzelnen Erscheinungsbilde des Löwen gemachten Erfahrung
unter die »leonitas<<, die Idee des Löwen, das reineund allgemeine
Gedankenbild von ihm, die Subsumierung jeder speziellen und
zeitlichen Wahrnehmung unter das Generelle und Geistige, eine
Abstraktionsleistung also, die Durchschauung jeder bedingten
und vergänglichen Wirklichkeit, die Vertiefung und Läuterung
des bloßen Sehens zur Anschauungder unbedingten, ungetrübten
und immer seienden Wahrheit, die hinter und überder vielfachen
Einzelerscheinung steht und auf derenNamendiese hört- das ist
die philosophische Zumutung, die Plato der Menschheit seiner
Zeit stellte.
Man sieht, dieser Denker wußte dem Unterschied zwischen dem
bestimmten und dem unbestimmten Artikel eine weittragende
Bedeutung abzugewinnen; er machte ein pädagogisches Paradox
daraus. Denn paradox ist es allerdings, zu behaupten, daß Er-
kenntnis nur dem Unsichtbaren, Gedachten, im Geiste Ange-
schauten gelten könne; paradox ist es, die sichtbare Welt für eine
196
Erscheinung zu erklären, die, an sich nichtig, nur durch das in ihr
sich Ausdrückende Bedeutung und geborgte Realität gewinne.
Die Realität des Wirklichen- nur eine Leihgabe des Geistigen!
Das war nichts, oder etwas sehr Verwirrendes für den gesunden
Menschenverstand. Aber im »epater le bourgeois« bestand ja
immer das Vergnügen und die Sendung, das übermütige Marty-
rium der Erkenntnis. auf Erden: immer fand sie ihre Lust undihr
Leiden darin, den gesunden Menschenverstand vor den Kopf zu
stoßen, die populäre Wahrheit umzukehren, die Erde sich um die
Sonne drehen zu lassen, da es sich für jeden normalen Sinn doch
umgekehrt verhält, die Menschen zu verblüffen, zu entzücken
und zu erbittern, indem sie ihnen Wahrheiten auferlegte, die ihrer
sinnlichen Gewohnheit schnurstracks zuwiderliefen. Dies aber
geschieht zu einem pädagogischen, den Menschengeist höher
führenden, ihn zu neuen Leistungen tauglich machenden Zweck,
und was Plato mit seiner weitgehenden Auslegung des Unter-
schiedes vonbestimmtem und unbestimmtem Artikel in die frühe
abendländische Welt einführte, das war der Geist der Wissen-
schaft.
Offenbar, es ist Wissenschaftsgeist und Erziehung zur Wissen-
schaft, die Vielheit der Erscheinungen der Idee unterzuordnen,
Wahrheit und echte Wirklichkeit nur mit dieser zu verbinden und
zur schauenden Abstraktion, zur Vergeistigung· der Erkenntnis
anzuhalten. Plato bedeutet durch diesewertende Unterscheidung
zwischen Erscheinung und Idee, Empirie und Geist, Scheinwelt
und Welt der Wahrheit, Zeitlichkeit und Ewigkeit ein ungeheures
Ereignis in der Geschichte des menschlichen Geistes: und zwar
zunächst ein wissenschaftlich-moralisches. Jederfühlt, daß dieser
Erhebung des Ideellen als des allein Wirklichen überdie Erschei-
nung in sterblicher Vielfalt etwas tief Moralisches anhaftet, die
Entwertung des Sinnlichen zugunsten des Geistigen, des Zeitli-
chen zugunsten des Ewigen, ganz im Sinn des späteren Christen-
tums: denn gewissermaßen ist damit die sterbliche Erscheinung
und das sinnliche Haften an ihr in Sündenzustand versetzt, - das
Heil, die Wahrheit findet nur der, welcher sich zum Ewigen
wendet. Von dieser Seite gesehen, zeigt Platons Philosophie die
Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit von Wissenschaft
und asketischer Moral.
Abersie hat eine andere, und das ist die künstlerische. Nach dieser
Lehre ist ja die Zeit bloß die verteilte und zerstückelte Ansicht, die
ein individuelles Wesen von den Ideen hat, welche außer der Zeit,
mithin ewig sind. »Die Zeit«, lautet ein schönes WortPlatons, »ist
das bewegte Bild der Ewigkeit.« Und so bietet diese vor-christ-
197
liehe, schon-christliche Lehre in ihrer asketischen Weisheit auch
wieder einen ungemein sinnlich-artistischen Reiz und Zauber;
denn die Auffassung der Welt als einer bunten und bewegten
Phantasmagorie von Bildern, die für das Ideelle, Geistige durch-
scheinend sind, hat etwas eminent Künstlerisches und schenkt den
Künstler erst gleichsam sich selbst: Er ist derjenige, der sich zwar
lustvollsinnlich und sündig derWeltder Erscheinungen, der Welt
der Abbilder verhaftet fühlen darf, da er sich zugleich der Welt der
Idee und des Geistes zugehörig weiß, als der Magier, der die
Erscheinung für diese durchsichtig macht. Die vermittelnde Auf-
gabe des Künstlers, seine hermetisch-zauberhafte Rolle als Mittler
zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erschei-
nung, Geist und Sinnlichkeit kommt hier zum Vorschein; denn
dies ist in der Tat die sozusagen kosmische Stellung der Kunst; ihre
seltsame Situation in der Welt, die verspielte Würde ihres Treibens
darin sind gar nicht anders zu bestimmen und zu erklären. Das
Mond-Symbol, dies kosmische Gleichnis allen Mittlertums, ist
der Kunst zu eigen. Der alten, der frühen Menschheit nämlich war
das Mondgestirn merkwürdig und heilig in seiner Doppeldeutig-
keit, in seiner Mittel- und Mittlerstellung zwischen der solaren
und der irdischen, der geistigen und der stofflichen Welt. Weiblich
empfangend im Verhältnis zur Sonne, aber männlich zeugerisch
im Verhältnis zur Erde, war der Mond ihnen der unreinste der
himmlischen, aber der reinste der irdischen Körper. Er gehörte
zwar noch der stofflichen Welt an, nahm aber in dieser die höchste,
geistigste, ins Solarische übergehende Stelle ein und webte an der
Grenze zwei er Reiche, sie zugleich scheidend und verbindend, die
Einheit des Alls verbürgend, der Dolmetsch zwischen Sterblichen
und Unsterblichen. - Genau dies denn also ist die Stellung der
Kunst zwischen Geist und Leben. Androgyn wie der Mond,
weiblich im Verhältnis zum Geiste, aber männlich zeugend im
Leben, die stofflich unreinste Manifestation der himmlischen, die
übergänglich reinste und unverderblich geistigste der irdischen
Sphäre, ist ihr Wesen das eines mondhaft-zauberischen Mittler-
turns zwischen den beiden Regionen. Dies Mittlerturn ist die
Quelle ihrer Ironie.
Platon als Künstler ... Wir wollen festhalten, daß eine Philoso-
phie nicht nur- und zuweilen am wenigsten- durch ihre Moral,
durch die Weisheitslehre wirkt, die sie an ihre Weltdeutung, ihr
Welterlebnis knüpft, sondern auch und besonders durch dies
Welterlebnis selbst, das ja übrigens auch das Essentielle, Primäre,
Persönliche an einer Philosophie ist- und nicht die intellektuell-
moralische Zutat der Heils- und Wahrheitslehre. Es bleibt viel
198
übrig, wenn man von einem Philosophen seine Philosophie ab-
zieht, und schlimm wäre es, wenn nichts übrig bliebe. Nietzsche,
der geistig abtrünnige Schüler Schopenhauers, dichtete auf seinen
Meister:
Was er lehrte, ist abgethan,
Was er lebte, bleibt bestahn,-
Seht ihn nur an!
Niemandem war er unterthan.
Wenn aber die Lehre Schopenhauers, auf die noch die Rede
kommen soll, wenn die Dynamik ihrer Wahrheit, die niemals ganz
>abgetan< sein wird, sich als ebenso >mißbrauch bar< erwiesen hat
wie die asketisch-wissenschaftliche und dennoch künstlerisch
ausmünzbare Verkündigung Platons, nämlich durch die Exploi-
tierung, die sie durch einen Künstler von kolossalem Talent,
Richard Wagner, erfuhr (davon vielleicht später)- so ist die Schuld
daran gewiß nicht dem anderen Lehrer und Anreger Schopen-
hauers zuzuschreiben, der ihm behilflich war, sein Denksystem
aufzubauen: Kant, einer äußerst und ausschließlich spirituellen
Natur, welcher die Kunst sehr fern, desto näher aber die Kritik
lag.
Immanuel Kant, der Erkenntniskritiker, der die Philosophie aus
der Spekulation, in die sie verflogen gewesen, in den menschli-
chen Geist selbst zurückrief, diesen zu ihrem Gegenstande machte
und der Vernunft ihre Grenzen setzte, lehrte in der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts zu Königsberg in Preußen etwas
den Stipulationen sehr Ähnliches, die zweitausend Jahre früher
der athenische Denker aufgestellt hatte. Unsere gesamte Welt-
Erfahrung, erklärte er, unterliegt drei Gesetzen und Bedingun-
gen, welche die undurchbrechbaren Formen sind, in welchen all
unsere Erkenntnis sich vollzieht. Sie heißen Zeit, Raum und
Kausalität. Diese sind aber nicht Bestimmungen der Welt, wie sie
an und für sich, unabhängig von unserer Apperzeption, sein mag,
des »Dinges an sich«, sondern gehören nur seiner Erscheinung,
indem sie eben nichts als Formen unserer Erkenntnis sind. Alle
Vielheit, Entstehen und Vergehen, ist allein durch jene drei mög-
lich; sie hängen darum allein der Erscheinung an, und von dem
»Ding an sich«, auf das sie keineswegs anwendbar sind, können
wir gar nichts wissen. Sogar erstreckt sich dieses auf unser eigenes
Ich: wir erkennen es nur als Erscheinung, nicht nach dem, was es
an sich sein mag. Mit anderen Worten: Raum, Zeit und Kausalität
sind Einrichtungen unseres Intellekts, und die Auffassung der
Dinge, die uns in ihrem Bilde, bedingt durch sie, zuteil wird, heißt
199
darum die immanente; die transzendente aber wäre diejenige, die
wir durch die Wendung der Vernunft gegen sich selbst, durch
Vernunftkritik, kraftder Durchschauung·jener drei Einschaltun-
gen als bloßer Erkenntnisformen gewönnen.
Dies ist Kants Grundkonzeption, und man sieht, sie istderjenigen
Platons sehr nahe verwandt. Beide erklären die sichtbareWeltfür
eine Erscheinung, will sagen: für nichtigen Schein, der Bedeutung
und einige Wirklichkeit nur durch das gewinnt, was hindurch-
scheinend sich darin ausdrückt. Für beide liegt die wahre Wirk-
lichkeit über, hinter, kurz »jenseits« der Erscheinung, und ob sie
nun »Idee« oder »Ding an sich« genannt wird, gilt ungefähr
gleichviel. Schopenhauers Denken hahm beide Begriffe tief in sich
auf. Er hatte Platon und Kant früh und mit persönlichster Vorliebe
studiert (in Göttingen, I 809- I 8 I 1) und zog diese durch Raum und
Zeit so weit getrennten Denker allen übrigen vor. Die fast identi-
schen Ergebnisse, zu denen sie gelangt waren, schienen aufs beste
geeignet, das Weltbild zu stützen, zu rechtfertigen und ausbilden
zu helfen, das er selber in sich trug,- kein Wunder also, daß er sie
»die beiden größten Philosophen des Occidents« nannte. Er nahm
von ihnen, was er brauchen konnte, und es tat seinem Traditions-
bedürfnis großes Genüge, daß er es so trefflich brauchen konnte,
obgleich er seiner gänzlich anderen- ich will sagen: viel ~moderne­
ren<, stürmischeren und leidenderen Natur gemäßerwas gänzlich
anderes daraus machte.
Was er nahm, warendie »Ideen« unddas >>Ding an sich«. Mitdem
letzteren aber stellte er etwassehr Kühnes, fast Unerlaubtes, wenn
auch tief und bis zur zwingenden Oberzeugungsgewalt Empfun-
denes an: Er definierte es, er nannte es bei Namen, er behauptete-
obgleich man doch nach Kant gar nichts davon wissen konnte-zu
wissen, was es sei. Es war der Wille. Der Wille war der letzte und
nicht weiter reduzierbare Urgrund des Seins, die Quelle aller
Erscheinungen, der in jeder einzelnen von ihnen vorhandene und
wirksame Hervorbringer, Hervortreiber der ganzen sichtbaren
Welt und allen Lebens,- denn er war der Wille zum Leben. Er war
durch und durch dies, so daß, wer,, Wille« sagte, eben vom Willen
zum Leben sprach, und wer sich der ausführlicheren Formel
bediente, eigentlich einen Pleonasmus beging. Der Wille wollte
immer nur eines: das Leben. Und warum wollte er es? Weil er es
köstlich fand? Weil er das Ergebnis irgendeiner objektiven Er-
kenntnis vom Werte des Lebens darstellte? 0 nein, dem Willen
war alle Erkenntnis vollkommen fremd; er war etwas von dieser
durchaus Unabhängiges, ganz Ursprüngliches und Unbedingtes,
ein blinder Drang, ein gründlich-grundloser, absolutunmotivier-
200
ter Trieb, der so weit entfernt war, von irgendwelchen Uneilen
über den Wert des Lebens abzuhängen, daß vielmehr umgekehrt
alle solchenUrteile ganz und gar von dem Stärkegrad des Lebens-
willens abhingen.
Der Wille also, dieses außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität
stehende An-Sich der Dinge, verlangte blind und grundlos, aber
mit wilder und unwiderstehlicher Gier und Lust nach Sein, nach
Leben, nach Objektivierung, und diese Objektivation vollzog
sich auf die Weise, daß aus seiner ursprünglichen Einheit eine
Vielheit wurde, was treffend als das principium individuationis zu
bezeichnen war. Der lebensgierige Wille, um seine Lust zu büßen,
objektiviene sich nach diesem principium und zersplitterte siehin
dieMyriadenTeile der in Raum und Zeit wesenden Erscheinungs-
welt, wobei er jedoch auch wieder in jedem kleinsten und einzeln-
sten dieser Teile ganz und in voller Stärke vorhanden blieb. Die
Welt war also ganz und gar Willensprodukt und -ausdruck, die
Objektiviät des Willens im Raume und in der Zeit. Sie war aber
außerdem und in einem damit noch erwas anderes: nämlich
Vorstellung, meine und deine Vorstellung, die Vorstellung eines
jeden und ihre Vorstellung von sich selbst- nämlich vermöge des
erkennenden Intellekts, den der Wille auf den höheren Stufen
seiner Objektivation sich zur Leuchte schuf. Das Won von den
»höheren Stufen« will recht verstanden sein. Schopenhauer näm-
lich, ein sowohl mystischer wie auch äußerst moderner und mit
Naturwissenschaft genährter Geist, schaltete in seine Willens-
Kosmogonie, in die unendliche Vielfalt der Willensemanationen
den Begriff der Entwicklung ein. Er tat es aus Liebe zu jenem
philosophischen Element, das er von Platon übernommen hatte,
den »Ideen«. Indem er in der Vielheit der Objektivationendes
Willens eine Rangfolge und Stufenleiter annahm oder feststellte,
gewann oder rettete er die »Ideen«,- denn sie eben waren diese
rein angeschaute Stufenfolge der Willensobjektivationen. Die
einzelnen Dinge waren keine ganz adäquate Objektivität des
Willens, sondern eine durch die Formen unserer Erkenntnis
getrübte. In Wahrheit würden wir keine>Exemplare<, keine Bege-
benheiten, keinen Wechsel, keine Vielheit erkennen, sondern nur
das Seiende, die unmittelbare und reine Objektivität des Willens
auf ihren verschiedenen Stufen, und unsere Welt würde also, mit
den Scholastikern zu reden, ein •nunc stans< sein, ein stehendes
Jetzt ungetrübter und ewiger Ideen.
Auf den höheren Stufen seiner Individuation also, in den Tieren
bereits und ganz besonders im Menschen, der höchsten und
kompliziertesten von allen, zündete sich der Wille zu seiner Hilfe,
201
Sicherung, Erleuchtung, das die Welt zur Vorstellung machende
Licht des Intellektes an. Wohlgemerkt: Es war nicht etwa der
Intellekt, welcher den Willen hervorbrachte, - umgekehn: dieser
erzeugte sich jenen. Nicht der Intellekt, der Geist, das Erkennen
war das Primäre und Herrschende, sondern der Wille war es, und
ihm diente der Intellekt. Hätte es sich denn auch anders verhalten
können, da doch das Erkennen selbst zur Objektivation des
Willens auf ihren höheren Stufen gehöne und ohne diesen gar
keine Gelegenheit hatte, zustande zu kommen? In einer Welt, die
ganz und gar das Werk des Willens, des absoluten, unmotivierten,
grund- und wenungslosen Lebenstriebes war, kam selbstver-
ständlich dem Intellekt nur die zweite Stelle zu. Sensibilität,
Nerven, Gehirn waren, ganz wie andere Teile des organischen
Wesens- namentlich nicht anders als das Gegenteil, der Gegenpol
des erkennenden Gehirnes: der Geschlechtsapparat - Ausdruck
des Willens auf einem bestimmten Punkte seiner Objektivität,
und die durch sie entstehende Vorstellung war ebenso zu seinem
Dienste bestimmt, ebensowenig Zweck ihrer selbst, sondern ein
Mittel zur Erreichung seinerZwecke, wie jene anderen Teile auch.
- Dies Verhältnis von Intellekt und Wille, die Stipulation Scho-
penhauers, daß der erste nur das dienendeWerkzeugdes zweiten
sei, schließt viel Komik und demütigende Kläglichkeit ein, es
beinhaltet die ganze Neigung und Fähigkeit des Menschen, sich
etwas vorzumachen und zu wähnen, sein Wille empfange seine
Weisungen und Inhalte von seinem Intellekt, da es doch nach
unserem Philosophen gerade umgekehrt liegt und der Intellekt -
abgesehen von seiner Aufgabe, die nächste Umwelt des Willens
ein wenig abzuleuchten und ihm bei seinem höher gestuften
Lebenskampfe behilflich zu sein- nur dazu da ist, um dem Willen
zum Munde zu reden, ihn zu rechtfenigen, ihn mit >moralischen<
Motiven zu versehen und, kurz gesagt, unsereTriebe zu rationali-
sieren. Es ist wie bei den christlichen Philosophen des Mittelalters,
die der Teufel geholt hätte, wenn sie von dem Grundsatz gewichen
wären, daß die Vernunft einzig und allein dazu da sei, die Apologie
des Glaubens zu liefern. Das hätte man Kant sagen sollen! Und
doch war Schopenhauer, weil er von Kant das »Ding an sich« und
von Platon die" Ideen« genommen hatte, bei solcher Einschätzung
der Vernunft überzeugt, Kantianer und Platoniker zu sein.
Es war eine bemerkenswen pessimistische Einschätzung; und
wirklich unterrichtet jedes Handbuch darüber, daß Schopen-
hauer erstens der Philosoph des Willens und zweitens derjenige
des Pessimismus sei. Aber das ist kein Erstens und Zweitens,
sondern es ist ein und dasselbe, und er war das Zweite, weil und
202
indem er das Erste war,- war notwendig Pessimist, weil er der
Philosoph und Psychologe des Willens war. Wille, als Gegenteil
ruhenden Genügens, ist an sich selbst etwas fundamental U nseli-
ges; er ist Unruhe, Streben nach etwas, Notdurft, Lechzen, Gier,
Verlangen, Leiden, und eine Welt des Willens kann nichts anderes
als eineWeltdes Leidens sein. Der sich in allem Seienden objekti-
vierende Wille büßt im Physischen seine metaphysische Lust in
einem sehr wörtlichen Sinn dieser Redensart: er» büßt« fijr sie aufs
furchtbarste in derWeltund durch die Welt, die er hervorgebracht
hat und die als Werk der Begierde und der Drangsal sich gar
schauerlich bewährt. Indem nämlich die Weltwerdung des Wil-
lens sich nach dem principium individuationis, durch seine Zer-
splitterung in die Vielheit vollzieht, vergißt er seine ursprüngliche
Einheit und wird, obgleich in aller Zerstückelung der eine, zu
einem millionenfach mit sich selbst entzweiten, gegen sich selbst
streitenden Willen, welcher, sich selbst erkennend, in jeder seiner
Erscheinungen sein Wohlsein, seinen >>Platz an der Sonne« auf
Kosten einer anderen, ja aller anderen sucht und so beständig die
Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt, jenem Tartaros-Insassen
gleich, der gierig sein eigenes Fleisch verzehrte. Dies ist ganz
wörtlich zu verstehen. Platons »Ideen« sind bei Schopenhauer
heillos gefräßig geworden, denn als die Stufen der Objektivation
des Willens machen sie sich gegenseitig die Materie, den Raum, die
Zeit streitig. Der Tierwelt muß die Pflanzenwelt zur Nahrung,
jedes Tier wieder einem anderen zur Beute und Nahrung dienen,
und so zehn der Wille zum Leben immerfon an sich selbst. Der
Mensch schließlich sieht das Ganze als zu seinem Gebrauch
geschaffen an, bringt aber seinerseits den Greuel des Kampfes aller
gegen alle, die Selbstentzweiung des Willens zur furchtbar-
sten Deutlichkeit, nach dem Spruche: >>Homo homini Iupus.«
Überall, wo Schopenhauer auf das Leiden der Welt, den Jammer
und die Lebenswut der multiplen Willensinkarnationen zu reden
kommt (und er redet sehr viel und sehr ausführlich davon),
erreicht seine von Natur außerordentliche Beredsamkeit, erreicht
sein schriftstellerisches Genie die glänzendsten und eisigsten
Gipfel seiner Vollendung. Er spricht davon mit einer schneiden-
den Vehemenz, mit einem Akzent der Erfahrung, des umfassen-
den Bescheidwissens, der entsetzt und durch seine gewaltige
Wahrheit entzückt. Es ist auf gewissen Seiten ein wilder kausti-
scher Hohn auf das Leben, funkelnden Blickes und mit verkniffe-
nen Lippen, unter Einstreuung griechischer und lateinischer Zi-
tate; ein erbarmungsvoll-erbarmungsloses Anprangern, Feststel-
len, Aufrechnen und Begründen des Weltelends,- bei weitem
203
nicht so niederdrückend übrigens, wie man bei soviel Genauigkeit
und finsterem Ausdruckstalent erwarten sollte, mit einer seltsam
tiefen Genugtuung erfüllend vielmehr kraft des geistigen Prote-
stes, der in einem unterdrückten Beben der Stimme vernehmbaren
menschlichen Empörung, die sich darin ausdrückt. Diese Genug-
tuung empfindet jeder; denn spricht ein richtender Geist und
großer Schriftsteller im allgemeinen vom Leiden der Welt, so
spricht er auch von deinem und meinem, und bis zum Triumph-
gefühl fühlen wir alle uns gerächt durch das herrliche Wort.
Mangel, Not, Sorge um die Erhaltung des Lebens, -diese zuerst;
dann, sind sie mit Mühe verbannt, Geschlechtstrieb, Liebesleid,
Eifersucht, Neid, Haß, Angst, Ehrgeiz, Geldgeiz, Krankheit und
so fort und so unerschöpflich fort: alle übel, deren Quelle der
innere Widerstreit des Willens ist, entsteigen der Büchse der
Pandora. Und was bleibt auf ihrem Grunde zurück? Die Hoff-
nung? Ach, nein: die Langeweile; denn zwischen Schmerz und
Langerweile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen.
Der Schmerz ist das Positive, die Lust seine bloße Aufhebung, also
ein Negatives, und sofort geht sie in Langeweile über- wie der
Grundton, zu dem der Irrgang der Melodie zurückführt, wie die
Harmonie, in welche die Disharmonie mündet, immerfort ausge-
halten, unerträgliche Langeweile erregen würden. Erfüllungen?
Es gibt sie. Aber verglichen mit der langen Qual unseres Begeh-
rens, der Unendlichkeit unserer Wünsche sind sie kurz und
kärglich, und gegen ein Verlangen, das erfüllt wird, bleiben
wenigstens zehn ungestillt. Übrigens ist die Befriedigung nur
scheinbar, denn der erfüllte Wunsch macht alsbald einem neuen
Platz: jener ist ein erkannter, dieser ein noch unerkannter Irrtum.
Kein erlangtes Objekt des Wollens kann dauernde Befriedigung
gewähren; es gleicht nur dem Almosen, das, dem Bettler zugewor-
fen, sein Jammerdasein von heute auf morgen verlängert. Das
Glück? Es wäre die Ruhe. Aber sie eben ist nicht möglich für das
Subjekt des Wollens. Jagen, Fliehen, Unheil fürchten, nach Ge-
nuß gieren- alles gleich, die Sorge für den stets fordernden Willen
erfüllt und bewegt ohn' Unterlaß das Bewußtsein, und so liegt das
Subjekt des W ollens immerdar auf dem drehenden Rade des Ixion,
schöpft immer im Siebe der Danaiden, es ist der ewig schmach-
tende Tantalus.
Gehäufte Bilder der Qual, Tartaros-Bilder, wie schon das vom
Thyest, der in wütendem Hunger sich selbst verzehrt. Ist denn das
Leben eine Hölle? Nicht ganz, nur annähernd und eine Art
Vorschmack davon. Höllenähnlich gewiß; denn daß jede Ausprä-
gung des Willens zum Leben, welcher die metaphysische Torheit
selbst, ein schrecklicher Irrtum, eine Sünde, die Sünde an sich ist,
immer nur etwas Höllenverwandtes sein kann, steht von vornher-
ein fest. Merkt man den Platonismus, das Christentum? Platons
schon leise asketische und pessimistische Entwertung des Sinn-
lichen durch das Geistige, worin allein das Heil und die Wahrheit
sei,- hier ist sie aufs grimmigste verstärkt und vertieft, hat in zwei
1ahrtausenden einenNachdruck von Leiden und Anklage gewon-
nen, der dem frühen Abendländer noch ferne war: Die wirkliche
Welt ist das Produkt eines erzsündigen, erztörichten Willensak-
tes, der nie hätte statthaben sollen; und wenn sie keine eigentliche
und komplette Hölle geworden ist, so nur darum nicht, weil die
Vehemenz des Willens zum Leben nicht ganz dazu ausgereicht
hat: wäre er nur noch etwas stärker, noch etwas mehr Wille zum
Leben gewesen, so wäre die Hölle vollkommen. Das klingt wie
eine Einschränkung des Pessimismus, ist aber nur ein neuer Stich
empörter Kaustik gegen das Leben und den verfluchten Willen
dazu, - verwandt jenem Witz, den Schopenhauer sich einmal
gönnt, indem er sagt, das Leben balanciere überall mit genauer
Not auf der Schneide des Eben-noch-sein-Könnens; diese Welt
sei die schlechteste aller denkbaren: denn wäre sie nur ein wenig
schlechter, so könnte sie schon nicht mehr sein.- Er erinnert nicht
selten an Voltaire.
Er gleicht ihm zuweilen nach klar vollendeter Form und sieghaf-
tem Witz; aber durch eine reiche Dunkelheit seines Wesens, die
Tiefe und Macht seines Seelenlebens ist er dem Franzosen über-
legen. Für diese ist die Erlösungslehre, die er in seine Willensphi-
losophie eingebaut hat, ist die Erlösungssehnsucht, welche daraus
emporsteigt, ein Zeugnis. 1a, es gibt eine Erlösung aus dem Elend
und Irrsal, dem Fehlgriff und der Buße dieses Lebens, und in die
Hand des Menschen, dieser höchsten und entwickeltsten, darum
aber auch leidensfähigsten und leidensreichsten Objektivation
des Willens, ist sie gelegt. Glaubt man, es wäre der Tod? Weit
gefehlt! Der Tod gehört ganz und gar der Erscheinung, der
Empirie, der Sphäre der Vielheit und des Wechsels an; die tran-
szendente und wahre Wirklichkeit berührt er gar nicht. Was an
uns stirbt, ist lediglich die Individuation; der Kern unseres We-
sens, der Wille, welcher der Wille zum Leben ist, bleibt davon
völlig unangefochten und wird, solange er sich nur selbst bejaht,
die Zugänge zum Leben immer zu finden wissen. Nebenbei
gesagt, resultiert daraus die Unvernunft und Unsitdichkeit des
Selbstmordes, als mit welchem gar nichts gebessert ist: denn das
Individuum verneint und vertilgt damit eben nur seine Individua-
tion, nicht aber den Ur-Irrtum, den Willen zum Leben, welcher
205
im Selbstmorde nur nach günstigerer Verwirklichung trachtet.-
Nicht Tod also,- die Erlösung heißt ganz anders und ist an eine
ganz andere Bedingung geknüpft. Man vermutet den Mittler
nicht, welchem unter Umständen dieser Segen zu danken. Es ist
der Intellekt.
Aber der Intellekt ist ja das Produkt des Willens, sein Werkzeug,
seine Laterne im Dunkel, zu seinem Dienste allein bestimmt?-So
ist es und bleibt es. Und doch bleibt es nicht immer und in allen
Fällen so. Unter besonderen, glücklichen- oh, man darf schon
sagen: seligen Umständen, unter Ausnahme-Umständen also,
kann der Knecht und arme Handlanger sich zum Herrn seines
Herrn und Schöpfers machen, kann ihm ein Schnippchen schla-
gen, sich von ihm emanzipieren, sich verselbständigen qnd, we-
nigstens vorübergehend, eine sanfte, klare, weltbeglückende Al-
leinherrschaft behaupten, in welcher der Wille, entmachtet und
ausgeschaltet, sanft-selig untergeht. Es gibt einen Zustand, worin
das Wunder geschieht, daß die Erkenntnis sich vom Willen los-
reißt, das Subjekt aufhört, ein bloß individuelles zu sein und zum
reinen, willenlosen Subjekt der Erkenntnis wird. Man nennt ihn
den ästhetischen Zustand. Er ist eine der größten und tiefsten
Erfahrungen Schopenhauers, und über so gräßliche Akzente er
verfügt zur Beschreibung der Qualen der Willensherrschaft, so
seraphische Laute findet seine Prosa, so überschwenglich äußert
sich seine Dankbarkeit, wenn er- und es geschieht ausgiebig und
unermüdlich- auf die Segnungen der Kunst zu reden kommt. Die
geistige Formung~nd Deutungdieses seines vielleicht persönlich-
sten Erlebnisses bewerkstelligte er als Schüler Platons und Kants.
»Schön ist«, hatte Kant bestimmt, »was ohne Interesse gefällt.«
Ohne Interesse - mit Recht hieß das für Schopenhauer: ohne
Beziehung auf den Willen. Das ästhetische Gefallen war rein,
interesselos, willensfrei, es war »Vorstellung« im zugleich inten-
sivsten und heitersten Sinn, klare, ungetrübte und tief beruhigte
Anschauung. Und warum war es das? Hier mußte Platon helfen
und der latente Ästhetizismus seiner Ideenlehre. Die Ideen! Sie
waren es, für die im ästhetischen Zustande die Erscheinungen,
diese Abbilder der Ewigkeit, durchsichtig wurden; der geöffnete
Blick auf sie,- das war die lautere, große, sonnenhafte, objektive
Anschauung, deren allein der Genius - und auch er nur eben
in seinen genialen Stunden und Augenblicken -, deren mit ihm
der genießende Empfänger des ästhetischen Werkes gewürdigt
war.
Wie, und der Intellekt sollte es sein, der den Blick zu solchem
Schauen öffnete? Ja, der vom Willen losgerissene, der zur reinen
206
und unschuldigen Erkenntnis gewordene Intellekt. Unnötig zu
sagen, daß es in der Kunst nicht intellektuell in des Wortes
engerem Sinne zuging, daß nicht das Denken, die Abstraktion, der
Verstand den glückseligen Zustand herbeiführte. Kunstwarnicht
!ehrbar, sie war ein Geschenk der Intuition. Der Intellekt war
dabei nur im Spiel, insofern eben er es war, der die Welt zur
Vorstellung machte. Durchaus brauchte man nichts von der
metaphysischen Bewandtnis der Dinge, von Erscheinung und
Idee, von Kant und Platon zu wissen, um der Kunst teilhaftig zu
sein. Den ästhetischen Zustand nach seinem wahren Wesen zu
erklären, ihn dem abstrakten Denken zugänglich zu machen, war
Sache der Philosophie - freilich wohl nur einer Philosophie, die
mehr von Kunst verstand, mehr von Kunst erlebt hatte als alle
frühere und zeitgenössische. Sie wußte und lehrte, daß der Blick
der Kunst derjenige der genialen Objektivität war, - und hier
erinnere man sich daran, was früher über das Mittlerturn der
Kunst als Quelle der Ironie gesagt wurde: so wird man gewahr
werden, daß Ironie und Objektivität zusammengehören und eines
sind. Apollon, der Fernhintreffende, der Musengott, ist ein Gott
der Ferne und der Distanz,- nicht des Verstricktseins, des Pathos
und der Pathologie,- des Leidens nicht, sondern der Freiheit, ein
objektiver Gott, der Gott der Ironie ... In ihr also, so sah es
Schopenhauer, in der genialen Objektivität, war die Erkenntnis
dem Sklavendienste des Willens entrissen, die Aufmerksamkeit
länger von keinem Motiv des Wollens getrübt: wir waren im
Zustande einer Hingebung, die denDingen als bloßer Vorstellung
galt, nicht mehr sofern sie Motive waren, und nie gekannte Ruhe
war uns auf einmal geschenkt. »Uns ist«, sagt unser Autor, »völlig
wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das
höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind,
für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir
feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des
Ixion steht still.«
Berühmte Worte, oft angeführt. Das Schöne und sein hochbe-
schwichtigender Anblick hat sie dieser bitteren und gequälten
Seele entlockt. Sind sie wahr? Aber was ist Wahrheit? Ein Erleb-
nis, das solche Worte findet, ist wahr, ist gerechtfertigt durch die
Kraft des Gefühls. Sollte man freilich glauben, daß diese Worte
vollkommener und grenzenloser Dankbarkeit geprägt sind, ein
relatives, ein immer noch bloß negatives Glück zu bezeichnen?
Denn das Glück überhaupt ist negativ, es ist nur die Aufhebung
einer Tortur, und mit dem Glück der ästhetischen Ideenanschau-
ung, der willenkalmierenden Objektivität steht es nicht anders,
207
wie auch die Bilder, zu denen es Schopenhauer inspiriert, unzwei-
deutig erkennen lassen. Auch ist es nur ephemer, nur zeitweilig.
Das Künstlertum, fand Schopenhauer, das Stehenbleiben beidem
ideell durchleuchteten Bilde war nicht die endgültige Erlösung.
Der ästhetische Zustand war nur die Vorstufe eines vollendeteren,
in welchem der in jenem nur vorübergehend befriedete Wille auf
immer von der Erkenntnis überstrahlt, aus dem Felde geschlagen
und vernichtet würde. Die Vollendung des Künstlers war der
Heilige.

Neben seine Ästhetik stellte Schopenhauer seine Ethik. Krönend


stellte er sie über jene: denn Ethik, das war die Lehre von der
Umkehr des Willens in seiner höchstgestuften Objektivation,
dem Menschen; von des Willens Selbstverneinung und Selbstauf-
hebung kraft der Einsicht in die schreckliche Irrtümlichkeit und
Nichtswürdigkeit der Leidenswelt, die sein Werk und Spiegel,
seine Objektität war-kraftalso der Selbsterkenntnis des Willens
zum Leben als des absolut und endgültig zu Verneinenden. Wie
war sie möglich? Wie konnte aus dem Leben, das doch durch und
durch Wille zum Leben war, die Verneinung des Willens kom-
men? Es ermöglichte sich eben dadurch, daßdie WeltdasProdukt
eines Willensaktes war und daß ein solcherdurch einen negativen,
einen Gegen-Willensakt rückgängig gemacht und aufgehoben
werden kann. Dies war die Tat der in einer Art von kosmischem
Sklavenaufstand sich vom Willen losreißenden, ihm die Hörigkeit
kündigenden, befreiten Erkenntnis, und diese Tat war der inner-
ste Inhalt, die letzte Funktion der zu ihr hinüberleitenden
Ethik.
Was überhaupt ist Ethik? Es ist die Lehre von den Handlungen der
Menschen, die Lehre vom Guten und Bösen. Die Lehre? War
denn der blinde, grund-und similose Wille belehrbar? Selbstver-
ständlich nicht. Selbstverständlich war die Tugend nicht zu leh-
ren, sowenig wie die Kunst es war. Sowenig jemand zum Künstler
wurde dadurch, daß man ihm das Wesen des ästhetischen Zustan-
des erklärte, sowenigwurde einer gut und mied das Böse, weil man
ihm Sinn und Bedeutung des einen und anderen erläuterte, -was
Schopenhauer als Philosoph zu tun bereit war. Allenfalls konnte
die Abstraktion ein wenig nachhelfen, und sie tat es in Gestalt so
mancher Dogmen der verschiedenen Religionen, welche die exo-
terische Einkleidung esoterischen Wissens, das mythische Ge-
wand der Wahrheit, Wahrheit fürs Volk, sozusagen, waren. We-
nig war an den rationalen Motiven einer guten Tat gelegen, wenn
die gute Tat nur geschah. Sie geschah abe~;" aus dem Gefühl, aus
208
einer intuitiven Wahrheitserkenntnis, die auf Durchschauung
beruhte, gerade wie der ästhetische Zustand, und über die Scho-
penhauer sogleich nähere Erklärungen abgeben würde. Vorher
legte er nur noch Gewicht darauf, zu verstehen zu geben, daß
Ethik auch keine Sittenlehre im Sinn eines Kodex sein konnte,
bestehend aus Vorschriften für den Willen. Dem Willen waren
überhaupt keine Vorschriften zu machen. Erwarfrei, absolutund
allmächtig. Freiheit war sogar nur bei ihm, sie existierte aus-
schließlich in der Transzendenz, niemals in der Empirie, der in
Raum, Zeit und Kausalität wesenden Objektivation des Willens,
der Welt. Hier war alles streng kausal, nachUrsacheund Wirkung
gebunden und determiniert; die Freiheit lag jenseits der Erschei-
nung, wie der Wille, aber don war sie vorhanden und absolut
herrschend - hier war die Willensfreiheit. Wie so oft, verhielt es
sich auch mit der Freiheit umgekehrt, als der »gesunde Menschen-
verstand« es wahrhaben wollte: sie lag nicht im Handeln, sondern
im Sein, - nicht im operari, sondern im esse,- im Handeln zwar
also herrschte unentrinnbare Notwendigkeit und Determiniert-
heit, aber das Sein war ursprünglich und metaphysisch frei: Der
Mensch, der das Strafbare getan, hatte zwar notwendig, als empi-
rischer Charakter, unter dem Einfluß bestimmter Motive, so
gehandelt, aber er hätte können anders sein, - und auch der
Gewissens biß, die Gewissensangst zielten aufs Sein, nicht auf das
Handeln.
Kühner, tief gefühlterund dabei harter Gedanke! Er gehört zu den
merkwürdigsten und, alles wohl geprüft, zwingendsten Intuitio-
nen in Schopenhauers Wahrheitsschöpfung. Was damit gerettet,
aus der Empirie in die Transzendenz und Zeitlosigkeit gerettet
und dort in geheimnisvolle Sicherheit gebracht wurde, das war ein
moralisches und aristokratisches Begriffspaar, an dem Schopen-
hauer zweifellos hing und das er ungern in absoluter Determi-
niertheit hätte untergehen sehen: es waren Schuld und Verdienst.
Ihr Bestehen hing ab von der Willensfreiheit, - und wie oft war
über diese schon gestritten worden! Man hatte aber immer die
zeitliche Willensfreiheit damit gemeint, die Willensfreiheit inner-
halb der Erscheinungund in bezugauf den empirischen Charakter
des Menschen, wie dieser ihn selbst in seinem Schicksal erfuhr und
anderen als erfreuliche oder erschreckliche Vorstellung vor Au-
gen führte. Sobald der Wille sich objektiviert hatte, Erscheinung
geworden und die Individuation eingegangen war, gab es keine
Spur von Freiheit mehr und also auch weder Schuld noch Ver-
dienst. Der Mensch handelte, wie er als der, der er war, unter dem
Einfluß bestimmter Motive handeln mußte; aber sein Handeln
209
und Ergehen, sein Lebenslauf, sein Schicksal waren nurdie Erfah-
rung, die er und andere von seinem Sein, seinem außer und hinter
der Erscheinung bestehenden »intelligiblen« Charakter machten,
und dieser war, wie die ganze Welt, das Produkt eines freien
Willensaktes. In jedem Dinge erschien der Wille gerade so, wie er
sich.selbst an sich und außer der Zeit bestimmte. Die Weltwar nur
der Spiegel dieses Willens, und alles darin gehörte zum Ausdruck
dessen, was er wollte, war so, weil er so wollte. Mitdem strengsten
Recht trug sonach jedes Wesen nicht nur das Dasein überhaupt,
sondern auch das ihm eigentümliche Dasein, seine Individualität,
und in allem, was ihm widerfuhr, ja nur widerfahren konnte,
geschah ihm immer recht.
Grausamer, harter Gedanke, - beleidigend, unerbittlich und
stolz! Ihn anzunehmen, widerstrebt unserem Gefühl,-und unser
Gefühl doch gerade ruft seine Mystik auf. Es liegt ihm eine
mystische Wahrheit zum Grunde, durch die jenes Begriffspaar,
Schuld und Verdienst, weit entfernt in Verlust zu geraten, viel-
mehr eine schauerliche Vertiefung erfährt. Der moralischen
Sphäre freilich, im engeren Sinne, sind diese beiden damit entho-
ben. Aber gerade aristokratische Geister, denen an >Gerechtig-
keit< nicht gar viel gelegen war, haben immer dazu geneigt, Schuld
und Verdienst der Moralität zu entziehen. Goethe spricht mit
Vorliebe von »angeborenen Verdiensten«,- was eine in logischer
und moralischer Hinsicht eigentlich absurde WOrtkoppelung ist.
Denn »Verdienst« ist durchaus und von Hause aus ein moralischer
Begriff, und was angeboren ist, also etwa Schönheit, Klugheit,
Vornehmheit, Talent - oder, ins Schicksalsmäßige gewendet:
Glück - dabei kann logischerweise kein Verdienst sein. Damit
man hier von Verdienst reden könne, müßte dergleichen das
Ergebnis freier Wahl, der Ausdruck eines vor der Erscheinung
liegenden Willens dazu sein, -und eben das ist es, was Schopen-
hauer behauptet, wenn er hart und aristokratisch erklärt, daß
einem jeden, dem Glücklichen und dem Unglücklichen, immer
nur recht geschieht.
Aber schnell genug wird die aristokratische Bejahung der U nge-
rechtigkeit und des verschiedenen Loses der Menschen aufgelöst
in die entschiedenste und demokratischste Gleichheit, - einfach
indem die Ungleichheit und Verschiedenheit, sogar schon die
Unterschiedenheit als Täuschung nachgewiesen wird. Schopen-
hauer bedient sich für diese Täuschung eines Namens aus der
indischen Weisheitslehre, die er ob ihrerpessimistischen Überein-
stimmung mit dem eigenen Weltbefunde sehr bewundert: er
nennt sie den »Schleier der Maja«. Aber längst vorher schonhat er
210
sie nach abendländischer Gelehrtenart auf lateinisch ausgespro-
chen: die große Täuschungder Ungleichheitund Ungerechtigkeit
der Lose, der Charaktere, Situationen und Schicksale beruht auf
dem principium individuationis. Verschiedenheit und U ngerech-
tigkeit sind nur Zubehörder Vielheit in Zeitund Raum, die aber ist
bloße Erscheinung, - die Vorstellung, die wir als Individuen
vermöge der Einrichtungen unseres Intellekts von einer Weh
haben, die in wahrer Wirklichkeit die Objektität des einen und
alleinigen Willens zum Leben ist, im Ganzen und im Einzelnen, in
mir und in dir. Das aber erkennt das vom Weltganzen sich ·so
einzig abgesondert fühlende Individuum nicht- und wie sollte es,
da die Bedingungen seiner Erkenntnis, der »Schleier der Maja«,
der seinen Blick und die Welt umhüllt, ihm die Anschauung der
Wahrheit verwehrt? Es sieht nicht das Wesen der Dinge, das eines
ist, sondern dessen Erscheinungen als getrennt und verschieden, ja
entgegengesetzt: Lust und Qual, den Peiniger und den Dulder,
das Freudenleben des einen und das Jammerdasein des anderen.
Du bejahst, nämlich für dich selbst, das eine, und verneinst,
besonders in Hinsicht auf dich selbst, das andere. Der Wille, der
dein Ursprung und Wesen ist, läßt dich nach dem Glück, den
Freuden und Genüssen des Lebens verlangen, du streckst die
Hände danach, du drückst siefest an dich,- und es entgeht dir, daß
du mit solcher Bejahung des Willens die Qualder Weltmit bejahst
und an dich drückst. Das Böse, das du dabei tust, das du zufügst,
deine Empörung andererseits über die Ungerechtigkeit des Le-
bens, der Neid aber auch, die Sehnsucht und das Verlangen, dein
Weltbegehren-alldies kommt aus der Täuschung der Vielheit,
dem lrnum, daß du nicht die Welt bist und die Welt nicht du,- ja
aus der illusionären Unterscheidung zwischen »ich« und »du«
kommt dies alles, dem Blendwerk der Maja.
Auch deine Todesfurcht kommt daher. Der Tod ist nichts als die
Aufhebung eines Irrtums,- einer Verirrung, denn jede Individua-
tion ist eine Verirrung. Er ist nichts als das Verschwinden einer
illusionären Scheidewand, die das Ich, in dem du dich eingeschlos-
sen findest, von der übrigen Welt trennt. Du glaubst, wenn du
stirbst, wird diese übrige Welt fortbestehen und du, schreck-
licherweise, wirst nicht mehr sein. Ich aber sage dir: diese Weh, die
deine Vorstellung ist, wird nicht mehr sein, du aber, nämlich
gerade das in dir, was den Tod scheut, was ihn nicht will, weil es der
Wille zum Leben ist, - du wirst bleiben, wirst leben, denn der
Wille, aus dem du bist, wird das Tor zum Leben immer zu finden
wissen. Ihm gehön ja die ganze Ewigkeit, und mit dem Leben, das
sie als Zeit erkennt, während sie in Wahrheit stete Gegenwan ist,
211
fällt dir auch die Zeit wieder zu. Deinem Willen ist das Leben mit
allen Lüsten und Qualen sicher, solange er es nur will. Dir wäre
besser, er wollte es nicht ...
Unterdessen lebst du als der, der du bist. Du siehst und liebst, du
schaust und sehnst dich, du begehrst das fremde, ach so fremde
und andere, von dir unterschiedene Sehnsuchtsbild, du leidest
darum, du möchtest es an dich ziehen, es sein ... Aber ein Ding zu
sein ist etwas ganz anderes, unvergleichlich Lästigeres und Kläg-
licheres, als es zu sehen, und die Sehnsucht ist eine Fopperei,
verursacht durch Vorstellung. Du selbst bist dir, dein Leib ist dir
gegeben einmal als Vorstellung, wie die ganze übrige Welt auch,
zugleich aber als Wille, -und er ist das einzige in der Welt, was dir
zugleich auch als Wille gegeben ist. Alles übrige ist dir nur
Vorstellung. Die ganzeWeltist für dich ein Ballett, ein Schauspiel,
dem nach deinem ursprünglichen und natürlichen Dafürhalten
bei weitem nicht so viel Wirklichkeit zukommt wie dir, dem
Zuschauer,- das bei weitem nicht in dem Grade und in dem Sinne
ernst zu nehmen ist wie du. Dem im principium individuationis
befangenen, vom Schleier der Maja umhüllten Ich erscheinen alle
übrigen Wesen als Larven und Phantome, denen er eine auch nur
annähernd so große Wichtigkeit und Seriosität des Seins, wie sich
selber, beizumessen schlechterdings außerstande ist. Auf dich,
den einzig wirklich Seienden, nicht wahr?, kommt alles an. Du bist
der Mittelpunkt der Welt (du bist es, bist Mittelpunkt deiner
Welt), und an deinem Wohl, darauf, daß dir das Leiden des Lebens
möglichst fernbleibe, dir seine Wonnen möglichst reichlich zu-
kommen, ist alles gelegen. Was mit den anderen geschieht, ist von
unvergleichlich geringerer Erheblichkeit, es tut dir nicht weh
noch wohl.
Das ist der Standpunkt des natürlichen, ungebrochenen und völlig
unerleuchteten Egoismus, die unbedingte Befangenheit im princi-
pium individuationis. Die Durchschauung dieses Prinzips; die
intuitive Erkenntnis seines vexatorischen, die Wahrheitverschlei-
ernden Charakters; die aufdämmernde Ahnung von der Unter-
schiedlosigkeit von Ich und Du; die Gefühlseinsicht, daß· der
Wille in allem und allen der eine und selbe ist: das ist der Beginn
und das Wesen aller Ethik. Will sagen: sie handelt von dieser
Erkenntnis, dieser Gefühlseinsicht und beschreibt ihre segensrei-
chen Folgen, aber sie lehrt sie nicht, kann sie nicht lehren, denn
sowenig je abstraktive Ästhetik einen Künstler gemacht hat,
sowenig lehrst oder lernst du die Tugend. Der Mensch erfährt sie,
wie jener indische Lehrling sie erfuhr, an dessen Blick ein großer
Geist alle Wesen der Welt, lebende und leblose, vorüberführte
212
und bei einemjedendas Wort sprach: »Tattwamasi«- »Dies bist
du.« In diesem Wort, dieser Einsicht, einem Geschenkder Intui-
tion, ist alle Tugend, Gerechtigkeit, alle Güte und aller Edelmut
beschlossen - und in seiner wahnbefangenen Unkenntnis das
Gegenteil von alldem, nämlich das Böse. Böse ist der Mensch, der,
sobald keine äußere Macht ihn daran hindert, Unrecht zufügt,-
das heißt: ein solcher, nicht genug, daß er den Willen zum Leben,
wie er in seinem Leibe erscheint, bejaht, so verneint er auch den in
anderen Individuen erscheinenden Willen und sucht ihr Dasein zu
vernichten, sowie sie den Bestrebungen seines eigenen Willens im
Wege sind. Ein wilder, über die Bejahung des eigenen Leibes
hinausgehender Wille spricht sich in dem bösen Charakter aus,
vor allem aber eine so tiefe Befangenheit der Erkenntnis in der
Erscheinung und im principium individuationis, daß sie· an dem
von diesem gesetzten Unterschied zwischen seiner eigenen Per-
son und allen anderen eisern festhält, weshalb er denn das Wesen
dieser anderen dem seinen für völlig fremd hält, durch eine weite
Kluft von ihm geschieden, und buchstäblich nur leere Larven in
ihnen sieht, während seinem tiefsten Dafürhalten nach einzig ihm
Realität zukommt.
Danach ergibt sich die Bestimmung des guten Menschen von
selbst: zumal, wenn man zwischenein den Übergangstyp zwi-
schen ihm und dem bösen, dengerechtenMenscheninsAugefaßt.
Gerechtigkeit ist schon Durchschauung des principium indivi-
duationis, aber geringeren Grades, mehr ein Negativum als ein
Positivum, die Verneinung des Unrechts. Der gerechte Mensch
geht in der Bejahung seines eigenen Willens nicht bis zur Vernei-
nung des in anderen Individuen sich darstellenden. Er unterläßt
es, Leiden über andere zu verhängen, um das eigene Wohlsein zu
mehren. Nicht wie dem Bösen ist ihm das Individuationsprinzip
eine absolute Scheidewand, sondern durch sein Tun und Lassen
bekundet er, daß er sein eigenes Wesen, den Willen zum Leben als
Ding an sich, auch in fremden, ihm nur als Vorstellung gegebenen
Erscheinungen wiedererkennt und sich selbst wenigstens so weit
in ihnen wiederfindet, daß er sich hütet, sie zu verletzen. -Das ist
viel; und es ist immer auch gleich schon mehr: die eigentliche Güte
ist immer schon gebunden darin. Man halte sie nicht für schwäch-
lich! Der gute Mensch ist durchaus keine ursprünglich schwä-
chere Willenserscheinung als der böse, -es sei denn, er wäre bloß
gutmütig, wobei in der Tat nicht viel herauskommt. Nein, son-
dern es ist die Erkenntnis, die in ihm über den Willen obsiegt.
Welche Erkenntnis? Aber es ist klar: diese ist es, daß der Unter-
schied zwischen ihm und anderen auf einer zum Bösen verführen-
213
den Illusion beruht, täuschende Erscheinung ist, daß das An-Sich
seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich der
Wille zum Leben, der sich in allem verkörpert, auch in den Tieren
und der ganzen Natur, weshalb er denn nicht einmal ein Tier
quälen wird.
Hier jedoch darf man nicht bei Negationen stehenbleiben und in
solchen reden: Güte ist positiv. Sie übtdie Werke der Liebe. Sie tut
es aus tiefgefühltem Grunde: denn täte sie's nicht, so käme sie sich
vor wie einer, der heute hungerte, um morgen mehr zu haben, als
er genießen kann. Ganz so erschiene es dem »guten« Menschen,
andere darben zu lassen, während er selber sich's wohl sein ließe.
Ihm ist der Schleier der Maja durchsichtig geworden, die große
Täuschung hat ihn verlassen, durch welche der in die Erscheinung
versprengte Wille hier zu genießen und dort zu leiden, zu darben
scheint, da es doch immer derselbe Wille ist und dieselbe Qual, die
er zugleich verhängt und duldet. Liebe und Güte sind Mitleid, aus
der Erkenntnis des »Tat twam asi«, der Lüftung des Maja-Schlei-
ers,- wie denn schon Spinoza gesagt hat: »Benevolentia nihil aliud
est, quam cupiditas excommiseracioneorta«- »Die Güteistnichts
anderes, denn aus Mitleid geborene Liebe.« Daraus aber erhellt,
daß, wie Gerechtigkeit sich zur Güte steigert, diese wiederum
steigerungsfähig ist: nicht nur bis zur uneigennützigsten Liebe
und großmütigsten Selbstaufopferung, sondern geradezu zur
Heiligkeit. Denn ein Mensch solcher Liebeserkenntnis wird das
Leiden aller Lebenden als das seine betrachten und sich den
Schmerz der ganzen Welt zu eigen machen. Er sieht das Ganze, das
Leben, als einen inneren Widerstreit des Willens und beständigen
Leidens, die leidende Menschheit, die leidende Tierheit, und
Erkenntnis des Wesens der Dinge an sich wird ihm zum Quietiv
des W ollens. Der Wille wendet sich in ihm vom Leben ab, denn da
er dieses aus Mitleidserkenntnis zu verneinen gezwungen ist,-wie
könnte er den Willen dazu, auch in sich selbst, noch bejahen,
dessen Werk, Ausdruck und Spiegel das Leben ist? Eines solchen
Erkennenden Entschluß ist die Entsagung, die Resignation, die
Gelassenheit. In ihm ereignet sich der Übergang von der Tugend
zum hohen Paradox der Askese, - einem großen Paradox in der
Tat: denn es geschieht hier, daß eine Individuation des Willens das
in ihr erscheinende und durch ihren Leib sich ausdrückende
Wesen verleugnet, daß ihr Tun ihre Erscheinung Lügen straftund
in offenen Widerspruch zu ihr tritt. Jene zeitweilige erlösende
Stillegung des Willens, auf der das Glückdes ästhetischen Zustan-
des beruht, - im Entsagenden, im Asketen, im Heiligen ist sie
vollendet. Auf immer hat sich in ihm die Erkenntnis zur Herrin
214
des Willens gemacht, überstrahlt ihn gänzlich und hebt ihn auf. Er
trägt der Welt Sünde, er sühnt sie und ist Priester und Opfer
zugleich. Wie der Leib den Willen überhaupt, so sprechen die
Zeugungsorgane die über das individuelle Leben hinausgehende
Bejahung des Willens aus. Der Asket verweigen die Befriedigung
des Geschlechts: seine Keuschheit ist das Zeichen, daß mit dem
Leben dieses Leibes auch der Wille, dessenErscheinunger ist, sich
aufhebt. Was definiert den Heiligen? Daß er nichts tut von allem,
was er möchte, und alles tut, was er nicht möchte. Wir kennen
erschütternde geistige Beispiele dieses Verhaltens, - sahen es
geübt von geborenen Asketen und priesterlichen Selbstopferern,
welche unter dithyrambischen Verherrlichungen des machttrun-
kenen Willens die Passion ihres Lebens zelebrierten, indem sie
nichts taten von allem, was sie gern getan hätten, und alles, womit
sie sich weh taten, - Schüler des Philosophen Schopenhauer von
Hause aus und erst recht, als sie es nicht mehr sein wollten ...
Asketische Keuschheit nun, zur allgemeinen Maxime geworden,
würde das Ende des Menschengeschlechts herbeiführen. Bei dem
Zusammenhang aller Willenserscheinungen aber würde mit der
höchsten davon, dem Menschen, auch ihr schwächerer Wider-
schein, die Tierheit, dahinfallen, und da hiermit alle Erkenntnis
aufgehoben wäre, so verginge- weil ohne Subjekt kein Objekt-
von selbst auch die ganze übrigeWeltins Nichts. Der Mensch ist
der potentielle Erlöser der Natur. Darum sagt Angelus Silesius,
der Mystiker:

Mensch! Alles liebet dich; um dich ist sehr gedrange:


Es läuft dir alles zu, daß es zu Gott gelange.

Dies ist, in großen und groben Zügen, der Inhalt des Hauptwerkes
von Anhur Schopenhauer, welchem er den Titel gab: >Die Welt als
Wille und Vorstellung<, - eine höchst sachliche Überschrift, die
aber in dreiWortennicht nur den Inhalt des Buches, sondern auch
.den Menschen, der es schuf, in seiner machtvollen Dunkelheit und
ebenso gewaltigen Helle, seiner tiefen Sinnlichkeit und strengen
lauteren Geistigkeit, seiner Leidenschaft und seinem Erlösungs-
drange vollkommen ausspricht. Es ist ein Phänomen von einem
Buch, dessen Gedanke, im Titel auf die kürzeste Formel gebracht
und in jeder Zeile gegenwärtig, nur einer ist und in den vier
Abschnitten oder besser: symphonischen Sätzen, aus denen es
sich aufbaut, zur vollständigsten und allseitigsten .Entfaltung
gelangt - ein Buch, in sich selber ruhend, von sich selbst durch-
drungen, sich selber bestätigend, indem es ist und tut, was es sagt
215
und lehrt: Überall, wo man es aufschlägt, ist es ganz da, braucht
aber, um sich in Zeit und Raum zu verwirklichen, die ganze
Vielfältigkeit seiner Erscheinung, die sich auf mehr als dreizehn-
hundert Druckseiten, in fünfundzwanzigtausend Druckzeilen
entfaltet, während es in Wirklichkeit ein >nunc stans< ist, die
stehende Gegenwart seines Gedankens, so daß, wie auf nichts
anderes, die Verse des >Divan< darauf passen.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe,
Und, was die Mitte bringt, ist offenbar
Das, was zu Ende bleibt und anfangs war.
Es ist ein Werk von solcher kosmischen Geschlossenheit und
einschließenden Gedankenkraft, daß man eine sonderbare Erfah-
rung damit macht: Hat es einen längere Zeit beschäftigt, so kommt
einem alles andere - aber auch alles -, was man zwischendurch
oder gleich danach liest, fremd, unbelehrt, unrichtig, willkürlich
vor, undiszipliniert von der Wahrheit ... Der Wahrheit? Ist es
denn so wahr? Ja, im Sinne höchster und zwingendster Aufrich-
tigkeit. Aber das Adjektiv bedeutet ein Ausweichen. Bringt und
enthält es die Wahrheit? Schopenhauer hat das nicht so klippund
klar, nicht mit dem fast lästerlichen Anspruch behauptet, mit dem
Hegel es tat, der seinen Schülern erklärte: »Meine Herren, ich
kann wohl sagen: Ich rede nicht nur die Wahrheit, ich bin die
Wahrheit.« Das entsprechende Resurne Schopenhauers lautet:
»Die Menschheit hat Einiges von mir gelernt, was sie nie wieder
vergessen wird.« Ich finde das sowohl weltmännischer wie be-
scheidener, wie auch annehmbarer. Um Annehmbarkeit aber
handelt es sich, wenn man von Wahrheit spricht. Die Wahrheit,
scheint mir, ist nicht an Worte gebunden, sie fällt nicht mit einem
bestimmten Wortlaut zusammen, - vielleicht sogar ist das ihr
Haupt-Kriterium. Daß man, was Schopenhauer sagt, nie wieder
vergißt, wird daran liegen, daß es nicht gerade an die Worte
gebunden ist, die er dafür braucht, daß man dem Gesagten auch
andere Worte unterlegen könnte, -und doch würde ein Gefühls-
kern, ein Wahrheitserlebnis bleiben, so annehmbar, so hieb- und
stichfest, so richtig, wie ich es sonst in der Philosophie nicht
gefunden habe. Man kann damit leben und sterben,- namentlich
sterben: ich wage zu behaupten, daß die schopenhauerische
Wahrheit, daß ihre Annehmbarkeit in der letzten Stunde standzu-
halten, und zwar mühelos, ohne Denkanstrengung, ohne Worte
standzuhalten geeignet ist. Nicht umsonst sagt Schopenhauer:
»Der Tod ist der eigentliche inspirierende Gen~us oder der Musa-
n6
get der Philosophie ... Schwerlich sogar würde, auch ohne den
Tod, philosophiert werden.« Er ist ein großer Kenner und Künder
des Todes- zu dem Schönsten, man möchte sagen Tiefsten (aber
seinWerk ist überall gleich tief), was er geschrieben hat, gehört das
große Kapitel im zweiten Bande der >Welt als Wille und Vorstel-
lung<: >Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit
unseres Wesens an sich<. Und diese Kennerschaft hängt mit
seinem ethischen Pessimismus zusammen, der mehr als eine
Lehre, der ein Charakter, eine künstlerische Gesinnung, eine
Lebensluft ist, für den der noch junge Nietzsche seine Liebe
gesteht, wenn er sagt: »Mir behagt an Wagner, was mir an
Schopenhauer behagt: Die ethische Luft, der faustische Duft,
Kreuz, Tod und Gruft.« Es ist die geistige Lebensluft der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts,- Jugend- und Heimatluft
für uns, die wir heute die Sechzig überschritten haben. Wir mögen
in manchen Stücken über sie hinausgekommen sein; aber daß wir
ihr dankbare Anhänglichkeit bewahren, dafür ist diese kleine
Abhandlung ein Zeugnis.- Auch Musik gehört zu dieser ethisch-
pessimistischen Lebensluft: Schopenhauer ist sehr musikalisch:
wiederholt nannte ich sein Hauptwerk eine viersätzige Sympho-
nie; und in ihrem dritten, dem »Objekt der Kunst« gewidmeten
Satz hat er die Musik gefeiert wie kein anderer Denker es je getan,-
einen völlig besonderen Platz weist er ihr nicht neben, sondern
über den anderen Künsten zu, weil sie nicht, wie diese, Abbild der
Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei
und also zu allem Physischen derWeltdas Metaphysische, zu aller
Erscheinung das Ding an sich darstelle. Seine Philosophie legt die
Vermutung nahe, daß auch hier der Intellekt dem Willen dient,
und daß Schopenhauer nicht die Musik liebte, weil er ihr solche
metaphysische Bedeutung zumaß, sondern daß er dies tat, weil er
sie liebte. Diese Liebe aber, soviel ist gewiß, steht in unmittelba-
rem seelischen Zusammenhange mit seiner Kennerschaft in Din-
gen des Todes, und er hätte wohl sagen können: »Schwerlich sogar
würde, auch ohne den Tod, musiziert werden.«
>>Wer sich für das Leben interessiert«, habe ich im >Zauberberg<
gesagt, »der interessiert sich namentlich für den Tod.« Das ist die
Spur Schopenhauers, tief eingedrückt, haltbar für das ganze Le-
ben. Es wäre auch schopenhauerisch gewesen, wenn ich hinzuge-
fügt hätte: »Wer sich für den Tod interessiert, der sucht in ihm das
Leben«; und ich habe es, wenn auch weniger epigrammatisch,
gesagt: als ganz junger Dichter, als es galt, den Helden meines
J ugendromans, Thomas Buddenbrook, zu Tode zu bringen, und
als ich es ihm gönnte, jenes große Kapitel> über den Tod< zu lesen,
217
unter dessen frischem Eindruck ich eben selbst, der dreiundzwan-
zig- oder vierundzwanzigjährige Autor, stand. Es war ein großes
Glück, und in meinen Erinnerungen habe ich gelegentlich davon
erzählt, daß ich ein Erlebnis wie dieses nicht in mich zu verschlie-
ßen brauchte, daß eine schöne Möglichkeit, davon zu zeugen,
dafür zu danken, sofort sich darbot, dichterische Unterkunft
unmittelbar dafür bereit war. Ihm, dem leidenden Helden meines
Bürger-Romans, des Werkes, das Last, Würde, Heimat und Segen
meines Jünglingsalters war, schenkte ich das teure Erlebnis,
das hohe Abenteuer, in sein Leben, dicht vor dem Ende, wob
ich es erzählend ein und ließ ihn im Tode das Leben finden, die
Erlösung aus den Fesseln seiner müden Individualität, die
Befreiung .von einer Lebensrolle, die er symbolisch genommen
und mit Tapferkeit und Klugheit repräsentiert, die aber
s~inem Geist, seinem Weltverlangen niemals genuggetan hatte
und ihm ein Hindernis gewesen war, etwas anderes und Besseres
zusem.
Schopenhauer ist recht etwas für junge Leute, - gewiß aus dem
Grunde, weil seine Philosophie die Konzeption eines jungen
Mannes ist. Als >Die Welt als Wille und Vorstellung< erschien, der
erste Band, der das System enthält, I 8I 8, war er ein Dreißigjähri-
ger, aber die Ausarbeitung hatte vier Jahre gedauert, und die
Gedankenerlebnisse, aus denen der Kristall zusammenschoß,
liegen zweifellos noch weiter zurück: er war, als sein Buch sich in
ihm bildete, kaum älter als ich, als ich es las. Er ist zum alten Manne
geworden über der Ausgestaltung, sammelnden Kommentie-
rung, zähen und unermüdlichen Sicherung und Erhärtung dessen,
was ein Geschenk seiner Jugend war, so daß er das seltsame
Schauspiel eines Greises bietet, der sich bis zum letzten Augen-
blick, in unheimlicher Treue, umseinJugendwe~kmüht. Aberein
solches blieb es im Innersten, und nicht umsonst weist Nietzsche
auf diese Früh-Empfängnis hin, indem er sagt, daß man die
Philosophie seiner Jahre habe, und daß Schopenhauers Weltge-
dicht das Gepräge des Lebensalters trage, in welchem das Eroti-
sche dominiert. Und der Sinn für den Tod- darf man hinzufügen;
denn junge Leute sind mit dem Tode viel vertrauter und wissen
viel mehr von ihm als alte, weil sie mehr von der Liebe wissen.
Todes-Erotik als musikalisch-logisches Gedankensystem, gebo-
ren aus einer enormen Spannung von Geist und Sinnlichkeit -
einer Spannung, deren Ergebnis und überspringender Funke eben
Erotik ist: das ist das Erlebnis verwandt entgegenkommender
Jugend mit dieser Philosophie, die sie nicht moralisch, sondern
vital, sondern persönlich versteht, - nicht nach ihrer Lehre, ich
2I8
meine: nach ihrer Predigt, sondern nach ihrem Wesen, -und die
sie recht damit versteht.
»Wo ich sein werde, wenn ich tot bin?<< fragt Thomas Budden-
brook. >>Aber es ist so leuchtend klar, so überwältigend einfach! In
allen denen werde ich sein, die je und je Ich gesagt haben, sagen und
sagen werden: besonders aber in denen, die es voller, kräftiger,
fröhlicher sagen ... Irgendwo in der Welt wächst ein Knabe auf,
gut ausgerüstet und wohl gelungen, begabt, seine Fähigkeiten zu
entwickeln, gerade gewachsen und ungetrübt, rein, grausam und
munter, einervon diesen Menschen, deren Anblick das Glückder
Glücklichen erhöht und die Unglücklichen zur Verzweiflung
treibt:- Das ist mein Sohn. Das bin ich, bald ... bald ... sobald der
Tod mich von dem armseligen Wahne befreit, ich sei nicht sowohl
er wie ich ... Habe ich je das Leben gehaßt, dies reine, grausame
und starke Leben? Torheit und Mißverständnis! Nur mich selbst
habe ich gehaßt, dafür, daß ich es nicht ertragen könnte. Aber ich
liebe euch ... ich liebe euch alle, ihr Glücklichen, und bald werde
ich aufhören, durch eine enge Haft von euch ausgeschlossen zu
sein; bald wird das in mir, was euch liebt, wird meine Liebe zu euch
frei werden und bei und in euch sein ... bei und in euch allen!-«
Man verzeihe doch die Wiederanführung dieser Jugend-Lyrik,
eingegeben von dem Rausch, in den ein metaphysischer Zauber-
trank den Zwanzigjährigen versetzt hatte! Ich bezeuge, daß die
organische Erschütterung, die er bedeutete, nur mitderverglichen
werden kann, welche die erste Bekanntschaft mit der Liebe und
dem Geschlecht in der jungen Seele erzeugt, -und dieser Vergleich
ist nicht zufällig. Das Zitat aber geschieht, um zu zeigen, daß man
im Sinn eines Philosophen denken kann, ohne im geringsten nach
seinem Sinn zu denken, will sagen: daß man sich seiner Gedanken
bedienen- und dabei denken kann, wie er durchaus nicht gedacht
haben will. Hier dachte freilich einer, der außer Schopenhauer
auch schon Nietzsche gelesen hatte und das eine Erlebnis ins
andere hineintrug, die sonderbarste Vermischung mit ihnen an-
stellte. Aber worauf es mir ankommt, ist der naive Mißbrauch
einer Philosophie, den gerade Künstler sich wohl zu >schulden<
kommen lassen, und auf den ich hindeutete, als ich sagte, daß eine
Philosophie oft weniger durch die Moral und Weisheitslehre
wirkt, die die intellektuelle Blüte ihrer Vitalität ist, als durch diese
Vitalität selbst, ihr Essentielles und Persönliches, - durch ihre
Leidenschaft also mehr als durch ihre Weisheit. Auf diese Weise
werden Künstler oft zu >Verrätern< einer Philosophie, und so
wurde Schopenhauer von Wagner >verstanden<, als dieser sein
erotisches Mysterienspiel >Tristan und Isolde< gleichsam in den
219
Schutz von Schopenhauers Metaphysik stellte. Was von Schopen-
hauer auf Wagner wirkte und worin dieser sich wiedererkannte,
war die Welterklärung aus dem »Willen<<, dem Triebe, die eroti-
sche Konzeption der Welt (das Geschlecht als >>Brennpunkt des
Willens«), von der die T ristan-Musikund ihre Sehnsuchtskosmo-
gonie bestimmt sind. Man hat bestritten, daß der >Tristan< von
schopenhauerischer Philosophie beeinflußt sei, -mit Recht, so-
weit die »Verneinung des Willens<< in Frage kommt: denn es
handelt sich ja um ein Liebesgedicht, und in der Liebe, im Ge-
schlecht bejaht sich der Wille am stärksten. Aber eben als Liebes-
mysterium ist das Werk bis ins Letzte schopenhauerisch gefärbt.
Es wird darin gleichsam die erotische Süßigkeit, die berauschende
Essenz aus der Philosophie Schopenhauers gesogen, die Weisheit
aber liegengelassen.
So gehen Künstler mit einer Philosophie um, -sie >Verstehen< sie
auf ihre Art, eine emotionelle Art: denn nur zu emotionellen, zu
Leidenschafts-Ergebnissen braucht die Kunst ja zu kommen,
nicht zu moralischen, wozu die Philosophie, als eine Lehrerin,
sich jederzeit angehalten fühlte. Mochte sie auch keine staatlich
besoldete >>Universitäts-Philosophie<<, mochte sie auch »nieman-
dem untertan« sein- es war doch zu wünschen, daß ihre morali-
schen Ergebnisse möglichst mit der herrschenden Moral - im
Abendland also der christlichen - übereinstimmten, daß sie als
Weisheitsergebnis dem religiösen Ergebnis entsprachen und es
bestätigten. Man möge selbst Atheist sein - und Schopenhauer
war es-: ist man nur Metaphysiker, so bleibt es immer möglich, zu
Resultaten zu gelangen, die die Forderungen religiöser Moral, von
einer andern Seite her, in wünschenswerter Weise bekräftigen.
Schopenhauer hatte das Glück und fand die Möglichkeit, aus
höchst sensualistisch -leidenschaftlichen Erlebnis-Voraussetzun-
gen zu höchst moralischen Lehr-Ergebnissen zu kommen: zu
einer mit dem Christentum übereinstimmenden Mitleids- und
Erlösungslehre, die aus dem illusionären Charakter des Lebens,
dem Blendwerk des principii individuationis abgeleitet wird:
Mitleid, christliche Liebe, die Aufhebung des Egoismus ergeben
sich aus der Erkenntnis, welche die Täuschung des Ich und Du, des
Schleiers der Maja durchschaut. Eine solche Obereinstimmung
kann den Philosophen nicht überraschen, wenn er, wie Schopen-
hauer es tat, einen Parallelismus zwischen Religion und Philoso-
phie statuiert und in jener >>Metaphysik fürs Volk<< sieht, welche,
da sie auf die große Masse des Menschengeschlechts berechnet ist,
die Wahrheit bloß in allegorischer Gestalt bieten kann, während
die Philosophie sie in ihrer Reinheit spendet. Er selbst sagt: »Die
220
moralischen Resultate des Christentums, bis zur höchsten As-
kese, findet man bei mir rationell und im Zusammenhang der
Dinge begründet: während sie es im Christentum durch bloße
Fabeln sind. Der Glaube an diese schwindet täglich mehr: daher
wird man sich zu meiner Philosophie wenden müssen.« Aber die
Auffassung, daß es sich bei Religion und Philosophie nur um den
Unterschied von exoterischer und esoterischer Wahrheit handele,
von denen die eine unannehmbar geworden sei, so daß nun die
andere für sie einspringen müsse,- diese Auffassung hindert nicht,
daß auch für das Gewissen des Philosophen nicht die religiöse
Moral es ist, die der Bestätigung durch die Philosophie bedarf,
sondern umgekehrt; und für mich ist kein Zweifel, daß ein
Philosoph durch die Obereinstimmung der moralischen Ergeb-
nisse seiner Welterklärung mit den Lehren der Religion sich über
die Wahrheit seiner Philosophie sehr beruhigt findet, und daß
auch Schopenhauer sich als Philosoph dadurch legitimiert fühlte.
»Niemandem war er untertan.« Aber daß sein Denken ihn bei-
spielsweise zur ethischen Verurteilung des Selbstmords führte,
weil nämlich darin der Wille zum Leben sich bejahe, statt sich zu
verneinen, dafür war er seinem Denken doch dankbar, denn -
»Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bißchen andern
Worten.«
Im Grunde hatte er Glück. Sowenig wie mit der Religion geriet er
mit dem Staat in Konflikt, und zwar gerade dank der Geringschät-
zung, die er ihm entgegenbrachte und die ihn in der Hegel'schen
Staatsvergottung die größte aller Philistereien erblicken ließ. Sei-
nerseits beurteilte er den Staat als ein notwendiges übel und
versicherte diejenigen seiner kritiklosen und nachsichtsvollen
Nicht-Einmischung, »welche die schwere Aufgabe haben, Men-
schen zu regieren, d. h. unter vielen Millionen eines, der großen
Mehrzahl nach, grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen,
unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten
und querköpfigen Geschlechtes, Gesetz, Ordnung, Ruhe und
Friede aufrechtzuerhalten und die Wenigen, denen irgendein
Besitz zu Teil geworden, zu schützen gegen die Unzahl derer,
welche nichts als ihre Körperkräfte haben«.- Das lautet grimmig
und erheiternd, es erregt manche Zustimmung in uns. Aber nähert
diese Auffassung des Staates als einer Schutzanstalt für den Besitz
sich nicht ebenso, nurvon einer andern Seite her, der» Philisterei «,
wie Hegels Apotheose der Politik und seine Bienenstock-Lehre
vom Staate als Gipfelpunkt alles menschlichen Strebens und als
»absolut vollendetem ethischem Organismus«? Wir kennen die
widermenschlichen Schrecken einer Doktrin, nach welcher es die
221
Bestimmung des Menschen wäre, im Staate aufzugehen, kennen
sie aus ihren Konsequenzen: denn der Faschismus sowohl wie der
Kommunismus kommen vonHegelher, und Schopenhauer selbst
hat die gedankliche Weiterführung der Hegel' sehen Staats-Verab-
solutierung zum Kommunismus noch mit Augen gesehen. Aber
so völlig wir die Empörung mitempfinden, die er einer Staatstota-
lität entgegenbrachte, durch welche, wie er sagte, »das hohe Ziel
unseres Daseyns ganz den Augen entrückt wird«: -der Totalität
des Menschlichen, von der das Politisch-Soziale ein Teil ist,
scheint uns denn doch auch wieder nicht gedient mit dem ironi-
schen Verzicht des philosophischen Klein-Kapitalisten auf jede
Einmischung in diese Sphäre, dem Verzicht des Geistes auf jede
politische Leidenschaft, nach dem Wahlspruch: >>Ich danke Gott
an jedem Morgen, daß ich nicht brauch' fürs Heil'ge Röm'sche
Reich zu sorgen« -einem Wahlspruch, wie er dem Staate so passen
könnte, einer wahren Philisterei und Drückebergerei und einer
Devise, von der man kaum versteht, wie ein geistiger Kämpfer
gleich Schopenhauer sie sich zu eigen machen konnte.
Zur Erklärung einer solchen, dem vollkommensten politischen
Konservatismus gleichkommenden »interesselosen Anschau-
ung« des Staates genügt natürlich nicht das tief besorgte Interesse
Schopenhauers an der Erhaltung seines kleinen, aber für den
philosophischen Junggesellen ausreichenden, von seirtem Vater,
einem Danziger Kaufmann, ererbten Vermögens; ein berechtigtes
und im Grunde hoch geistiges Interesse: denn dieser bürgerliche
Besitz, zu dessen Büttel er in loyaler Naivität den Staat degra-
dierte, war sein ein und alles, seine Stütze und sein Stab in dieser
niederträchtigen Welt, er schuf ihm soziale Freiheit, die U nabhän-
gigkeit und Einsamkeit, die er brauchte, seinWerk zu tun; und je
unfähiger er sich fühlte, sich - etwa in einem Amte - selber sein
Brot zu verdienen, desto dankbarer war er dem seligen Heinrich
Floris Schopenhauer zeit seines Lebens für die unschätzbare
Hinterlassenschaft.- Aber seine apolitisch-antipolitische, id est
konservative Gesinnung wurzelt selbstverständlich tiefer, sie er-
gibt sich aus seiner Philosophie, für die eine Verbesserung und
Höherführung der Welt als der Erscheinung eines an sich bösen
und schuldhaften Prinzips, des Willens, grundsätzlich ausge-
schlossen ist, und die auf Erlösung, nicht auf Befreiung zielt. Wie
sollte ein Denken, für das die Freiheit jenseits der Erscheinung
liegt, mit der Idee politischer Freiheitviel anzufangen wissen? Vor
allem aber erklärt sich die politische Indifferenz dieser Philoso-
phie aus ihrem Objektivismus, aus dem Heilswert, den sie der
objektiven Anschauung, und ihr allein, zuschreibt. Für Schopen-
222
hauerist ja Genialität nichts anderes als Objektivität, dasheißtdie
Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, nur als erkennendes
Subjekt, als »klares Weltauge«. Hier berührt er sich mit Goethe,
den er grenzenlos bewunderte, und auf dessen prägende Wirkung
ja ebenfalls die Politikfremdheit der deutschen Bildung zurück-
geht. Die Philosophie, erklärt Schopenhauer, fragt nicht nach dem
Woher und Wohin und Warum, sondern allein nach dem Was der
Welt: sie hat das in allen Relationen erscheinende, selbst aber
ihnen nicht unterworfene, immer sich gleicheWesender Welt, die
Ideen derselben, zum Gegenstand. Von solcher Erkenntnis geht,
wie die Kunst, so auch die Philosophie - es geht davon endlich
auch diejenige Gemütsverfassung aus, die zur Heiligkeit und zur
Erlösung der Welt führt. Kunst und Philosophie sind also quieti-
stisch (denn reiner Objektivismus ist Quietismus). Sie wollen
beileibe nichts ändern, sondern nur anschauen. Auf den >Fort-
schritt< ist Schopenhauer daher sehr schlecht zu sprechen und
noch schlechter auf das politische Handeln des Volkes, die Revo-
lution. Sein Verhalten im Jahre I848 war von einer grimmigen
Mesq uinerie und Komik- man kann es nicht anders sagen. Nicht
im mindesten war sein Herz bei denen, die, schwärmerisch genug,
dem deutschen öffentlichen Lebendamals eine Richtung zu geben
hofften, welche die ganze Geschichte Europas bis aufunsereTage
zum glücklicheren bestimmt hätte und die im Interesse jedes
geistigen Menschen lag: die demokratische Richtung. Das Volk
nannte er nicht anders als »die souveräne Canaille« und lieh dem
Offizier, der von seiner Wohnung aus die Barrikaden-Männer
rekognoszierte, ostentativ seinen »doppelten Opernkucker«, da-
mit er besser auf sie schießen lassen könnte. Ja, in seinem Testa-
ment setzte er »den in Berlinerrichteten Fonds zur Unterstützung
der in den Aufruhr- und Empörungskämpfen der Jahre I 848 und
I 849 für Aufrechterhaltung und Herstellung der gesetzlichen
Ordnung in Deutschland invalide gewordenen preußischen
Soldaten, wie auch der Hinterbliebenen solcher, die in jenen
Kämpfen gefallen«, zu seinem Universalerben ein.
Noch einmal, sein Anti-Revolutionarismus gründet in seinem
Weltbilde; und nicht erst logisch-gedanklich tut er das, sondern
schon stimmungsmäßig: er ist eine Grundgesinnung, zugehörig
seinem Moralismus, seinem ethischen Pessimismus, jener Stim-
mung von »Kreuz, Tod und Gruft«, die mit psychologischer
Notwendigkeit der Rhetorik; dem Freiheitspathos, dem Mensch-
heitskult abhold ist. Er ist anti-revolutionär aus pessimistischer
Ethik, aus Haß auf den unanständigen Optimismus der Jetztzeit-
und Fortschrittsdemagogie:- und alles in allem, es ist um ihn die
223
Luft einer gewissen, nur zu vertrauten, nur zu heimatlich anmu-
tenden deutschen Geistesbürgerlichkeit, -deutsch eben, weil sie
geistig ist und weil ihre Innerlichkeit, ihr konservativer Radikalis-
mus, ihre absolute Fremdheit gegen jeden demokratischen Prag-
matismus, ihre »reine Genialität«, ihre verwegeneUnfreiheit, ihre
tiefe Politiklosigkeit eine spezifisch deutsche Möglichkeit und
Gesetzmäßigkeit ist. In dieseWeltgehörte Arthur Schopenhauer,
-ein Bürger mit dem Stich und Stigma des Genies, das seine Figur
ins Groteske hebt, aber ein Bürger unweigerlich bis ins Geistigste
und Persönlichste. Man braucht nur sein Leben anzusehen: seine
hanseatisch-kaufmännische Herkunft, die Seßhaftigkeit des stets
mit altmodischer Eleganz gekleideteten älteren Herrn in Frank-
furt am Main, die kantisch-pedantische Unwandelbarkeit und
Pünktlichkeit seines Tageslaufes: seine behutsame Gesundheits-
pflege auf Grund guter physiologischer Kenntnisse- »Nicht dem
Vergnügen, sondern der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige
nach-«; seine Genauigkeit als Kapitalist (er schrieb jeden Pfennig
auf und hat sein kleines Vermögen durch kluge Wirtschaft im
Laufe seines Lebens verdoppelt); die Ruhe, Zähigkeit, Sparsam-
keit, Gleichmäßigkeit seiner Arbeitsmethode (-er produzierte für
den Druck ausschließlich während der ersten beiden Morgen-
stunden und schrieb an Goethe, daß Treue und Redlichkeit die
von ihm aus dem Praktischen ins Theoretische und Intellektuelle
übertragenen Eigenschaften seien, die das Wesen seiner Leistun-
gen und Erfolge ausmachten): das alles zeugt ebenso stark für die
Bürgerlichkeit seines menschlichen Teils, wie es Ausdruck bür-
gerlicher Geistigkeit war, daß er das romantische Mittelalter,
Pfaffentrug und Ritterwesen so entschieden yerabscheute und
durchaus auf klassischer Humanität bestehen zu sollen meinte,
obwohl-
Hier gibt es eine Menge »Übwohls«, die Schopenhauers Huma-
nismus und Klassizismus in Frage stellen und eher dafür sprechen,
ihn einen Romantiker zu nennen, jedenfalls aber dazu anhalten,
die Elemente seines komplexen Wesens zu unterscheiden. Im
engeren, gelehrten Sinn, als Kenner und Beherrscher der alten
Sprachen und Literaturen war Schopenhauer nun gewiß einmal
ein außerordentlicher Humanist: damals, als dervon seinem Vater
zum Kaufmann bestimmte junge Mann, der sich die drängende
Lust zu den Wissenschaften mit der Erlaubnis zu einer großen
Bildungsreise durch Europa hatte abkaufen lassen, nach dem Tode
seines Vaters dann dennoch zum Studium hinübergewechseltwar,
hatte er in Weimar, wo seine Mutter, die Hofrätin und Roman-
schriftstellerin Johanna Schopenhauer, eine gute Bekannte
224
Goethe's, lebte, unter der Anleitung eines jungen Gymnasial-
lehrers das Griechische und Lateinische mit wahrem Feuereifer
betrieben und seinen Lehrer durch reißende Fortschritte in Er-
staunen gesetzt. Er schrieb fließend lateinisch, und die ungezähl-
ten Zitate aus antiken Autoren in seinen Schriften zeugen von
einer so intimen wie ausgebreiteten klassischen Belesenheit. Bei
griechischen Anführungen fügt er regelmäßig eine tadellose latei-
nische Übersetzung hinzu. Übrigens aber war seine literarische
Bildung keineswegs nur humanistisch: sie erstreckte sich auf das
europäische Schrifttum aller Jahrhunderte, denn seine Geläufig-
keit in modernen Sprachen datierte sogar von früher her als die in
den alten, und seine Bücher sind mit Zitaten aus englischen,
französischen, italienischen, spanischen Schriftstellern, auch aus
deutscher Dichtung, besonders aus Goethe und aus der Mystik,
fast noch reichlicher gespickt als mit antiken. Das gibt ihnen etwas
Weltläufiges, überfachliches, Gelehrtenhaftes, Mondän-Litera-
risches: und dem entspricht, daß sein philologisch-humanisti-
sches Rüstzeug ergänzt wird durch höchst positive naturwissen-
schaftliche Kenntnisse, zu denen er schon als junger Student, in
Göttingen, den Grund gelegt und mit deren Ergänzung er durch
sein ganzes Leben beschäftigt war, da er sie zur Stütze und
empirischen Befestigung seiner Metaphysik brauchte.
Klassischer Humanist ist Schopenhauer vor allem als Ästhetiker,
in seiner Theorie des Schönen: seine Lehrmeinung, die das Genie
als reinste Objektivität bestimmt, ist durchaus apollinisch-
goethisch: auf Goethe beruft er sich, auf seiner Seite glaubt er zu
stehen, fühlt sich als >Klassiker< und ist es sehr weitgehend nach
seinem Denken und Urteilen, nämlich in jenem deutschbürgerlich
humanen Sinn, von dem ich sprach, und der ihn feudale Ehren-
Narreteien sowohl wie frömmlerisch-obskurantistische Neigun-
gen, denN eu-Katholizismus seiner Zeit verachten läßt. Er ehrt die
Allegorik des Christentums als einer pessimistischen Erlösungs-
religion, spricht aber von den verschiedenen »Landesreligionen«
überhaupt mit philosophischer Überlegenheit, und seine religiöse
>Begabung< ist, bei einer so starken metaphysischen, im ganzen
schwach zu nennen: Man lese nur, was er gelegentlich da und dort
über Glauben, Götter- und Gottesdienst äußert, - es ist nicht
weniger rationalistisch als etwa Freuds Auslassungen über die
religiöse »Illusion«.
In all diesen Dingen also ist Schopenhauer ganz klassisch -rational
gerichteter Humanist. Ich willaberweiter gehen und das Wichtig-
ste sagen. Er ist, so paradox es klingen mag, bei aller Misanthropie
und all dessen ungeachtet, was er über den Korruptionszustand
225
des Lebens überhaupt, wie über die Fratzenhaftigkeit des Men-
schengenus im besonderen zu sagen und zu klagen weiß,-isttrotz
aller Verzweiflung darüber, in eine wie miserable Gesellschaft
man gerät, wenn man als Mensch geboren wird, ein Verehrer des
Menschen nach seiner Idee, von stolzer, humaner Ehrfurcht
erfüllt vor der »Krone der Schöpfung«, die ihm, ganz wie dem
Autor der Genesis, der Mensch, diese höchste und eni:wickeltste
Objektivation des Willens bedeutet. Diese bedeutungsvollste
Form seines Humanismus gehtdurchaus Hand in Handmit seiner
politischen Skepsis, seinem Anti-Revolutionarismus, und ver-
trägt sich stillschweigend damit. Der Mensch ist ihm ehrwürdig,
denn er ist das erkennende Wesen. Zwar ist alle Erkenntnis
grundsätzlich dem Willen unterworfen, da sie ihm ja entsprossen
ist, gleichwie der Kopf dem Rumpf. Auch ist bei den Tieren diese
Dienstbarkeit des Intellekts gar niemals aufzuheben. Man sehe
aber nur den Unterschied bei Mensch und Tier im Verhältnisdes
Kopfes zum Rumpf! Im unteren Tierreich sind beide ganz ver-
wachsen und bei allen Tieren ist der Kopf zur Erde gerichtet, wo
die Objekte des Willens liegen, ja selbst bei den oberen sind Kopf
und Rumpf noch viel mehr eines als beim Menschen, dessen
Haupt (hier sagt Schopenhauer »Haupt« statt Kopf) dem Leibe
frei aufgesetzt erscheint, von ihm getragen, nicht ihm dienend.
»Diesen menschlichen Vorzug stellt im höchsten Grade der Apoll
von Belvedere dar: das weitumherblickende Haupt des Musen-
gottes steht so frei auf den Schultern, daß es dem Leibe ganz
entwunden, der Sorge für ihn nicht mehr unterthan scheint.«
Kann man humanistischer assoziieren? Nicht umsonst erblickt er
die Würde des Menschen im Bildes des Musengottes. Es ist ein
tiefes und eigentümliches In-Eins-Sehen von Kunst, Erkenntnis
und menschlicher Leidenswürde, das sich in diesem Bilde offen-
bart- ein pessimistischer Humanismus, der, da Humanismus sonst
wesentlich optimistisch-rhetorisch gefärbt erscheint, etwas ganz
Neues und, so wage ich zu behaupten, sehr Zukünftiges im
Bereich der Gesinnung .darstellt: Im Menschen, der obersten
Objektivation des Willens, ist dieser von der hellsten Erkenntnis
beleuchtet; aber im gleichen Maß, wie die Erkenntnis zu Deutlich-
keit gelangt, das Bewußtsein sich steigert, wächst auch das Leiden,
welches folglich seinen höchsten Grad im Menschen erreicht, und
zwar wiederum in individuell verschiedenem Grade,- im Genius
kommst sie auf ihren Gipfel. »Es bestimmt die Rangordnung, wie
tief einer leiden kann«, sagte Nietzsche, in vollständiger Abhän-
gigkeit bis zuletzt von Schopenhauers Aristokratismus der Lei-
densfähigkeit, der adelnden Berufenheit des Menschen und seiner
226
höchsten Ausprägung, des Genius, zum Leiden. Es ist diese
Berufenheit, aus der sich die beiden großen Möglichkeiten erge-
ben, die Schopenhauers Humanismus dem Menschen zuschreibt:
sie heißen Kunstund H eiligung. Menschlich allein ist die Möglich-
keit des ästhetischen Zustandes als willensfreier Anschauung der
Ideen; menschlich und nur menschlich ist die Möglichkeit der
endgültig erlösenden Selbstverneinung des Willens zum Leben in
der Steigerung des Künstlers zum asketischen Heiligen. Dem
Menschen ist die Möglichkeit der Korrektur gewähn, die den
großen Irrtum und Fehltritt des Seins rückgängig macht: höchste
Einsicht, die ihm zuteil wird, indem er sich das ganze Leid der
Welt zu eigen macht, kann ihn zur Resignation und zur Willens-
umkehr führen. Und so ist der Mensch die geheimeHoffnungder
Welt und aller Kreatur, zu welchem gleichsam alle Wesen sich
vertrauensvoll hindrängen, und auf den sie wie auf ihren mög-
lichen Erlöser und Heiland blicken.
Das ist eine Konzeption von großer mystischer Schönheit, worin
eine humane Ehrfurcht vor der Sendung des Menschen sich
ausdrückt, die alle Misanthropie, allen Menschenekel Schopen-
hauers überwiegt und rektifiziert. Es ist dies, worauf es mir
ankommt: Die Vereinigung von Pessimismus und Humanität, die
geistige Erfahrung, die Schopenhauer gewährt, daß das eine das
andere keineswegs ausschließt und daß man nicht Schönredner
und Menschheitsschmeichler zu sein braucht, um Humanist zu
sein. Wenig beirrt mich dabei die Frage nach der Wahrheitvon
Schopenhauers Interpretationen, besonders seiner von Kant
übernommenen Auslegung des Schönen und des ästhetischen
Zustandes, der berühmten »Interesselosigkeit«, über die der im
psychologischen Raffinement soviel fortgeschrittenere Nietzsche
sich nicht zu Unrecht lustig machte. Nietzsche, der Dionysier,
wandte sich gegendie Vermoralisierungder Kunst und des Künst-
lertums, dessen Steigerung und Vollendung der asketische Heilige
sein sollte: gegen die angebliche Negativität der produktiven und
rezeptiven ästhetischen Lust, als des Loskommens von der Tonur
des Willens; gegen die Negativität der Lust überhaupt, den Pessi-
mismus selbst also, der für ihn schon in der Konfrontierung einer
»wahren Welt« und einer» Welt der Erscheinung« lag, und den er
schon bei Kant witterte und nachwies. Er notiert ohne Kommen-
tar (der Kommentar erübrigt sich), daß Kant erklärt habe: »Diese
Sätze des Grafen N erri (eines italienischen Philosophen des acht-
zehnten Jahrhundens) unterschreibe ich in voller Überzeugung:
11 solo principio motore dell' uomo eil dolore. 11 dolore precede
ogni piacere. 11 piacere non eun essere positivo.«-Wardas so sehr
227
gegen den Sinn dessen, bei dem man lesen kann: »Die Lust ist eine
Form des Schmerzes«? Jedenfalls war es seiner anti-christlichen
Willensmeinung entgegen, welche um der Erde und des Lebens
willen durchaus keine »wahre Welt« wahrhaben wollte. Das
hindert nicht, daß sich, gerade in aestheticis, seine Herkunft von
Schopenhauer, auch zur Zeit des Apostatentums, nie verleugnet.
Denn wenn es in >Welt als Wille und Vorstellung< hieß, daß »Das
An-Sich des Lebens, der Wille, das Dasein selbst, einstetes Leiden
und teils jämmerlich, teils schrecklich ist; dasselbe hingegen als
Vorstellung allein, rein angeschaut, oder durch die Kunst wieder-
holt, frei von Qual, ein bedeutsames Schauspiel gewährt«, - so
greift Nietzsche diese Rechtfertigung des Lebens als eines ästheti-
schen Schauspiels und Schönheitsphänomens vollkommen auf,
nicht anders, als Schopenhauer die »Interesselosigkeit« aufgreift:
nämlich indem er dem Gedanken Schopenhauers nur die geistige
Wendung ins Antimoralisch-trunken-Bejahende gibt, in einen
Dionysismus der Lebensrechtfertigung, in welchem freilich
Schopenhauers moralistisch-lebensverneinender Pessimismus
schwer wiederzuerkennen ist, worin dieser aber doch in anderer
Färbung, mit anderem Vorzeichen und veränderter Gebärde
fortlebt. Stellen wir fest, daß man zum Antagonisten eines Den-
kers werden und doch geistig vollkommen sein Schüler bleiben
kann. Hört man, zum Beispiel, auf, Marxist zu sein, indem man
Marxens Lehre auf den Kopf stellt und gewisse wirtschaftliche
Haltungen aus dem Ideologischen, Religiösen ableitet, statt des
Umgekehrten? So blieb Nietzsche Schopenhauerianer. Vor dem
zweifelhaften Titel eines Optimisten schützt ihn der Begriff des
Heroischen, der in seinen Dionysismus einschlägig ist und der aus
dem Pessimismus kommt. Man wird Anstand nehmen, von Opti-
mismus zu reden, wo es sich um einen bacchantischen Pessimis-
mus handelt, um eine Form der Lebensbejahung also, die nicht
primär und naiv, sondern eine Überwindung, ein Trotzdem, dem
Leiden abgewonnen ist. Das Heroische aber findet sich auch bei
Schopenhauer: »Das Glück ist unmöglich: das Höchst-Erreich-
bare ist ein heroischer Lebenslauf.« -
Was nun aber davor warnt, Schopenhauers humanistische Gesin-
nung, seine klassisch-apollinischen Willensmeinungen wörtlich
und eigentlich zu nehmen, was vielmehr in seinem Fall, wie in so
manchem andern, dazu anhält, zwischen Meinung und Wesen zu
unterscheiden und den Menschen nicht mit seinen Urteilen zu
verwechseln, das ist sein Extremismus, eine grotesk-dualistische
Kontrasthaftigkeit seiner Natur, die man als romantisch im pitto-
reskesten Sinn des Wortes ansprechen muß, und die ihn von
228
Goethe's Sphäre weiter entfernt, als sein Bewußtsein es sich je
träumen ließ. - Ich sagte, daß Schopenhauer sich durchaus im
Kamischen hielt, als er den ästhetischen Zustand als die Losrei-
ßung der Erkenntnis vom Willen bestimmte, wobei das Subjekt
aufhöre, ein bloß indiyiduelles zu sein und reines willenloses
Subjekt der Erkenntnis werde. Aber Kant, nach seiner unemotio-
neilen Natur, wäre nie darauf verfallen, das »Ding an sich« als
Wille, Trieb, dunkle Leidenschaft zu bestimmen, von welcher der
künstlerische Zustand vorübergehende Erlösung gewähre; und
seine Ästhetik der Interesselosigkeit ist nicht das moralische
Ergebnis eines romantisch-emotionellen Dualismus von Wille
und Vorstellung, einer Weltkonzeption des Kontrastes von Sinn-
lichkeit und Askese mit allen Schrecken und dämonischen Qualen
der einen und allen Befriedigungsseligkeiten der andern Seite,
sondern, im Vergleich damit, kühlster Spiritualismus. Askese
heißt Abtötung. Aber bei Kant gab es nichtviel abzutöten, er hätte
zur Beschreibung des ästhetischen Zustandes nie die vehementen
Bilder überschwenglicher Dankbarkeit gefunden, die Schopen-
hauer dabei nur so zuströmten. Askese gehört zu einer romanti-
schen Kontrastwelt und hat furchtbare Erlebnisse des Willens, des
Triebes, der Leidenschaft, ein tiefes Leiden daranzur Vorausset-
zung. Den Heiligen als Vollender des Künstlers hat der Trieb-
Philosoph und Emotionalist Schopenhauer entdeckt, - nicht das
zwar unerbittliche, aber weit mäßiger temperierte Denkerturn
Kants, dem die furchtbar geistreichen Spannungen von Schopen-
hauers Kontrastwelt mit den Polen des Gehirns und der Geni-
talien durchaus fremd waren.
Es gab selten einen ausdrucksvolleren, erschöpfenderen Buchti-
tel, als den von Schopenhauers Hauptwerk, - seinem einzigen
Werk im Grunde, welches seinen einzigen Gedanken entwickelt,
und für das alles weitere, in einem zweiundsiebzigjährigen Leben
Geschriebene nur. beharrlich zusammengetragener Beleg und
insistierende Stütze ist. »Die Welt als Wille und Vorstellung«,-
das ist nicht nur dieser Gedanke, auf seine kürzeste Formel
gebracht, es ist auch der Mann, der Mensch, die Person, das Leben,
das Leiden. Die Willenstriebe dieses Menschen, besonders seine
S~xualität, müssen überaus stark und gefährlich gewesen sein,
torturierend wie die mythologischen Bilder, mit denen er die Fron
des Willens beschreibt, - sie müssen der Gewalt seines
Erkenntnistriebes, seiner klaren und mächtigen Geistigkeit auf
eine so widerstreitende Weiseentsprochen haben, daß eine furcht-
bar radikaleZweiheitund Zerrissenheit der Erfahrung und tiefstes
Erlösungsverlangen, die geistige Verneinung des Leben selbst, die
229
Beschuldigung seines An-Sich als böse, irrsälig und schuldhaftdas
in einem hohen Sinn groteske Ergebnis war. Das Geschlecht ist für
Schopenhauer der »Brennpunkt des Willens«, in seiner körperli-
chen Objektivation der Gegenpol des Gehirns, des Repräsentan-
ten der Erkenntnis. Daß, offenbar, beide Sphären bei ihm eine das
Durchschnittliche weit übersteigende Gewalt besaßen, spräche an
sich nur für die Fülle und Kraft seiner Gesamtnatur; was ihn zum
>Pessimisten< und Weltverneiner macht, ist eben nurdas durchaus
feindlich-kontradiktorische, ausschließende Leiden bringende
Verhältnis, in welchem die Sphären zueinander stehen, und das
übrigens nicht hindert, seinen Pessimismus das mißverständliche
Geistesprodukt der Fülle und Kraft zu nennen. Bipolarisch,
kontrast-und konflikthaft, qualvoll-heftig erlebt er die Welt als
Trieb und Geist, Leidenschaft und Erkenntnis, »Wille« und
»Vorstellung«. Wie, wenn er ihre Einheit in seinem Künstlertum,
seinem Genie gefunden, wenn er verstanden hätte, daß Genie
durchaus nicht stillgelegte Sinnlichkeit und ausgehängter Wille,-
Kunst nicht spirituelle Objektivität bedeutet, sondern daß sie die
produktive und lebenerhöhende Vereinigung undWechseldurch-
dringung der beiden Sphären ist,- bezaubernder, als jede für sich,
Geschlecht oder Geist, je sein kann? Daß Künstlertum, Schöpfer-
turn, nichts anderes ist und auch in ihm nichts anderes war als
vergeistigte Sinnlichkeit und vom Geschlecht her genialisierter
Geist? Goethe sah und erlebte das alles ganz anders als der
Pessimist Schopenhauer: glücklicher, gesunder, heiterer, >klassi-
scher<, unpathologischer - das Wort »pathologisch« in einem
geistigen, nicht klinischen Sinn verstanden- ich will also sagen:
unromantischer. Für ihn waren Geschlecht und Geist, »Idee und
Liebe«, die stärksten Lebensreize, und er dichtete: »Denn das
Leben ist die Liebe und des Lebens Leben- Geist.« Bei Schopen-
hauer dagegen schlägt die geniale Verstärkung beider Sphären ins
Asketische um. Ihm ist das Geschlecht eine teuflische Störung der
reinen Kontemplation und die Erkenntnis jene Verneinung des
Geschlechts, welche spricht: »Wenn dich dein Auge ärgert, so
reiße es aus.« Erkenntnis als »Friede der Seele«, Kunst als Quietiv,
als erlösender, zur Willenlosigkeit erlöster Zustand »reiner« An-
schauung und der Künstler als Vorstufe des über den Willen zum
Leben überhaupt hinausgekommenen Heiligen,- das ist Scho-
penhauer, und noch einmal: soweit diese Auffassung des Geistes
und der Kunst apollinisch-objektivistisch ist, berührt sie sich mit
der Goethe's und zeigt klassischen Charakter. Ihr Extremismus
und Asketismus aber ist ausgesprochen romantisch in einem Sinn
des Wortes, der Goethe's Geschmack, wie wir am besten aus
230
seinem Verhalten zu Heinrich von Kleist wissen, gar sehr entge-
gen war; und mit entsprechenden Gefühlen mag er >Die Welt als
Wille und Vorstellung< gelesen haben: zustimmend manchem
Ergebnis, aber wesentlich ablehnend und »hypochondrisch« be-
rührt,- und so hat er es kopfschüttelnd beiseite gelegt; tatsächlich
weiß man, daß er nach einem Anlauf neugieriger Anteilnahmedas
Buch nicht zu Ende gelesen hat.
Die Fremdheit eines großen Mannes gegen den andern, die not-
wendige Selbstsucht ist, darf uns nicht beirren. Auch Goethe
vereinigte in sich, auf seine gesegnetere Art, das Klassische mit
dem Romantischen, -das ist sogar eine der Formeln, auf die man
seine Größe bringen mag. Es ist bei Schopenhauer nicht anders:
auch seiner Größe ist die Vereinigung der beiden Geistesrichtun-
gen eher zugute zu rechnen, als daß sie ihr Abtrag täte, -sofern
nämlich Größe vereinigend, zusammenfassend ist, die Epoche
resümierend. Schopenhauer faßt vieles zusammen, seine Lehre
birgt viele Elemente: idealistische, naturphilosophische, ja pan-
theistische: und daß seine Persönlichkeit stark genug ist, diese
Elemente, wie eben auch das Klassische und Romantische, zu
binden, sie zu etwas ganz Neuern und Einmaligem zusammen-
zuschmelzen, so daß von Eklektizismus nicht im entferntesten
die Rede sein kann, das ist das Entscheidende.
Im Grunde wollen Termini und Alternativen wie >klassisch< und
•romantisch< auf ihn nicht passen: weder das eine noch das andere
tut seiner Seelenlage genug, die eine spätere ist als diejenige, für
welche jene zeitlich verwandten Gegensatz-Begriffe eine Rolle
spielten. Er steht näher zu uns als die Geister, die' dieser Unter-
schied beschäftigte, und die sich nach ihm ordneten: Schopenhau-
ers Geistesform, jene gewisse dualistisch-groteske Überreiztheit
und überheiztheit seines Genies, ist weniger romantisch als
modern, - und ich möchte in diese Bezeichnung sehr vieles legen,
sie aber im ganzen auf eine abendländische Seelenlage beziehen,
deren Leidenderwerden in dem Jahrhundert zwischen Goethe
und Nietzsche nur zu deutlich in die Augen springt. In dieser
Beziehung steht Schopenhauer zwischen Goethe und Nietzsche,
er bildet den Übergang zwischen ihnen,- >moderner<, leidender,
schwieriger als Goethe, aber sehr viel >klassischer<, robuster,
gesunder als Nietzsche, -woraus man ersehen mag, daß Optimis-
mus und Pessimismus, Bejahung oder Verneinung des Lebens
nichts mit Gesundheit und Krankheit zu tun haben. Gesundheit
und Krankheit als Werturteile sind aus dem Grunde mit soviel
Vorsicht auf das Menschlich-Geistige anzuwenden, weil sie bio-
logische Begriffe sind, die Natur des Menschen aber im Biologi-
231
sehen nicht aufgeht. Schwerlich jedoch wird zu behaupten sein,
Nietzsche's dionysisch antichristlicher Enthusiasmus sei persön-
lich etwas Gesünderes und Robusteres gewesen als Schopenhau-
ers Lebensingrimm, noch auch, er habe objektiv und geistig mehr
Gesundheit in die Welt gebracht. Viel zu viel und auf eine verwir-
rende Weise hat Nietzsche mit diesem biologischen Gegensatz
gearbeitet und eine falsche Gesundheit auf den Plan gerufen, die
heute das Geistige, woran Europa genesen könnte, zertrampelt.
Er selbst aber bedeutet einen Schritt weiter im Leiden, im Raffine-
ment und in der Modernität - besonders in der Eigenschaft, in
der er so ausgesprochen wie nirgends sonst der Schüler Schopen-
hauers ist, nämlich als Psycholog.
Schopenhauer, als Psycholog des Willens, ist der Vater aller
modernen Seelenkunde: von ihm geht, über den psychologischen
Radikalismus Nietzsche's, eine gerade Linie zu Freud und denen,
die seine Tiefenpsychologie ausbauten und auf die Geisteswissen-
schaften anwandten. Nietzsche' s Intellekt-Feindschaft und Anti-
Sokratismus ist nichts als die philosophische Bejahung und Ver-
herrlichung von Schopenhauers Entdeckung des Willensprimats,
seiner pessimistischen Einsicht in das sekundäre und dienende
Verhältnis des Intellektes zum Willen. Diese Einsicht, die im
klassischen Sinn nicht eben humane Feststellung, daß der Intellekt
dazu da ist, dem Willen gefällig zu sein, ihn zu rechtfertigen, ihn
mit oft sehr scheinbaren und selbstbetrügerischen Motiven zu
versehen", dieTriebe zu rationalisieren, birgt eine skeptisch -pessi-
mistische Psychologie, eine Seelenkunde durchschauender U ner-
bittlichkeit, die dem, was wir Psychoanalyse nennen, nicht nur
vorgearbeitet hat, sondern diese selbst schon ist. Im Grunde ist alle
Psychologie Entlarvung und ironisch-naturalistischer Scharf-
blick für das vexatorische Verhältnis von Geist und Trieb. Es
entspricht ganz der mystischen Natur-Konnivenz der •Wahlver-
wandtschaften<, wenn Goethe in diesem Roman den schon ver-
liebten Eduard nach dem ersten Zusammensein mit Ottilie sagen
läßt: »Sie ist eine unterhaltende Person« -und seine Frau ihm
antwortet: »Unterhaltend? Sie hat ja den Mund nicht aufgetan!«
Schopenhauer hat gewiß seine Freude gehabt an dieser Pointe. Sie
ist eine artige, noch klassisch-heitere Illustration seines Satzes,
daß man eine Sache nicht will, weil man sie als gut erkennt,
sondern daß man sie gut findet, weil man sie will.
Er selbst sagt zum Beispiel: »Doch ist zu bemerken, daß man, um
sich selbst zu täuschen, sich scheinbare Übereilungen vorbereitet,
die eigentlich heimlich überlegte Handlungen sind. Denn wir
betrügen und schmeichelnniemandem durch so feine Kunstgriffe,
2J2
als uns selbst.« In dieser beiläufigen Anmerkung sind ganze
Kapitel, ja Bände der analytischen Entlarvungs-Psychologie in
nuce enthalten, - wie später so oft in Nietzsche's Aphoristik
Freud'sche Erkenntnisse und Enthüllungen blitzartig vorwegge-
nommen sind. In einer Wiener Rede über Freud habe ich darauf
hingewiesen, daß Schopenhauers finsteres Willensreich mit dem,
was Freud das »Unbewußte«, das »Es« nennt, durchaus identisch
ist- wie andererseits Schopenhauers »Intellekt« demFreud'schen
»Ich«, diesem der Außenwelt zugekehrten Teil der Seele, durch-
aus entspricht. -
Das eigentliche Thema einer heutigen Rekapitulation und Be-
trachtung des Schopenhauer'schen Weltbildes, das Motiv für die
erinnerungsvolle Beschwörung seiner geistigen Gestalt vor einer
Generation, die wenig mehr von ihm weiß, ist das Verhältnis von
Pessimismus und Humanität: Es ist der Wunsch, einer Gegen-
wart, deren Humanitätsgefühlsich in schwerer Krise befindet, das
Erlebnis der eigenartigen Verbindung zu überliefern, welche
Melancholie und Menschenstolz in dieser Philosophie eingegan-
gen sind. Schopenhauers Pessimismus, das ist seine Humanität.
SeineWelterklärung aus dem Willen, seine Einsicht in die Oberge-
walt der Triebe und die Herabsetzung der ehemals göttlichen
Vernunft, des Geistes, des Intellekts zu einem bloßen Werkzeug
der Lebenssicherung ist anti-klassisch und ihrem Wesen nach
inhuman. Aber in der pessimistischen Färbung seiner Lehre eben
und daß sie ihn zur Weltverneinung und zum Ideal der Askese
führt, daß dieser große und leidenserfahrene Schriftsteller, der die
Prosa unserer großen humanen Bildungsepoche schrieb, den
Menschen aus dem Biologischen und aus der Natur heraushebt,
seine fühlende und erkennende Seele zum Schauplatz der Wil-
lensumkehr macht und den möglichen Heiland aller Kreatur in
ihm sieht: darin liegt seine Humanität, seine Geistigkeit.
Das zwanzigste Jahrhundert hat sich in seinem ersten Drittel rein
rückschlägig gegen den klassischen Rationalismus und Intellek-
tualismus verhalten und sich einer Bewunderung des Unbewuß-
ten, einer Verherrlichung des Instinktes ergeben, die es dem
•Leben< glaubte schuldig zu sein und dieden schlechten Instinkten
nur allzu gute Tage bereitet hat. Oft ist hier pessimistische Er-
kenntnis in Schadenfreude umgeschlagen, die geistige Anerken-
nung bitterer Wahrheiten in den Haß auf den Geist selbst und die
Verachtung für ihn, gegen den man sich ohne jede Generosität auf
die Seite des Lebens schlug: auf die Seite des Stärkeren also; denn
wenn irgend etwas gewiß und erwiesen ist, so dies, daß das Leben
vom Geist und von der Erkenntnis nichts zu fürchten hat und
233
nicht jenes, sondern der Geist der schwächere, schutzbedürftige
Teil auf Erden ist.
Aber auch die Anti-Humanität unserer Tage ist zuletzt ein huma-
nes Experiment, eine einseitige Beantwortung der ewig sich stel-
lenden Frage nach dem Wesen und Schicksal des Menschen.
Fühlbar bedarf sie einer das Gleichgewicht herstellenden Korrek-
tur, und ich meine, daß die hier erinnerte Philosophie dabei gute
Dienste leisten kann. Ich nannte Schopenhauer >modern< - ich
hätte ihn zukünftig nennen sollen. Die Elemente seiner Persön-
lichkeit, ihr hell-dunkler Zusammenklang, die Mischung von
Voltaire und Jakob Böhme in ihm, das Paradox seiner klassisch-
klaren Prosa, dievom Untersten, Nächtigsten kündet, seine stolze
Misanthropie, die nie die Ehrfurcht vor der Idee des Menschen
verleugnet, kurz, was ich seine pessimistische Humanität nannte,
erscheint mir voll von Zukunftsstimmung und verheißt seinem
Gedankenwerk nach modischem Ruhm und halber Vergessenheit
vielleicht noch eine tiefe und fruchtbare menschliche Wirkung.
Seine geistige Sinnlichkeit, seine Lehre, die Leben war, daß Er-
kenntnis, Denken, Philosophie nicht nur Sache des Kopfes, son-
dern des ganzen Menschen mit Herz und Sinn, mit Leib und Seele
sind- sein Künstlertum, mit einem Wort, gehört einer Mensch-
lichkeit jenseits von Vernunftdürre und Instinktvergottung an
und mag behilflich sein, sie hervorzubringen. Denn die Kunst, den
Menschen begleitend auf seinem mühsamen Wege zu sich selbst,
war immer schon am Ziel.
NIETZSCHE'S PHILOSOPHIE IM LICHTE
UNSERER ERFAHRUNG

Als zu Anfang des Jahres 1889 von Turin und Basel her die
Nachricht von Nietzsche's geistigem Zusammenbruch sich ver-
breitete, mag mancher von denen, die, über Europa hin verstreut,
bereits ein Wissen um die schicksalsvolle Größe des Mannes
hatten, Ophelia's Klageruf bei sich wiederholt haben:
0, what a noble mind is here o'erthrown!
0, welch ein edler Geist ist hier zerstört!
Und auch von den Kennzeichnungen der nachfolgenden Verse,
die das schauerliche Unglück bejamm~rn, daß solche hochgebie-
tende Vernunft, durch Schwärmerei zerrüttet, »blasted by ec-
stasy«, nun mißtönt wie verstimmte Glocken, treffen viele genau
auf Nietzsche zu,- nicht zuletzt die Wendung, in welche die
Trauemde ihre Lobpreisung zusammenfaßt: »The observ' d of all
observers«, was Schlegel übersetzt: »Das Merkziel der Betrach-
ter.« Wir würden dafür das Wort "faszinierend« gebrauchen, und
wahrlich, nach einer Gestalt, faszinierender als die des Einsiedlers
von Sils Maria, sieht man sich in aller Weltliteratur und Geistes-
geschichte vergebens um. Es ist aber eine Faszination, derjenigen
nahe verwandt, die von Shakespeare's Charakterschöpfung, dem
melancholischen Dänenprinzen, durch die Jahrhunderte aus-
geht.
Nietzsche, der Denker und Schriftsteller, »the mould of form«
oder >>der Bildung Muster«, wie Ophelia ihn nennen würde, war
eine Erscheinung von ungeheuerer, das Europäische resumieren-
der, kultureller Fülle und Komplexität, welche vieles Vergangene
in sich aufgenommen hatte, das sie in mehr oderweniger bewußter
Nachahmung und Nachfolge erinnerte, wiederholte, auf mythi-
sche Art wieder gegenwärtig machte, und ich zweifle nicht, daß
der große Liebhaber der Maske des hamletischen Zuges in dem
tragischen Lebensschauspiel, das er bot- ich möchte fast sagen:
das er veranstaltete, wohl gewahr war. Was mich, den ergriffen
sich versenkenden Leser und »Betrachter« der nächstfolgenden
Generation, betrifft, so habe ich diese Verwandtschaft früh emp-
funden und dabei die Gefühlsmischung erfahren, die gerade für
das jugendliche Gemüt etwas so Neues, Aufwühlendes und Ver-
tiefendes hat: die Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen. Sie ist
235
mir niemals fremd geworden. Es ist das tragische Mitleid mit einer
überlasteten, über-beauftragten Seele, welche zum Wissen nur
berufen, nicht eigentlich dazu geboren war und, wie Hamlet,
daran zerbrach; mit einer zarten, feinen, gütigen, liebebedürfti-
gen, auf. edle Freundschaft gestellten und für die Einsamkeit gar
nicht gemachten Seele, der gerade dies: tiefste, kälteste Einsam-
keit, die Einsamkeit des Verbrechers, verhängt war; mit einer
ursprünglich tief pietätvollen, ganz zur Verehrung gestimmten,
an fromme Traditionen gebundenen Geistigkeit, die vom Schick-
sal gleichsam an den Haaren in ein wildes und trunkenes, jeder
Pietät entsagendes, gegen die eigene Natur tobendes Propheten-
turn der barbarisch strotzenden Kraft, der Gewissensverhärtung,
des Bösen gezerrt wurde.
Man muß einen Blick auf die Herkunft dieses Geistes werfen, den
Einflüssen nachgehen, die an der Bildung seiner Persönlichkeit
arbeiteten, und zwar ohne daß seine Natur sie im geringsten als
ungemäß empfunden hätte, -um der unwahrscheinlichen Aben-
teuerlichkeit seiner Lebenskurve, ihrervölligen Unvoraussehbar-
keit innezuwerden. In mitteldeutscher Ländlichkeit geboren
1 844, vierJahrevor dem Versuch einer bürgerlichen Revolution in
Deutschland, stammt Nietzsche von Vaters- wie Muttersseite aus
angesehenen Pastorenfamilien. Von seinem Großvater gibt es
ironischerweise eine Schrift über >Die immer währende Dauer des
Christentums, zur Beruhigung bei der gegenwärtigen Gährung<.
Sein Vater war etwas wie ein Hofmann, Erzieher der preußischen
Prinzessinnen, und verdankte seine PEarrstelle der Gunst Fried-
rich Wilhelms IV. Sinn für aristokratische Formen, Sittenstrenge,
Ehrgefühl, peinliche Ordnungsliebe waren denn auch in seinem
Elternhause heimisch. Der Knabe lebte nach des Vaters frühem
Tode in der kirchenfrommen und royalistischen Beamtenstadt
Naumburg. Er wird als »ungeheuer artig« geschildert, als ein
notorischer Musterknabe von gesittetem Ernst und einem from-
men Pathos, das ihm denN amen >>der kleine Pastor« einträgt. Man
kennt die charakteristische Anekdote, wie er bei einem Platzregen
gemessenen und würdigen Schrittes von der Schule nach Hause
geht,-weil die Schulregeln den Kindern ein sittsames Betragen auf
der Straße zur Pflicht machen. Seine gymnasiale Bildung wird
glänzend vollendet in der berühmten Klosterzucht von Schul-
pforta. Er neigt zur Theologie, außerdem zur Musik, entschließt
sich aber zur klassischen Philologie und Studien sie in Leipzig
unter einem strengen Methodikernamens Ritschl. Seine Erfolge
sind deran, daß er, kaum daß er seiner Militärpflicht als Artillerist
nachgekommen ist, fast ein Jüngling noch, aufs akademische
236
Katheder berufen wird, und zwar in der ernsten und frommen,
patrizisch regierten Stadt Basel.
Man hat das Bild einer hochbegabten Edel-Normalität, die eine
Laufbahn der Korrektheit auf vornehmem Niveau zu gewährlei-
sten scheint. Statt dessen, von dieser Basis, welch ein Getrieben-
werden ins Weglose! Welch ein Sich-Versteigen in tödliche Hö-
hen! Das Wort »verstiegen«, zum moralischen und geistigen
Urteil geworden, stammt aus der Alpinistensprache und bezeich-
net die Situation, wo es im Hochgestein weder vorwärts noch
rückwärts mehr geht und der Bergsteiger verloren ist. Dies Wort
anzuwenden auf den Mann, der sicher nicht nur der größte
Philosoph des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, sondern
einer der unerschrockensten Helden überhaupt im Reich des
Gedankens war, klingt wie Philisterei. Aber J acob Burckhardt, zu
dem Nietzsche wie zu einem Vater aufblickte, war kein Philister,
und doch hat er die Neigung, ja den Willen zum Sich-Versteigen
und zur tödlichen Verirrung früh schon der Geistesrichtung des
jüngeren Freundes angemerkt und sich weislich von ihm getrennt,
ihn mit einer gewissen Gleichgültigkeit, die Goethe'scher Selbst-
schutz war, fallenlassen ...
Was war es, was Nietzsche ins Unwegsame trieb, ihn unter
Qualen dort hinaufgeißelte und ihn den Martertod am Kreuz des
Gedankens sterben ließ? Sein Schicksal- und sein Schicksal war
sein Genie. Aber dieses Genie hat noch einen anderen Namen. Er
lautet: Krankheit- dies Wort nicht in dem vagen und allgemeinen
Sinn genommen, in welchem es sich so leicht mit dem Begriff des
Genies verbindet, sondern in einem so spezifischen und klini-
schen Verstande, daß man sich wiederum dem Verdacht des
Banausenturns und dem Vorwurf aussetzt, man wolle die schöpfe-
rische Lebensleistung eines Geistes damit entwerten, der als
Sprachkünstler, Denker, Psychologe die ganze Atmosphäre sei-
ner Epoche verändert hat. Das wäre ein Mißverständnis. Oft ist
gesagt worden, und ich sage es wieder: Krankheit ist etwas bloß
Formales, bei dem es darauf ankommt, womit es sich verbindet,
womit es sich erfüllt. Es kommt darauf an, wer krank ist: ein
Durchschnittsdummkopf, bei welchem die Krankheit des geisti-
gen und kulturellen Aspektes freilich entbehrt, oder ein Nietz-
sche, ein Dostojewski. Das Medizinisch-Pathologische ist eine
Seite der Wahrheit, ihre naturalistische sozusagen, und wer die
Wahrheit als Ganzes liebt und willens ist, ihr unbedingt die Ehre
zu geben, wird nicht aus geistiger Prüderie irgendeinen Gesichts-
punkt verleugnen, unter dem sie gesehen werden kann. Man hat es
dem Arzte Möbius sehr verübelt, daß er ein Buch geschrieben hat,
237
worin er die Entwicklungsgeschichte Nietzsche's als die Ge-
schichte einer progressiven Paralyse fachmännisch darstellt. Ich
habe an der Entrüstung darüber nie teilnehmen können. Der
Mann sagt, auf seine Weise, die unbestreitbare Wahrheit.
Im Jahre 1865 erzählt der einundzwanzigjährige Nietzsche sei-
nem Studienfreunde Paul Deussen, dem späteren berühmten
Sanskritisten und Vedanta-Forscher, eine sonderbare Geschichte.
Der junge Mann hatte allein einen Ausflug nach Köln gemacht und
dort einen Dienstmann engagiert, damit er ihm die Sehenswürdig-
keiten der Stadt zeige. Das geht den ganzen Nachmittag und
schließlich, gegen Abend, fordert Nietzsche seinen Führer auf,
ihm ein empfehlenswertes Restaurant zu zeigen. Der Kerl aber,
der für mich die Gestalt eines recht unheimlichen Sendboten
angenommen hat, führt ihn in ein Freudenhaus. Der Jüngling, rein
wie ein Mädchen, ganz Geist, ganz Gelehrsamkeit, ganz fromme
Scheu, sieht sich, so sagt er, plötzlich umgeben von einem halben
Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, die ihn erwartungs-
voll ansehen. Zwischen ihnen hindurch geht der junge Musiker,
Philolog und Schopenhauer-Verehrer instinktiv auf ein Klavier
zu, das er im Hintergrunde des teuflischen Salons gewahrt und
worin er (das sind seine Worte) »das einzige seelenhafte Wesen in
der Gesellschaft« erblickt, und schlägt einige Akkorde an. Das löst
seinen Bann, seine Erstarrung, und er gewinnt das Freie, er vermag
zu fliehen.
Am nächsten Tage hat er dem Kameraden dies Erlebnis gewiß
unter Lachen erzählt. Weichen Eindruck es auf ihn gemacht, war
ihm nicht bewußt. Es war aber nicht mehr und nicht weniger, als
was die Psychologen ein >Trauma< nennen, eine Erschütterung,
deren wachsende, die Phantasie nie wieder loslassende Nachwir-
kung von der Empfänglichkeit des Heiligen für die Sünde zeugt.
Im vierten Teil des >Zarathustra<, entstanden zwanzig Jahre spä-
ter, findet sich, in dem Kapitel >Unter Töchtern der Wüste<, ein
orientalisierendes Gedicht, dessen gräßliche Scherzhaftigkeit eine
kasteite Sinnlichkeit und ihre Nöte, bei schon gelockerten Hem-
mungen, mit qualvoller Geschmacklosigkeit verrät. In diesem
Gedicht von den »allerliebsten Freundinnen und Mädchen-Kat-
zen Dudu und Suleika«, einem erotischen Wachtraum von peinli-
cher Humorigkeit, sind die »Flatter- und Flitterröckchen« jener
Kölner gewerbetreibenden Damen wieder da, noch immer da. Die
»Erscheinungen in Flitter und Gaze« von damals habensichtlich
zu den wonnigen Wüstentöchtern Modell gestanden, und von
diesen ist es nicht weit mehr, es sind nur noch vier Jahre, bis zur
Baseler Klinik, wo der Kranke zu Protokoll gibt, er habe sich
2J8
zweimal in früheren Jahren spezifisch infiziert. DieJenaer Kran-
kengeschichte nennt für das erste dieser Mißgeschicke das Jahr
1866. EinJahr also, nachdem er aus jenemKölnerHause geflohen,
kehrt er, ohne diabolische Führung diesmal, an einen solchen Ort
zurück und zieht sich- einige sagen: absichtlich, als Selbstbestra-
fung- zu, was sein Leben zerrütten, aber auch ungeheuer steigern
wird-, ja, wovon auch teils glückliche, teils fatale Reizwirkungen
auf eine ganze Epoche ausgehen sollen.
Was ihn nach wenigen Jahren aus seinem Baseler akademischen
Amte fortbegehren läßt, ist eine Mischung von zunehmender
Kränklichkeit und .Freiheitsdrang, die im Grunde dasselbe sind.
Früh schon hat der junge Verehrer Wagners und Schopenhauers
Kunst und Philosophie als die wahren Führer des Lebens ausgeru-
fen - gegen die Geschichte, von der sein Lehrfach, die Philologie,
ein Zweig ist. Er wendet sich ab von ihr, läßt sich krankheitshalber
pensionieren und lebt fortan ohne jede Bindung, als bescheidener
Zimmerherr, an internationalen Plätzen haliens, Süd-Frank-
reichs, des Schweizer Hochgebirges, wo er seine stilistisch blen-
denden, von kühnen Beleidigungen seiner Zeit funkelnden, psy-
chologisch immer radikaleren, in immer grellerem Weißlicht
aufstrahlenden Bücher schreibt. Brieflich nennt er sich »einen
Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgendeinen beru-
higenden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich größeren
Befreiung des Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht daß
ich sogar noch mehr Freigeist sein will, als ich es sein kann!« -Das
ist ein Geständnis, sehr früh, schon 1876, abgelegt; es ist die
Antizipation seines Schicksals, seines Zerbrechens; das Vorwis-
sen eines Menschen, der getrieben sein wird, sich an Erkenntnis
Grausameres zuzumuten, als ein Gemüt ertragen kann, und der
der Weh das Schauspiel einer erschütternden Selbstkreuzigung
bieten wird.
Unter sein Werk hätte er wohl, wie jener Maler, schreiben kön-
nen: »In doloribus pinxi.« In mehr als einem Sinn, demgeistigen
wie dem körperlichen, hätte er damit die Wahrheit gesagt. 188o
bekennt er dem Arzt Dr. Eiser: >>Meine Existenz ist einefürchter-
liche Last: ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht
die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem
Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast
absoluten Entsagung machte ... Beständiger Schmerz, mehrere
Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwandtes Gefühl,
eine Halblähmung, wo mir das Reden schwer wird, zur Abwechs-
lung wütende Anfälle (der letzte nötigte mich, drei Tage und
Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode) ... Könnte
239
ich Ihnen das Fortwährende beschreiben, den beständigen
Schmerz und Druck im Kopf, auf den Augen, und jenes läh-
mungsartige Gesamtgefühl vom Kopf bis in die Fußspitzen! ... «-
Seine scheinbar vollkommene Unwissenheit - und die seiner
Ärzte obendrein!- über die Natur und Quelle dieser Leiden ist
schwer zu begreifen. Daß sie vom Gehirn ausgehen, wird ihm
allmählich zur Gewißheit, und er hält sich hier für hereditär
belastet: Sein Vater, meint er, sei an >>Gehirnerweichung« zu-
grunde gegangen, - was bestimmt nicht wahr ist; der Pastor
Nietzsche starb durch einen bloßen Unfall an einer Gehirnverlet-
zung durch einen Sturz. Jenes völlige Nicht-Wissen aber, oderdie
Dissimulation des Wissens, von dem Ursprung seiner Krankheit
ist nur aus der Tatsache zu erklären, daß sie mit seinem Genie
verschränkt und verbunden war, daß dieses sich mit ihr entfaltete,
- und daß alles einem genialen Psychologen zum Objekt demas 7
kierender Erkemitnis werden kann, nur nicht das eigene Genie.
Es ist vielmehr der Gegenstand staunender Bewunderung, über-
schwenglichen Selbstgefühls, krasser Hybris. In voller Naivität
verherrlicht Nietzsche die beseligende Kehrseite seines Leidens,
diese euphorischen Schadloshaltungen und überkompensatio-
nen, die zum Bilde gehören. Er tut es am großartigsten in dem fast
schon hemmungslosen Spätwerk >Ecce homo<, dort wo er den
körperlich und geistig unerhört gehobenen Zustand preist, worin
er in unglaublich kurzer Zeit seine Zarathustra-Dichtung hervor-
brachte. Die Seite ist ein stilistisches Meisterstück, sprachlich ein
wahrer tour de force, zu vergleichen nur etwa der wundervollen
Analyse des Meistersinger-Vorspiels in >Jenseits von Gut und
Böse< und der dionysischen Darstelllung des Kosmos am Ende des
•Willens zur Macht<. »Hat jemand«, fragt er im >Ecce homo<,
>>Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff
davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im
andren Falle will ich's beschreiben.« Und nun beginnt eine Schil-
derung von Erleuchtungen, Entzückungen, Elevationen, Einflü-
sterungen, göttlicher Kraft- und Machtgefühle, die er nicht umhin
kann, als etwas Atavistisches, Dämonisch-Rückschlägiges, ande-
ren, »stärkeren« und gottnäheren Zuständen der Menschheit
Angehöriges und aus den psychischeil Möglichkeiten unserer
schwächlich-vernünftigen Epoche Herausfallendes zu emp-
finden. Und dabei beschreibt er >in Wahrheit< - aber was ist
Wahrheit: das Erlebnis oder die Medizin?- einen verderblichen
Reizungszustand, der dem paralytischen Kollaps höhnend
vorangeht.
Jeder wird zugeben, daß es hektische, von entgleitender Vernunft
zeugende Ausschreitungen des Selbstbewußtseins sind, wenn
Nietzsche den >Zarathustra< eine Tat nennt, an der gemessen der
ganze Rest von menschlichem Tun als arm und bedingt erscheint,
wenn er behauptet, daß ein Goethe, ein Shakespeare, ein Dante
nicht einen Augenblick in der Höhe dieses Buches zu atmen
wissen würde, und daß der Geist und die Güte aller großen Seelen
zusammen genommen nicht imstande wären, nur eine Rede Zara-
thustra's hervorzubringen. Natürlich muß es ein großer Genuß
sein, dergleichen niederzuschreiben, aber ich finde es unerlaubt.
übrigens mag es sein, daß ich nur meine eigenen Grenzen fest-
stelle, wenn ich weitergehe und bekenne, daß mir überhaupt das
Verhältnis Nietzsche's zu dem Zarathustra-Werk dasjenige blin-
der Überschätzung zu sein scheint. Es ist, dank seiner biblischen
Attitude, das >populärste< seiner Bücher geworden, aber es ist bei
weitem nicht sein bestes Buch. Nietzsche war vor allem ein großer
Kritiker und Kultur-Philosoph, ein aus der Schule Schopenhauers
kommender europäischer Prosaist und Essayist obersten Ranges,
dessen Genie zur Zeit von >Jenseits von Gut und Böse< und der
>Genealogie der Moral< auf seinen Scheitelpunkt kam. EinDichter
mag weniger sein als solch ein Kritiker, aber zu diesem Weniger
reichte es nicht, oder doch nur in einzelnen lyrischen Augenblik-
ken, nicht für ein ausgedehntesWerk von kreativer Ursprünglich-
keit. Dieser gesiebt- und gestaltlose Unhold und Flügelmann
Zarathustra mit der Rosenkrone des Lachensauf dem unkenntli-
chen Haupt, seinem »Werdet hart!« und seinen Tänzerbeinen ist
keine Schöpfung, er ist Rhetorik, erregter Wortwitz, gequälte
·stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser
Grandezza, oft rührend und allermeist peinlich - eine an der
Grenze des Lächerlichen schwankende Unfigur.
Indem ich so spreche, erinnere ich mich an die verzweifelte
Grausamkeit, mit der Nietzsche über vieles, eigentlich über alles
ihm Ehrwürdige gesprochen hat: über Wagner, über die Musik im
allgemeinen, über die Moral, über das Christentum, - ich hätte
beinahe gesagt: auch über das Deutschtum,- und wie er bei den
wütendsten kritischen Ausfällen gegen diese im Innersten stets
hochgehaltenen Werte und Mächte offenbar nicht das Gefühl
hatte, ihnen wirklich zu nahe zu treten, sondern, wie es scheint, die
fürchterlichsten gegen sie geschleuderten Beleidigungen als eine
Form der Huldigung empfand. überWagnerhat er Dinge gesagt,
daß man seinen Sinnen nicht traut, wenn er im >Ecce homo<
plötzlich von der heiligen Stunde die Rede ist, in der Richard
Wagner in Venedig starb. Wieso, fragt man sich, Tränen in den
Augen, ist diese Sterbestunde auf einmal »heilig«, wenn Wagner
der üble Histrione, der verderbte Verderber war, als den Nietz-
sche ihn hundertmal geschildert hat?- Bei seinem Freunde, dem
Musiker Peter Gast, entschuldigt er sich wegen seiner beständigen
Auseinandersetzung mit dem Christentum: es sei eben das beste
Stück idealen Lebens, das er wirklich kennengelernt habe. Zuletzt
sei er der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen
Geistlichen und glaube, »nie in seinem Herzen gegen das Chri-
stentum gemein gewesen« zu sein. Nein, aber er hat es mit sich
überschlagender Stimme »den einen unsterblichen Schandfleck
der Menschheit« genannt - nicht ohne sich zugleich über die
Behauptung lustig zu machen, daß der Germane irgendwie für das
Christentum vorgebildet und vorbestimmt gewesen sei: Der
faule, aber kriegerische und raubsüchtige Bärenhäuter, der sinn-
lich kalte Jagdliebhaber und Biertrinker, der es nicht höher als bis
zu einer rechten und schlechten Indianerreligion gebracht und
noch vor zehnhundert Jahren Menschen auf Opfersteinen ge-
schlachtet habe, .::.. was habe er zu schaffen mit der höchsten, von
Rabbinerverstand geschärften moralischen Subtilität, mit der
orientalischen Feinheit des Christentums!- Die Wertverteilung
ist klar und erheiternd. Seiner Autobiographie gibt der »Anti-
christ« den allerchristlichsten Titel >Ecce Homo<. Und letzte
Wahnsinnszettel unterzeichnet er »Der Gekreuzigte«.
Man kann sagen, daß Nietzsche's Verhältnis zu den Vorzugs-
gegenständen seiner Kritik schlechthin das der Leidenschaft war:
einer Leidenschaft, im Grunde ohne bestimmtes Vorzeichen,
denn das negative wechselt beständig ins positive hinüber. Noch
kurz vor dem Ende seines geistigen Lebens schreibt er eine Seite
über den >Tristaq.<, die von Begeisterung vibriert. Andererseits hat
er schon zur Zeit seiner scheinbar unbedingtesten Wagner-Jün-
gerschaft, bevor er für die Außenwelt die Festschrift >Richard
Wagner in Bayreuth< verfaßte, gegen Baseler Vertraute Äußerun-
gen über den >Lohengrin< getan- von so distanziertem Scharf-
blick, daß sie über anderthalb Jahrzehnte hin den >Fall Wagner<
vorwegnahmen. In Nietzsche's Verhältnis zu Wagner ist kein
Bruch, was man auch sagen möge. Die Welt will immer einen
Bruch sehen im Leben und Werk großer Männer. Sie fand ihn bei
Tolstoi, wo alles eiserne Konsequenz, alles Späte im Frühen
psychologisch vorgebildet ist. Sie fand ihn bei Wagner selbst, in
dessen Entwicklung die gleiche unverbrüchliche Kontinuität und
Logik waltet. Es ist mit Nietzsche nicht anders. So sehr sein
größtenteils aphoristisches Werk in tausend farbigen Facetten
spielt, so viel an der Oberfläche liegende Widersprüche ihm
nachzuweisen sind, - er war von Anfang ganz da, war immer
derselbe, und in den Schriften des jugendlichen Professors, den
>Unzeitgemäßen Betrachtungen<, der >Gebun der Tragödie<, der
Abhandlung >Der Philosoph< von I 873liegen nicht nurdie Keime
seiner späteren Lehrbotschaft, sondern diese, eine frohe Botschaft
nach seiner Meinung, ist bereits vollkommen und fertig in ihnen
enthalten. Was sich ändert, ist allein die Akzentuierung, die immer
frenetischer, die Stimmlage, die immer schriller, die Gebärde, die
immer grotesker und fürchterlicher wird. Was sich änden, ist die
Schreibweise, die, hochmusikalisch von jeher, aus der würdigen,
etwas altfränkisch-gelehnenhaft gefärbten Zucht und Gebunden-
heit deutsch-humanistischer Überlieferung allmählich in einem
unheimlich mondänen und hektisch heiteren, zuletzt mit der
Schellenkappe des Weltenspaßmachers sich schmückenden
über-Feuilletonismus entartet.
Nicht genug aber ist die vollkommene Einheitlichkeit und Ge-
schlossenheit von Nietzsche's Lebenswerk zu betonen. In der
Nachfolge Schopenhauers, dessen Schüler er blieb, auchals erden
Meister längst verleugnet hatte, hat er eigentlich sein Leben lang
nur einen überall gegenwärtigen Gedanken variiert, ausgebaut,
eingeprägt, welcher, anfangs in voller Gesundheit und mit unbe-
streitbarer zeitkritischer Berechtigung auftretend, im Lauf der
Jahre einer mänadischen Verwilderung anheimfällt, so daß man
Nietzsche's Geschichte die Verfallsgeschichte dieses Gedankens
nennen kann.
W eieher ist es? -Man muß ihn in seine Ingredienzien, seine in ihm
streitenden Teile zerlegen, um ihn zu verstehen. Sie heißen, bunt
durcheinander aufgeführt: Leben, Kultur, Bewußtsein oder Er-
kenntnis, Kunst, Vornehmheit, Moral, Instinkt. In diesem Ideen-
komplex dominiert der Begriff der Kultur. Er ist dem Leben selbst
fast gleichgesetzt: Kultur, das ist die Vornehmheit des Lebens,
und mit ihr verbunden, als ihre Quellen und Bedingungen, sind
Kunst und Instinkt, während als Todfeinde und Zerstörer von
Kultur und Leben Bewußtsein und Erkenntnis, die Wissenschaft
und endlich die Moral figurieren, -die Moral, welche als W ahrerin
derWahrheitdem Leben ans Leben geht, da diese ganz wesentlich
auf Schein, Kunst, Täuschung, Perspektive, Illusion beruht und
der Irnum der Vater des Lebendigen ist.
Er hat von Schopenhauer den Satz ererbt, daß »das Leben als
Vorstellung allein, rein angeschaut oder durch die Kunst wieder-
holt, ein bedeutsames Schauspiel ist«, den Satz also, daß nur als
ästhetisches Phänomen das Leben zu rechtfertigen ist. Das Leben
ist Kunst und Schein, nichts weiter, und darum steht höher als die
Wahrheit (die eine Angelegenheit der Moral ist) die Weisheit(als
243
Sache der Kultur und des Lebens)- eine tragisch-ironische Weis-
heit, welche der Wissenschaft aus künstlerischem Instinkt, um der
Kultur willen, Grenzen setzt und den obersten Wert, das Leben,
nach zwei Seiten hin verteidigt: gegen den Pessimismus der
Lebensverleumderund Fürsprecher des Jenseitsoderdes Nirwana
- und gegen den Optimismus der Vernünftler und W eltverbesse-
rer, die vom Erdenglück aller, von Gerechtigkeit fabeln und derri
sozialistischen Sklavenaufstand vorarbeiten. Nietzsche hat diese
tragische Weisheit, die das Leben in allseiner Falschheit, Härteund
Grausamkeit segnet, auf den Namen des Dionysos getauft.
Der Name des trunkenen Gottes erscheint zuerst in der ästhe-
tisch-mystischen Jugendschrift von der >Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik<, wo das Dionysische als künstlerisch-
seelische Verfassung dem Kunstprinzip apollinischer Distan-
ziertheit und Objektivität entgegengestellt wird, sehr ähnlich, wie
Schiller in seinem berühmten Essay das »Naive« dem »Sentimen-
talischen« gegenüberstellt. Hierfällt zum erstenmal dasWortvom
»theoretischen Menschen«, und die Kampfstellung gegen Sokra-
tes, den Erztyp dieses theoretischen Menschen, wird bezogen:
gegen Sokrates, den Verächter des Instinktes, den Verherrlicher
des Bewußtseins, der lehrte, daß nur gut sein kann, was bewußt ist,
den Feind des Dionysos und den Mörder der Tragödie. Von ihm
stammt, nach Nietzsche, eine alexandrische Wissenschaftskultur,
blaß, gelehrtenhaft, mythosfremd, lebensfremd, eine Kultur, in
der Optimismus und Vernunftglaube gesiegt haben, derprakti-
sche und theoretische Utilitarismus, welcher, gleich der Demo-
kratie selbst, ein Symptom ab sinkender Kraft und der physiologi-
schen Ermüdung ist. Der Mensch dieser sokratischen, antitragi-
schen Kultur, der theoretische Mensch, will nichts mehr ganz
haben, mit aller natürlichen Grausamkeit der Dinge, verzärtelt
wie er ist durch optimistische Betrachtung. Aber, so hältder junge
Nietzsche sich überzeugt, die Zeit des sokratischen Menschen ist
vorüber. Ein neues Geschlecht, heroisch, verwegen, verachtungs-
voll gegen alle Schwächlichkeitsdoktrinen betritt den Schauplatz,
ein allmähliches Erwachen des dionysischen Geistes ist festzu-
stellen in unserer gegenwärtigen Welt, derWeltvon I 870, aus den
dionysischen Tiefen des deutschen Geistes, der deutschen Musik,
der deutschen Philosophie, vollzieht sich die Wiedergeburt der
Tragödie.
Er hat sich später über seinen Glauben von damals an den deut-
schen Geist verzweifelt lustig gemacht- und darüber, was er alles
in ihn hineingelegt hat, nämlich sich selbst. Er selbst, in der Tat, ist
in diesem noch mild-human, noch schwärmerisch-romantisch
getönten Vorspiel seiner Philosophie schon vollständig enthalten,
und auch die Welt-Perspektive, der Blick auf die abendländische
Gesamtkultur ist schon da, wenn es ihm auch vor allem noch um
die deutsche Kultur zu tun ist, an deren hohe Sendung er glaubt,
die er aber in größter Gefahr sieht, durch Bismarcks Machtstaats-
Gründung, durch Politik, demokratische Vermittelmäßigung
und selbstgefällige Siegessattheit dieser Sendung verlustig zu
gehen. Seine glänzende Diatribe gegen das altersschwache und
vergnügte Buch des Theologen David Strauß >Der alte und der
neue Glaube< ist das unmittelbarste Beispiel für diese Kritik eines
Philisteriums der Saturiertheit, das den deutschen GeistallerTiefe
zu berauben droht. Und es hat etwas Erschütterndes, wie schon
hier der jugendliche Denker prophetische Blicke vorauswirft auf
das eigene Schicksal, das wie ein tragischer Lebensplan offen vor
ihm zu liegen scheint. Ich meine die Stelle, wo er die ethische
Feigheit des vulgären Aufklärers Strauß verhöhnt, der sich wohl
hüte, aus seinem Darwinismus, aus dem bell um omnium contra
omnes und dem Vorrecht des Stärkeren MOralvorschriften für das
Leben abzuleiten, sondern sich immer nur in kräftigen Ausfällen
gegen Pfaffen undWunder gefalle, bei denen man den Philisterfür
sich habe. Er selbst, das weiß er in seiner Tiefe schon, wird das
Äußerste tun und selbst den Wahnwitz nicht scheuen, um den
Philister gegen sich zu haben.
Es ist die zweite der >Unzeitgemäßen Betrachtungen<, betitelt
.Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben<, worin
jener Grundgedanke seines Lebens, von dem ich sprach, am
vollkommensten, wenn auch noch in einer speziellen kritischen
Einkleidung präformiert ist. Die bewundernswerte Abhandlung
ist im Grunde nur eine große Variation des Harnlet-Wortes von
der »angebornen Farbe der Entschließung«, die von »des Gedan-
ken Blässe angekränkelt« wird. DerTitel istinsofern inkorrekt, als
von dem Nutzen der Historie kaum- und desto mehr von ihrem
Nachteil für das Leben, das teure, heilige, ästhetisch gerechtfer-
tigte, die Rede ist. Man hat das neunzehnte Jahrhundert das
historische Zeitalter genannt, und in Wahrheit hat es den histori-
schen Sinn überhaupt erst hervorgebracht und entwickelt, von
dem frühere Kulturen, eben als Kulturen, als künstlerisch in sich
geschlossene Lebenssysteme, wenig oder gar nichts wußten.
Nietzsche spricht geradezu von der »historischen Krankheit«, die
das Leben und seine Spontaneität zum Erlahmen bringe. Bildung,
das sei heutzutage historische Bildung. Aber die Griechen hätten
überhaupt keine historische Bildung gekannt, und man werde ja
wohl Anstand nehmen, die Griechen ungebildet zu nennen.
Historie, um der reinen Erkenntnis willen, nicht zumZwecke des
Lebens betrieben und ohne das Gegengewicht »plastischer Bega-
bung«, schöpferischer Unbefangenheit, ist mörderisch, ist der
Tod. Ein historisches Phänomen in seiner Erkanntheit- ist tot.
Um eine wissenschaftlich erkannte Religion zum Beispiel ist es
geschehen, sie ist am Ende. Die historisch-kritische Behandlung
des Christentums, sagt Nietzsche mit konservativer Besorgnis,
löst es in reines Wissen um das Christentum auf. Bei der histori-
schen Prüfung der Religion, sagt er, »kommen Dinge zu Tage, die
die pietätvolle Illusionsstimmung, in der alles, was leben will,
allein leben kann, notwendig zerstören«. Nur in Liebe, umschat-
tet von der Illusion der Liebe, schafftder Mensch. Historie müßte
als Kunstwerk traktiert werden, um kulturschöpferisch zu sein,-
aber das liefe dem analytischen und unkünstlerischen Zugder Zeit
zuwider. Historie treibt die Instinkte aus. Von ihr gebildet, oder
verbildet, vermag der Mensch nicht mehr, »die Zügel hängen zu
lassen« und naiv zu handeln, dem »göttlichen Tier« vertrauend.
Histode unterschätzt stets das Werdende und lähmt die Tat, die
immer Pietäten verletzen muß. Was sie lehrt und schafft, ist
Gerechtigkeit. Aber das Leben braucht keine Gerechtigkeit, es
braucht Ungerechtigkeit, es ist wesentlich ungerecht. »Es gehört
sehr viel Kraft dazu«, sagt Nietzsche (und man zweifelt, ob ersieh
diese Kraft zutraut), »leben zu können und zu vergessen, inwie-
fern leben und ungerecht sein eins sind.« Auf das Vergessen-
Können aber kommt alles an. Er will das U nhistorische: die Kunst
und Kraft, vergessen zu können und sich in einen begrenzten
Horizont einzuschließen, - eine Forderung, leichter erhoben als
erfüllt, so möchte man hinzusetzen. Denn mit einem begrenzten
Horizont wird man geboren, sich künstlich darin einzuschließen,
ist eine ästhetische Mummerei und eine Verleugnungdes Schick-
sals, aus der schwerlich etwas Echtes und Rechtes kommen kann.
Aber Nietzsche, sehrschönerund edler Weise, will das Oberhisto-
rische, welches den Blick vom Werden ablenkt hin zu dem, was
dem Dasein den Charakter des Ewigen und Seienden gibt, zu
Kunst und Religion. Der Feind ist die Wissenschaft, denn sie sieht
und kennt nur Historie und Werden, kein Seiendes, Ewiges; sie
haßt das Vergessen als den Tod des Wissens und sucht alle
Horizont-Umschränkungen aufzuheben. Alles Lebendige aber
braucht eine schützende Atmosphäre, einen geheimnisvollen
Dunstkreis und umhüllenden Wahn. Ein durch Wissenschaft
beherrschtes Leben ist viel weniger Leben als eines, das nicht
durch Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige Wahnbilder
beherrscht wird ...
Bei den »kräftigen Wahnbildern« denken wir heute an Sorel und
sein Buch >Sur Ia violence<, worin proletarischer Syndikalismus
und Faschismus noch eines sind, und das den Massenmythos,
ganz unabhängig von Wahrheit oder Unwahrheit, für den unent-
behrlichen Motor der Geschichte erklärt. Wir fragen uns auch, ob
es nicht besser wäre, die Massen in Respekt vor Vernunft und
Wahrheit zu halten und dabei ihre Forderung nach Gerechtigkeit
zu ehren,- als den Massenmythos zu pflanzen und von ,. kräftigen
Wahnbildern« beherrschte Horden auf die Menschheit loszulas-
sen. Wer tut das heute und zu welchem Zweck? Zu dem der Kultur
gewiß nicht. - Aber Nietzsche weiß nichts von Massen und will
nichts von ihnen wissen. »Der Teufel hole· sie«, sagt er, »und die
Statistik!« Er will und verkündet eine Zeit, in der man sich,
unhistorisch-überhistorisch, aller Konstruktionen des Weltpro-
zesses oder auch der Menschheitsgeschichte weislich enthält,
überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern die Großen,
Zeitlos-Gleichzeitigen, die über das historische Gewimmel hin-
weg ihr Geistergespräch führen. Das Ziel der Menschheit, sagt er,
liegt nicht am Ende, sondern in ihren höchsten Exemplaren. Das
ist sein Individualismus: ein ästhetischer Genie- und Heroenkult,
den er von Schopenhauer übernommen hat, zusammen mit der
Einprägung, daß das Glück unmöglich und das einzig Mögliche
und Menschenwürdige ein heroischer Lebenslauf ist. In Nietz-
sche's Umformung, im Verein mit seiner Anbetung des starken
und schönen Lebens, ergibt das einen heroischen Ästhetizismus,
zu dessen Schutzherrn er den Gott der Tragödie, Dionysos,
ausruft. Es ist eben dieser dionysische Ästhetizismus, welcher den
späteren Nietzsche zum größten Kritiker und Psychologen der
Moral macht, den die Geistesgeschichte kennt.
Zum Psychologen ist er geboren, die Psychologie ist seine Urlei-
denschaft: Erkenntnis und Psychologie, das ist ihm im Grunde ein
und dieselbe Passion, und es ist ein Wahrzeichen der ganzen
inneren Widersprüchlichkeit dieses großen und leidenden Gei-
stes, daß er, dem das Leben weit höher als das Erkennen gilt, so
vollkommen und unrettbar der Psychologie verfallen ist. Psycho-
loge ist er allein schon kraft des schopenhauerischen Befundes,
daß nicht der Intellekt den Willen hervorbringt, sondern umge-
kehrt, daß nicht der Intellekt das Primäre und Herrschende ist,
sondern der Wille, zu dem der Intellekt in einem rein bedienten-
haften Verhältnis steht. Der Intellekt als dienendes Werkzeug des
Willens: das ist der Quellpunkt aller Psychologie, einer Verdäch-
tigungs-und Entlarvungspsychologie, und Nietzsche, als Anwalt
des Lebens, wirft sich der Moral-Psychologie in die Arme, er
verdächtigt alle »guten« Triebe der Herkunft aus schlimmen und
ruft die »bösen« als die vornehmen und lebenerhöhenden aus. Das
ist »die Umwertung aller Werte«.
Was früher Sokratismus, »der theoretische Mensch«, Bewußtheit,
historische Krankheit hieß, das heißt nun schlechthin »Moral«,
insonderheit »christliche Moral«, die als etwas durch und durch
Giftiges, Rankünöses und Lebensfeindliches enthüllt wird,- und
nun darf man nicht vergessen, daß Nietzsche's Moralkritik zum
Teil etwas Unpersönliches, seiner Epoche allgemein Angehöriges
ist. Es ist die Zeit um die Jahrhundertwende, die Zeit des ersten
Anrennens der europäischen Intelligenz gegen die verheuchelte
Moral des viktorianischen, des bürgerlichen Zeitalters: in dieses
Bild fügt Nietzsche's wütender Kampf gegen die Moral sich bis zu
einem gewissen Grade und oft in überraschender Familienähn-
lichkeit ein. Es ist überraschend, die nahe Verwandtschaft man-
cher Aper~us von Nietzsche mit den keineswegs nureitlenAttak-
ken auf die Moral festzustellen, mit denen ungefähr gleichzeitig
Oscar Wilde, der englische Ästhet, sein Publikum chokierte und
zum Lachen brachte. Wenn Wilde erklärt: »For, tryaswemay, we
cannot get behind the appearance of things to reality. And the
terrible reason may be that there is no reality in thingsapart from
their appearances«; wenn er von der» Wahrheit der Masken« und
von dem »Verfall der Lüge« spricht, wenn er ausbricht: »To me
beauty is the wonder of wonders.lt is only shallow people who do
not judge by appearances. The true mystery of the world is the
visible, not the invisible«; wenn er die Wahrheit etwas so Persön-
liches nennt, daß niemals ein und dieselbe Wahrheit von zwei
Geistern gewürdigt werden kann, wenn er sagt: »Every impulse
that we strive tostrangle broods in the mind, and poisons us ... The
only way to get rid of a temptation is to yield to it«, und »Don't be
led astray into the paths of virtue!«- so könnte das alles sehrwohl
bei Nietzsche stehen. Und wenn man andererseits bei diesem liest:
»Der Ernst, dieses unmißverständliche Abzeichen des mühsame-
ren Stoffwechsels.«- »In der Kunst heiligt sich die Lüge und hat
der Wille zur Täuschung das gute Gewissen auf seiner Seite.« -
»Wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten
Urteile uns die unentbehrlichsten sind.«-» Es ist nicht mehr als ein
moralisches Vorurteil, daß Wahrheit mehrwertistals Schein« -so
ist unter diesen Sätzen keiner, der nicht in einervon Oscar Wilde' s
Komödien vorkommen könnte and get to laugh in the St. Jame
Theatre. Wollte man Wilde sehr loben, so verglich man seine
Stücke mit Sheridans ·The School for Scandak Vieles bei Nietz-
sche scheint aus dieser Schule zu stammen.
Natürlich hat die Zusammenstellung Nietzsche' s mit Wilde etwas
fast Sakrilegisches, denn dieser war ein dandy, der deutsche
Philosoph aber etwas wie ein Heiliger des Immoralismus. Und
doch gewinnt durch das mehr oder weniger gewollte Märtyrer-
tum seines Lebensendes, das Zuchthaus von Reading, Wilde's
dandyism einen Anflug von Heiligkeit, der Nietzsche's ganze
Sympathie erweckt hätte. Was ihn mit Sokrates versöhnte, war der
Schierlingsbecher, das Ende, der Opfertod, dessen Eindruck auf
die griechische Jugend und auf Plato er für unüberschätzbar hält.
Und die Person des Jesus von Nazareth ließ er unberührt von
seinem Haß auf das historische Christentum, abermals um des
Endes, des Kreuzes willen, das er in tiefster Seele liebte, und auf
das er selber willentlich zuschritt.
Sein Leben war Rausch und Leiden - eine hochkünstlerische
Verfassung, mythologisch gesprochen die Vereinigung des Dio-
nysos mit dem Gekreuzigten. Den Thyrsus schwingendhat er das
starke und schöne, das amoralisch triumphierende Leben eksta-
tisch verherrlicht und es gegen jede Verkümmerung durch den
Geist verteidigt -und zugleich dem Leiden Huldigungen darge-
bracht wie keiner. »Es bestimmt die Rangordnung«, sagt er, »wie
tief einer leiden kann.« Das istnichtdas Wort eines Anti-Morali-
sten. Es hat auch nichts von Anti-Moralismus, wenn er schreibt:
»Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner
letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgend einer Zeit messen.«
Denn er schreibt das nicht Mitleid heischend, sondern mit Stolz:
»Ich will«, sagt er, »es so schwer haben, wienur irgendein Mensch
es hat.« Schwer hat er es sich gemacht, schwer bis zur Heiligkeit,
denn Schopenhauers Heiliger blieb ihm im Grunde immer der
höchste Typus, und der »heroische Lebenslauf«, das ist der
Lebenslauf des Heiligen; Was definiert den Heiligen? Daß er
nichts von allem tut, was er möchte, und alles, was er nicht möchte.
So hat Nietzsche gelebt: »Allem entsagend, was ich verehrte, der
Verehrung selbst entsagend ... Du sollst Herr über dich werden,
Herr auch über die eigenen Tugenden.« Das ist der »Akt des sich
selbst Oberspringens«, von dem Novalis einmal spricht, und von
dem er meint, daß er überall der höchste sei. Dieser »Akt« nun (ein
Artisten- und Akrobatenausdruck) hat bei Nietzsche so gar nichts
übermütig-Gekonntes und Tänzerisches. Alles »Tänzerische« in
seinem Gehaben ist Velleität und im höchsten Grade unange-
nehm. Sondern es ist ein blutiges Sich-ins-eigene-Fleisch-Schnei-
den, Kasteiung, Moralismus. Sein Wahrheitsbegriff selbst ist
asketisch: denn Wahrheit ist ihm, was wehe tut, und er würde
jeder Wahrheit mißtrauen, die ihm wohltäte. »Unter den Kräf-
249
ten«, sagt er, »die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit:
diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre T eleolo-
gie, ihre interessierte Betrachtung ... « Sein »Immoralismus« ist
also die Selbstaufhebung der Moral aus Wahrhaftigkeit. Aber daß
dies eine Art von Überschwang und Luxuriieren der Moral ist,
deutet er an, wenn er voneinem Erbreichtum an Moralität spricht,
die viel verschwenden und zum Fenster hinauswerfen kann, ohne
dadurch sonderlich zu verarmen.
Dies alles steht hinter den Atrozitäten und trunkenen Botschaften
von Macht, Gewalt, Grausamkeit und politischem Betrug, zu
welchen sein Gedanke des Lebens als Kunstwerk und einer vom
Instinkt beherrschten, unreflektierten Kultur in den späteren
Schriften glänzend degeneriert. Als ein öffentlich Urteilender
einmal schrieb, Nietzsche plädiere für die Abschaffung aller
anständigen Gefühle, da wardersoMißverstandenevölligvorden
Kopf geschlagen. »Sehr verbunden!« sagte er höhnisch. Denn er
hatte es alles sehr nobel und menschenfreundlich, im Sinn eines
höheren, tieferen, stolzeren, schöneren Menschentums gemeint
und sich sozusagen >nichts dabei gedacht< - jedenfalls nichts
Schlechtes, wenn auch eine Menge Böses. Denn alles, was Tiefe
hat, ist böse; das Leben selbst ist tief böse, es ist nicht von der
Moral ausgedacht, es weiß nichts von >Wahrheit<, sondern beruht
auf Schein und künstlerischer Lüge, es spricht der Tugend Hohn,
denn es ist wesentlich Ruchlosigkeit und Ausbeutung,- und, sagt
Nietzsche, es gibt einen Pessimismus der Stärke, eine intellektu-
elle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problemati-
sche des Daseins aus Wohlsein, aus Fülle des Daseins. Dieses
»Wohlsein«, diese »Fülle des Daseins« schreibt der kranke Eu-
phoriker sich zu und macht es zu seiner Sache, die bisher vernein-
ten, vor allem vom Christentum verneinten, Seiten des Lebens als
seine bejahenswertesten auszurufen. Das Leben über alles!
Warum? Das hat er nie gesagt. Er hat nie einen Grund dafür
angegeben, warum das Leben etwas unbedingt Anbetungswürdi-
ges und höchst Erhaltenswertes ist, sondern hat nur erklärt, Leben
gehe über Erkennen, denn mit dem Leben vernichte das Erkennen
sich selbst. Er setze das Leben voraus und habe also an ihm das
Interesse der Selbsterhaltung. Es scheint also, das Leben muß sein,
damit es was zu erkennen gebe. Uns ist aber doch, als reiche diese
Logik nicht aus für seine begeisterte Protektion des Lebens. Wenn
er die Schöpfung eines Gottes darin sähe, so müßte man seine
Frömmigkeit ehren, auch wenn man persönlich wenig Anlaß
fände, vor dem explodierenden Weltall der modernen Physik auf
die Stirn zu fallen. Er sieht aber eine massive und sinnlose Ausge-
burt des Willens zur Macht darin, über deren Sinnlosigkeit und
kolossale Unmoralität eben man sich zu entzücken habe. Sein
Huldigungsruf ist nicht »Hosianna!« sondern »Evoe!«, und der
Ruf hat außerordentlich gebrochenen und gequälten Klang. Er
soll verleugnen, daß im Menschen etwas über-Biologisches ist,
das im Interesse am Leben nicht aufgeht, die Möglichkeit einer
Distanzierung von diesem Interesse, eine kritische Ungebunden-
heit, die vielleicht das ist, was Nietzsche »Moral« nennt, und die
dem lieben Leben zwar nie etwas Ernstliches anhaben wird-dazu
ist dieses viel zu unverbesserlich -, aber als leises Korrektiv und
Gewissensschärfung wirken mag, wie das Christentum es immer
nur getan hat. »Es gibt keinen festen Punkt außerhalb des Le-
bens«, sagt Nietzsche, »VOn dem aus über das Dasein reflektiert
werden könnte, keine Instanz, vor der das Leben sich schämen
könnte.« Wirklich nicht? Man hat das Gefühl, daß doch eine da ist,
und möge es nicht die Moral sein, so ist es schlechthin der Geist des
Menschen, die Humanität selbst als Kritik, Ironie und Freiheit,
verbunden mit dem richtenden Wort. »Das Leben hat keinen
Richter über sich«? Aber im Menschen kommen doch irgendwie
Natur und Leben über sich selbst hinaus, sie verlieren in ihm ihre
Unschuld, sie bekommen Geist- und Geist ist die Selbstkritik des
Lebens. Dieses humane Etwas in uns hat einen zweifelnden Blick
des Mitleids für eine »Gesundheitslehre« des Lebens, die in noch
nüchternen Tagen sich nur gegen die historische Krankheit rich-
tet, aber dann in eine mänadische Wut gegen die Wahrheit, Moral,
Religion, Menschlichkeit, gegen alles ausartet, was zu einer leidli-
chen Zähmung des wilden Lebens dienen kann.
Soviel ich sehe, sind es zwei Irrtümer, die das Denken Nietzsche' s
verstören und ihm verhängnisvoll werden. Der erste ist eine
völlige, man muß annehmen: geflissentliche Verkennung des
Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt auf Erden, so,
als sei dieser das gefährlich Dominierende, und höchste Notzeit
sei es, den Instinkt vor ihm zu retten. Wenn man bedenkt, wie
völlig bei der großen Mehrzahl der Menschen der Wille, der Trieb,
das Interesse den Intellekt, die Vernunft, das Rechtsgefühl beherr-
schen und niederhalten, so gewinnt die Meinung etwas Absurdes,
man müsse den Intellekt überwinden durch den Instinkt. Nur
historisch, aus einer philosophischen Augenblickssituation, als
Korrektur rationalistischer Saturiertheit, ist diese Meinung zu
erklären, und sofort bedarf sie der Gegen-Korrektur. Als ob es
nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die
geringste Gefahr bestünde, daß es je zu geistig zugehen könnte auf
Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu anhalten, das
schwache Flämmchen der Vernunft, des Geistes, der Gerechtig-
keit zu hüten und zu schützen, statt sich auf die Seite der Macht
und des instinkthaften Lebens zu schlagen und sich in einer
korybantischen Überschätzung seiner »verneinten« Seiten, des
Verbrechens zu gefallen, -dessen Schwachsinn wir Heutigen
erlebt haben. Nietzsche tut-und hatdamitviel Unheil angerichtet
-, als sei es das moralische Bewußtsein, das dem Leben, wie
Mephistopheles, die kalte Teufelsfaust entgegenstrecke. Für mein
Teil sehe ich nichts besonders Teuflisches in dem Gedanken
(einem alten Mystiker-Gedanken), daß einmal durch den Men-
schengeist das Leben aufgehoben werden könnte, - womit es ja
gute, unendlich gute Weile hat. Die Gefahr, daß das Leben auf
diesem Stern sich durch die Vervollkommnung der Atombombe
selber aufhebt, ist wesentlich dringender. Aber auch das ist un-
wahrscheinlich. Das Leben ist eine zähe Katze, und eine solche ist
die Menschheit.
Der zweite von Nietzsche's Irrtümern ist das ganz und garfalsche
Verhältnis, in das er Leben und Moral zueinander bringt, wenn er
sie als Gegensätze behandelt. DieWahrheit ist, daß sie zusammen-
gehören. Ethik ist Lebensstütze, und der moralische Mensch ein
rechter Lebensbürger,- vielleicht etwas langweilig, aber höchst
nützlich. Der wahre Gegensatz ist der von Ethik und Asthetik.
Nicht die Moral, die Schönheit ist todverbunden, wie viele Dich-
ter gesagt und gesungen haben,- Nietzsche sollte es nicht wissen?
»Als Sokrates und Plato anfingen, von Wahrheit und Gerechtig-
keit zu sprechen«, sagt er einmal, »da waren sie keine Griechen
mehr, sondern Juden- oder ich weiß nicht was.« Nun, die Juden
haben sich, dank ihrer Moralität, als gute und ausharrende Kinder
des Lebens erwiesen. Sie haben, nebst ihrer Religion, ihrem
Glauben an einen gerechten Gott, die Jahrtausende überdauert,
während das liederliche Ästheten- und Artistenvölkchen der
Griechen sehr bald vom Schauplatz der Geschichte verschwun-
den ist.
Aber Nietzsche, fern allem Rassen-Antisemitismus, sieht aller-
dings im Judentum die Wiege des Christentums und in diesem,
mit Recht, aber mit Abscheu, den Keim der Demokratie, der
Französischen Revolution und der verhaßten »modernen Ideen«,
die sein schmetterndes Wort als Herdentier-Moral brandmarkt.
»Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demo-
kraten«, sagt er; denn den Ursprung der »modernen Ideen« sieht
er in England (die Franzosen, meint er, warennurihre Soldaten),
und was er an diesen Ideen verachtet und verflucht, ist ihr Utilita-
nsmus und Eudämonismus, ihre Erhebung von Frieden und
Erdenglück zu höchsten Wünschbarkeiten,- während auf solche
gemeinen und weichlichenWerte der vornehme, der tragische, der
heroische Mensch doch mit Füßen tritt. Dieser ist notwendig ein
Krieger, hart gegen sich und andere, bereit zur Opferung seiner
selbst und anderer. Was er dem Christentum vor allem zum
Vorwurf macht, ist, daß es das Individuum zu solcher Wichtigkeit
erhob, daß man es nicht mehr opfern konnte. Aber, sagt er, die
Gattung bestehe nur durch Menschenopfer, und Christentum sei
das Gegenprinzip gegen die Selektion. Es hat tatsächlichdie Kraft,
die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern,
heruntergebracht und abgeschwächt und für Jahrtausende, bis zu
Nietzsche hin, die Entstehung jener Energie der Größe verhin-
dert, welche »durch Züchtung und andererseits durch Vernich-
tung von Millionen Mißratener den zukünftigen Menschen ge-
staltet und nicht zugrunde geht an dem nie dagewesenen Leid, das
er schafft«.- Wer hat jüngst die Kraft zu dieser Verantwortung
besessen, diese Größe frech sich zugemutet und die hohe Pflicht,
Menschen hekatombenweise zu opfern, ohne Wanken erfüllt?
Eine crapule größenwahnsinniger Kleinbürger, bei deren Anblick
Nietzsche sofort von schwerster Migräne mit allen ihren Begleit-
erscheinungen befallen worden wäre.
Er hat es nicht erlebt. Er hat auch seit dem altmodischen Chasse-
pot- und Zündnadelgewehr-Kriege von I 870 keinen Krieg mehr
erlebt und kann daher, aus lauter Haß auf die christlich -demokra-
tische Glücksphilanthropie, in Verherrlichungen des Krieges
schwelgen, die uns heute anmuten wie das Gerede eines erhitzten
Knaben. Daß die gute Sache den Krieg heilige, ist ihm viel zu
moralisch: es ist der gute Krieg, der jede Sache heiligt. »Die
Wertung, mit der heute die verschiedenen Formen der Sozietät
beurteilt werden«, schreibt er, »ist ganz und gar eins mit jener,
welche dem Frieden einen höheren Wert zuerteilt als dem Krieg:
abe~ dies Urteil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der
decadence des Lebens ... Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die
Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg.« Kein Gedanke daran,
daß es vielleicht nicht schlecht wäre, wenn man versuchte, aus der
Gesellschaft etwas anderes zu machen als ein Mittel zum Kriege.
Sie ist ein Naturprodukt, das, wie das Leben selbst, auf unmorali-
schen Voraussetzungen beruht, Voraussetzungen, welche anzu-
tasten einem tückischen Anschlag auf das Leben gleichkommt.
»Man hat auf das große Leben verzichtet«, ruft er, »wenn manauf
den Krieg verzichtet hat.« Auf das Leben und aufdie Kultur; denn
diese bedarf zu ihrer Erfrischung der gründlichen Rückfälle in die
Barbarei, und es ist eitel Schwärmerei, von der Menschheit an

l53
Kultur und Größe noch irgend etwas zu erwarten, wenn sie
verlernt hat, Krieg zu führen. Er verachtet alle nationalistische
Borniertheit. Aber diese Verachtung ist offenbar ein esoterisches
Vorrecht einzelner, denn er beschreibt Ausbrüche von nationali-
stischem Macht- und Opferrausch mit einer Begeisterung, die
keinen Zweifelläßt, daß er den Völkern, denMassendas »kräftige
Wahnbild« des Nationalismus zu erhalten wünscht.
Es ist hier eine Einschaltung nötig. Wir haben die Erfahrung
gemacht, daß es um den unbedingten Pazifismus unter Umstän-
den eine mehr als fragwürdige, eine lügenhafte und niederträch-
tige Sache sein kann. Jahrelang war er über Europa und über die
Welt hin nichts als die Maske faschistischer Sympathien, und
wahre Friedensfreunde haben den Frieden von München, den
1938 die Demokratien mit dem Faschismus schlossen, angeblich
um den Völkern den Krieg zu ersparen, als den tiefsten Punkt der
europäischen Geschichte empfunden. Der Krieg gegen Hitler,
oder vielmehr die bloße Bereitschaft dazu, die genügt hätte, ist
ersehnt worden von diesen Friedensfreunden. Wenn man sich
aber vor Augen stellt - und es stellt sich einem vor Augen! -,
welches Verderben in jedem Sinne des WOrtes selbst der für die
Menschheit geführte Krieg zeitigt, welche Entsittlichung, welche
Entfesselung gierig egoistischer und antisozialer Triebe; wenn
man, belehrt durch das schon Erlebte, sich ein ungefähres Bild
davon macht, wie die Erde erst nach dem nächsten, dem dritten
Weltkrieg aussehen wird - aussehen würde -, so erscheinen
einem Nietzsche's Rodomontaden von der kulturerhaltenden
und selektiven Funktion des Krieges als die Phantasien eines
Unerfahrenen, des Sohnes einer langen Friedens- und Sekuritäts-
epoche mit >mündelsicheren Anlagen<, welche sich an sich selbst
zu langweilen beginnt.
Da er übrigens mit erstaunlichem prophetischem Vorgefühl eine
Folge ungeheurer Kriege und Explosionen, ja das klassische
Zeitalter des Krieges voraussagt, »worauf Spätere mit Neid und
Ehrfurcht blicken werden«, so scheint es ja um die humanitäre
Entartung und Verschneidung der Menschheit noch nicht so
gefährlich bestellt zu sein, und man sieht den Grund nicht ein,
weshalb sie zu dem selektiven Gemetzel noch philosophisch
angespornt werden muß. Will diese Philosophie die moralischen
Skrupel beseitigen, die den kommenden Greueln etwa im Wege
sind? Will sie die Menschheit für das prachtvoll Bevorstehende in
Form bringen? Aber sie tut es auf eine voluptuöse Weise, die-
nicht etwa, wie beabsichtigt, unseren moralischen Protest hervor-
ruft, sondern uns weh und bange macht um den edlen Geist, der
hier wollüstig gegen sich selber wütet. über bloße Erziehung zur
Männlichkeit geht es peinlich hinaus, wenn mittelalterliche For-
men der Folter aufgezählt, beschrieben und empfohlen werden
mit einer Genüßlichkeit, die ihre Spuren in zeitgenössischer
deutscher Literatur hinterlassen hat. Es grenzt ans Gemeine,
wenn »Zärtlingen zum Trost« die geringere Schmerzfähigkeit
niedriger Rassen, der Neger etwa, zu bedenken gegeben wird.
Und wenn dann der Sang von der »Blonden Bestie« sich erhebt,
»dem frohlockenden Ungeheuer«, dem Typus Mensch, der »Von
der scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schän-
dung, Folter mit Übermut heimkommt wie von einem Studenten-
streich«, so ist das Bild des infantilen Sadismus vollkommen, und
unsere Seele windet sich in Pein.
Es ist der Romantiker Novalis, ein Geist von Nietzsche's Familie
also, der die schlagendste Kritik dieser Geisteshaltung gegeben
hat. »Das Ideal der Sittlichkeit«, sagt er, »hat keinen gefährliche-
renNebenbuhlerals das Ideal der höchsten Stärke, des kräftigsten
Lebens, was man auch das Ideal der ästhetischen Größe (im
Grunde sehr richtig, der Meinung nach aber sehr falsch) benannt
hat. Es ist das Maximum des Barbaren und hat leider in diesen
Zeiten der verwildernden Kultur gerade unter den größesten
Schwächlingen sehr viele Anhänger erhalten. Der Mensch wird
durch dieses Ideal zum Tier-Geiste- eine Vermischung, deren
brutaler Witz eben eine brutale Anziehungskraft für Schwäch-
linge hat.«
Das ist nicht zu übertreffen. Hat Nietzsche die Stelle gekannt?
Man kann nicht daran zweifeln. Aber er hat sich durch sie in seinen
trunkenen, bewußt trunkenen und darum im Grunde nicht ernst
gemeinten Provokationen des »Ideals der Sittlichkeit« nicht stö-
ren lassen. Was Novalis das Ideal der ästhetischen Größe, das
Maximum des Barbaren, den Menschen als Tier-Geist nennt, das
ist Nietzsche's Übermensch, und er schildert ihn als die »Aus-
scheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit, in welcher
eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht tritt, der andere
Entstehungs- und andere Erhaltungsbedingungen hat als der
Durchschnittsmensch«. Es sind die zukünftigen Herren der Erde,
ist der prangende Tyrannentyp, zu dessen Erzeugung die Demo-
kratie gerade recht ist und der sie denn auch als Instrument
benutzen, seine neue Moral in machiavellistischer Anknüpfung an
das bestehende Sittengesetz unter diesen Worten einführen' muß.
Denn diese Schreckensutopie von Größe, Stärke und Schönheit
lügt bei weitem lieber, als daß sie die Wahrheit sagt,- es kostet
mehr Geist und Willen. Der Übermensch ist der Mensch, »indem
die spezifischen Eigenschaften des Lebens - Unrecht, Lüge,
Ausbeutung-am größten sind«.
Es wäre die letzte Inhumanität, alldiesen schrillen und gequälten
Herausforderungen mit Spott und Schimpf- und bloße Dumm-
heit, ihnen mit moralischer Entrüstung zu begegnen. Wir haben
ein Harnletschicksal vor uns, ein tragisches Schicksal über die
Kraft gehender Erkenntnis, das Ehrfurcht einflößt und Erbar-
men. »Ich glaube«, sagt Nietzsche einmal, »ich habe einiges aus
der Seele des höchsten Menschen erraten - vielleicht geht jeder
zugrunde, der ihn errät.« Er ist daranzugrunde gegangen, und zu
vielfach sind die Atrozitäten seines Lehrens von unendlich rüh-
rendem lyrischen Leid, von tiefen Liebesblicken, von Lauten
schwermütigster Sehnsucht nach demTau der Liebe für das dürre,
das regenlose Land seiner Einsamkeit durchzogen, als daß Hohn
oder Abscheu vor solchem Ecce Homo-Bilde sich hervorwagen
dürfen. Aber etwas in die Enge getrieben sieht unsere Verehrung
sich freilich, wenn der von Nietzsche hundenmal verhöhnte und
als giftiger Hasser höheren Lebens angeprangerte »Sozialismus
der unterworfenen Kaste« uns nachweist, daß sein Übermensch
nichts anderes ist als die Idealisierung des faschistischen Führers,
und daß er selbst mit seinem ganzen Philosophieren ein Schrittma-
cher, Mitschöpfer und Ideensouffleur des europäischen -, des
Welt-Faschismus gewesen ist. Unterderhand bin ich geneigt, hier
Ursache und Wirkung umzukehren und nicht zu glauben, daß
Nietzsche den Faschismus gemacht hat, sondern der Faschismus
ihn,- will sagen: politikfern im Grunde und unschuldig-geistig,
hat er als sensibelstes Ausdrucks- und Registrierinstrument mit
seinem Macht-Philosophen den heraufsteigenden Imperialismus
vorempfunden und die faschistische Epoche des Abendlandes, in
der wir leben und trotz dem militärischen Sieg über den Faschis-
mus noch lange leben werden, als zitterndeN adel angekündigt.
Als Denker, der mit seinem ganzen Wesen von Anbeginn aus dem
Bürgerlichen heraustrat, hat er die faschistische Komponente der
nachbürgerlichen Zeit scheinbar bejaht und die sozialistische
verneint, weil diese die moralische war, und weil er Moral über-
haupt mit bürgerlicher Moral verwechselte. Aberdem Einfluß des
sozialistischen Elements im Kommenden hat seine Empfindlich-
keit sich gar nicht entziehen können, und das ist es, was die
Sozialisten verkennen, die ihn als Faschisten pursang verrufen. Es
ist so einfach nicht,- so viel für diese Vereinfachung vorgebracht
werden kann. Wahr ist es: seine heroische Glücksverachtung, die
etwas sehr Persönliches und politisch schlecht verwendbar war,
hat ihn verleitet, in jedem Willen zur Abstellung der entehrend-
zs6
sten sozialen und ökonomischen Mißstände, des vermeidbaren
Leidens auf Erden das verächtliche Verlangen nach dem »grünen
Weideglück der Herdentiere« zu sehen. Nicht umsonst ist sein
Wort vom >>gefährlichen Leben« ins Italienische übersetzt wor-
den und in den Argotdes Faschismus eingegangen. Alles, was er in
letzter Überreiztheit gegen Moral, Humanität, Mitleid, Christen-
tum und für die schöne Ruchlosigkeit, den Krieg, das Böse gesagt
hat, war leider geeignet, in der Schund-Ideologie des Faschismus
seinen Platz zu finden, und Verirrungen wie seine >Moral für
Ärzte< mit der Vorschrift der Krankentötung und Kastrierung der
Minderwertigen, seine Einprägung von der Notwendigkeit der
Sklaverei, dazu manche seiner rassehygienischen Auslese-, Züch-
tungs-, Ehevorschriften sind tatsächlich, wenn auch vielleicht
ohne wissentliche Bezugnahme auf ihn, in die Theorie und Praxis
des Nationalsozialismus übergegangen. Wenn das Wort wahr ist:
"An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«, so steht es schlimm um
Nietzsche. Bei Spengler, seinem klugen Affen, ist der Herren-
mensch seines Traumes zum modernen »Tatsachenmenschen
großen Stils«, zu dem über Leichen gehenden Raub- und Profit-
menschen, zum Geldmagnaten, Rüstungsindustriellen, zum
deutschen Generaldirektor geworden, der den Faschismus finan-
ziert, - kurz, Nietzsche wird bei ihm in stupider Eindeutigkeit
zum philosophischen Patron des Imperialismus, - von dem er in
Wahrheit nichts verstanden hat. Wie hätte er sonst dem Händler-,
dem Krämergeist, den er für pazifistisch hält, auf Schritt und Tritt
seine Verachtung erweisen und ihm den heldischen, den Geist des
Soldatenturns rühmend entgegenstellen können? Das Bündnis
von Industrialismus und Militarismus, ihre politische Einheit, in
welcher der Imperialismus besteht, und daß es der Geist des
Verdienens ist, der die Kriege macht, das hat sein >>aristokratischer
Radikalismus« überhaupt nicht gesehen.
Man sollte sich doch nicht täuschen lassen: Der Faschismus als
Massenfang, als letzte Pöbelei und elendestes Kultur-Banau-
sentum, das je Geschichte gemacht hat, ist dem Geiste dessen, für
den alles sich um die Frage »Was ist vornehm?« drehte, im tiefsten
fremd; er liegt ganz außerhalb seiner Einbildungskraft, und daß
das deutsche Bürgertum den Nazi-Einbruch mit Nietzsche's
Träumen von kulturerneuernder Barbarei verwechselte, war das
plumpste aller Mißverständnisse. Ich rede nicht von seinem ver-
achtungsvollen Hinwegsehen über allen Nation,alismus, seinem
Haß auf das >Reich< und die verdummende deutsche Machtpoli-
tik, seinem Europäertum, seinem Hohn auf den Antisemitismus
und den gesamten RasseschwindeL Aber ich wiederhole, daß der
157
sozialistische Einschlag in seiner Vision nachbürgerlichen Lebens
ebenso stark ist wie derjenige, den man den faschistischen nennen
kann. Was ist es denn, wenn Zarathustra ruft: »Ich beschwöre
euch, meine Brüder, bleibt der Erdetreu! Nicht mehr den Kopf in
den Sand der himmlischen Dinge stecken, sondern frei ihn tragen,
einen Erdenkopf, der der Erde Sinn schafft! ... Führt gleich mir die
verflogene Tugend zur Erde zurück - ja, zurück zu Liebe und
Leben: daß sie der Erde einen Sinn gebe, einen Menschensinn I«?
Es bedeutet den Willen, das Materielle mit Menschlichem zu
durchdringen, den Materialismus des Geistes, es ist Sozia-
lismus.
Sein Kulturbegriff hat hie und da eine starke sozialistische, jeden-
falls nicht mehr bürgerliche Färbung. Er wendet sich gegen das
Auseinanderfallen von Gebildeten und Ungebildeten, und sein
jugendlicher Wagnerismus meint vor allem dies: das Ende der
Renaissance-Kultur, dieses Groß-Zeitalters der Bürgerlichkeit,
eine Kunst für Hoch und Niedrig, keine höchsten Beglückungen
mehr, die nicht den Herzen aller gemein wären.
Von Arbeiterfeindschaft zeugt es nicht, es zeugt vom Gegenteil,
wenn er sagt: »Die Arbeiter sollen als Soldaten empfinden lernen:
ein Honorar, ein Gehalt, aber keine Bezahlung. Sie sollen einmal
leben wie jetzt die Bürger; aber über ihnen, sich durch Bedürfnis-
losigkeit auszeichnend, die höhere Kaste, also ärmer und einfa-
cher, aber im Besitz der Macht.« Und er hat sonderbare Anwei-
sungen gegeben, den Besitz moralischer zu machen: »Man halte
alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen«, sagt er, »aber
verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung, man ziehe
alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung
großer Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel,
aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften - und
betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemein-
gefährliche Wesen.« -Der Nichts-Besitzer als bedrohliche Bestie
in den Augen des philosophischen Kleinkapitalisten: das stammt
von Schopenhauer. Die Gefährlichkeit des Zuviel-Besitzers hat
Nietzsche dazugelernt. .
Um 1875, vor mehr als siebzig Jahren, prophezeit er, nicht gerade
mit Enthusiasmus, sondern einfach als Konsequenz der siegenden
Demokratie, einen europäischen Völkerbund, »in welchem jedes
einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abge-
grenzt, die Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte inne-
hat«. Die Perspektive ist damals noch rein europäisch. Im Lauf des
folgenden Jahrzehnts weitet sie sich ins Globale und Universelle.
Er spricht von der unvermeidlich bevorstehenden Wirtschafts-
2.58
Gesamtverwaltung der Erde. Er ruft nach möglichst vielen inter-
nationalen Mächten- »um die Welt-Perspektive einzuüben«. Sein
Glaube an Europa schwankt. »Die Europäer bilden sich im
Grunde ein, jetzt den höheren Menschen auf der Erde darzustel-
len. Die asiatischen Menschen sind hundertmal großartiger als die
europäischen.« Andererseits hält er für möglich, daß in der Welt
der Zukunft der geistige Einfluß in den Händen des typischen
Europäers sein könnte, einer Synthese der europäischen Vergan-
genheit im höchsten geistigen Typ. [»Die Herrschaft der Erde-
angelsächsisch. Das deutsche Element ist ein gutes Element, es
versteht nicht zu herrschen.«] Dann wieder sieht er das Ineinan-
derwachsen der deutschen und slawischen Rasse und Deutsch-
land als eine vorslawische Station, einem panslawischen Europa
den Weg bereitend. Das HeraufkommenRußlands als Weltmacht
ist ihm vollkommen klar: »Die Gewalt geteilt zwischen Slawen
und Angelsachsen und Europa als Griechenland unter der Herr-
schaft Roms.«
Für einen Ausflug ins Weltpolitische, unternommen von einem
Geist, dem es im Grunde nur um die Aufgabe der Kultur zu tun ist,
den Philosophen, den Künstler und den Heiligen zu erzeugen,
sind das frappante Ergebnisse. Er sieht, über annähernd ein
Jahrhundert hinweg, ungefähr was wir Heutigen sehen. Denn die
Welt, ein neu sich bildendes Weltbild, ist eine Einheit, und wohin,
nach welcher Seite immer eine so ungeheure Reizbarkeit sich
wendet und vortastet, erfühlt sie das Neue, das Kommende und
zeigt es an. Nietzsche nimmt, rein intuitiv, Ergebnissedermoder-
nen Physik vorweg durch seine Bekämpfung der mechanistischen
W eltinterpretation, seine Leugnung einer kausal determinierten
Welt, des klassischen »Naturgesetzes«, der Wiederkehr identi-
scher Fälle. »Es gibt kein zweites Mal.« Es gibt auch keine
Berechenbarkeit, nach der auf eine bestimmte Ursache eine be-
stimmte Wirkung folgen müßte. Die Auslegung eines Geschehens
nach Ursache und Wirkung ist falsch. Es handelt sich um einen
Kampfzweier an Macht ungleicher Elemente, ein Neu-Arrange-
ment von Kräften, wobei der neue Zustand etwas Grundverschie-
denes vom alten, keineswegs dessen Wirkung ist. Dynamik also
statt Logik und Mechanik. Nietzsche's »naturwissenschaftliche
Ahnungen«, um Helmholtz' Wort über Goethe au~zunehmen,
sind geistig tendenziös, sie wollen etwas, sie ordnen sich seinem
Macht-Philosophem, seinem Anti-Rationalismus ein und dienen
seiner Erhebung des Lebens über das Gesetz,- weil das Gesetz als
solches schon etwas »Moralisches« hat. Aber wie es um diese
Tendenz nun stehe- vor der Naturwissenschaft, der das »Gesetz«
259
sich unterdessen zur bloßen Wahrscheinlichkeit abgeschwächt
hat und die am Kausalbegriff weitgehend irre geworden ist, hat er
recht behalten.
Wie mit jedem Gedanken, den er gedacht hat, tritt er mit seinen
physikalischen Ideen aus der bürgerlichenWeltklassischer Ratio-
nalität in eine neue, in der er selbst seiner Herkunft nach der
Fremdeste ist. Ein Sozialismus, der ihm das nicht zugut rechnen
will, erregt die Vermutung, daß er selbst der Bürgerlichkeit weit
mehr angehört, als er weiß. Die Beurteilung Nietzsche's als eines
zentrumslosen Aphoristikers ist aufzugeben: seine Philosophie
ist so gut wie die Schopenhauers ein durchorganisiertes System,
entwickelt aus einem einzigen, alles durchdringenden Grundge-
danken. Aber dieser Grund- und Ausgangsgedanke ist nun frei-
lich radikal ästhetischer Art, - wodurch allein sein Schauen und
Denken in unversöhnlichen Gegensatz zu allem Sozialismus gera-
ten muß. Es gibt zuletzt nur zwei Gesinnungen und innere
Haltungen: die ästhetische und die moralistische, und der Sozia-
lismus ist streng moralische Weltansicht. Nietzsche dagegen ist
der vollkommenste und rettungsloseste Ästhet, den die Ge-
schichte des Geistes kennt, und seine Voraussetzung, die seinen
dionysischen Pessimismus in sich enthält: daß nämlich das Leben
nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei, trifft genaue-
stens auf ihn, sein Leben, sein Denk- und Dichtwerk zu,- nur als
ästhetisches Phänomen ist es zu rechtfertigen, zu verstehen, zu
verehren, bewußt, bis in die Selbst-Mythologisierung des letzten
Augenblicks und bis in denWahnsinnhinein ist dieses Leben eine
künstlerische Darbietung, nicht nur dem wundervollen Aus-
druck, sondern dem innersten Wesen nach,- ein lyrisch-tragi-
sches Schauspiel von höchster Faszination.
Es ist merkwürdig genug, obgleich wohl verständlich, daß die
erste Form, in der der europäische Geist gegen die Gesamtmoral
des bürgerlichen Zeitalters rebellierte, der Ästhetizismus war.
Nicht umsonst habe ich Nietzsche und Wilde zusammen genannt
-als Revoltierende, und zwar im Namen der Schönheit Revoltie-
rende gehören sie zusammen, möge auch bei dem deutschen
Tafelbrecher die Revolte ungeheuer viel tiefer gehen und unge-
heuer viel mehr an Leiden, Entsagung, Selbstüberwindung ko-
sten. Bei sozialistischen Kritikern, namentlich russischen, habe
ich wohl gelesen, die ästhetischen Apercrus und Urteile Nietz-
sche's seien oft von bewundernswerter Feinheit, in moralisch-
politischen Dingen aber sei er ein Barbar. Diese Distinktion ist
naiv, denn Nietzsche's Verherrlichung des Barbarischen ist nichts
weiter als eine Ausschweifung seiner ästhetischen Trunkenheit,
260
und allerdings verrät sie eine Nachbarschaft, über die wir allen
Grund haben nachzudenken: die Nachbarschaft eben von Ästhe-
tizismus und Barbarei. Diese unheimliche Nähe wurde gegen
Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch nicht gesehen, gefühlt,
gefürchtet,- sonst hätte Georg Brandes, ein Jude und liberaler
Schriftsteller, den »aristokratischen Radikalismus« des deutschen
Philosophen nicht als neue Nuance entdecken und Propaganda-
Vorlesungen darüber halten können: ein Zeichen für das damals
noch herrschende Sicherheitsgefühl, die Sorglosigkeit des zur
Neige gehenden bürgerlichen Zeitalters,- ein Zeichen aber auch,
daß der gewiegte dänische Kritiker Nietzsche' s Barbarismus nicht
ernst, nicht eigentlich nahm, ihn cum grano salis verstand,-woran
er sehr recht tat.
Durch Nietzsche's Ästhetizismus, der eine rasende Verleugnung
des Geistes ist zugunsten des schönen, starken und ruchlosen
Lebens, die Selbstverleugnung eines Menschen also, der tief am
Leben leidet, kommt etwas Uneigentliches, Unverantwortliches,
Unverlässiges und Leidenschaftlich-Gespieltes in seine philoso-
phischen Ergüsse, ein Element tiefster Ironie, woran das Ver-
ständnis des schlichteren Lesers scheitern muß. Was er bietet, ist
nicht nur Kunst, - eine Kunst ist es auch, ihn zu lesen, und
keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschla-
genheit, Ironie, Reserve erforderlich bei seiner Lektüre. Wer
Nietzsche >eigentlich< nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist
verloren. Mit ihm wahrhaftig steht es wie mit Seneca, den er einen
Menschen nennt, dem man immer sein 0 hr, aber niemals »Treu
und Glauben« schenken sollte. Sind Beispiele nötig? Der Leser des
>Fall Wagner< etwa traut seinen Augen nicht, wenn in einem Brief
an den Musiker Carl Fuchs vom Jahre 1888 plötzlich zu lesen ist:
»Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so
wie ich bin, kommt Bizet tausend Mal für mich nicht in Betracht.
Aber als ironische Antithese gegenWagnerwirkt es sehr stark ... «
Das bleibt übrig, >Unter uns< geredet, von dem verzückten Loblied
auf >Carmen< im >Fall Wagner<. Es ist verblüffend, aber es ist noch
gar nichts. In einem weiteren Brief an denselben Adressaten gibt er
Ratschläge, wie am besten über ihn als Psychologen, Schriftsteller,
Immoralisten zu schreiben sei: nämlich nicht urteilend mit Nein
und Ja, sondern charakterisierend in geistiger Neutralität. »Es ist
durchaus nicht nötig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für
mich zu nehmen: im Gegenteil, eine Dosis Neugierde, wie vor
einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande,
schien mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir.-
Verzeihung! Ich schrieb eben einige Naivitäten - ein kleines
.261
Rezept, sich glücklich aus etwas Unmöglichem herauszu-
ziehen ... «
Hat je ein Autor auf seltsamere Art vor sich gewarnt?-» Antilibe-
ral bis zur Bosheit« nennt er sich. Antiliberal aus Bosheit, aus
Drang nach Provokation, wäre richtiger. Als 1888 der Kaiser der
hundert Tage, Friedrich 111., der englisch verheiratete Liberale,
stirbt, ist Nietzsche bewegt und niedergeschlagen wie der ganze
deutsche Liberalismus. »Zuletzt war er ein kleines Schimmerlicht
von freiem Gedanken, die letzte Hoffnung für Deutschland. Jetzt
beginnt das Regiment Stöcker:- ich ziehe die Konsequenz und
weiß bereits, daß nunmehr mein >Wille zur Macht< zuerst in
Deutschland konfisziert werden wird ... «- Nun, es wird nichts
konfisziert. Der Geist der liberalen· Epoche ist noch zu stark, es
darf in Deutschland alles gesagt werden. In der Trauer Nietzsche's
um Friedrich aber kommt unversehens etwas ganz Schlichtes,
Einfaches und Un-Paradoxales - man kann sagen, es kommt
die Wahrheit zum Vorschein: die natürliche Liebe des Geistes-
menschen, des Schriftstellers zur Freiheit, die seine Lebensluft
ist, - und auf einmal liegt das ganze ästhetische Phantasie-
werk von Sklaverei, Krieg, Gewalt, herrlicher Grausamkeit
irgendwo fern im Lichte unverantwortlichen Spiels und farbiger
Theorie.
Er hat sein Leben lang den »theoretischen Menschen« vermale-
deit, aber er selbst ist dieser theoreti~che Mensch par excellence
und in Reinkultur, sein Denken ist absolute Genialität, unprag-
matisch zum Äußersten, bar jeder pädagogischen Verantwor-
tung, von tiefer Politiklosigkeit, es ist in Wahrheit ohne Beziehung
zum Leben, dem geliebten, verteidigten, über alles erhobenen,
und nie hat er sich die geringste Sorge darum gemacht; wie seine
Lehren sich in praktischer, politischer Wirklichkeit ausnehmen
würden. Das haben auch die zehntausend Dozenten des Irrationa-
len nicht getan, die in seinem Schatten, über ganz Deutschland hin,
wie Pilze aus dem Boden wuchsen. Kein Wunder! Denn nichts
konnte im Grunde der deutschen Anlage genehmer sein als sein
ästhetischer Theoretizismus. Auch gegen die Deutschen, diese
Verderber der europäischen Geschichte, hat er seine schweflich-
ten kritischen Blitze geschleudert und schließlich kein gutes Haar
an ihnen gelassen. Aber wer, zuletzt, war deutscher als er, wer hat
den Deutschen alles noch einmal exemplarisch vorgemacht, wo-
durch sie der Welt eine Not und ein Schrecken geworden sind und
sich zugrunde gerichtet haben: die romantische Leidenschaft, den
Drang zur ewigen Ich-Entfaltung ins Grenzenlose ohne festen
Gegenstand, den Willen, der frei ist, weil er kein Ziel hat und ins
262
Unendliche geht? Als die Laster der Deutschen hat erden Trunk
und den Hang zum Selbstmord bezeichnet. Ihre Gefahr liege in
allem, was die Verstandeskräfte bindet und die Affekte entfesselt,
»denn der deutsche Affekt ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet
und selbstzerstörerisch wie der des Trunkenbolds. Die Begeiste-
rung selber ist in Deutschland weniger wert als anderwärts, denn
sie ist unfruchtbar«.-Wie nennt Zarathustra sich? »Selbstkenner-
Selbsthenker.«-
In mehr als einem Sinn ist Nietzsche historisch geworden. Er hat
Geschichte gemacht, fürchterliche Geschichte, und übertrieb
nicht, wenn er sich »ein Verhängnis« nannte. Seine Einsamkeit hat
er ästhetisch übertrieben. Er gehört, allerdings in extrem deut-
scher Gestalt, einer allgemein abendländischen Bewegung an, die
Namen wie Kierkegaard, Bergson und viele andere zu den ihren
zählt und eine geistesgeschichtliche Revolte ist gegen den klassi-
schen Vernunftglauben des achtzehnten und neunzehnten Jahr-
hunderts. Sie hat ihr Werk getan- oder nur insofern noch nicht
vollendet, als seine notwendige Fortsetzung die Rekonstituierung
der menschlichen Vernunft auf neuer Grundlage, die Eroberung
eines Humanitätsbegriffs ist, der gegen den selbstgefälligverflach-
ten der Bürgerzeit an Tiefe gewonnen hat.
Die Verteidigung des Instinkts gegen Vernunft und Bewußtheit
war eine zeitliche Korrektur. Die dauernde, ewig notwendige
Korrektur bleibt die des Lebens durch den Geist-oderdie Moral,
wenn man will. Wie zeitgebunden, wie theoretisch auch, wie
unerfahren mutet uns Nietzsche's Romantisierung des Bösen
heute an! Wir haben es in seiner ganzen Miserabilität kennenge-
lernt und sind nicht mehr Ästheten genug, uns vor dem Bekennt-
nis des Guten zu fürchten, uns so trivialer Begriffe und Leitbilder
zu schämen wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit. Zuletztgehört
der Ästhetizismus, in dessen Zeichen die freien Geister sich gegen
die Bürger-Moral wandten, selbst dem bürgerlichen Zeitalter an,
und dieses überschreiten heißt heraustreten aus einer ästhetischen
Epoche in eine moralische und soziale. Eine ästhetische Weltan-
schauung ist schlechterdings unfähig, den Problemen gerecht zu
werden, deren Lösung uns obliegt,- so sehr Nietzsche's Genie
dazu beigetragen hat, die neue Atmosphäre zu schaffen. Einmal
vermutet er, daß in der kommenden Welt seiner Vision die
religiösen Kräfte immer noch stark genug sein könnten zu einer
atheistischen Religion ala Buddha, welche über die Unterschiede
der Konfessionen hinwegstriche - und die Wissenschaft hätte
nichts gegen ein neues Ideal. »Aber allgemeine Menschenliebe«,
fügt er vorsorglich hinzu, »wird es nicht sein!«-Und wenn es nun
263
gerade dies wäre? -Es brauchte die optimistisch-idyllische Liebe
zum >Menschengeschlecht< nicht zu sein, der das achtzehnte
Jahrhundert sanfte Tränen weihte und der übrigens die Gesittung
ungeheuere Fonschritte verdankt. Wenn aber Nietzsche verkün-
det: »Gott ist tOt«- ein Beschluß, der für ihn das schwerste aller
Opfer bedeutete-, zu wessen Ehrung, zu wessen Erhöhung tat er
es, als zu der des Menschen? Wenn er Atheist war, wenn er es zu
sein vermochte, so war er es, und klinge dasWortnoch so pastoral-
empfindsam, aus Menschenliebe. Er muß es sich gefallen lassen,
ein Humanist genannt zu werden, wie er es dulden muß, daß man
seine Moral-Kritik als eine letzte Form der Aufklärung begreift.
Die überkonfessionelle Religiosität, von der er spricht, kann ich
mir nicht anders vorstellen als gebunden an die Idee des Men-
schen, als einen religiös fundienen und getönten Humanismus,
der, vielerfahren, durch vieles hindurchgegangen, alles Wissen
ums Untere und Dämonische hineinnähme in seine Ehrung des
menschlichen Geheimnisses.
Religion ist Ehrfurcht,- die Ehrfurcht zuerst vor dem Geheimnis,
das der Mensch ist. Sofern es um neue Ordnung, neue Bindung,
die Anpassung der menschlichen Gesellschaft an die Erforder-
nisse der Weltstunde geht, ist gewiß mit Konferenzbeschlüssen,
technischen Maßnahmen, juridischen Institutionen wenig getan,
und World Government bleibt rationale Utopie. Notwendig
zuerst ist dieWandlungdes geistigen Klimas, ein neu es Gefühl für
die Schwierigkeit und den Adel des Menschseins, eine alles durch-
waltende Grundgesinnung, der niemand sich entzieht, die jeder
im Innersten als Richter anerkennt. Für ihre Entstehung und
Befestigung kann der Dichter und Künstler, unmerklich von oben
ins Untere, Breite wirkend, einiges tun. Aber sie wird nicht gelehn
und gemacht, sie wird erlebt und erlitten.
Daß Philosophie nicht kalte Abstraktion, sondern Erleben, Erlei-
den und Opfenat für die Menschheit ist, war Nietzsche's Wissen
und Beispiel. Er ist dabei zu den Firnen grotesken Irnums empor-
getrieben worden, aber die Zukunft war in Wahrheit das Land
seiner Liebe, und den Kommenden, wie uns, deren Jugend ihm
Unendliches dankt, wird er als eine Gestalt von zaner und ehr-
würdiger Tragik, umlohnt vomWetterleuchten dieser Zeitwende,
vor Augen stehen.
Editionshinweise mit Sekundärliteratur

Mehr noch als in Band II dieser Ausgabewurde beiden Texterläu-


terungen das Hauptgewicht auf die Ermittlung der Quellen ge-
legt. Nach wörtlichen Zitaten wurde in allen Fällen gefahndet,
nach indirekten Wiedergaben und Anspielungen so weit wie
möglich und sinnvoll. Der Blick auf die Quellen macht deutlich,
daß die Essays in weit größerem Maßstab als die Romane mit einer
Art Montage-Technik gearbeitet sind, mit deren Hilfe dem wenig
umfangreichen eigenen Gedankenbau eine große Fülle von stüt-
zenden Fremdmaterialien agglomeriert wurde.

Zur Herstellung der Erläuterungen wurden neben den Quellen-


werken folgende allgemeinere Hilfsmittel benützt (im Text nur
mit Verfassernamen und/oder Kurztitel angegeben):
Hans Bürgin I Hans-Otto Mayer: Thomas Mann. Eine Chronik seines
Lebens, Frankfurt 1965, 2 1974.
Erika Mann (Hrsg.): Thomas Mann: Briefe 1-/ll, Frankfurt 1961-65.
Hans Wysling I Marianne Fischer (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen:
Thomas Mann, Zürich 1975 (Teil I).
Klaus Schröter (Hrsg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente
1891-1955, Harnburg 1969.
Peterde Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schrift-
stellers Thomas Mann. Erster Teil: 1875-1918, Frankfurt 1975.
Hermann Kurzke: Thomas-Mann-Forschung 1969-1976. Ein kritischer
Bericht, Frankfurt 1977.
Herbert Lehnert: Thomas Mann - Fiktion, Mythos, Religion, Stuttgart
1965.
Erwin Koppen: Vom Decadent zum Proto-Hitler. Wagner-Bilder Tho-
mas Manns. In: P. Pütz (Hrsg.): Thomas Mann und die Tradition,
Frankfurt 1971, S. 201-224.
Hans Wysling I Paul Scherrer: Quellenkritische Studien zum Werk Tho-
mas Manns(= Thomas-Mann-Studien /), BerniMünchen 1967.
Manfred Dierks: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann,
BerniMünchen 1972.
Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus, BerliniNew York 1973.

Nietzsche, Schopenhauer, Wagner, Goethe, N ovalis und Thomas


Mann werden nach folgenden Ausgaben zitiert:
Friedrich Nietzsche: .Werke, hrsg. v. K. Schlechta, München 61969.
Dort nicht Enthaltenes nach Gesammelte Werke (Musarionausgabe),
München 192off.
Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke, hrsg. v. W. v. Löhneysen, Stutt-
gart/Frankfurt/Darmstadt 1 1968 u. ö.
Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, hrsg. v.
W. Go!ther, Berlin 1914.
J. W. v. Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg.
v. E. Beutler, Zürich/Stuttgart 195 3 u. ö. (Artemis-Ausgabe).
Novalis: Schriften, hrsg. v. P. Kluckhohn und R. Samuel, Darmstadt
196o-1975· .
Thomas Mann: Gesammelte Werke in IJ Bänden, Frankfurt 1974,
S. Fischer Verlag.

In eckige Klammern gesetzte Textüberschriften und Jahreszahlen


stammen nicht von Thomas Mann.

Für Gespräche, Informationen, Hilfen und Hinweise habe ich zu


danken Frau Marianne Fischer vom Thomas-Mann-Archiv in
Zürich, Hans-Joachim Sandberg, Berge Kristiansen, Artbur
Hübscher, Hartmut Reinhardt, Volkmar Hansen, Louis Leib-
rieb, Wolfgang Osthoff und Günter Meinhold.
Texterläuterungen

EINKEHR

Erstdruck: Die Neue Rundschau 28, März 1917, S. 341-J54, dann in


Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918. GW XII, 69-88.

Thomas Mann versucht in diesem Kapitel, seine geistige Herkunft zusam-


menfassend zu beschreiben. Nietzsche, Schopenhauer und Wagner (das
•Dreigestim•) bestimmen danach seine Kunst- und Daseinsauffassung.
Obgleich die nationale Parteinahme im Ersten Weltkrieg die Darstellung in
einer später partiell revidierten Weise färbt, bleibt ihre Grundaussage
gültig.

27 •Sollte es wirklich wahr sein~: F. M. Dostojewski, Politische Schriften,


Sämtliche Werke, hrsg. v. A. Moeller van den Bruck, Band XIII,
München/Leipzig o.J., S. 26.
27 habe teil daran: an der »Politisierung, Literarisierung, lntellektualisie-
rung, Radikalisierung Deutschlands«, wie es in den in den Betrachtun-
gen unmittelbar voraufgehenden Zeilen hieß (GW XII, 68).
27 latein-amerikanischen Blutes: Manns Mutter war Deutsch-Brasilia-
nerin.
28 Herbert Eulenberg: 1876-1949, Dramatiker und Essayist (Schattenbil-
der, 1910).
28 •unliterarischen Lande<: eine Deutschland-Definiton der Betrachtungen,
GW XII, 49-5 2.
28 der Zivilisationsliterat: Das polemische Gegenbild des Deutschen ist in
den Betrachtungen der ·Zivilisationsliterat• als Mann des Geistes, der
Demokratie, der revolutionären Veränderung, des Internationalismus
etc. Gemeint sind u.a. Heinrich Mann, Kurt Hiller, Romain Rolland
(vgl. Essays /I, 341 ff). Deutschtum dagegen sei »Kultur, Seele, Freiheit,
Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur• (GW
XII, 31). .
28 nach maßgeblichem Urteil: vermutlich frei nach Nietzsche, der z. B.
über Schopenhauer sagte: •Er ist einer der bestgebildeten Deutschen,
das will sagen ein Europäer. Ein guter Deutscher(... ) ist kein Deutscher
mehr• (Musarionausg. XVI, 13). Ebenso Menschliches, Allzumemchli-
ches: •Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.• (Werke I, 851 f).
28 Fontane: am 2. 7· 1894 schreibt Fontane an F. Stephany über einen
Artikel von P. Schlenther, er fixiere, was seit lange in der Luft schwebe:
•Nationales und Volkstümlichkeit gegen das Schillerturn als etwas halb
Fremdes• (Briefe Theodor Fontanes, Berlin 1910, Band II, S. 323).
28 des anderen großen deutschen Theatralikers: Wagner.
29 dem •Polen< Nietzsche: Unter Nietzsches Vorfahren finden sich polni-
sche Edelleute.
29 sechzehn fahre: Das Kapitel ist Ende 1915 geschrieben. Die Schopen-
hauer-Lektüre wird in der Forschung etwa 1898/99 angesetzt, vgl.
Lehnen S. 36, Dierks S. 269. Das betreffende Vorstadtzimmer befand
sich vermutlich in München-Schwabing, Marktstraße 5111, vgl. Mendels-
sohn S. 337-339.
2.9 die geistige Quelle der Tristan-Musik: Tristan und/soldeentstand unter
dem Einfluß von Wagners Schopenhauer-Lektüre seit 1854.
2.9 Thomas Buddenbrook: vgl. die Schopenhauer-Passage in Buddenbrooks,
GW I, 654-66o.
30 große Mode: Obgleich Die Welt als Wille und Vrmtellung schon 1819
erschien, setzte Schopenhauers Breitenwirkung erst nach 1848, mit
einem Höhepunkt in den Siebziger und Achtziger Jahren, ein. Thomas
Buddenbrooks Schopenhauer-Lektüre ist in der Chronologie des Ro-
mans auf 1874 zu datieren.
31 >Ecce Homo<: Werke II, 109d.
31. antispinozistisch: Das soll hier heißen, daß die Leidenschaft nicht durch
Erkenntnis aufgelöst wird, daß Erkennmis also nicht wie bei Spinoza
zur Freiheit vom Affekt führt, sondern selbst eine Gestalt des Affekts
und ein Produkt der Leidenschaft ist. Da originale Spinoza-Kenntnisse
wohl auszuschließen sind, ist die Stelle vermutlich vermittelt durch
Nietzsche, jenseits von Gut und Böse, Werke II, 654 (•jenes Nicht-
mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv
befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion
derselben«).
31. ein kleines Beispiel: Die Schrift Friedrich und die große Koalition (191 5),
GW X, 76-135, zeichnete im Verhältnis zur deutseh-nationalen Fried-
rich-Glorifizierung ein skeptisches Friedrich-Bild, wobei die Kritik
jedoch als eine Form der Verehrung erscheint. Diese Vorstellung von
Kritik ist Nietzsche verpflichtet (» ••• angreifen ist bei mir ein Beweis des
Wohlwollens, unter Umständen der Dankbarkeit«, Werke II, 1079).
Zum Abraten der Freunde und zur Aufnahme des Werks in der
Offentlichkeit, siehe Mendelssohn S. 1013 ff.
31. Baudelaire: in seiner Schrift Richard Wagner et ·Tannhäuser< a Paris
(1861), Oeuvres Completes, Paris 191.5, Band 3, S. 199-1.52.
31. Barres: z.B. im KapitelLe Regard sur Ia Prairie (1892.) aus Du sang, de
Ia volupte et de Ia mort, Paris 191.1, S. 1.95-300, und in La Mort de
Venise aus Amori et dolori sacrum, Paris 192.1, S. 93-101.. Zu Barres siehe
s. 1.81.
31. W. Peterson-Berger: Richard Wagner als Kulturerscheinung, Leipzig
1917. Die zitierten Stellen S. 18f.
34 Analyse des Meistersinger- Vorspiels: Werke II, 705 f. Nietzsche nennt
das Meistersinger-Vorspiel dort u. a. •ein rechtes echtes Wahrzeichen
der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und
überreich noch an Zukunft ist«,
34 englischer Utilitarismus, englische Unmusikalität: vgl. Nietzsche, Werke
II, 693 und 719.
35 seinen »großen Lehrer•: Werke II, 767.
35 Freundschaft von Tribschen: von 1869-1871 war Nietzsche häufiger
Gast in Wagners Haus bei Luzern. Vgl. Ecce Homo, Werke II, 1090.
35 »Kreuz, Tod und Gruft•: Nietzsche schrieb am 8. 10. 1868 an Erwin
Rohde: ·Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt: die
ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft.• (Friedrich
Nietzsches Gesammelte Briefe, Band 1., Berlin/Leipzig 2 1901., S. 72.).
35 Nietzsche's Kritik: Latentes Zitat aus Der Fall Wagner: •Gerade, weil
nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und
Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künst-
lerpar excellence, der Cagliostro der Modernität.« (Werke II, 913).

268
35 'Wirkung ohne Ursache<: eine Definition Richard Wagners in Oper und
Drama, Schriften 111, 301.
35 vom Stil: offenbar von Wagner, Fundon nicht ermittelt.
36 Konzert auf dem Pincio: Die Schilderung geht zurück auf Themas
Manns Aufenthalt in Rom im Herbst 1895, vielleicht auch 1897. Vgl.
Mendelssohn S. 209-21 1.
36 Vessella: Alessandro Vessella, Orchesterleiter in Rom.
37 Rougon-Macquart: Zola, Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et
sociale d'une famille sous le Second Empire, Romanzyklus in 20 Bänden
1871-1893·
37 •Stern der schönsten Höhe•: aus Goethes Gedicht Zwischen beiden
Welten, Werke 1, 491 (•Lida! Glück der nächsten Nähe, I William!
Stern der schönsten Höhe, I Euch verdank ich, was ich bin.•) Vermit-
telt von Benram, vgl. Thomas Mann an Ernst Bertram, Pfullingen 1960,
s. 34·
38 Pariser Literaten: Themas Mann muß um 1910 in Paris gewesen sein,
obgleich sich über diese Reise nichts Genaues ausmachen läßt (vgl.
Mendelssohn S. 764ff).
38 Pascal: Nietzsche hat Pascal zwar als Christen abgelehnt, ihn je-
doch als lehrreichsten und redlichsten Fall von Christentum geschätzt:
• ... Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehn hat; der
einzige logische Christ• (Werke III, 133 5).
38 Chamfort: eigentlich Sebastien Roch Nicolas, I74I-I794• satirischer
Schriftsteller, Jakobiner.
38 Verachtung der •modernen Ideen•: ]emeits von Gut und Böse, Werke
II, 720.
38 •rasenden Dummheit•: ebd. S. 7~1.
38 •mit tiefem Ekel.: ebd. S. 720.
39 Georg Simmel: frei referien nach Simmel, Philosophische Kultur,
Leipzig 1911, S. 4 (• ... wenn für Nietzsche und Bergsen das Leben als
solches die eigentliche Wirklichkeit und den letzten Wen bedeutet,
nicht durch irgendwelche, gleichsam substanziellen Inhalte bestimmt,
sondern diese erst seinerseits schaffend und ordnend ... •).
39 Platens Vers: aus Neue Ghaselen Nr. XXII, Sämtliche Werke, hrsg. v.
M. Koch und E. Petzet, Leipzig o. J ., Band 3, S. 115.
39 Schlachtschitzenblut: Schlachtschitzen hießen die Adeligen in Polen.
Nietzsches Vorfahren waren nach Ecce Homo (Werke II, 1073)
polnische Edelleute.
40 Nietzsche-Poem: Stefan George, Nietzsche, in: Der siebente Ring, Berlin
1931, S. 12f (= Gesamtausgabe VI/VII).
4o wie man weiß oder auch nicht weiß: Themas Mann wußte nicht,
sondern erfragte die Herkunft des Zitats am 19. 5. 1916 brieflich bei
Ernst Bertram. (·Bitte, rasch: Wieso ist >Sie hätte singen sollen, nicht
reden< ein Citat? Welches ist die Stelle? Wie lautet sie. Postkane
genÜgt•.- Thomas Mann an Ernst Bertram, a.a.O. S. 32).
40 ein Wort seines Helden selbst: Nietzsche, Die Geburt der Tragödie,
Werke I, 12.
40 Entwurf eines Empedokles-Dramas: Musarienausgabe Band 111.
40 eine ganz deutsche Angelegenheit: Stefan George, 1868-1933• im
Frühwerk vom französischen l'art pour l'art inspiriert (Baudelaire,
Mallanne, •Parnasse Contemporain•), hatte sich im Ersten Weltkrieg
durch die später in dem Band Das neue Reich gesammelten Dichtungen
auch als Prophet einer •nationalen Wiedergebun« einen Namen
gemacht.
40 •strenge und gequälte Stimme•: George, Nietzsche, a.a.O.:
Und wenn die strenge und gequälte stimme
Dann wie ein Ioblied tönt in blaue nacht
Und helle flut-so klagt: sie hätte singen
Nicht reden sollen diese neue seele!
40 Lieder des Prinzen Vogelfrei: Werke II, 26 I -2 74·
40 Dionysos-Dithyramben: Werke II, 1236-1267.
40 , Was bedeuten asketische Ideale?<: in: Zur Genealogie der Moral, Werke
II, 839-900.
41 an seiner Stelle zurückkommen: Betrachtungen GW XII, 240, allgemein
s. 235-246.
41 ein entente-christlicher Paulus: nicht ermittelt. Es könnte sich um
Richard Dehmel handeln. Dehmel war 1914 begeistert in den Krieg
gezogen, war von der Wirklichkeit bald enttäuscht und trat dann
Anfang 1916 als Kriegskritiker auf, den •Frieden der Seele• wünschend.
Er schreibt 1916: •Es ist die bitterste Selbstüberwindung, für eine Sache
weiterkämpfen zu müssen, deren menschlichen Unwen man zu spät
erkannt hat<<, und nennt das damalige Deutschland einen •Staat von
Profit- und Karrieremachern, von genußsüchtigen Philistern und
machtsüchtigen Barbaren• (nach Julius Bab, Richard Dehmel, Leipzig
1926, s. 367f).
41 Bogen und Leier: über die Quellen des Doppelsymbols, das die Bände
der Stockholmer Ausgabe schmückt, unterrichtet Georg Potempa:
Bogen und Leier, eine Symbolfigur bei Thomas Mann, Oldenburg 1968.

PALESTRINA

Erstdruck: Die Neue Rundschau 28, Oktober 1917, S. 1388-1402. Mit


kleinen Erweiterun_gen aufgenommen in das Kapitel Von der Tugend der
Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918. GW XII, 406-426.

Der Enthusiasmus, mit dem Thomas Mann im Sommer 1917 Pfitzners Oper
Palestn·na aufnahm (vgl. Mendelssohn S. IIIo--IIIj), verdankte· sich dem
Bewußtsein, eine über Wagner hinausgehende, aktuelle musikalische Gestal-
tung seiner eigenen damaligen Seelenstimmung vor sich zu haben. Die zwei
Hauptstichwane dieser Seelenstimmung sind ••ironischer Konservatismus•
(S. 52) und •Sympathie mit dem Tode<< (S. 56-58). Pfitzners Musik ist somit
ein Beispiel für die Liebe ohne Glauben, mit der Thomas Mann die alte, im
Krieg endgültig zerfallende Welt bedenkt.
Der Inhalt der Oper in Kürze: Am Anfang sprechen Palestrinas treuer Sohn
Ighino und sein abtrünniger Schüler Silla (ein Neutöner und emanzipations-
seliger ·Zivilisationskomponist• in Manns Augen) über des Meisters Schaf-
fenskrise. Dieser tritt auf mit dem Kardinal Borromeo, der ihn aufforden, für
die Schlußsitzung des Trienter Konzils eine alle versöhnende Messe zu
schreiben. Palestrina lehnt ab, schreibt jedoch, inspirien von Erscheinungen
verstorbener Komponisten (der »Vorläufer•) und seiner toten Frau, die
Messe in einer Nacht nieder. Borromeo, der davon nichts weiß, verspricht
dem Konzil die Messe trotz der Ablehnung und läßt Palestrina zur
Erreichung seiner Zwecke gefangennehmen. Ighino liefen seinen Henkern
die rettende Komposition aus, die das über die Frage der Verbannung der
alten Musik in Streit geratene Konzil versöhnt und Palestrina rehabilitien; er
wird am Ende mit Ehren überhäuft.
43 •Verkündigung<: Thomas Mann hatte in den vorausgehenden Zeilen
über Paul Claudels Drama L'annonce faite a Marie {I9U) gespro-
chen.
43 · •Kreuz, Tod und Gruft~: s. S. z68. Im Zeichen dieses Zitats stand
Manns Pfitzner-Rezeption, vgl. Mendelssohn S. IIII, Briefe I, I37 (an
B. Walter am Z4. 6. I7).
43 in wesenlosem Scheine: Anspielung auf Goethes Verse im Epilog zur
Glocke: •Denn unter uns, in wesenlosem Scheine I Liegt, was uns alle
bändigt, das Gemeine• (Werke 2, 97).
43 jener ersten morgendlichen Darstellung: Uraufführung unter Bruno
Walter arn u. 6. I9I7·
44 die Meisterschule: Hinweis auf Wagner.
44 •Der Gram des alten Vaters~: Hans Pfitzner, Palestrina. Musikalische
Legende, Berlin I9I6, S. 3r.
45 •echtem Ruhm~: ebd. S. 36.
45 in fernsten Zeiten: ebd. S. 359·
46 Kirchenglockenerzgetöse: ebd. S. I6 und S. I63 ff. Die hier geschilderten
Eindrücke klingen noch im ersten Kapitel des Romans Der Erwählte
nach (GWVII, 9).
47 Meyerbeer, historische Oper: hier verächtlich für die effektvollen
Erfolgsstücke von G. Meyerbeer.
47 •Bewegung, zu der das Leben~: a.a.O. S. I03 f.
48 Sansara: im Sanskrit die sich ewig wiederholende Erneuerung des
Lebens mit allen seinen Leiden. Bei Thomas Mann wohl nach Schopen-
hauer ·die Welt der steten Wiedergeburten, des Gelüstes und Verlan-
gens, der Sinnentäuschung und wandelbaren Formen, des Geborenwer-
dens, A!terns, Eckrankens und Sterbens• (Werke Ik6SI)·
48 •den Tag• und •dieses Werk..~ a.a.O...S. Z49:
48 •Seid fromm und stilk ebd. S". 48.
48 •angewandte l{jstoriei: nicht ermittelt.
49 •Futuristengefahr<:.Leipzig/München I9I7, auch in H. Pfitzner, Gesam-
melte Schriften, Augsburg I9z6, Band I, S. I85-zz3.
49 Busoni's •Entwurf_: Ferruccio Busoni, Entwurf einerneuen .ifsthetik der
Tonkunst (I907, I9I6).
49 ·Bach und Beethoven~: Pfitzner, Futuristengefahr, a.a.O. S. I95·
49 •Nicht die Kunst•: ebd. S. I96.
49 ,.if.sthetizismus<: Vorwurf Heinrich Manns in Zola (•Literarischer
Ästhetizismus war auch hier der Vorbote politischer Laster•, Die
weißen Blätter 2, I9I5, S. I36o).
49 •Nun, wirwoOe._n dem waltenden Weltgeist~: Pfitzner, Futuristengefahr,
a.a.O. S. uo.
49 •Busoni erhofft~: ebd. S. zzof.
50 Johannes V. Jensen: dänischer Schriftsteller, das Zitat in Unser Zeitalter
{I9I6), Berlin I9I8, S. Z73·
5I • Welch herrlich freier Zug~: Pfitzner, Palestrina, a.a.O. S. I3 ff.
5I •mit elastisch-hoffnungsfreudigen Bewegungen•: ebd. S. I3·
SI •Ich weiß,- doch Silla glaubt•: ebd. S. SI f.
5I •Ihr droht ihm nicht einmal•: ebd. S. 52ff.
5z •krank in seiner Seele•: ebd. S. 6o.
52 •0 wüßtest du~: ebd. S. I02.
sz •Und wenn's der Papst•: ebd. S. 97·
52 nach Schwefel riecht: ebd. S. IOO.
53 •Der Kreis der Hochgestimmten~: ebd. S. u9ff.
53 •Nicht ich- nicht ich•: ebd. S. UI ff.
53 »in der Mitte sich des Lebens•: ebd. S. I05.
53 •Ihr lebtet stark.: ebd. S. 127ff.
53 »Mit offnen Augen•: ebd. S. u8.
54 »Dein Erdenpensum•: ebd. S. I46.
54 »Den Schlußstein zum Gebäue•: ebd. S. I42ff.
54 »kirchlichem Gefühl•: ebd. S. 84.
54 »Retter der Musik•: ebd. S. J4I, S. 364ff.
54 »will guter Dinge•: ebd. S. 368.
54 »hoffnungslos P..essimistisch•: nicht ermittelt.
55 »da ward es trub•: a.a.O. S. 40.
55 »den Sinn der Zeit•: ebd. S. I42.
56 unterhielt man sich: Pfitzner besuchte Thomas Mann am I5. 6. I9I7
(vgl. Mendelssohn S. III3-II I5)·
56 »Sympathie mit dem Tode•: Die Formel taucht zuerst in Thomas Manns
Brief an P. Amann vom 3· 8. I9I 5 auf, dann in den Betrachtungen und
im Zauberberg (GW III, 906).
56 einen kleinen Roman: Thomas Mann arbeitete vom Juli I9I3 bis Mitte
I9I 5 an der ersten Fassung des Romans Der Zauberberg, von dem
damals etwa die Hälfte (bis zum Kapitel Walpurgisnacht) fenig war.
57 Sänger des Palestrina: Kar! Erb.
57 Romain Rolland: Rolland hatte als Wortführer des europäischen
Pazifismus auf Manns Gedanken im Kriege (I9I4) mit einem Artikel Les
Idoles geantwortet, der in sein weit verbreitetes Anti-Kriegs-Buch Au
dessus de Ia melee (I9I5) aufgenommen wurde. Er besuchte am Io. 3·
I9I7 in Basel die Matthäuspassion (vgl. Brief vom I I. 3· I9I7, in Cahiers
Romain Rolland II, Paris I96o, S. 255).
58 Wogen des V-Boot-Streites: Internationale Diskussion über die rechtli-
che und menschliche Zulässigkeit der Versenkung zahlreicher Handels-
und auch Passagierschiffe im Jahre I9I5 als Maßnahme des Admirals
Tirpitz im Handelskrieg gegen die englische Blockade.
58 ein Kammermusikwerk: Es handelt sich nicht um ein Kammermusik-
werk, sondern um die Komposition Zwei deutsche Gesänge für Bariton
und Großes Orchester, I9I51I6 (op. 25). ·

ÜBER DIE KUNST RICHARD WAGNERS

Erstdruck unter dem Titel Auseinandersetzung mit Richard Wagner in: Der
Merker 2, Wien Juli I9II, Nr. I9ho. GW X, 84o-842.

Die Miszelle stammt aus dem Zusammenhang des nicht realisierten Groß-
Essays Geist und Kunst (I909-I9I I), des Versuchs über das Theater (I9o8)
und der Erzählung Der Tod in Venedig (I912). In ihrer Ankündigung einer
•neuen Klassizität• markiert sie einen vorübergehenden Versuch, von
Wagner Abstand zu nehmen (vgl. Lehnert S. 99-I08, Wysling, Thomas
Mann Studien I, Bern/München I967, S. 123-233).

59 keine >Tristan<-Aufführung: etwa I90o-I902 (Mendelssohn S. 382):


zugleich die Entstehungszeit der Novelle Tristan.
59 »Literaturdichtern•: Unter den vielen Stellen, an denen Wagner sich
gegen » Literatur• im Sinne eines nur abstrakt gedachten Kunststücks,
statt des sinnlich unmittelbaren Gesamtkunstwerks richtet, hat Thomas
Mann vor allem gegen die folgende Stelle aus Oper und Drama
polemisiert: •Überall da, wo Lessing der Dichtkunst Grenzen und
Schranken zuweist, meint er nicht das unmittelbar zur Anschauung
gebrachte, sinnlich dargestellte dramatische Kunstwerk (... ), sondern
den dürftigen Todesschatten dieses Kunstwerkes, das erzählende,
schildernde, nicht an die Sinne, sondern an die Einbildungskraft sich
kundgebende Literaturgedicht (... )« (Schriften IV, 2).
6o Wunderbare Stunden: eine topisch wiederkehrende Formulierung des
Wagner-Erlebnisses, vgl. S. 72, S. 115, GW X, 39·
6o seiner Theorie: Themas Mann kannte damals zumindest Oper und
Drama, Eine Mitteilung an meine Freunde, Ober Schauspieler und
Sänger, Religion und Kunst (vgl. Dierks S. 231).
61 neue Klassizität: Das Stichwort verweist im Zusammenhang mit der
damaligen Entstehung des Tod in Venedig auf eine transitorische
Affinität Manns zur Neuklassik (vgl. H. R. Vaget, Thomas Mann und
die Neuklassik, Schiller-Jahrbuch 17, 1973, S. 432-454).

WIE STEHEN WIR HEUTE ZU RICHARD WAGNER?

Brief an einen Opernspielleiter vom 15. 11. 1927. Erstdruck in: Die
Forderung des Tages, Berlin 1930. GW X, 893-896.

Trotz einer gewissen Rückblicksituation (Wagner als Erlebnis seiner fugend)


bleibt die Grundkonstellation - künstlerische Faszination bei moralischer
Fragwürdigkeit - auch in diesem Brief erhalten. (Der Adressat uQd dessen
vorausgehender Brief konnten nicht ermittelt werden). ·

62 •Lohengrin<: 1891 im Lübecker Stadttheater (vgl. Mendelssohn


S. 117f).
63 •Tristan< im Münchner Hoftheater: Siehe S. 272.
63 seine bewunderungswürdige Analyse: Nietzsche, jenseits von Gut und
Böse, 8. Hauptstück (Werke II, 705f).
63 ••Meistersinger«, schreibt er: Nachlaßnotiz aus den Vorarbeiten zu
Richard Wagner in Bayreuth (1875/76), Musarienausgabe VII, 365.
63 in den ·Betrachtungen eines Unpolitischen<: z.B. GW XII, pf, 7~78,
119-123; gemeint ist der •Gegensatz von Musik und Politik, von
Deutschtum und Zivilisation« (XII, 31.).

LEIDEN UND GROSSE RICHARD WAGNERS

Vortrag 10. .z. 1933 in München.


Erstdruck: Die Neue Rundschau 44, 1933, H. 4· GW IX, 363-41.6.

•Einen Helden menschlich-allzumenschlich darstellen, mit Skepsis, mit


Gehässigkeit, mit psychologischem Radicalismus und dennoch positiv,
lyrisch, aus eigenem Erleben« - diese Sätze Themas Manns über sein Projekt
eines Romans über Friedrich den Großen (an Heinrich Mann am 5· 11.. 1905)
kennzeichnen auch das Verfahren des großen Wagner-Essays, der gegen die
zünftigen Wagnerianer kein heroisches, sondern ein durch Nietzsches Kritik
gebrochenes Wagner-Bild zeichnet. Wagner erscheint, obgleich Mann das
Wort vermeidet (weil er die Sache liebt), wie bei Nietzsche als Decadent par
excellence: • Eine farbige und phantastische, tod- und schönheitsverliebte

1.73
Welt abendländischer Hoch- und Spätromantik tut sich auf bei seinem
Namen, eine Welt des Pessimismus, der Kennerschaft seltener Rauschgifte
und einer Überfeinerung der Sinne ... « (S. I 12 ). Die Rede, die kurz nach der
nationalsozialistischen Machtergreifung gehalten wurde, führte zu einem
scharfen Angriff nationalistischer Wagnerianer - •Wir empfinden Wagner
als musikalisch-dramatischen Ausdruck tiefsten deutschen Gefühls, das wir
nicht durch ästhetisierenden Snobismus beleidigen lassen wollen« (Protest
der Richard-Wagner-Stadt München, Schröter Dok. 78)- und wurde so zum
Anlaß für Manns Emigration (vgl. Koppen, Decadent, S. 1.I2-1.I7)· Zu den
Unterzeichnern des Protests gehörte neben dem Komponisten Richard
Strauß, dem Staatsoperndirektor Hans Knappertsbusch, dem Tonkunstaka-
demiepräsidenten Siegmund von Hauseggerund vielen anderen auch der von
Thomas Mann friiher gefeierte Hans Pfitzner, was den Dichter zu einer
Antwort veranlaßte, die die kulturpolitische Wirkung des Wagner-Essays
und seine Stellung im Mannsehen Oeuvre gut beschreibt (GW XIII, 78-91.).
Vgl. Th. Mann, Tagebücher I9JJ-I9J4, Frankfurt I977• S. pf, 54, I3of
u.ö.

64 •Il y a Ia mes blames•: Ober die Beziehung Manns zu dem französi-


schen Ästhetizisten und Nationalisten Maurice Barres, siehe S. 1.8 I.
Zitat nicht ermittelt.
65 Plan zu seinen •Nibelungen<: am 1.0. u. I8p an F.·Liszt, Briefwechsel
zwischen Wagner und Liszt, Leipzig I887, Band I, S. I4S-I 50.
65 ·Mach Dich nur heran•: Liszt am x. 11.. I9P• ebd. S. I 54·
65 >Rougon-Macquart<: Siehe S. 1.69.
65 Nana: 9· Roman aus Les Rougon-Macquart, erschienen I88o, handelt
von einem Straßenmädchen, das sich einen Platz in der korrumpierten
Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs erobert und als Symbol und
Medium der Verworfenheit dieser Gesellschaft geschildert ist.
65 /schtar: Astarte, eine altorientalische Göttin, Thomas Mann aus der
damaligen Arbeit an ]oseph und seine Brüder bekannt.
66 von Wagner sagt Nietzsche: in: Der Fall Wagner, Werke II, 905.
66 frivolen Luxus: Vgl. Tolstoi, Gegen die moderne Kunst, Berlin I898.
66 Pierre Besuchow: wendet sich am Ende des Romans dem Volke zu und
tritt einem Dekabristen-Geheimbund bei.
66 Lewin: volksverbundener Gutsbesitzer, der im Gegenzug zur Verdor-
benheit der Städte eine Artfamiliaren Sozialismus zu realisieren sucht.
66 vor dem christlichen Kreuz niedergebrochen: Nietzsche in der Vorrede
zum 1.. Band von Menschliches, Allzumenschliches, Werke I, 739·
66 Das letzte Werk Wagners: Die ganze Passage ist aus dem Versuch über
das Theater (I9o8) übernommen (vgl. GW X, 53f). Nach Dierks S. 1.38
ist sie von Wagners Spätschrift Religion und Kunst inspiriert (Schriften
X,l.II-1.85)·
67 Wagner und Ibsen: Vgl. zu dieser Kombination Thomas Manns Notiz
Ibsen und Wagner(I91.8), GW X, 1.1.7-1.30 (Texiübernahmen).
67 •Wenn wir Toten erwachen<: Trauerspiel von Ibsen, I899·
67 Goethe sagt: in: Die Wahlverwandtschaften Il, 9 (Werke 9,1.07).
68 Technik des Dumas-Dramas: Alexandre Dumas fils, I81.4-I895, schrieb
eine große Zahl technisch gekonnter und populärer Gesellschafts-
stücke.
68 Psychologie und Mythus: Die zuerst I9I9 (Der alte Fontane, GW IX,
32f) erscheinende Formel wird hier gegen den Philosophen Alfred
Baeumler gewendet, der in seiner Einleitung zu J. ]. Bachofen: Der
Mythus von Orient und Occident (München I91.6) geschrieben hatte:

274
»Psychologie und Mythus schließen sich jedoch ebenso aus wie
Sokratismus und Musik« (S. CCLI). Vgl. Lehnen S. I06, Wysling,
Thomas-Mann-Studien 1/1, Bern/München I974• S. I67-I8o
68 »Liebestrankes~: in Tristan und /solde.
69 »Die düstre Glut~: Der fliegende Holländer 11, 3 (Schriften I, 279).
69 »Die Liebe•: Quelle nicht ermittelt.
70 »Brennpunkt des Willens•: Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, §6o (» ... sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des
Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Reprä-
sentanten der Erkenntnis ... «, Werke I, 452).
70 die wilde Gralsbotin: im Brief vom August I86o an M. Wesendonck, in:
Richard Wagner an Mathi/de Wesendonck, Berlin 17 I904, S. 243.
70 »Seitdem mir dies aufgegangen~: ebd.
70 »Namentlich gehtmir~:am 2. 3· I859 an M. Wesendonck, ebd. S. uo.
70 Höllenrose: Anrede Kundrys durch Klingsor Szene 11, I (Schriften X,
345)·
70 im Entwurf: Wagner, Entwürfe zu ·Die Meistersinger von Nürnberg<,
•Tristan und /solde<, •Parsifa/,, Leipzig I907, S. I84.
7I Sprache des •Einst<: im Folgenden mehrere Anspielungen aus dem
Bereich des eben in Arbeit befindlichen Romans ]oseph und seine
Brüder, vgl. z.B. GW IV, 32 (•Einst•), IV, 7I (Tammuz), V, 1279ff
(Weltenklatsch) u.a.m.
7I »Eines wilden Ebers Wut~: Götterdämmerung 111, 2 (Schriften VI,
248f).
72 Die Passion: Die folgende Passage ist übernommen aus Uber die Kunst
Richard Wagners, siehe S. 6o.
72 Baudelaire: Der Bericht über Baudelaires letzte Tage mit dem Zitat
(»souri d'allegressec) stammt aus Nietzsches Brief an PeterGast vom 26.
2. I888, Werke 111, I21k -
72 »Den habe ich sehr gf!liebt•: nicht ermittelt.
72 Wagners Theorie: Das Folgende bezieht sich vor allem auf Oper und
Drama, Schriften 111, 222-320; IV, I-229.
73 die Entstehungsgeschichte: berichtet in Wagners Mitteilung an meine
Freunde, Schriften IV, 34I-343·
73 Grillparzer zum Beispiel: in seiner Selbstbiographie, Sämtliche Werke,
München I965, Band IV, S. 88. (Die Passage ist leicht verändert
übernommen aus Versuch über das Theater, GW X, 27).
74 »Seine fugend~: Nietzsche, Werke I, 371. Die 4· Unzeitgemäße
Betrachtung ist noch vor dem Bruch mit Wagner geschrieben.
74 •Sehen Sie und schauen Sie~: Wagner am I. I. I86o an M. Wesendonck,
a.a.O. S. 203.
74 »Ach, was schwelgt•: am 30. 9· I86o, ebd. S. 249.
75 Renoir: Auguste Renoir porträtierte Wagner am I5. I. I882 in
Palermo.
75 •Literatur-Dichtern•: Siehe S. 272.
75 Gelegenheitsgedichte: Thomas Mann besaß die von F. Glasenapp
herausgegebene Edition der Gedichte, Berlin I905. Einige »fidele
Reimereien« auch in den nachweislich benützten Erinnerungen Emil
Heckels, in: Briefe Richard Wagners an Emi/ Hecke/, Berlin I 899.
76 • Wie wenig Begabung•: Nachlaßnotizen zum Fall Wagner, Musarien-
ausgabe XVII, 3I4·
76 ·Ich entsinne mich~: Brief vom 9· 6. I862 an M. Wesendonck, a.a.O.
S. 305.
76 »Wie jämmerlich•: am 8. 5· I859 an Liszt, a.a.O. Band 11, S. 250.

275
77 •ve"ückte Ungerechtigkeit~: Liszt am 14. 5· 1859 an Wagner, ebd. Il,
2p.
77 in den •Bayreuther Blättern<: z.B. Schriften X, 149-151, 170.
78 Ein berühmter Dirigent: vermutlich Bruno Walter, der von 1914 bis
1924 in München in Manns Nachbarschaft wohnte (vgl. Mendelssohn
S. 956, B. Walter, Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedan-
ken, Stockholm 1947).
79 Baudelaire ... an Wagner: am 17. 2. 186o, Baudelaire, Co"espondance,
Paris 1973, Band I, S. 672~74.
So Lenbachs Mutterwitz: Franz von Lenbach, 1836-1904, Maler in Mün-
chen (Wagnerponrät). Quelle nicht ermittelt, möglicherweise aus
Gesprächen. Das Zitat findet sich bereits in dem 1901 benützten
Notizbuch 4, vgl. Wysling, Thomas-Mann-Studien /, S. 200 (»Fracht-
wagen nach dem Himmelreich«).
81 »Ein heil'ger Balsam•: Der fliegende Holländer Il, 3 (Schriften I, 28! ).
82 •Eine üble Geschichte das•: an M. Wesendonck am 30. 5· 1859, a.a.O.
S. 144, mit Abweichungen (•Das ist denn nun aber keine üble
Geschichte das ... • ).
82 »Ach, schwer drückt mich•: Tannhäuser I, 3 (Schriften Il, 13).
82 in einem Brief an Bülow: zitien nach Wagner, Entwürfe, a.a.O. S. 40.
83 »denkt er täglich an den Tod•: wörtlich nicht ermittelt, der Sache nach
z.B. im Brief an Liszt vom 11. 2. 1853, a.a.O. Band Il, S. 219.
83 •Meine Nerven•: am 11. 11. 1852 an Luise Brockhaus, in: Richard
Wagner, Familienbriefe, Berlin 1907, S. 191.
84 •Ich bin sehr nervenkrank•: am 30. 12. 1852 an Cecilie Avenarius,
Familienbriefe a.a.O. S. 194·
84 »Die echte Geduld•: Novalis, Schriften III, Stuttgart 2 1960, S. 291.
84 Schopenhauer: Paralipomena § 111, Werke V, 243·
84 •In Wahrheit•: Fundon nicht ermittelt. •
84 »Vor einem fahre•: am i.I. 11. 1852 an Luise Brockhaus, Familienbriefe
a.a.O. S. 191.
85 »Und so etwas•: am 30. 5· 1859 an M. Wesendonck, a.a.O. S. 145.
85 »Mit mir geht es•: am 9· 11. 1852 an Liszt, a.a.O. Band I, S. 199·
85 Paradis artificiel: Ein Buch von Baudelaire über Haschisch, Opium und
Wein trägt den Titel Les Paradis artificiels.
85 »Da will ich mich neu taufen Llssen•: am 30. 3· 1853 an Liszt, a.a.O.
Band Il, S. 23d.
85 •Je m'en fichisme•: die Haltung des •Ihr könnt mich alle•.
86 »SO immerund ewi~: am 3· 10. 1858 an M. Wesendonck, a.a.O. S. 55·
86 »Vorstellung• - •Rad des /xion•:-schopenhauer schreibt, im Zustand
ästhetischer Kontemplation, der die Welt nur Vörstellung,-nicht Wille
sei, stehe das Rad des Ixion still (Die Welt als Wille und Vorstellung,
§38, Werke I, 28o). Ixion wurde nach der griechischen Sage zur Strafe
für seine Vergehen von Zeus mit Schlangen an ein ewig um die Erde
kreisendes glühendes Rad gefesselt.
87 Tolstoi'sche Ve'f'Wer/ung der Kunst: Der späte Tolstoi distanziene sich
von seinen großen Romanen und kritisierte eine nur ästhetische
Kunstauffassung. »Die Kunst hat keine Existenzberechtigung, sobald
sie nicht für das Volk bestimmt ist.• (Im Anhang zu Tolstois Studie Was
ist Kunst? Berlin 1898, S. 109. Vgl. auch Tolstoi, Gegen die moderne
Kunst, Berlin 1898).
87 langer, stürmischer Brief: vom 5. 10. 18 58, a.a.O. S. 56-6o, von Thomas
Mann frei und mit ironischen Spitzen wiedergegeben.
87 Goethe konstatiert: in: Maximen und Reflexionen, Werke 9, 503.
88 ·Kind! Dieser >Tristan«<: an M. Wesendonck Io. 4· I859, a.a.O. S. I23·
88 Nietzsche: in Ecce Homo, Werke II, I090.
88 ·kein ernstes Wort mehr•: berichtet in Heckeis Erinnerungen, a.a.O.
S. I45 •
88 •Sehr oft•, schreibt er: ebd. S. I03.
89 •Richard Wagner, Oberkirchenrat•: Von Nietzsche selbst berichtet in
Ecce Homo, Werke II, II22.
90 •In diesem Augenblick-: nicht ermittelt.
90 Philosophie Artbur Schopenhauers: Die seit September I 8 54 einsetzende
Schopenhauer-Lektüre markiert die endgültige Abwendung Wagners
von den Idealen der I 848er Revolution.
90 •Mein Freund Schopenhauer•: mehrmals, z.B. in den Briefen an M.
Wesendonck, a.a.O. S. 62, 79, IIO.
90 •Ein Himmelsgeschenk-: Ende I854 an Liszt, a.a.O. Band I, S. 45·
90 »Aber einen Freund•: Brief an M. Wesendonck 22. 7· I86o, a.a.O.
s. 239f.
9I •Lebt man denn•: Derwest-östliche Divan, Buch des Unmuts, Werke 3,
J26.
9I •Eine ungekannte, große und dankbare Zufriedenheit•: Buddenbrooks,
GW I, 654 (Themas Buddenbrooks Schopenhauer-Erlebnis).
92 Brennpunkt des Willens: siehe S. 275·
92 den ästhetischen Zustand: Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, § 38 u. ö.
92 heroischer Lebenslauf" siehe S. i94.
92 in wagneroffiziellen Werken: bezieht sich hier auf das Buch des
deutschnationalen Wagnerianers H. St. Chamberlain, Richard Wagner
(I895), München 7 I923. über Tristan und Isolde heißt es dort: »Es zeigt
sich dieses herrliche Werk weder metaphysisch noch moralisch von
Schopenhauer abhängig• (S. 205 ). ·
92 • Verbindung, die auch für den Tod•: Novalis, Schriften I, Darmstadt
I960, S. q8.
92 •Muß immer der Morgen•: Hymnen an die Nacht, Schriften I,
Darmstadt 3 I977, S. I33·
93 •Nachtgeweihte•: Tristan und Jsolde II, 2 (Schriften VII, 43) und
Novalis, Hymnen an die Nacht, a.a.O. S. IJJ. Zum Thema Wagner-
Novalis vgl. E. Koppen, Wagnerismus, S. I85f.
93 • Wir sind unsterblich•: F. Schlegel, Lucinde (I799), Kritische Friedrich-
Schlegel-Ausgabe Band 5, München/Zürich I962, S. I I, dort auch die
folgenden Zitate.
93 •Enthusiasmus der Wollust•: ebd. S. 12.
93 auf den Schlaf: ebd. S. 26f.
93 •0 ewige Sehnsucht•: ebd. S. So.
93 >Die fröhliche Wissenschaft<: In der Idylle über den Müßiggang spricht
Schlegel von der •fröhlichen Wissenschaft der Poesie• (ebd. S. 25).
94 mütterlich-mondmythischen Kultus: Die Quelle dieser aus dem Zusam-
menhang des Josephromans stammenden Formulierungen ist das Werk
von J. J. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident (Titel vom
Herausgeber), München I926. Dort z.B. S. 255: •Der Mond aber
beherrscht die Nacht, wie die Sonne den Tag. Das Mutterrecht kann
also mit gleicher Wahrheit dem Mond und der Nacht, wie das
Vaterrecht der Sonne und dem Tage, beigelegt werden.•
94 die Wagnerschriftsteller: Die indirekt wiedergegebenen Zitate stammen
aus Chamberlains genanntem Wagner-Buch, a.a.O. S. 204f.
94 •wo Liebeswonne•: Chamberlain, ebd. S. 205, ungenau zitiert nach

2 77
94 Tristan und Isolde Il, 2 (Schriften VII, 44).
94 »Selbst dann bin ich die Welt•: Tristan und Isolde Il, 2 (Schriften VII,
45). Zur Deutung der Stelle als Hinweis auf Wagners »Welterotik« siehe
Betrachtungen eines Unpolitischen, GW XII, I09.
94 »Sehnsüchtig•: am 3· 3· I86o an M. Wesendonck, a.a.O. S. 2I7·
9 5 »Wie könnten wir sterben•: Richard Wagner, Entwürfe, a.a.O. S. I 53.
95 »Fahr' er zur Hölle•: ebd. S. 33·
96 »doppelte Optik«: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke III, 515·
Die von Thomas Mann sehr häufig herangezogene Stelle lautet im
Zusammenhang: ·Die Scheidung in >Publikum< und >Zönakel<: im
ersten muß man heute Scharlatan sein, im zweiten will man Virtuose
sein und nichts weiter! Obergreifend über diese Scheidung unsere
spezifischen >Genies< des Jahrhunderts, groß für beides; große Scharla-
tanerie Victor Hugos und Richard Wagners, aber gepaart mit so viel
echtem Virtuosentum, daß sie auch den Raffiniertesten im Sinne der
Kunst selbst genug taten. Daher der Mangel an Größe: sie haben eine
wechselnde Optik, bald in Hinsicht auf die gröbsten Bedürfnisse, bald
in Hinsicht auf die raffiniertesten.• (Vgl. Wysling, Thomas Mann
Studien I, S. I33)·
96 •Pathos der Distanz•: eine Formulierung, die Nietzsche in Der
Antichrist im Zusammenhang einer Kritik der Lehre •gleiche Rechte für
alle• aristokratisch im Sinne von •Mut zu Sonderrechten, zu Herr-
schaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen•
gebraucht (Werke li, uo6).
97 Zauberer: K.lingsor.
97 Doppe/wesen: Kundry.
97 Oberpriester: Arnfortas.
97 Erlöserknabe:Parsifal.
97 Amims berühmter Kutsche: in: Achim von Arnims Erzählung Isabe/la
von A"gypten.
97 •Erkenntniseke/.: Selbstzitat, vgl. Tonio Kröger, GW VIII, 300 und
Lebensabriß, GW XI, I Iof.
97 • Wer wagt das Wort•: Nachlaßnotiz aus Kunst und Künstler, Musarien-
ausgabe XVII, 337·
98 • Wollust der Hölle•: •Die Welt ist arm für den, der niemals krank genug
für diese •Wollust der Hölle< gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast
geboten, hier eine Mystiker-Formel anzuwenden.« (Nietzsche, Ecce
Homo, Werke Il, I092).
98 Goethe's •Seliger Sehnsucht•: Der west-östliche Divan, Buch des
Werke 3• 299·
I 98 Sängers,
•Räuschen des Opiums• - »Ekstase aus Wonne und Erkenntnis~:
Baudelaire, Richard Wagner et ·Tannhäuser< a Paris, CEuvres Completes
III, Paris I925, S. 207 und S. 208.
98 auch das Meer: Die Verbindung der Wagnersehen Musik mit dem Meer,
so legitim sie in Manns Gedankenwelt paßt, kann hier auch von
Baudelaire inspiriert sein, der in dem erwähnten Brief an Wagner
schreibt: •i'ai eprouve souvent un sentiment d'une nature assez bizarre,
c'est l'orgueil et Ia jouissance de comprendre, de me laisser penetrer,
envahir, volupte vraiment sensuelle, et qui ressemble a celle de monter
dans l'air ou de rouler sur Ia mer• (a.a.O. S. 673).
98 •leichteren Sinnlichkeitsepidemie•: Nietzsche, Nachlaßnotiz aus Kunst
und Künstler, Musarienausgabe XVII, 337· .
98 •atemlose Entzücken•: Wagner, Uber Schauspieler und Sänger, Schrif-
ten IX, I 82 (Gedächtniszitat).
99 Bernard Shaw: In seiner Schrift The Perfeet Wagnerite (I 898) sieht Shaw
Wagners Kontakte mit Bakunin während der I848er Revolution in der
Gestalt Siegfrieds weiterwirken (vgl. Shaw, Selected Prose, London
I95J• z.B. S. 253). Ober Manns Shaw-Kenntnisse siehe Essays /,
s. 24-JI·
99 •Bauchredner Gottes•: nicht ermittelt.
99 •Schlagen wir die Kraft der Reflexion•: am I. I. I847 an Eduard
Hanslick, Sämtliche Briefe, hrsg. v. G. Strobel und W. Wolf, Band II,
Leipzig I970, S. 538.
100 •Ach, ich habe versucht•: berichtet von Ferdinand Praeger, hier nach H.
St. Chamberlain (Hrsg.): Richard Wagner. Echte Briefe an Ferdinand
Praeger, Bayreuth o. J., S. 4f.
IOO •Sie macht mich nun einmal•: am 28. 9· I861 an M. Wesendonck, a.a.O.
s. 285.
IOO ·Mich drängt' es•: Die Walküre, Schriften VI, 9·
IOO •-da mich die Welt•: an M. Wesendonck am 3· Io. I858, a.a.O. S. 55·
IOO •- daß ich so schwer•: am 22. 5· I855 an Otto Wesendonck, in: Briefe
Richard Wagners an Otto Wesendonck, Berlin I905, S. 26.
IOO •tollen Laune•: an M. Wesendonck am I9· 8. I86I, a.a.O. S. 279·
IOO ·Dies ist ein Fehler•: ebd.
IOI Kapellmeister-Kreis/er-Exzentrizität: Vgl. Kreisleriana in E.T.A. Hoff-
manns Phantasiestücken in Callots Manier.
IOI •Alles ist .nach Wunsch•: am 8. 5· I857 an Liszt, a.a.O. Band II,
S. I62.
I02 ·Ober den Stand meiner Arbeit•: am 26. 7· I862 an 0. Wesendonck,
a.a.O. S. Io6
I02 •Treue und Redlichkeit•: aus Schopenhauers Brief an Goethe vom I I.
II. I8I5, in: Der Briefwechsel Artbur Schopenhauers, München 1929,
Band I, S. I9I.
I02 Makartbukett: ein angeblich von dem Maler Hans Makan (I84o-I884)
erfundener Dekorationsstrauß aus getrockneten und teilweise gefärbten
Fflanzen.
I03 •Ich habe seit einiger Zeit•: am 20. I. I854 an Julie Ritter, in: Richard
Wagners Briefe an julie Ritter, München I920, S. 94·
I03 •Doch ei{entlich nur•: am I5· I. I854 an Liszt, a.a.O. Band II, S. 4·
I04 Schillers jaule Apfel: Schiller soll den Geruch faulender Äpfel in seinem
Pult als stimulierend geschätzt haben.
I04 .den im üppigsten Schoße des Luxus•: Wagner, Oper und Drama,
Schriften III, 2 55.
I04 •Lustdirne•: Wagner, ebd. S. 3I7.
I04 •kaltlächelnde Kokette•: ebd. S. 3 I8.
I04 Eichendorff" Die zwei Gesellen, Sämtliche Werke, hrsg. v. Kosch/Sauer,
Regensburg o. J. (I92I ff), Band I, S. 7·
I05 •So viel sage ich Ihnen•: am 22. 7· I86o an M. Wesendonck, a.a.O.
s. 239·
I05 •Aus Größe, Ruhm und Volksherrschaft•: am 12. 7· 1856, a.a.O. Band
II, s. IJI.
I05 •ganze Schul•: Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, I. Aufzug
(Schriften VII, I 86). ·
106 •Quand Ia populace•: nicht ermittelt. Da originale Voltaire-Lektüre
sicher nicht in größerem Umfang stattgefunden hat, stammt das Zitat
wahrscheinlich aus der (von mir nur teilweise durchgesehenen) Litera-
tur, die Thomas Mann für Zwecke seines geplanten Romans über
Friedrich den Großen durchgearbeitet hat.

'-79
106 ~Häßliche, kleine, gewaltsame Naturen~: am 10. 10. 1859 an M.
Wesendonck, a.a.O. S. 185.
106 ~selbst dann bin ich die Welt•: siehe S. 278.
106 ~Denn das sehe ich•: am 27. 10. 1859 an 0. Wesendonck, a.a.O. S. 74·
107 ~Wirkung ohne Ursache•: siehe S. 269.
108 ~Was wollen die Deutschen~: nicht ermittelt.
108 ~ruchlosen• Optimismus: Zurückgehend auf ein Won Schopenhauers,
dem der Optimismus als •eine wahrhaft ruchlose Denkungsan«, •als ein
bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit• erschien
(Die Welt als Wille und Vorstellung §59, Werke I, 447). Hier angeregt
von Nietzsches Darstellung im Fall Wagner, Werke II, 911 (•Wagner
schämte sich• ).
108 ~Wer sich unter der Politik hinwegstiehlt•: Im Originalzusammenhang
hat die Stelle einen etwas anderen Sinn: •So ist die Kunst des Dichters
zur Politik geworden: keiner kann dichten, ohne zu politisieren. Nie
wird aber der Politiker Dichter werden, als wenn er eben aufhört,
Politiker zu sein: in einer rein politischen Welt nicht Politiker zu sein,
heißt aber soviel als gar nicht existieren; wer sich jetzt noch unter der
Politik hinwegstiehlt, belügt sich nur um sein eigenes Dasein. Der
Dichter kann nicht eher vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr
haben.• (Oper und Drama, im Zusammenhang einer Erörterung über
moderne Romandichtung, Schriften IV; 53).
108 •Ach, wie bin ich voll Enthusiasmus•: am 8. S· 1859 an Liszt, a.a.O.
Band II, S. 249.
108 •Es ist ein elendes Land~: am 3· _8. 1863 an M. Wesendonck, a.a.O.
s. 319·
109 •0 ja! der Sultan•: Die Szene wird berichtet bei Emil Hecke!, a.a.O.
s.
100.
109 Hecke/: über Emil Hecke!, den Initiator der Wagner-Vereine und
(zusammen mit Kar! Tausig) Förderer des Festspielhausbaus, siehe
Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, Band 4• Leipzig 4 1908, S.
J61-J6J. Das Zitat findet sich bei Hecke;!, a.a.O. S. 4·
109 Gedicht an das deutsche Heer: A}i-das deutsche Heer vor Paris, Gedicht
über die Kaiserkröniing am 18. 1. 1971, Schriften IX, If.
109 •Eine Kapitulation<: Lustspiel Wagners über die Verhältnisse im belager-
ten Paris 1870/71, Schriften IX, 3-41.
109 ,Ober die Aufführung<: Mit dieser Mitteilung und Aufforderung an die
Freunde seiner Kunst vom April 1871 begann Wagner, für den
Gedanken des später in Bayreuth errichteten Festspielhauses zu
werben. ·
109 •Ich hätte nicht gedacht•: berichtet z.B. bei Glasenapp, a.a.O. Bands.
Leipzig 5 1912, S. 286.
110 Schon früher einmal: Siehe S. 3If. Die gesamte Passage ist fast wörtlich
von dort übernommen.
110 Wilhelm Peterson~Berger: Siehe S. 268.
111 •Sie werden der Sache dessen dienen•: Baudelaire am IJ. 7· 1849,
Correspondance, a.a.O. Band I, S. 1 S7·
112 ~Wenn Baudelaire•: Nachlaßnotiz zum Fall Wagner, Musarionausgabe
XVII, JSI f.
112 Brief ..., worin Wagner: Thomas Manns Quelle war der bereits
genannte Brief Nietzsches an Peter Gast vom 26. 2. 1888, wo der
betreffende Brief Wagners vollständig zitien wird und wo der gesamte
Sachverhalt Baudelaire-Wagner im Zusammenhang dargestellt ist.
112 Tannhäuser-Schrift: Siehe S. 268.

z8o
II2 sonderbare Zusammenstellung: Die Kombination Baudelaire- Poe-
Wagner- Delacroix hat Thomas Mann aus Nietzsches Vorstudien zum
Fall Wagner, Musarionausgabe XVII.
II2 Träumen Hoffmann-Kreislers: Vgl. Kreisleriana Nr. 5 in E.T.A. Hoff-
manns Phantasiestücken in Callots Manier.
I I 2 •art suggestif•: nicht ermittelt.
II2 •d'aller au dela, plus outre que l'humanite•: in Barres' La Mort de
Venise heißt es über Wagners Tristan und lsolde: •Je ne souhaite a
personne de se soumettre aux influences de cette sublime tragedie, car ce
qu'elle met dans notre sang, c'est une irritation monelle, le besoin d'aller
au dela plus outre que l'humanite.« (Barres, Amori et dolori sacrum,
Paris I92I, S. 95). Die Barcescharakteristik Thomas Manns spielt an auf
Du sang, de Ia volupte, de Ia mort (I 894) und auf den Nationalismus des
späten Barres z.B. in LeGenie duRhin (I92I). Vgl. GW IX, 8p f, XII,
624-626, Essays II, S. 349·
II2 ·Sind es Wellen•: Tristan und lsolde, Schriften VII, 8of.
I I 4 Kulturbolschewisten: rechtsradikales Schlagwon für die avantgardisti-
sche Intelligenz in Kunst und Wissenschaft, den Vorwurf der Deka-
denz, des Radikalismus und des volksfremden Intellektualismus enthal-
tend.

RICHARD WAGNER UND DER ·RING DES NIBELUNGEN<


Vonrag Zürich I6. I 1. I937 (anläßlich der Ring-Aufführung des Stadtthea-
ters).
Erstdruck: Maß und Wert r, I938, H. 3·
GW IX, 502-527.

Mit Rücksicht auf den festlichen Anlaß tritt hier der Dekadenzgedanke
zurück zugunsten einer Deutung des Rings als zeitloser Sozialutopie. Nicht
infolge •gewisser sinnlicher, nervöser und intellektueller Reize• (infolge
ihrer Dekadenz also) gebühn Wagners Kunst ihr Erfolg, sondern weil sie
•sozial-sittlich weit hinaus zielt über alle kapitalistisch-bürgerliche Ordnung
in eine von Machtwahn und Geldherrschaft befreite, auf Gerechtigkeit und
Liebe gegründete, brüderliche Menschenwelt« (S. I22). Dabei versucht
Mann, Wagners Prophetie vor ihrem Mißbrauch durch den Nationalsozialis-
mus in Schutz zu nehmen- und ihr Zukünftiges zu retten. Im Vergleich zu
Wagners unpolitischer Utopie trägt die faschistische Wagner-Rezeption •das
Gepräge mythischer Surrogate für das wirklich Soziale• (S. I 34).

I I 5 von Deutschland Abschied: Die Ernennung Hit!ers zum Reichskanzler


am 30. I. I933• die Gleichschaltung Bayerns am 9· 3· 33 und nationalisti-
sche Reaktionen auf den Vonrag Leiden und Größe Richard Wagners
fühnen zu Manns Entschluß, von einer am I I. 2. 33 angetretenen
Vonragsreise nicht nach Deutschland zurückzukehren. (Vgl. Tage-
bücher I9JJ-I9J4, Frankfun I977• S. 52).
I I 5 ·Die Passion•: Siehe S. 275.
II6 ·Mitteilung an meine Freunde<: Zitate in Gesammelte Schriften VI,
246.
II7 Uns ist überliefert: In: Hans von Wolzogen, Erinnerungen an Richard
Wagner, Leipzig o. J., S. I7ff.
II7 ·Zarten Licht- und Liebesgenius•: ebd. S. 24.
117 »Schön ist•, sagt Kant: Gedächtniszitat ohne Kenntnis des Originalzu-
sammenhangs (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 2 und § 9), wahrscheinlich
nach Nietzsche, Was bedeuten asketische Ideale?, Werke II, 845.
117 bewundert Felix Mendelssohn: Wolzogen, a.a.O. S. 31.
117 »man kann•, sagt er: ebd. S. 25.
117 »nur für Klavier•: ebd.
118 »Was hat der Mann gesehen•: ebd. S. I8.
118 •Literaturdichtung•: Siehe S. 272.
I I8 »Dies ist wohl das Originellste•: Wolzogen, a.a.O. S. I6f.
I I9 •Gestalten groß, groß die Erinnerungen•: Goethe, Faust II (Klassische
Walpurgisnacht), Werke 5, 370.
122 »Wagalaweia•: Das Rheingold, Schriften 5, 200 (Rheintöchterter-
zett).
122 Kulturbolschewisten: Siehe S. 28 I.
IH erzählt Wagner selbst: in Eine Mitteilung an meine Freunde, Schriften
IV, 311-3I6.
123 •in der natürlichsten, heitersten Fülle•: ebd. S. p8.
124 im Elend: mhd. eilende =Verbannung, Fremde, Ausland.
124 »Laßt mich nun•: am 27. IO. I859 an 0. Wesendonck, in: Briefe
Richard Wagners an Otto Wesendonck, Berlin I905, S. 74·
125 Hier hat Wagner gelebt: Wagner lebte in Ziirich von I849 bis I858.
125 »Das ·Rheingold«: am 12. 3· I854, in: Richard Wagner, Familienbriefe,
Berlin I907, S. 211.
126 Gedenktafel: Die Götterdämmerungwurde am 21. 11. I874 vollendet.
126 •an seiner Arbeit•: nicht ermittelt.
126 »Und nenn' es in gewissem Sinne mein•: Goethe, Torquato Tasso I, 3
(Werke 6, 224).
126 Brief an Liszt: in: Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt, Leipzig
I887, Band I, S. I45-I50.
128 »Du wirst begreifen•: ebd. S. I49·
128 Versicherungen Wagners: z.B. in: Oper und Drama, Schriften 4, 78.
128 »Schlagen wir die Kraft der Reflexion•: Siehe S. 279·
I30 Gounods •Margarete<: Oper votrCharles Gounod, meist unter dem Titel
Faust (I859).
I30 »hehrsten Helden•: Götterdämmerung, 3· Aufzug, Schriften 6, 2p.
IJ2 »Mein Blut verdürb' euch•: Götterdämmerung, 1. Aufzug, Schriften 6,
I97·
I 33 • Weibes Wonne und Wert•: Das Rheingold, Schriften 5, n 5.
I33 •Das ist kein Mann•: Sieg/ried, 3· Aufzug, Schriften 6, I65.
IJ4 Rougon-Macquart-Romane: Siehe S. 269.
I35 ·Zerging' in Dunst•: Die Meistersinger von Nürnberg, Schriften 7, 271.
I35 •Gut noch Gold•: Götterdämmerung, Schriften 6, 255 (frei zitiert).
I35 des anderen deutschen Lebens- und Weltgedichts: Goethes Faust.

ZU WAGNERS VERTEIDIGUNG

Erstdruck in englischer Übersetzung unter dem Titel In Defense of Wagner


in: CommonSense 9, New York Januar I940. GW XIII, 351-359.

Der Leserbrief bestreitet nicht, sondern bestätigt die These, daß Wagners
Werk eine geistige Vorform des Nationalsozialismus sei, sofern jenes wie
dieser aus der traditionellen Politikfremdheit des deutschen Geistes die
Konsequenz nicht sozialer Reform, sondern des Selbstbetrugs mit mythi-
schen Surrogaten zieht. Das kann die Bewunderung Wagners allerdings nicht
zerstören: •Es gibt Fälle, bei denen man alles mögliche zugeben mag, und es
bleibt immer etwas überwältigendes zurück« (s. I39)·

I36 Artikel von Peter Viereck: Hit/er and Richard Wagner, in: Common
Sense 8, New York Nov. I939• S. 3-6. Dort wird im wesentlichen
Wagners politischer Werdegang anband seiner in USA fast völlig
unbekannten Prosaschriften nachgezeichnet.
I36 Sie nehmen an: Der Begleitbrief des Common-Sense-Herausgebers
Alfred M. Bingham ist im Thomas-Mann-Archiv Zürich nicht er-
halten.
I36 jenem fashionablen Wagner-Konzert: Vierecks Artikel beginnt mit den
Sätzen: »At a recent and typically fashionable American concert of
Wagnerian music, a speaker explained the concert somewhat like this:
•Here in free America, we honor tonight not the Germany of Hitler, of
dictatorship and persecution, but the Germany of Richard Wagner, of
free art and racial tolerance and democracy<.«
I36 Nietzsche: Siehe S. 63.
I37 das unvergleichliche Stück Prosa: Siehe S. 273·
I37 die berühmte Seite im •Ecce Homo<: Siehe S. 268.
I37 Baudelaire: Siehe S. I I2.
I37 d'Annunzio: Gabriele d'Annunzio, I863-I938, italienischer Dichter
und Politiker, in seiner Frühzeit Ästhetizist und Wagnerianer, später
Nationalist und Faschist. Von Thomas Mann in den Betrachtungen
eines Unpolitischen scharf attackiert (z. B. XII, 577).
I37 doppelte Optik: Siehe S. 278.
I37 »uns Zweifel macht•:Die fröhliche Wissenschaft, Werke II, I3.
I38 Herr Viereck ... führt an: Viereck zitiert aus Leiden und Größe Richard
Wagners den Ausdruck •essays of astanishing intelligence« (•Künstler-
schriften von erstaunlicher Gescheitheit•, hier S. 76) und verbindet diese
Aussage mit der Mitteilung, daß Wagners politische Schriften auch
Hitlers Lieblingslektüre seien - eine zweifellos unfaire Kombinatorik.
Das einseitige Zitieren setzt sich fort. Der Satz •lt is the Volk-soul that
speaks through Wagner• wird als Beleg für Wagners Nähe zur
völkischen Ideologie verwendet, obgleich er bei Thomas Mann sogleich
relativiert wird (hier S. 99). Es bleibt jedoch bei solchen kleinen
Nadelstichen, eine direkte Polemik gegen Mann wird nicht geführt.
I 38 Ich habe gesagt: Siehe S. 76.
IJ8 die Nuance: Erinnerung an Nietzsches Feststellung, das Verständnis
Wagners setze •die Finger für nuances• voraus (Werke II, I090).
I38 »Wunderwerke•: Brief vom 27. IO. I8S9 an 0. Wesendonck (Siehe
s. I24)·
I40 Sie ist der deutsche Beitrag: Die folgende Passage ist gekürzt über-
nommen aus Richard Wagner und der ·Ring des Nibelungen•,
S. IJJ-IJ4.
I4I nur ein Deutschland: Die hier schon I940 begegnende Formel spielt
später im Zusammenhang der Kollektivschuldthese im Vortrag Deutsch-
land und die Deutschen (I94S) eine zentrale Rolle (vgl. Essays 1_1, 28I ff,
373)·
I42 Harold Nicolson: britischer Diplomat und politischer Schriftsteller,
damals von Thomas Mann mit Sympathie gelesen (vgl. Briefe II, I3o).
Zitat nicht ermittelt.
WAGNER UND KEIN ENDE

Brief an Emil Preetorius 6. 12. 1949·


Erstdruck: Süddeutsche Zeitung 6. 7· 1950.
GW X, 92.5-927.

Der Graphik~r und Bühnenbildner Emil Preetorius, vor 1933 mit Thomas
Mann befreundet, leitete von 1931-1939 die szenische Ausstattung der
Wagner-Festspiele. Angesichts seiner hier zitierten Wagner-Schrift sieht sich
Mann zu einer sehr ambivalenten Stellungnahme veranlaßt, in der unter dem
Eindruck der nationalsozialistischen Wagner-Rezeption die Frage nach der
Mitschuld der Kulturschaffenden Deutschlands am Dritten Reich den alten
Wagner-Enthusiasmus mit abschätzigen Urteilen durchsetzt.

14J »Wagner und kein Ende•: Der Titel ist ein Nietzsche-Zitat aus den
Nachlaßnotizen zum Fall Wagner, Musarionausgabe XVII, 31.3· ·
143 Ihrem Brief: vom 18. 9· 1949, unveröffentlicht (im Thomas-Mann-
Archiv Zürich).
143 die Wagner-Schrift: E. Preetorius, Wagner, Bild und Vision, Frank-
furel949·
143 »die überzeitliche Geltung•: ebd. S. 31 (in der 2. Auflage von 1942. noch
nicht enthalten).
143 »Zurückzutauchen•: ebd. S. 35, mit Lesefehlern (•Der Siegeszug solchen
Werkes aber über die ganze Welt ist zuletzt ein erschütterndes Zeugnis
dafür, wie isoliert, wie müde die Menschen geworden sind, wie
sehnsüchtig danach, zurückzutauchen in den wiedervereinenden All-
grund, in das schützende, wärmende Dunkel, in jene >heilige Nacht<, aus
der ein >öder, neidbereiter Tag< als überhellte, isolierende Bewußtheit so
schmerzhaft sie gerissen. •)
144 die Gans, Evchen traut, den •Juden im Dorn•, Beckmesser: nationali-
stisch und antisemitisch gedeutete Züge in: Die Meistersinger von
Nürnberg.
144 »Kahn, der klein und schwach•: Schriften 7, 10 (Gedächtniszitat).
144 ·Begehrt, Herrin•: ebd.
144 »Wüßtest- du nicht•: ebd.
144 »goldischen Delia•: Die Sängerin Delia Reinhardt (in Preetorius'
Darmstädter Mundart), damals als Sopranistin an der Münchener Oper
unter Bruno Walter.
144 ·Einsam in trüben Tagen•: Lohengrin, Schriften .z, 69.
144 pp: pianissimo.
144 •In lichter Waffen Scheine•: ebd. S. 70.
145 Nachruf auf Wo/fskehl: nicht ermittelt.

ÜBER DIE LEHRE SPENGLERS

Erstdruck in englischer Ubersetzung unter dem Titel German Letter (I) in


The DialJJ,New York Dezember 192.2 ( = GW XIII, 2.6o-2.72.). In deutscher
Sprache erstmals in AUgemeine Zeitung, München 9· 3· 192.4.
GW X, 172.-180.

Oswald Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes (1918) hatte


Thomas Mann zunächst enthusiastisch begrüßt und als seinen Betrachtungen
eines Unpolitischen wesensverwandt empfunden. Die Abkehr von Spengler
im vorliegenden Aufsatz kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Manns
Geschichtsmorphologie noch lange der Erkennmis des Untergangs ver-
pflichtet bleibt, daß auf die schöpferischen Jahre der •Kultur• nun die
byzantinistischen Jahre bloßer •Zivilisation• folgen. Nur die Konsequenz
aus dieser Erkenntnis ist eine andere: dem Spenglersehen Fatalismus wird ein
kämpferischer Humanismus gegenübergestellt, der sich mit der Unausweich-
lichkeit eines cäsaristisch geführten Massenzeitalters nicht abfinden will.
Mehr in der Form als in der Sache wird Spengler widerlegt, wenn er als
unironisch-liebloser »Defaitist der Humanität• etikettiert wird (S. I48).

I46 Nietzsche bemerkt einmal: Nachlaß, ,Studien aus der Umwenungszeit,


Musarienausgabe XVI, JI2 (Gedächmiszitat).
147 jener Staatsmann: nicht ermittelt.
147 Hermann Keyserling: kulturpsychologischer Schriftsteller, damals von
Mann hochgeschätzt, gründete I920 in Darmstadt eine •Schule der
Weisheit•. Sein Reisetagebuch eines Philosophen erschien I9I9· Vgl.
GW XII, 593-603; X, I9I-207.
147 Ernst Benram: Der Philologe Bertram war mit Thomas Mann befreun-
det. Sein Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie (Berlin I9I8)
entstand in engem Kontakt mit Manns Betrachtungen.
147 Gundolf: Friedrich Gundo!f, Germanist, Angehöriger des George-
Kreises. Sein Buch Goethe erschien I9I6 in Berlin.
147 Benedetto Croce: italienischer Kulturphilosoph, später mit Thomas
Mann briefwechselnd (vgl. 0. Besomi/H. Wysling, Der Briefwechsel
Croce- Mann, in: GRM N. F. 25, I975• S.129-150). Das Zitat, das ich
den Forschungen H.- J. Sandbergs verdanke, stammt aus einem Artikel
in der von Th. Mann regelmäßig gelesenen Frankfurter Zeitung (Nr.
454, S. I) vom 23. Juni 1920, den Mann offensichtlich jahrelang
aufbewahne, den man daher wohl unter die für seine Wandlung
wesentlichen Einflüsse rechnen muß. Croces Artikel kritisien den
Dilettantismus und den Fatalismus Spenglers als sinnverwirrend und
seelenzerrüttend und schließt: »Herr Spengler vergißt, daß die >Euro-
päer•, die man heute für erledigt ansieht, Menschen sind und allen noch
viele Überraschungen bringen werden, die so mechanistisch denken
werden wie er.•
147 leugnet, Pessimist zu sein: in einer Schrift zur Veneidigung des
Untergangs mit dem Titel Pessimismus?, Berlin I92I, z.B. S. I5.
I47 »Wir müssen das Notwendige~: Spengler, Der Untergang des Abendlan-
des, München 1972, z.B. S. 55 (• ... steht es uns nicht mehr frei, dieses
oder jenes zu verwirklichen, sondern das Notwendige oder nichts. Dies
als •gut• zu empfinden kennzeichnet den Tatsachenmenschen.•). Die
Auflagen seit I922 sind allerdings gegenüber dem von Thomas Mann
benützten Text der Erstauflage von I9 I 8 (die mir nicht zugänglich war)
teilweise umgearbeitet.
I47 den dionysischen: Nietzsche formulien: •Höchster Zustand, den ein
Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn -: meine
Formel dafür ist amor fati~ (Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre,
Werke 111, 834) und forden in diesem Zusammenhang, ·die bisher
verneinten Seiten des Daseins als wünschenswen zu begreifen und die
bisher bejahten zu durchschauen.
148 nach Novalis: Novalis, Schriften Band II, Darmstadt I965, S. 565
(Übernahme in: Von deutscher Republik, Essays II, S. 85).
148 Mahlers >Lied<: Spätwerk des spätromantischen Komponisten Gustav
Mahler (I86o-I9I I).
150 »Zweite Religiosität•: Spengler, Untergang, a.a.O. S. 941 f.
152 »Sollten die unabänderlichen Gesetze•: Novalis, Schriften III, S. 6o1.
Die Passage wird in Von deutscher Republik übernommen, vgl. Essays
II, S. 84.
152. »Alles geht nach Gesetzen•: Novalis, ebd.

DIE STELLUNG FREUDS IN DER MODERNEN


GEISTESGESCHICHTE

Vonrag 16. 5· 1929. Erstdruck: in: Die psychoanalytische Bewegung I, Wien


Mai/Juni 1929.
GW X, 256-280.

Nach gelegentlicher und meist oberflächlich oder aus zweiter Hand erfolgen-
der Information setzt seit Ende 192 5 eine ziemlich gründliche Beschäftigung
mit einigen Feeudsehen Schriften ein (v. a. mit Totem und Tabu, im Hinblick
auf die Erfordernisse des foseph-Romans). Die Rede verwendet Freud als
willkommenen Zeugen im geistig-politischen Tageskampf gegen den präfa-
schistischen Irrationalismus; als einen Zeugen vor allem, der es erlaubte, das
Interesse für das Mythische und Unbewußte progressiv zu verstehen, dem
Faschismus aus den Händen zu nehmen und ins Humane umzufunktionie-
ren (vgl. GW XI, 658).

153 >Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung<: Nietzsche,


Morgenröte, Werke I, 1144f. Der Text wird beinahe vollständig zitien.
154 •Reaktion als Fortschritt<: Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches,
Werke I, 466f.
156 >Totem und Tabu<: Abhandlung Freuds aus dem Jahre 1912. Die zitiene
Passage findet sich in: Freud, Studienausgabe Band IX, Frankfun 1974,
s. 417-437·
156 »mit welcher so vieles seinen Anfang nahm•: ebd. S. 426.
156 »durch die Länge der Zeiten•: ebd. S. 437·
156 des »Willens•: Im Sinne Schopenhauers ist der Wille der erkenntnislose,
blinde, unaufhaltsame Lebensdrang.
156 wie Nietzsche sagt: Morgenröte, a.a.O.
157 Amdt, Görres, Grimm, Carus, Zoega, Creuzer, Müller, Bachofen:
Thomas Mann verdankt seine Kenntnisse der romantischen Mythelogen
und konservativen Gesellschaftstheoretiker weitgehend der Einleitung
von Alfred Baeumler zu J. J. Bachofen, Der Mythus von Orient und
Occident, München 1926. Ernst Moritz Amdt, 1769-186o, nationalisti-
scher Publizist und Historiker (Geist der Zeit, I8o6-1818). joseph
Görres,I776-1848, konservativer Publizist und Mytheloge (Die christli-
che Mystik, I836-1842). facob und Wilhelm Grimm (1785-186J,
1786-1859), Initiatoren der Märchen-, Sagen- und Mythenforschung.
Kar/ Gustav Carus, 1789-1869, Mediziner und Psychologe (Psyche. Zur
Entwicklungsgeschichte der Seele, 1846). Georg Zoega, 1755-18o9,
Altenumswissenschaftler (Symbolik und Mythologie der alten Völker,
I8Io-1812). Adam Müller, 1779-1829, romantischer Gesellschaftstheo-
retiker. johann Jakob Bachofen, I815-1887, Jurist (Das Mutterrecht.
Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der Alten Welt nach ihrer
religiösen und rechtlichen Natur, 1861).
157 »unsere Empfindungen•: Nietzsche, Reaktion als Fortschritt, a.a.O.
(don über Schopenhauer).
157 Klages: Der Münchener Lebensphilosoph, •Kosmiker• und George-
Schüler Ludwig Klages (Der Geist als Widersacher der Seele, 192.9)
gehörte neben Alfred Baeumler zu den führenden Anwälten des
Bachofensehen Mutterrechts.
157 Spengler: Siehe S. 146-1p.
15 8 die Fiktion: In der Weimarer Republik berief sich die antidemokratische
Rechte politisch auf die Befreiungskriege gegen Napoleon, geistig auf
den Kampf der Spätromantik gegen Aufklärung und Französische
Revolution. Ein Indiz für diese Zusammenhänge ist die in den Zwan-
ziger und Dreißiger Jahren stark expandierende Spätromantikforschung.
159 unseren Propheten des Unbewußten: Die •totale Unfähigkeit Nietz-
sches, den Mythus zu verstehen•, behauptet Baeumler, a.a.O. S. CCL,
ebd. auch die von Mann angeführte Feststellung: •Nichts ist •sokrati-
scher< als Nietzsches Theorie des tragischen Mythus•. Vgl. ferner den
Schlußteil von Klages' Buch Die psychologischen Errungenschaften
Nietzsches (192.6), Bonn 3 1958, S. 179-2.16, Dierks S. 2.63 f.
159 •heilige Dunkel der Vorzeit•: ebd. S. CCLI.
159 ein berauschter Editor: Alfred Baeumler, das Zitat in der genannten
Bachofen-Einleitung S. CCLIV. Daß Thomas Mann Baeumler aus
aktuellen Anlässen heraus mißverstand, wenn er ihn als irrationalisti-
schen Dionysier charakterisiert, will Dierks (S. 172.-176) wahrscheinlich
machen. Das mag im philologischen Detail zutreffen, die spätere
Entwicklung Baeumlers zum Nationalsozialisten legt aber die Frage
nahe, ob Thomas Mann nicht doch am Ende das Richtige gespürt hat.
159 weshalb ich mir erlaubte: in Pariser Rechenschaft (192.6), GW XI, 48-p,
wo die Baeumler-Kritik im Zusammenhang geführt wird.
159 •die eigentlich bessere Welt•: Novalis, Schriften 111, Darmstadt 2 1968,
s. 469.
160 Maurice Barres: Siehe S. 2.81.
161 •frevelhaften Unschuld•: Wackenroder, Phantasien über die Kunst, in:
Werke und Briefe, Berlin o. J., S. 2.2.7.
161 •ganz ein Kunstprodukt•: Novalis, Schriften II, S. 641.
161 Proserpina: Persephone, Tochter des Zeus und der Demeter, Gemahlin
des Hades.
162. Georg Brandes: Die zitierte Passage aus dem Werk des liberalen
dänischen Literaturhistorikers findet sich in Hauptströmungen der
Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 192.4, Band I, S. 3 13.
163 Dacque: Das Werk Urwelt, Sage und Memchheit (192.4) des Paläologen
Edgar Dacque, das zu den Hauptquellen des damals entstehenden
Josephromans zählt, sieht von der Urwelt zur Gegenwart eine Ab-
nahme des mythischen Vermögens (vgl. Dierks S. 62.-67). Die Fachwelt
lehnte Dacques metaphysischen Intuitionismus ab, so daß er es nie zu
einer ordentlichen Professur brachte.
163 •umchätzbare Gewinn•: frei zitiert nach Die Reaktion als Fortschritt,
a.a.O.
164 ·die Erkenntnis unter das Gefühl hinabzudrücken•: Nietzsche, Mor-
genröte, a.a.O.
164 Ich sprach einmal: Siehe S. 43-58.
165 Revolution wider den Geist: Neben Baeumler und Spengler wird hier
vor allem auf Klages' Buch Der Geist als Widersacher der Seele
angespielt.
165 •zukünftige und neuemde Ziele•: Nietzsche, Morgenröte, a.a.O.
165 •keiner geringen allgemeinen Gefahr•: ebd.
166 im fahre achtzehn: Die Konservative Partei beschließt im Oktober 1918,
ihren Widerstand gegen die Einführung des gleichen Wahlrechts in
Preußen aufzugeben und ruft zur Bildung einer Einheitsfront und zu
einer letzten Kraftanstrengung des ganzen Volkes im Kriege auf.
168 •Als Psychoanalytiker•: Freud, Zur Psychologie des Gymnasiasten,
Studienausgabe Band IV, Frankfurt 1970, S. .138.
168 Widerspruch im Beiwort: nach Freud, Die Widerstände gegen die
Psychoanalyse, Gesammelte Schriften, Leipzig/Wien/Zürich 19.14ff,
Band XI, S. .a.a8.
169 •Wir mögen•, sagt Freud: in Die Zukunft einer Illusion (19.17),
Studienausgabe Band IX, Frankfun 1974, S. 186.
169 •das psychologische I deal•: ebd. S. 181.
170 •Selbst- und Arterhaltung•: Freud, •Selbstdarstellung•, Gesammelte
Schriften XI, 170.
qo •Der Trieb unserer Elemente•: Novalis, a.a.O. Band III, S. 687.
170 •Amor ist es•: ebd. III, 4.15.
170 narzißtischen Libido des Ich: Freud, jenseits des Lustprinzips, Studien-
ausgabe III, .a61.
170 •Pansexualismus•: Vgl. Freud, Die Widerstände gegen die Psychoana-
lyse, Schriften XI, .130.
171 •eigentlichen Lebenstriebe•: Freud, jenseits des Lustprinzips, Studien-
ausgabe III, .150.
171 Sozialismus: Themas Mann denkt offenbar an Die Zukunft einer
Illusion, Studienausgabe IX, 146 (»Wenn aber eine Kultur es nicht
darüber hinausgebracht hat, daß die Befriedigung einer Anzahl von
Teilnehmern die Unterdrückung einer anderen, vielleicht der Mehrzahl,
zur Voraussetzung hat, und dies ist bei allen gegenwänigen Kulturen
der Fall, so ist es begreiflich, daß diese Unterdrückten eine intensive
Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch ihre Arbeit
ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil
haben.•).
171 •die•, so sagt er: Freud, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe IX,
146 (»Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine
so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung
treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es ver-
dient.•).

FREUD UND DIE ZUKUNFT

Festrede zur Feier von Freuds So. Gehunstag in Wien am 8. 5· 1936.


Erstdruck: Imago 22, Wien 1936.
GW IX, 478-501.

Die zweite große Freud-Rede steht ganz im Banne der durch die Arbeit an
joseph und seine Brüder gegebenen Thematik der Bewährung des Humanen
vor dem Mythisch-Unbewußten. Freuds Verhältnis von Ich und Es wird
dabei im Medium des Schopenhauerschen Theorems der Dienstbarkeit des
Intellekts gegenüber dem »Willen• gesehen. Um dieses Verhältnis nicht, wie
ini Irrationalismus der •intellektuellen Faschisten•, in eine inhumane Unter-
werfung des Geistes unter das Unbewußte ausarten zu lassen, entwickelt
Thomas Mann eine Konzeption, die zwar den Priniat des Unbewußten
anerkennt, aber dem Ich wenigstens die Fähigkeit zumißt, mit Bewußtsein
und Freiheit in den Spuren des Mythos zu gehen, wenn auch nicht, sie kraft
autonomer Geistigkeit zu verlassen. Der Effekt der Psychoanalyse ist in
diesem Sinne die »Herstellung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht
notwendigerweise unfrommen Verhälmisses zum Unbewußten• (S. 191).

175 einen »wirklichen Philosophen•: Nietzsche, Was bedeuten asketische


Ideale?, Werke II, 844.
175 Ritters zwischen Tod und Teufel: Anspielung auf Dürers Bild Ritter,
Tod und Teufel, von Mann sonst meist auf Nietzsche bezogen.
175 Selbstkennertum, Selbsthenkertum: Anspielung auf Nietzsches Diony-
sos-Dithyramben, Werke II, up..
175 »Erkenntniseke/.: GW VIII, 300.
176 »L'humanite•: nicht ermittelt.
176 »das kranke Tier•: Nietzsche, Was bedeuten asketische Ideale?, Werke
II, 862.
176 so spät: Eine systematische Freud-Lektüre ist erst seit Dezember 1925
anzusetzen (vgl. Dierks S. 136). Dennoch konnte neuerdings Jean Finck
mit guten Gründen schon vorher mehr als oberflächliche Freud-
Kennmisse wahrscheinlich machen (vgl. Thomas Mann und die Psycho-
analyse, Paris 1973).
177 ein Denkmal: GW I, 654-66o.
177 »Lebenslüge•: Stichwort aus Ibsens Drama Die Wildente.
178 ·Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit<: Studienausgabe Band I,
Frankfurt 1969, S. 496-p6.
178 »ist der dunkle, unzugängliche Tei/.: ebd. S. p1-515, dort alle
folgenden Zitate. Auch die indirekt referierten Gedanken sind größten-
teils wörtlich aus Freuds genannter Vorlesung übertragen.
180 .Ober die anscheinende Absichtlichkeit<: Schopenhauer, Transzendente
Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des
Einzelnen, Sämtliche Werke IV, S. 234-272, die zitierte Traumtheorie
s. 264-270.
181 etwas undankbarer Sprößling: Nach Dierks (S. 258) war der Streit
zwischen Freud und Jung, der damals (1936) durch die antisemitischen
Züge Jungs und seine führende Tätigkeit in der nationalsozialistischen
Allgemeinen )frztlichen Gesellschaft für Psychotherapie bereits scharf
ausgeprägt war, Themas Mann bis dahin kaum bekannt geworden, so
daß man das Wort »undankbar• wohl vorwiegend auf die Psychoanaly-
sekritik in der Einleitung zum Tibetanischen Totenbuch zurückführen
müßte. Seit dem Erscheinen der Tagebücher 19JJ-19J4 (Frankfurt 1977)
muß diese These dahingehend modifiziert werden, daß Mann wenig-
stens gerüchtweise über Jungs Antisemitismus informiert war
(Tagebucheintragung vom 4· 9· 1934).
181 Einleitung zum •Tibetanischen Totenbuch•: Jung, Psychologischer Kom-
mentar zum Bardo Thödol, in: W. Y. Evans-Wentz (Hrsg.), Das
Tibetanische Totenbuch, Zürich 1936. Hier zitiert nach C. G. Jung,
Gesammelte Werke XI, Zürich/Stuttgart 1963, s. 55o-567. Die Zitate,
die alle aus einem einzigen Absatz stammen, zeugen von einer nur
peripheren, nicht fundamentalen Jung-Lektüre.
18! »Es ist so viel unmittelbarer•: ebd. S. 554·
181 »exorbitantes•: Schopenhauer, Transzendente Spekulation, a.a.O. S. 267.
181 die Philosophie nicht sonderlich hoch: wörtlich nicht ermittelt. Freuds
Kritik der Philosophie z.B. in: Die Widerstände gegen die Psychoana-
lyse, Gesammelte Schriften XI, 228f, oder »Selbstdarstellung•, ebd.
s. 143·
182 »der Geber aller Gegebenheiten•: Jung, a.a.O. S. 554, dort auch die
übrigen Zitate.
I82 Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, I. Buch, Nr. 8. Hier
wahrscheinlich übernommen aus Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung, § 25, Werke I, I 94·
I82 in der Genesis: Gen I7, 2-21.
I 83 eines Wiener Gelehrten: Ernst Kris, Zur Psychologie älterer Biographik,
Imago 3I, I935, S. 320-344.
I84 • Viele von uns•: ebd. S. 343·
I84 auf den ]osephsroman: ebd.
I 85 Freud selbst hat bekannt: nicht ermittelt.
I85 •Totem und Tabw: Studienausgabe Band IX, Frankfurt I974•
s. 287-444·
I86 Bachofen: Johann Jakob Bachofen, Der Mythus von Orient und
Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Mit einer Einleitung von
Alfred Baeumler. Herausgegeben von Manfred Schröter. München
I926. Die zitierte Stelle über Kleopatra dort S. 379· Zu Kleopatra in der
Rolle der ägyptischen Muttergottheit Isis vgl. ebd. S. 226 und S. 23 I.
Der von Bachofen zitierte Plutarch wurde von Thomas Mann auch
direkt zu Rate gezogen, vgl. das Kapitel Ober lsis und Osiris, in:
Plutarch, Vermischte Schriften, München/Leipzig I9I I, Band II,
S. 286-358.
I87 Ortega y Gasset: Jose Ortega y Gasset, I883-I955, von Nietzsche
beeinflußter spanischer Kulturphilosoph. Thomas Mann kannte sein
Buch La rebeli6n de las masas (I929, deutsch I9JI), das vorübergehend
Spuren in seinem Werk hinterließ (vgl. Essays II, S. I65 ff). Das Zitat
findet sich im I4. Kapitel (Der Aufstand der Massen, Stuttgart I949,
S. I75)· Dorther stammen auch die Informationen über Cäsar, Alexan-
der und Miltiades (S. I 76).
I 87 antike Gepräge der Gestalt Napoleons: bei Goethe und Nietzsche (nach
Bertram, Nietzsche, Berlin I9I8, S. 20I-2I4), auch bei Spengler, Der
Untergang des Abendlandes, München I972, Band I, S. 4 u. ö.
I87 •Ich bin's•: z.B. Mk I4, 62.
I88 •damit erfüllet werde•: Mk I4, 49; Mt 26, 56. Die Information hat
Thomas Mann aus Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionsso-
ziologie, Band III, Tübingen I923, S. 393·
I88 ·Eli, Eli•: Mk I5, 34; Mt 27, 46; Ps 22, 2.
I 88 zum Feste: Die folgende Festtheorie folgt in einigen Zügen Freud,
Totem und Tabu, a.a.O. S. 424-426. Vgl. außerdem ]oseph und seine
Brüder, GW IV, 32.
I88 Osiris: Gestalt der ägyptischen Mythologie, in Stücke zerrissen und als
Totengott wiederauferstanden, von Thomas Mann im Zusammenhang
seines Romans und beeinflußt von Mereschkowski (Die Geheimnisse
des Ostens, I924) und Jeremias (Das Alte Testament im Lichte des Alten
Orients, 3 I9I6) auf Joseph, Tammuz, Jesus und Dionysos bezogen (vgl.
Dierks S. 76-79 ).
I89 •Der große ]okus<: GW IV, 20I-2I4.
I9I Freud hat zwar gemeint: in Psycho-Analysis, Gesammelte Schriften XII,
Wien I934• S. 374·
I9I •ein Stück wissenschaftlichen Neulandes•: Freud, Neue Folge, a.a.O.
s. 451·
I9I • Wo Es war, soll Ich werden•: ebd. S. 5I6.
I9I ·das herrische Meer•: Goethe, Faust II, 4· Akt (Werke 5, 466).
I92 ·Eröffn' ich Räume<: ebd. 5· Akt, Werke 5> so8f.
SCHOFENHAUER
Geschrieben als Vorwort für eine (nie erschienene) Schopenhauer-Auswahl.
Erstdruck Stockholm 1938.
GW IX, sz8- 58o.
Trotz des nüchternen, gelegentlich distanzierten Tonfalls- •Schopenhauer
ist recht etwas für junge Leute• - wird hier deutlich, daß wichtige Elemente
der Philosophie Themas Manns dem Werk Schopenhauers verpflichtet sind:
von ihm her werden ältere Philosophen (ohne eigene Primärlektüre) referiert
und beurteilt (v.a. Platon, Kant und Hege!), in ihre Fluchtlinien werden
neueregestellt (v.a. Nietzsche und Freud). Im Vergleich zu den Schopen-
hauer-Passagen der Betrachtungen eines Unpolitischen wird die - partiell
zeitbedingte (der Aufsatz stamme, sagt Mann, •aus der Zeit von meines demo-
kratischen Optimismus Maienblüte« [Briefe 111, .248]) - Mühe erkennbar,
Schopenhauers Pessimismus Humanität und Zukünftigkeit zuzusprechen.
193 »Was ist Wahrheit?«: Frage des Pilatus an Jesus, Jo 18, 38.
193 die kritische Philosophie: Hinweis auf Kam, wohl zurückgehend auf
Schopenhauers Kam-Referat am Anfang der Kritik der Kantischen
Philosophie, Werke I, z.B. S. 564-569.
193 •Und sehe«: Goethe, Faustl, Werke 5, 155.
193 •inteOektuale Anschauung• und •absolutes Denken•: aus Schopen-
hauers Hegelkritik, z.B. Werke I, 17: •stets findet man mich auf dem
Standpunkt der Reflexion( ... ), niemals auf dem der Inspiration, genannt
intellektuelle Anschauung oder auch absolutes Denken, beim rechten
Namen jedoch Windbeutelei und Scharlatanerei•.
194 ihre ,}fsthetik<: Das dritte der vier Bücher von Die Welt als Wille und
Vorstellung (künftig abgekürzt als WWV).
195 •den genialsten•: Tolstoi im August 1869 in einem Brief an Fet.
195 •ein wahres Himmelsgeschenk«: Wagner Ende 1854 an Liszt, vgl.
Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt, Leipzig 1887, Band I, S. 45
(Gedächtniszitat).
195 >Schopenhauer als Erzieher<: Werke I, .287-365.
195 Absage: in den Jahren 1876-78 mit Menschliches, Allzumenschliches.
195 über den >Tristan<: Nietzsche, Werke II, 109d.
196 Platon: Das Platonreferat folgt größtenteils wörtlich Schopenhauer,
WWV §31 (Werke I, .247ff), das Löwenbeispiel aus Ober den Tod,
Werke II, 617. .
197 Zusammengehörigkeit von Wissenschaft und asketischer Moral: Themas
Mann übernimmt hier eine Wendung Nietzsches aus Was bedeuten
asketische Ideale? (Werke II, 89.2), entkleidet sie aber ihres antiplatoni-
schen Tenors.
197 •Die Zeit•: Das Platon-Zitat ist wie sein Vordersatz übernommen aus
WWV §3.2 (Werke I, .254).
198 Mondsymbol: Vgl. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident,
München 19.26, z.B. S. 255: Der Mond ist ·die Grenzscheide der
tellurischen und der solarischen Religion, der reinste Körper der
stofflichen, vergänglichen, der unreinste der unstofflichen, keinem
Wechsel unterworfenen Welt (... ), ist androgyn, Luna und Lunus
zugleich, weiblich gegenüber der Sonne, männlich hinwieder gegenüber
der Erde (... ). Er erhält so die Gemeinschaft des Weltalls, ist der
Dolmetsch der Unsterblichen und der Sterblichen.•
199 • Was er lehrte•: Nietzsche, Artbur Schopenhauer, Musarienausgabe
XX, 1.29.
I99 •Immanuel Kant«: Das Kant-Referat wird im wesentlichen übernom-
men aus WWV §3I (Werke I, 247·und 250). Statt »transzendente• steht
dort allerdings richtig »transzendentale•.
200 sehr nahe verwandt: ebenfalls eine Einschätzung Schopenhauers, wört-
lich WWV §3I (1, 247), die folgenden Sätze ebd. S. 248f.
200 ·die beiden größten Philosophen•: WWV §3I (1, 247).
200 der Wille: Die Schopenhauer-Paraphrase der nächsten Seiten folgt mit
vielen wörtlichen Zitaten v.a. den §§22, 25, 27, 54• 32,23 von WWV. Im
folgenden werden nur einige Kernzitate nachgewiesen.
200 Pleonasmus: WWV §54 (1, 38o).
20I principium individuationis: WWV §23 (1, I7J).
20I sich zur Leuchte: WWV §27 (1, 223).
201 nunc stans: WWV §32 (1, 253).
203 homo homini Iupus: WWV §27 (1, 219).
203 auf gewissen Seiten: WWV §§57-59·
204 Mangel, Not, Sorge: weitgehend wörtlich nach§ 57 (1, 432f).
205 jenem Witz: in: Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens, Werke
II, 747·
205 an Voltaire: Voltaires Candide, ou /'optimisme (1759) wendet sich gegen
Leibniz' Formulierung von dieser Welt als der besten aller möglichen
Welten in dessen Theodicee (1710).
205 Unsittlichkeit des Selbstmordes: WWV §69. Der beiläufige Hinweis geht
wohl auch darauf zurück, daß die erste Schopenhauer-Lektüre eine
beim jungen Thomas Mann vorhandene Selbstmordneigung bekämpfen
half (vgl. Lebensabriß GW XI, I I I).
206 den ästhetischen Zustand: Die folgenden Abschnitte gehen vor allem auf
WWV §36 und §38 zurück.
206 •Schön ist•, hatte Kant bestimmt: hier nach Nietzsche, Was bedeuten
asketische Ideale? Werke II, 845 (vgl. S. 281).
207 Ironie: Schopenhauer, Zur Theorie des Lächerlichen, Werke 11, IJJ
(•Die Ironie ist objektiv•).
207 • Uns ist völlig wob/.: WWV § 38 (1, 280).
207 oft angefühn: z.B. bei Nietzsche, Was bedeuten asketische Ideale?,
Werke 11, 847. Manns folgende Worte scheinen im Duktus von
Nietzsches Schopenhauer-Kritik gefärbt.
208 Ethik: Die folgenden Abschnitte nach WWV §§55, 63, 65.
209 operari-esse: WWV § 70 (1, 552), auch Werke II, 415, 650 u. ö.:
• Während des Lebens ist der Wille des Menschen ohne Freiheit: auf
der Basis seines unveränderlichen Charakters geht sein Handeln an
der Kette der Motive mit Notwendigkeit vor sich. Nun trägt aber
jeder in seiner Erinnerung gar vieles, das er getan und worüber er nicht
mit sich selbst zufrieden ist. Lebte er nun immerfort; so würde er
vermöge der Unveränderlichkeit des Charakters auch immerfort auf
dieselbe Weise handeln. Demnach muß er aufhören zu sein, was
er ist, um aus dem Keim seines Wesens als ein neues und anderes
hervorgehn zu können. Daher löst der Tod jene Bande: der Wille
wird wieder frei: denn im •esse•, nicht im •operaric liegt die Freiheit•
(II, 65o).
209 Gewissensbiß: § 65 (1, 497f).
210 geschah ihm immer recht:§ 63 (1, 480).
2IO •angeborenen Verdiensten•: Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit
(111, u) über Schöpflin: • ... sein Glück war, ohne daß er sich mühsam
angestrengt hätte, die Folge angeborner und ruhig ausgebildeter Ver-
dienste• (Werke 10, 521).
2IO Unterschiedenheit als Täuschung: die folgende Passage v.a. nach WWV
§§6.3, 64 und 68.
21 I Todesfurcht: WWV § 54 (I, 387f).
2I3 •Tat twam asi•: WWV §63 (1, 485).
2 I 3 gut- böse- gerecht: WWV § 66.
2I4 Mitleid: WWV §67.
2I4 Spinoza: Das Spinoza-Zitat stammt aus WWV §67 (1, 5I I).
2I4 Quietiv des Wollens: WWV §68 (I, 515).
2I4 im Heiligen: WWV §68.
2I 5 •Mensch, alles liebet dich•: Angelus Silesius, Cherubinischer Wanders-
mann I, 275, hier nach WWV §68 (I, p8).
2I6 Verse des >Divan<: Der west-östliche Divan, Buch Hafis, Werke 3,
303.
2I6 Hege/: nicht ermittelt.
2I6 ·Die Menschheit•: Fragmente zur Geschichte der Philosophie § I4,
Werke IV, I64 (frei zitiert).
2I6 •Der Tod ist<: Uber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit
unseres Wesens an sich, Werke II, 590.
2I7 •Kreuz, Tod und Gruft•: Siehe S. 268.
2I7 die Musik gefeiert: WWV § p, Zitat Werke I, 359·
2I7 • Wer sich für das Leben interessiert<: Hans Castorp GW 111, 37d
(Gedächtniszitat).
217 zu Tode zu bringen: GW I, 654-66o.
218 in meinen Erinnerungen: Lebensabriß (I930), GW XI, I I 1.
2I8 Nietzsche: Was bedeuten asketische Ideale?, Werke II, 846; auch
Menschliches, Allzumenschliches, Werke I, 837.
219 • Wo ich sein werde<: GW I, 657f.
2I9 nicht zufällig: Themas Mann bezeugt selbst, Schopenhauers Werk sei
für ihn •ein metaphysischer Rausch• gewesen, der •mit spät und heftig
durchbrechender Sexualität• viel zu tun gehabt habe (GW XI, I I I).
220 •Brennpunkt des Willens•: WWV §6o (1, 452).
220 Man hat bestritten: H. St. Chamberlain, siehe S. 277·
220 •Metaphysik fürs Volk<: Uber Religion, Werke V, 383 u.ö.
22I ·Die moralischen Resultate<: Fragmente zur Geschichte der Philosophie
§§ I4, Werke IV, I65.
22I •Ungefähr sagt das der Pfarrer auch•: Gretchen in Goethes Faust I,
Werke 5> 2p.
22I die größte aller Philistereien: Uber die Universitäts-Philosophie, Werke
IV, I82f (•Apotheose der Philisterei•).
22I •welche die schwere Aufgabe haben•: ebd.
22I •absolut vollendetem ethischem Organismus•: Hege! nach Schopen-
hauer, ebd.
222 die gedankliche Weiterführung ... zum Kommunismus: ebd. S. ISO
( • Und die Hegeische Apotheose des Staats wird bis zum Kommunismus
weitergefühn• ).
222 •das hohe Ziel<: ebd. S. I90.
222 •Ich danke Gott•: Goethe, Faust I, nach Schopenhauer, ebd. S. I82.
223 ·klares Weltauge•: WWV §36, Werke I, 266.
22 3 Die Philosophie, erklärt Schopenhauer: nicht ermittelt.
223 im Jahre 1848: Die im folgenden und andernons (GW XII, I30) zitiene
Passage stammt aus einem Brief Schopenhauers an Frauenstädt vom 2. 3·
I849 und lautet im Zusammenhang: •Aber was haben wir erlebt!
denken Sie sich, am I 8. September eine Barrikade auf der Brücke und
die Schurken bis dicht vor meinem Hause stehend, zielend und

293
schießend auf das Militär in der Fahrgasse, dessen Gegenschüsse das
Haus erschüttern: plötzliche Stimmen und Geholler an meiner ver-
schlossenen Stubenthüre: ich, denkend, es sei die souveräne Kanaille,
verrammle die Thür mit der Stange: jetzt geschehn gefährliche Stöße
gegen dieselbe: endlich die feine Stimme meiner Magd: •es sind nur
einige Oesterreicher!< Sogleich öffne ich diesen werthen Freunden: 20
blauhosige Stockböhmen stürzen herein, um aus meinen Fenstern auf
die Souveränen zu schießen; besinnen sich aber bald, es gienge vom
nächsten Hause besser. Aus dem ersten Stock rekognoscirt der Officier
das Pack hinter der Barrikade: sogleich schicke ich ihm den großen
doppelten Opernkucker (... )• (Der Briefwechsel Artbur Schopenhauers,
München 1929, Band I, S. 638f).
223 in seinem Testament: zitiert nach Eduard Grisebach, Schopenhauer.
Geschichte seines Lebens, Berlin 1897, S. 219.
224 »Nicht dem Vergnügen•: Aristoteles, Nikomachische Ethik, hier nach
Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Werke IV, 483.
224 schrieb an Goethe: am 11. 11. 1815, Briefwechsela.a.O. Band I, S. 191.
1.1.4 fohanna Schopenhauer: 1766-1838, lebte seit 1806 in Weimar und
unterhielt einen auch von Goethe geschätzten literarischen Salon.
225 Neu-Katholizismus: Uber die Universitäts-Philosophie, Werke IV, 180.
225 •Landesreligionen•: ebd. S. 178-180.
1.1.5 Freuds Auslassungen: Vgl. Die Zukunft einer Illusion (1927), Studien-
ausgabe Band IX, Frankfurt 1974, S. 135-189.
1.1.6 den Unterschied bei Mensch und Tier: Die Passage gibt den letzten
Absatz von §33 WWV wieder (Werke I, 256).
226 ·Diesen menschlichen Vorzug•: ebd.
1.1.6 •Es bestimmt die Rangordnung•: Jenseits von Gut und Böse, Werke II,
744 (Gedächmiszitat).
1.1.7 Nietzsche sich ... lustig machte: Was bedeuten asketische Ideale?, Werke
II, 847·
1.27 •Diese Sätze des Grafen Nerri•: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre,
Werke III, 419 (recte: Verri).
228 ·Die Lust ist eine Form des Schmerzes•: Nietzsche, ebd. III, 473·
1.1.8 •das An-sich des Lebens•: WWV §52, Werke I, 372. ·
228 Marxens Lehre auf den Kopf' Der Hinweis zielt auf die Bücher von Max
Weber (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1905)
und Ernst Troeltsch (Die Bedeutung des Protestantismus für die
Entstehung der modernen Welt, 1911). Vgl. Betrachtungen eines Unpoli-
tischen GW XII, 145.
21.8 »Das Glück ist unmöglich•: dem Sinne nach oftmals in den Aphorismen
zur Lebensweisheit, wörtlich nicht ermittelt.
1.30 •Denn das Leben ist die Liebe•: Der west-östliche Divan, Buch Suleika,
Werke 3, 356.
1. 30 • Wenn dich dein Auge ärgert•: Mt 5, 1.9.
1.31 Verhalten zu Heinrich von Kleist: Kleists Genie erschien Goethe nur als
krankhafte Überhitzung. Zu seinem harten Urteil über ihn siehe K.
Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974.
1.31. die heute das Geistige(...) zertrampelt: Der Nationalsozialismus berief
sich auf Nietzsches Prophezeiung eines von der dekadenten Kränklich-
keit der Zeit gesundeten Übermenschen.
1.31. •Sie ist eine unterhaltende Person•: Die Wahlverwandtschaften, Werke
9, 51 (Gedächmiszitat).
1.31. •Doch ist zu bemerken•: WWV §55, Werke I, 408.
1.31. habe ich darauf hingewiesen: Siehe S. 180.

1.94
NIETZSCHE'S PHILOSOPHIE IM LICHTE
UNSERER ERFAHRUNG

Erstdruck: Die Neue Rundschau H. 8, 1947·


GW IX, 675-7u.

Während in den Betrachtungen eines Unpolitischen Nietzsches Werk noch


als bedeutende Mitgift erschien, nimmt Mann hier einen bewegten Abschied
von Nietzsche. Nur noch als Ästheten läßt er ihn gelten, während seine
Philosophie und seine Ethik vom Standpunkt eines christlichen Humanis-
mus aus abgelehnt werden, den Mann aus den Erfahrungen der Weimarer
Republik und des Dritten Reiches gewonnen hatte. Dennoch ist Nietzsche
für ihn kein Vorläufer des Faschismus, sondern nur •sensibelstes Ausdrucks-
und Registrierinstrument« der heraufziehenden faschistischen Epoche
(S. 256).

235 Nietzsche's geistigem Zusammenbruch: Nietzsche brach am 3· 1. 1889 in


Turin auf der Straße zusammen und lebte daraufhin noch elf Jahre in
geistiger Umnachtung bei seiner Mutter, später bei seiner Schwester
Elisabeth Förster-Nietzsche.
235 Ophelia's Klageruf· Shakespeare, Harnlet III, 1.
236 Herkunft dieses Geistes: Die Schilderung einschließlich der Anekdote ist
übernommen aus Kar! Joel, Nietzsche und die Romantik, Jena/Leipzig
1905, s. 68f.
237 ]acob Burckhardt: Die Beziehung Nietzsches zu dem in Basellehrenden
Kulturhistoriker beschreibt z.B. E. Podach, Nietzsches Zusammen-
bruch, Heidelberg 1930, S. 101 f in Formulierungen, die Th. Mann zu
seiner Darstellung angeregt haben könnten.
237 Möbius: Paul Möbius, Ober das Patholo~ische bei Nietzsche, Wiesbaden
1902, unter dem Titel Nietzsche, Leipzig 1909 in Manns Nachlaßbiblio-
thek. •Sehr verübelt• hat ihm sein BuchE. Förster-Nietzsche, die z.B.
in Der einsame Nietzsche, Leipzig 1914, S. 537 die Diagnose •progres-
sive Paralyse• als •gewissenlose Hypothese• bezeichnet. Auch Podach
nennt in Nietzsches Zusammenbruch, a.a.O. S. 24 Möbius' Pathographie
•eine vom ärztlichen Mäntelchen schlecht bedeckte Anmaßung des
Philisters, den Philosophen Nietzsche ins >richtige Licht• zu setzen•.
238 Paul Deussen: Die erwähnte Geschichte findet sich in P. Deussen,
Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901, S. 32f.
238 •Unter Töchtern der Wüste•: Werke II, 539-544·
238 zu Protokoll gibt: Podach, a.a.O. S. 110.
239 Jenaer Krankengeschichte: ebd. S. 118.
239 •einen Menschen, der nichts mehr wünscht•: am 22. 9· 1876 an Louise
Ott, Werke 111, 1125.
239 •In doloribus pinxi•: Friedeich Wilhelm I. von Preußen (recte: •ln
tormentis pinxit• ).
239 •Meine Existenz•: aus zwei Briefen an Dr. Otto Eiser vom Januar und
Februar 188o, Gesammelte Briefe I, Berlin/Leipzig 1900, S. 297-299.
240 Sein Vater, meint er: Werke 111, 109, hier wohl nach Podach, a.a.O.
S. 111, S. Ul.
240 gehobenen Zustand preist: Ecce Homo, Werke II, 1131-1133.
240 Analyse des Meistersinger- Vorspiels: Werke II, 705 f.
240 Darstellung des Kosmos: In älteren Ausgaben der letzte Aphorismus des
240 Willens zur Macht, bei Schlechta in: Aus dem Nachlaß der Achtziger-
jahre, Werke III, 916f.

295
z4o •Hat jemand•: Ecce Homo, a.a.O.
Z4I den ·Zarathustra< eine Tat nennt: Ecce Homo, Werke II, II34f.
Z4I heiligen Stunde: Werke II, I n8.
z4z entschuldigt er sich: am ZI. 7· I88I, Gesammelte BriefeBand IV, Leipzig
I908, s. 69.
z4z •den einen unsterblichen Schandfleck«: Der Antichrist, Werke II,
IZ35·
Z4Z daß der Germane: Nachlaßnotiz aus der Morgenröte-Zeit, Musarien-
ausgabe XI, 73.
24z •Der Gekreuzigte•: am 4· I. I 889 an Peter Gast und an Georg Brandes,
Werke 111, IJ50.
z4z eine Seite über den •Tristan•: Ecce Homo, Werke II, I09I f.
z4z ·Richard Wagner in Bayreuth<: in Unzeitgemäße Betrachtungen, Werke
I, 367-434.
z4z Jfußerungen über den •Lohengrin<: zu Overbeck nach Podach, a.a.O.
s. 67.
z4z bei Tolstoi: die Entwicklung des Dichters vom Romancier zum ethi-
schen Sozialisten.
z4z bei Wagner: die Entwicklung vom demokratischen Revolutionär zum
kulturellen Exponenten des Kaiserreichs.
Z43 •das Leben als Vorstellung•: Die Welt als Wille und Vorstellung §p
(Werke I, z89).
Z43 ·nur als ästhetisches Phänomen: Nietzsche, Die Geburt der Tragödie,
Werke I, 40 und I3I.
Z44 in seinem berühmten Essay: Ober naive und sentimentalische Dich-
tung.
Z44 •theoretischen Menschen•: Die Geburt der Tragödie, Werke I, 84.
Z44 verzweifelt lustig gemacht: Versuch einer Selbstkritik, Werke I, I6f.
Z45 ·Der alte und der neue Glaube<: Im ersten Stück der Unzeitgemäßen
Betrachtungen, Werke I, I37-z07.
Z45 die ethische Feigheit: ebd. S. I67f.
Z4 5 •angebomen Farbe der Entschließung•: Shakespeare, Harnlet 111, I.
Z45 ·historischen Krankheit•: in: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für
das Leben, Werke I, z8I.
Z45 Bildung: ebd. S. z3zf.
z46 Ein historisches Phänomen: ebd. S. zi8.
z46 Religion zum Beispiel: ebd. S. zp.
z46 ·die Zügel hängen lassen•: ebd. S. 238.
z46 •Es gehört sehr viel Kraft dazu•: ebd. S. n9.
z46 das Unhistarische-das Uberhistorische: ebd. S. z81.
z46 schützende Atmosphäre: ebd. S. z54.
Z47 Sore/: Georges Sore!, Reflexions sur Ia vio/ence, Paris I9o8 u.ö. Das
Buch entfaltete seine größte Wirkung im geistigen Vorfeld des interna-
tionalen Faschismus.
Z47 •Der Teufel hole sie•: Vom Nutzen und Nachteil der Historie, Werke I,
Z7J.
Z47 ein heroischer Lebenslauf· Siehe S. Z94·
z47 Das Ziel der Menschheit: Vom Nutzen und Nachteil der Historie, Werke
I, Z70-
Z48 •Umwertung aller Werte•: geplanter Untertitel des Willens zur Macht.
z48 Oscar Wilde: Die Zitate sind übernommen aus dem Th. Mann am 7··7·
I 946 von Ida Herz übersandten· Buch The Life of Oscar Wilde von
Hesketh Pearson, London I946, S. ZIO, zoo, I64, zo3, zoo, I9Z (in der
Reihenfolge der Zitate).
248 •Der Ernst•: Was bedeuten asketische Ideale?, Werke II, 892.
248 •In der Kunst•: ebd.
248 • Wir sind grundsätzlich geneigt•: jenseits von Gut und Böse, Werke II,
569.
248 •Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil•: ebd. S. 599·
248. ·The School for Scandal<: Vgl. Pearson, a.a.O. S. 259.
249 Thyrsus: der Stab der Bacchantinnen.
249 •Es bestimmt die Rangordnung•: jenseits von Gut und Böse, Werke II,
744·
249 •Was Qual und Entsagung•: am '4· I. 188o an Malwida von Meysen-
bug, Gesammelte Briefe III, 2, Berlin/Leipzig 1905, S. 587.
249 •Ich will es so schwer haben•: nicht ermittelt (möglicherweise zitien
nach J oel, ebd. ).
249 Schopenhauers Heiliger: Siehe S. 293·
249 •Allem entsagend•: nicht ermittelt.
249 ·Akt des sich selbst Uberspringens•: Novalis II, 556, vielleicht
auch zitien nach Joel, a.a.O. S. 79 (Anstreichung in Th. Manns Hand-
exemplar).
249 •Unter den Kräften•: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke III,
852.
250 Erbreichtum an Moralität: ebd. S. 648.
250 ein öffentlich Urteilender: namens Dr. Widmann, berichtet von Nietz-
sche selbst in Ecce Homo, Werke II, IIOO.
250 Pessimismus der Stärke: Versuch einer Selbstkritik, Werke I, 9f.
250 Leben gehe über Erkennen: Vom Nutzen und Nachteil der Historie,
Werke I, 282.
251 •Es gibt keinen festen Punkt•: nicht ermittelt.
2p •Das Leben•: nicht ermittelt.
252 •Als Sokrates und Plato•: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke
III, 730 (Gedächtniszitat).
252 Herdentier-Moral: jenseits von Gut und Böse, Werke II, 659f.
152 •Krämer, Christen•: Götzendämmerung, Werke II, 1015.
252 in England: jenseits von Gut und Böse, Werke II, 710.
153 •durch Züchtung•: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke 111,
427f.
153 ·Die Wertung•: ebd. S. 786.
153 •Man hat auf das große Leben verzichtet•: Götzendämmerung, Werke
II, 967.
154 Frieden von München: Im Münchener Abkommen von 1938 überließen
England und Frankreich aus Furcht vor dem Ausbruch eines Krieges
das Sudetenland kampflos an Deutschland, was Hitler zur Besetzung
eines großen Teils der Tschechoslowakei ausnützte.
2 54 das klassische Zeitalter des Krieges: Die fröhliche Wissenschaft, Werke li,
236.
255 Formen der Folter: Zur Genealogie der Moral, Werke II, 8o3.
155 Spuren in zeitgenössischer Literatur: nach E. Heftrich, Zauberbergmu-
sik, Frankfun 1975, S. 309 ein Hinweis auf Manns Zauberberg (Naphta)
und Doktor Faustus.
255 ·Zärtlingen zum Trost•: Zur Genealogie der Moral, Werke li, 809.
255 ·Blonden Bestie•: ebd. S. 786.
25 5 •Das Ideal der Sittlichkeit•: Novalis II, 576.
155 •Ausscheidung eines Luxus-Uberschusses•: Aus dem Nachlaß der Acht-
zigerjahre, Werke III, 628.
15 5 •in dem die spezifischen Eigenschaften•: nicht ermittelt.

297
256 •Ich glaube•, sagt Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre,
Werke III, 439·
256 •Sozialismus der unterworfenen Kaste•: nicht ermittelt.
257 •grünen Weideglück<: Gedächtniszitat aus Jenseits von Gut und Böse,
Werke II, 6o6.
257 •Moral für Arzte<: Götzendämmerung, Werke II, 101o-1012: •Eine
neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das
höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichts-
loseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens ver-
langt ... «.
257 • Tatsachenmenschen großen Stils•: nach Spengler, Der Untergang des
Abendlandes, München 1972, S. 447, vgl. auch S. I I uff.
257 •aristokratischer Radikalismus•: s. u. (Georg Brandes).
257 • Was ist vornehm?•: 9· Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse,
Werke II, i27-756, u.ö.
258 •Ich beschwöre euch•: Also sprach Zarathustra, Werke II, 338 (nicht
wörtlich).
258 ·Die Arbeiter sollen als Soldaten•: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre,
Werke III, 558 und 843 (in den älteren Ausgaben unter dem Titel Der
Wille zur Macht als Aphorismen Nr. 763 und 764 direkt aufeinander-
folgend).
258 •Man halte alle Arbeitswege•: Menschliches, Allzumenschliches, Werke
I, 989.
258 einen europäischen Völkerbund: Menschliches, Allzumenschliches,
Werke I, 991.
259 •um die Welt-Perspektive einzuüben•: nicht ermittelt.
259 ·Die Europäer•: Nachlaß-Studien aus der Umwertungszeit, Musarion-
ausgabe XVI, 350.
259 ·Die Herrschaft der Erde•: nicht ermittelt, ebenso die beiden folgenden
Zitate.
259 Helmholtz: Hermann von Helmholtz, Physiker und Physiologe
1821-1894. Vgl. Ober Goethe's naturwissenschaftliche Arbeiten, in:
Helmholtz, Populäre wissenschaftliche Vorträge, Braunschweig 1865
u.ö.
260 sozialistischen Kritikern: nicht ermittelt.
261 Georg Brandes: Der dänische Kritiker, dessen Hauptströmungen der
Literatur des 19. Jahrhunderts (Berlin 3 1924) Thomas Mann relativ
gut kannte, gehörte zu den ersten Entdeckern Nietzsches, kündigte
1888 in Kopenhagen Vorlesungen an über •den tyske filosof Fried-
rich Nietzsche• und veröffentlichte ein Nietzsche-Buch mit
dem Titel En afhandling om aristokratisk radikalisme (Kopenhagen
1899)·
261 Seneca: in einem Brief vom 3· 8. 1883 an Peter Gast, Gesammelte Briefe
IV, Leipzig 1908, S. 167.
261 •Das was ich über Bizet sage•: am 27. 12. 1888, Gesammelte Briefe I,
a.a.O. S. 407.
261 •Es ist durchaus nicht nötig•: am 29. 7· 1888 an Carl Fuchs, Gesammelte
Briefe I, a.a.O. S. 390.
262 •Antiliberal<: Götzendämmerung, Werke II, 1016 (im Originalzusam-
menhang keine Selbstaussage Nietzsches).
262 ·Zuletzt war er•: am 20. 7· 1888 an P. Gast, a.a.O. S. 389.
262 Regiment Stöcker: Der Hofprediger Adolf Stöcker, Antisemit, Gründer
einer christlich-sozialen Partei, setzte auf den Kronprinzen Wilhelm
große Hoffnungen, wurde aber am Ende von ihm fallengelassen.
263 Laster der Deutschen: Morgenröte,Werke I, I I 58.
26 3 •Selbstkenner - Selbsthenker•: Dionysos-Dithyramben, Werke II,
I2p.
263 •ein Verhängnis•: Ecce Homo, Werke II, I I p.
263 in der kommenden Welt: Nachlaßstudien aus der Morgenröte-Zeit,
Musarionausgabe XI, I23·
264 •Gott ist tot•: Also sprach Zarathustra, passim.
Anhang
•i"!:q I
SACH- UND SCHLAGWORTREGISTER
ZU DEN BÄNDEN 1-111
(mit Marle Kurzke)

abgeschmackt II 244
Abgrund zwischen geistig Realisiertem und zurückgebliebener sozialer und
ökonomischer Wirklichkeit I I 8 I
das Absolute II 20I
abstrakt und mystisch II 285,292
Achtsamkeit auf die Regungen des Weltgeistes II I 7I
Achtzehntes Jahrhundert I 2 I 8
Ästhet III 47
Ästhetik III 5I
Ästhetik und Ethik I I 59
ästhetisch Ill I93, 243, 260
ästhetische Erziehung II 38
das Ästhetische und das Moralische II 33 I
Ästhetizismus I I22; II IOI; Ill 49, 247, 26o, 263
Ästhetizismus und Barbarei Ill 26 I
Aktivismus, Aktivist II 46f, 49f, I09
Allotria II 328
Altes und Neues Ill I65 f
American Peace Crusade II 3 I 6
Amerika I 38; II 262f, 28I, 312-3I5, 320
amor fati II 69
Anarchie I 35
Anbetung der Fakten Ill I 24
Anch'io sono pittore I 2I6
Anfang I 245
Angst II I64
Antidemokratismus I 229
Antike III I 87
Antikommunismus II 258, 3I6--3I8
Anti-Radikalismus III 38
antirevolutionär aus pessimistischer Ethik Ill 22 3
Antisemitismus I Io7; II 24I
appeasement II 2 57
Arbeit I I 58, I64, I67, 208; II 258
Arbeiterklasse, Arbeiterschaft I I64; II Ioo f, I I9 f, 129-I44, I p; Ill 258
Aristokratie, aristokratisch I 24I; II 207
Aristokratismus I 235; II 39
Askese I 36
Atombombe Ill 252
Aufklärung I 256; II 225, 294; Ill 153 ff, I57f, I62, I65, I67, I69, 264
Ausdruck III 89
Ausdrucks- und Registrierinstrument (Nietzsche) Ill 256

Banalität, das Banale II 24 5 f, 33 5


Bauernaufstand II 287 f

303
Befreiungskriege II 2 56
Behagen I zzo
Belebung II 326
Bescheidenheit I S9, I47• I67, 234; II 45, 47f, 327, 329; Ill I9I
Bewunderung Ill I I 5 ff
Bewußtes und Unbewußtes (s. a. >unbewußt< u. a.) I 24S
Bewußtmachung des Unbewußten Ill I6o, I72
Bewußtsein I 352; II IJ4; 111 IS9
Bildung II I63
Bildungsroman I 350; II 332
Biographie I SI
blauäugig gehorsame und stramme Biederkeit II I IS
Bloßstellung einer Idee durch ihre Verwirklichung II 267
Blüthnerflügel I 363
Blut I 257
das Böse (s. a. >gut und böse<) Ill 2I3
Bogen und Leier Ill 42
Boheme II 32S f
Bohemien I 29
Bolschewismus II 254f
Bourgeois I 29; Ill I02 f
Bruch II 59; 111 66, 242
Bruder II 39
Budengeläut II u 7
BündnisvonJunkenum,GeneralitätundSchwerindustrie II 253 ff; Ill 224
bürgerliches Zeitalter I So, 216-244
vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen 111 IS5
Bürgerlichkeit I u6f,2I9,2ZI,H7>351; II III; Ill Ioof,I5S
Bürgenum I 230; II uS,Ip,22S; Ill IoS
Bürgertum an der Seite der Sozialdemokratie II I 24
Bürgertum und Sozialismus II I I 9
Bund der Völker gegen ihre Regierungen II I 37
Bundesrepublik Deutschland II 3 I9 ff

cant II 36
•a cautious radical and daring conservative• I 37
der Charakter ist eine mythische Rolle Ill I S5
Christentum I 327; II So, I9I, 234f, 24I, 26o; Ill I 55, zzof, 242,253
das Chthonische II I I 5; 111 I 57
chthonisches Gelichter I 257
Cinema I 324
communist activity II 3 I 6

Dämonie, das Dämonische I I6S, 2S3; Ill 264


Decadence II 92
Defaitismus der Humanität Ill I4S, I65
Demokratie, demokratisch I 67, 204, 244, 354; II 67, 7I, 73, So, S3, S6, 96,
II9, I36f, I97-202,215,23I,257>2S7; Ill p, I47
Demokratie als konservative Macht II 24I
Demokratie, militante II 24I
Demokratie, soziale II 22of, 23S, 243,257
Demokratie und Christentum II 2 3 5
Demokratie und Sozialismus II 232-23S
Demokratisierung I 2 3 I; II 97
•Demokratisierung<< Deutschlands II 97, 99, IOI; Ill 4I
Demokratismus II 336
Demokratismus des Romans I 3 5I
Deutschtum, deutsch I 4of, II2,JOO; II 57,62f,79,95> III f, II4, II7, I 50,
25J,JOO,J36; Ill 28,JO,J3 f>37ff, 43> 63, 110f, I I3, I34, I40, 224
Deutschtum, großes I 2 I 8
deutsche Moralität II 3 I
deutsche Republik II 72
deutsche Revolutionen II 29I
deutsche Seele II 3 I, 28 5
deutsches Wesen quälend problematisch II 36
der Deutsche, die Deutschen I 39, 48, 6I, 238, 356; II 30, 252, 268,
28I-298; Ill 262f
der wissende Deutsche II 40
der deutsche Geist ist sozial und politisch wesentlich uninteressiert Ill I 34,
I40
•Der Deutsche ist konservativ• I 23 I
Deutschland I 24f, 55, 118; II 35ff, 97, II4, II8, I23, I25, 248, 252,
28I-298, 299, 30I-308; Ill I4I f
Deutschland, gutes und böses II 282, 292 f, 297, 306; Ill I4I
Deutschland ist heute Friedrich der Große II 27
Deutschland ist mir (... ) fremd geworden II 30 3 f
Deutschland, zweigeteiltes I 2 I 5
Dichter, I 94, I39· 334; II 46; Ill I73
Dichter, deutscher I I 27
Dichtersehnsucht I I 66
Dichterturn I I 04
Dichter und Schriftsteller I 6o, 247-2 52
Dichtung (s. a.• Poesie<, >Kunst< u. a.) I 49
Dichtung und Musik Ill I29, I39
Dilettant I 372; Ill 74, 76, 78
Distanz Ill 207
doppelte Optik 111 96, I 37
Dozenten des Irrationalen II I 68; Ill 262
Drama I 344; III 73
Dreigestirn 111 29, 34
Drittes Reich I 59, 62, 364; II 89, I I7, I34, 267; Ill I6I
Druckwerk und Röhren (Lessing) I 248 f

Effekt III 3 5, I07, I2I


Ehrfurcht I 2I 5; III 264
Ehrgeiz I 334; III 126
Eigentum II 259
Einebnung der Klassenunterschiede II 258
Einfalt II I I 8
Einheit von Staat und Kultur II 73
Einheitswelt I 364
Einheitswelt, entpolitisierte II 268
Ekel Ill 38, I20
Emanzipation I 333 f
Emigranten II I73-I77
Emigrantenhaß II 249
Emigration II 30I-3o8
Emigration, innere II 248
Ende der bürgerlichen Epoche II I I4
England, Engländer II 31., 40, 1.63; Ill zp
Entpathetisierung Ill I9I
Entpolitisierung des Staatslebens II 307
Entschlossenheit II 1.1.6
Epik, episch I I83, 306; 111 65, 73f, I39
episch-heroische Lebensstufe II 65
Epilepsie I I 70
Epos I 344, 348 f
Erkenntnisekel II SI; Ill 97, 175
Erniedrigung und Erhöhung I 31.7
Eros, Erotik, erotisch I 1.9 f; II 4I, 45• 88 ff; Ill 69 f, 91., 1.18, no
Eros als Staatsmann II 90
Erotik, soziale II 78
Erotizismus III I 4 3
Erzähler I 344
Erziehung I 1.I7; II I31.
escapism I 1. I 3
Eschatologie, proletarische II I I 7
Esel I 31.1.
Ethik Ill 49, zo8, zu
Ethik und Ästhetik (s. a. >Ästhetik<, >Moral<, >Schönheit< u. a.) Ill 1.51.
etwas für junge Leute Ill 63, I44, 1.18
Europa, europäisch I 365; Ill 37
Ewige Wiederkehr I I74
Examen, marxistisches II 1. 54
Exil II I 51., I 59· I79· 30I-308

Familie I I01.
Fanatismus II III, II7
Faschismus I 1.57; II I95• I98 ff, 209, 1.16, 1.38 f, 1.45> 1.54 f, 3 II, 334 f;
111 256
Fatalismus 111 I47
Fest I 358; 111 I7J, I88 .
Film I 362, 366
Finanzreformplan II I IO
Fin de siede 111 67
Fixsternhimmel I 1.4I
Fertigmachen I 1.1.2
Fluch des Goldes 111 I 35
Folterkeller II 1.99
Form I I67; II I09
Fortschritt I I48, 31.8; Ill 41., IH f
Frankreich I 37, 48, Iu; II 31.-35, 11.4, 31.3 ff
Franzose I 1.37f; II 40
Frau I 30, II I
•The Freeman< II 3I6-3I8
Freiheit I 331.ff, 370; II 69, u6, n8-z44;1.56, 1.58, 1.87-1.90; Ill zo9,1.61.
Freiheit und Gleichheit II 79f, 1.35 ff, 1.60
Fremdheit des Romans in Deutschland I 354
Frieden II 38-40, 64 f, 309
Frieden von München (I938) II 1.57; III 1.54
Furcht I 356, 36I, 364f
Futurismus II I4I

306
Gedanke- Sinn (s. a. >Sein und Meinen<, >Meinung<) II 59
Geduld I 223; III 84
Gefühlslosigkei t I 44
Gegenrevolution II 254
Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Ratio-
nalismus der Aufklärung II 294
Gehässigkeit I 224
Geheimnis III 264
Geist (s. a. •Intellekt<) I 59, 187, 210, 363, 369f; II 23, 41, 44, 5of, 109,
IJ5, I20, I67, 205, 333; Jll I65, 233
Geist der Erzählung I 344
Geist, deutscher 111 I40
Geist, epischer I 344, 346f; III 35
Geistfeindlichkeit 111 I 62, I 65
geistfreundlich II IOI, I20
der Geistige II 50 f
der Geist (ist) in ein moralisches Zeitalter eingetreten II 244
Geist und Buchstabe I 254
Geist und Leben I I q, 364; II 4I ff; III I98, 251 f
Geist und Sinnlichkeit II 4 5; III 21 8
Geist und Wirklichkeit II 100, I20, IJ2, I35 f, I92, JIO; 111 I66
Geldherrschaft II 2 I 9
Gemeinschaft II I 3 I f, 260
•Gemeinschaft• und >>Gesellschaft• II 99
Gemüt und Sinnlichkeit I I05
General-Revision der eigenen Grundlagen 111 27
Genie I I68, 236,249, 333; II 23, 226; 111 84, 237
Genius der Epik I 346
Gerechtigkeit II 212
Germanisten-Romantik II I I 5
Geruch von Blut und Schande II 304
Geschichtsschreibung II 29 5
Geschlecht (s. a. >Erotik< u. a.) I 59, 63, Sr, 171
Gesellschaft, gesellschaftlich II p6; 111 I40
Gesellschaft, bürgerliche II 328 f; 111 121
Gesellschaftsidee II, ror
Gesellschaftskritik, konservative II 334
das Gesellschaftliche (ist) nicht kunstfähig II 25 I
das Gesellschaftliche ist nicht musikalisch 111 r 33
Gesellschaftsroman I I 9 I
Gesetz II 85
gesinnungs-und wertungslos-objektives Dichterturn I 231
Gestalt I 49 f
Gesundheit (s. a. >Krankheit<) I 53, r68
Gesundheit des deutschen Volkes II 124
Gesundheit, falsche 111 232
Gesundheit und Krankheit I 62, I76f, 236; 111 2JI
Gewalt II r r 6, I 66, 200
Gewissen I 170; II 44, 47, 50, 203
Gewissen, ästhetisches I 309
Gewissen, soziales II 259
Gewissensfreiheit I 332
Glaube II 336
Gleichheit (s. a. >Freiheit und Gleichheit<) II 258
Glück I 209 f; 111 I48
Gnade I 46, 278; II 28I, 298, 307
Gott I 45; II I33, I84; Ill I82f
Gottseibeiuns der Bourgeoisie II 258
Grammophon I 362
Griechenland und Moskau II I02
Grundtorheit unserer Epoche II 258
das Gute I I22, I95; II 3JI, 336; Ill 39, 2I3
gut und böse II 244

Händlerturn I 3 I
Hakenkreuz II 248
Hals in Pelz geschmiegt II 5I
Handeln II 50; Ill 209
Haß II 222
Hegemonie des deutschen Geistes Ill 62
Heiliger Ill 87, 208, 2I4f
Heiliger und Verbrecher I I 68
Heilsarmee-Allüren II I I 7
Heimatkunst I I oo
Heimweh I IDO-I02
Heiterkeit II I So
»Herabsteigen• eines Dichters auf den Markt II I 50
Heraustreten aus einer ästhetischen Epoche in eine moralische und soziale
111 263
Herkunft I 216, 24 I
Herumtrampeln auf Vernunft und Zivilisation I 330
Herzasthma des Exils II 302
Historie 111 24 5 f
Hochmut des Intellektes II 284
Hölle I I7o
Hoffnung II 23 I
Hoffnungen des Jahres I945 II 3I9
Homoerotik I II8-12o; II 89
homosexuelle Anlage I 35
das Humane (s. a. >Mensch< u. a.) II I33, IJ5
humanes Problem als eine Totalität (s. a. >Totalität des Humanen<) II I 50
Humanismus I I09, I22; II 26I; Ill I90, 264
Humanismus, christlicher II 234
Humanismus, militanter II 172
Humanismus, pessimistischer Ill 226 f
Humanismus, sozialer II 276, 298, 307
Humanität I 59, 62, I8I, 2I4, 257; II 67, 76, 86, 93, I8I, I92, 333;
111 251
Humanität des Willens II 2I9
Humor I 45,306, 3I9, 338

ice cream II 259


Ich und Es Ill I78-I8o
Idealismus I 228; II I 67
Identifikation, mythische Ill I87, I89
imperiale Gala-Oper II 73
Indianerspiel I 203
Infantilismus Ill I 89

308
Inkorrektheit I 104
Innerlichkeit II 132f, IJS, 193· 285,288,293 f, 296,Jo6, 332; Ill 108,224
Innerlichkeit, machtgeschützte Ill 108
Innerlichkeit und Gesellschaft II 133
Inspiration I 174; III 240
In-Spuren-Gehen Ill 189
Instinkt und Intellekt Ill 2 51 f
Intellekt (s. a. >Geist<) Ill 194, 202, 206, 232, 247, 251 f
» Intellektbestie« II 169
intellektualer Roman II 84; III 147
lntellektualisierung, Psychologisierung, Literarisierung, Radikalisierung
III 41
interessant I 142, 350; II 223, 266f; Ill 87
Interesse I 93; II 222, 311; Ill 32, 34• 169,206
Iraszibilität I 252
Ironie I 47, 84, 91, 120, 14of, 234, 278, 347; II 41-58, 84, 186, 122, 291,
2,94• 329; Ill 39· 198, 207, 261
Irome gegen den Ruhm I 166
Ironie ist Erotik II 41
der Ironiker ist konservativ II 41
ironisch I 158, 231; Ill 183, 186
ironische Ablehnung des Elementarischen I 301
ironische Auflösung der Form I JI4
ironische Politik II 49
das Irrationale I 257, 329
Irrationalismus II 168, 245; Ill 163, 172
Italien II 141

Judentum, Juden II 176, 204, 240


Jugend II 67f; III 167

Kaisertum, soziales II 30
Kapitalismus I 16o; II 161, 254f, 286
Kaufmann, königlicher II 233
Kindheit I 3 58
das Kindliche I 203
Kirche I 36; II 76
Kirche, katholische II 118, 176
Klasse II 100, 13o-133
Klasse, sozialistische II 1o 1
Klassenidee II 120
Klassenkampf II 212
Klassizität, das Klassische I 244; Ill 61
das Klassische und das Romantische Ill 231
das Kollektive II 163
kollektive Aktionen unter Intellektuellen II 160
Kollektivschuld II 266--268, 273, 279
Komik I 45
Kommunismus I 36; II 258, 312, 335; Ill 222,318
Kommunistenhaß eine Gefahr II 318
kommunistisch I 243
konservativ I 94,231, 238; II 45, 52, 55f, 75, 1p; III 1p, 156
Konservativismus, Konservatismus (s. a. >Revolution<, >Radikalismus<
u. a.) I 91; II 36, 4d, 53 f, 97; Ill 52 f, 164, 172, 222
Konservativismus, ironischer Ill 52
Konservativismus und Revolution, konservativ und revolutionär, konserva-
tive Revolution I 66, 93; II I87f
konservativ und radikal II 43
Konzentrationslager II 299
kosmologische Weltbetrachtung I 3 I 5
Krankheit I I68, I75; II 9d, I07, 295; Ill 84, 88, I75f, 237
•Kreuz, Tod und Gruft• I p,; Ill 35, 43, 223
Krieg II 24, 27, 3I, 40, 48, 57, 86, 90, I64f, I7I, I82f, 2I2, 2I4, 2I7, JII,
3 I4 f; III 38, 253 f
Krieg ist Lüge II 65
Krieg ist Romantik II 64
Krieg, totaler II 274
Kritik I 352>369-373; II 42, 83; III 3d
Kritik der neudeutschen Mittelschule II 46
Kritik des Lebens I 247; II 46 f, 330
Kritiker I 370 ff
Kritizismus des Künstlers II 327
Künstler I 50, I02, 333, 37I; II I38, I6o, 224,260,326-329, 33I; Ill 3I,
35· 85, 89, I05, I98
der Künstler ist unschuldig Ill I05
Künstler sind kranke Adler I 333
Kultur II 23, 30, 84, 96ff, I20, I3of; Ill 243
Kulturbolschewismus II I 37
Kulturidee II IOI
Kulturkonservatismus I 363-367
Kultur, proletarische II I 30
Kulturschwund I 2I4
Kultur und Zivilisation II 23; Ill I48-Ip
Kunst I 33, 44, 47-53, 59, III, qo, q8, I96, 202f, 233, 333, 347; II 24,
42f, I09f, I34, I86, 227,327, 329> 336; Ill 3I, 72, 85ff, I6I, I98, 206f
Kunst als ein politisches Instrument II 47
Kunst als Quietiv Ill 230
Kunst, apollinische I 347
Kunst, deutsche II I 42
Kunst und Krieg II 24 f
Kunst und Kritik II 330; III 4I f
Kunst und Moral II 326
Kunst und Politik II 24 3

Landwirtschaft II I 43
langweilig I 350
Leben (s. a. >Geist und Leben<, >Kritik des Lebens<, >Tod< u. a.) I 49, 53,
I66, I75f, 234, 257, 356, 363; II 4I, 43, 46f, 56, 92, IOO, II3, 115;
Ill 38 f, I64, I87, 2oof, 233, 243, 245 f, 250, 260
Leben als ein ästhetisches Schauspiel Ill 228
Lebensbürgerlichkeit I 23 5
Lebensdienst II 92
Lebensform I 247
Lebensfreundlichkeit II 9 5
Lebensphilosophie I 363; II II5
Lebenspoesie II 64
Lebensreiz Ill 6o
Leben und Moral Ill 2 52

310
Leben und Tod II I62
Lebenswahrheit I I 58
lebenswidrig II 67
Leben, zitathaftes Ill I88
Leiden 111 203 f, 249
Leidenschaft und Weisheit 111 2I9f
Leitmotiv I 79• 354; 111 59, 65 f, 68
Lesebuch I I 24
Liberalismus II 242 f
Liberalismuskritik II I 39 f
Lidice II 269
Liebe I 52, 258, 278; II 38, 86; Ill 32, 34, 69f, 78, I I5, 2I4
Liebe ohne Glauben 111 6o
Liebe und Tod I 115; II 9d; 111 92f
Literatur II 55; 111 78
literarisch I I 52; Ill 78
Literarisierung, Demokratisierung und »Vermenschlichung« Deutschlands
111 28
Lübeck II 283
Lufthunnen II 275
lumpige Zeit I 362
Luxus Ill I02 ff
Lyrik, psychologische I I70
Lyrik und Kritik II 330

Macht II 270
Macht gegen den Geist II 294
machtgeschützte Innerlichkeit Ill Io8
Machtkombination von Junkertum, Armee und Industrie II 253 ff
Männlichkeit I 59• 250
Maidanek II 277
Mann, großer, Männer, große II 227, 290; III 6s, Io6
Marxismus, marxistisch II 73· 110, 119 f, I30, I p, I92 f, 254
•marxistischer Schriftsteller« II I49
Masse II I64ff; 111 247
Materialismus I 204; II uo, 135, I93
Mechanismus I 362 f
Meer I I82fo3o4f, 346; II 9d; 111 98
Meer und Epik I I83
Meinungen, Meinen I I 58; II 96, I03; Ill 4I, I05, II4
Melancholie II 4 5
Mensch I I62; II IJ3, I92, 203; Ill 226
Menschlichkeit I 59, 62; II 38 f, 6o
Militarismus II 29
Mimikrykunst 111 95
Mitleid I 45; 111 2I4
Mitte, deutsche I 2I9; II 76, 93
Mittelstandsideen II 245
Mittlerturn II 227
Modernität II 83
Mohn I 306
Mond II 227; 111 I98
Moral (s. a. >Ethik<) II 26, I88
Moral ist Gesellschaftsgeist II 232

311
Moral, ironische I I40
moralisch I zo8
Moralist, sozialer II 33 I
morbider und schon halb parodistischer Nachhall großen Deutschtums
II 305
Mord, politischer II 50
Musik I z6, 48, 6I f, 353; II z85; III 43, 78, uo, 12.9, IJI, ZI7
Musik, intellektuelle I 6I
Mutterrecht (s. a. >Bachofen<) I 2.57
Mutterschoß Ill I 57
Mystik, technisiene II 2.67
Mystik und Ethik II 93
mythische Surrogate für das wirklich Soziale II zp; Ill I34• I40
mythisch-reaktionärer Revolutionarismus Ill I4I
Mythos, Mythus I 79, 94, I94• 2.44, 32.9f; II I7o, zp; Ill 65, 7I, 78,
u9f, uzf, IJ3, I 59· I84-I90
Mythos und Psychologie I 93 f; 111 68, I90

nach Haus I 3IO


Nacht 111 92. ff, I 57
Naivität I 2.03, 2.48 f; II 32.7
Nation I ZI3
das Nationale, national I 2.45 f; II I43; III 58, I07
Nationalgeist 111 I 34
Nationalismus I 2.I4, 2.3I, 2.97; II 93, I06, u5, II7, I38, I4off, I 58, 2.90;
111 uof
Nationalsozialismus II IIZ, II4-II7, IZI, u6f, Ip, 2.09ff, 2.39f, 2.49-2.53,
266f, 289, 300; Ill IJ4, I38, I40f
Nation und Freiheit II z88 ff
•Nation• und •Volk• II 99
Natur I 59, 23 I; II 83 f, 203
Naturalismus I p, 79
Naturrevolution gegen das Geistige II I 39
Natur und Geist II 2.46; Ill I p
Naturwissenschaften Ill I46, 2.59 f
Neuidealismus 111 I63
Neunzehntes Jahrhunden I 79f, 83, I93-I96, 2.18; II I65, 2.50; Ill 6o,
64f, 70, IOI, IJ3, I40, Ip, I58f, I77, 2.45
New Deal II z86
nicht mehr Ästheten genug (...), uns so trivialer Begriffe und Leitbilder zu
schämen wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit Ill 2.63
Nihilismus I 2.33 f; II 49 f
Nihilismus, ironischer I 2.34
Nobelpreis I 43
Not II 28
•Novemberverbrecher• II IZI
NSDAP (s. a. •Nationalsozialismus<) II uz
Nuance II I66; 111 I38
Nüchternheit I 2.47
nunc stans Ill zo I

Oberschicht, korrupte II 2.47


Objektivität I 347; 111 2.07, 2.2.3
Obskurantismus II 66, 332.

312
Oppositionsstellung II 6o
Oppositionsstellung gegen Wirklichkeit, Leben, Gesellschaft II 330
Optimismus III 54
Ordnung I 35; II 255
Ordnung, wirtschaftliche II 251
Originale II 284
Ornithologie I 82

Pakt der konservativen Kulturidee mit dem revolutionären Gesellschafts-


gedanken II I02
Parodie I 4I, 28I f
Passion III 30 f
Pazifismus II 64; III 2 54
Pessimismus I 234; II I33, 294; Ill 35, 47, 64, I47f, 202, 228,233, 250
Pessimismus der Ehrlichkeit II 294
Pessimismus der Stärke Ill 250
Pessimismus und Humanität Ill 233
Pessimismus und Humor Ill 47
Pfeil vom Bogen des Apoll II 330
Phantasie I 303
Philologen-Ideologie II I I 5
Philosophie des an Denkwut erkrankten Kleinbürgers II qo
Platitüde II 33 5
plutokratische Bourgeois-Republik II 30
Poesie II 29 5
Polemik I 252
Politik, politisch II 26>57, 96, Ioo, I89, 2p, 29off, 332; Ill 47, 49>5 I, Io8
Politik als Massenopiat II I I 7
Politik im Groteskstil II I I 7
Politiklosigkeit III 224
das politische Moralisieren eines Künstlers etwas Komisches II 33 5
das Politische und Soziale(... ) ein Teil des Humanen II I93• 238·
Politisierung I 23I
Prätention I I64
Primitivisierung II I 66, 22 5
principium individuationis Ill 20I, 203, 2I I ff
Privateigentum II 239
Propaganda II 204 f
Protest der Wagnerstadt München II I46
Proteusnatur I 232
Psychoanalyse I 42; II 295; Ill 69f, 78, I67-I72, I74• I77f, I85, I9I,
232
Psychologe der Dekadenz (Nietzsche) III 35
Psychologie (s. a. •Mythos und Psychologie•) I 94, 273; II 86; III 3I, 68,
I75· 232, 247
Psychologie der Völker II 29
Psychologiemangel III I37
Psychologismus II 226

Radikalismus II 4I-58, 62, I02, Iu; Ill 27>.4I, 224


Radikalismus, konservativer Ill 224
raison II 36
Rasen der nationalen Leidenschaften (... ) ein spätes und letztes Aufflackern
eines schon niedergebrannten Feuers II I44

313
Rasse I I30
Rassenphantasma II 292
Raubtier II I 33
raunende Beschwörer des Imperfekts I 344
Rausch I 247; II I64
Reaktion I 255; II 66, 75; III I 57, I64, I66
reaktionär I 238; II I37, 250; Ill II3, I6o, I72
reaktionär und zukünftig II 250
Reaktion als Revolution Ill I 66
Reaktion und Fortschritt Ill I 54
Realismus I 228
Recht II 200
Reflexion III 99 f, u8 f
Reformation II 293
Reform der Besitzordnung II 213
Reform, soziale II 2 I 9
Regression des Menschlichen I 2I4
Reizbarkeit I 2 52
Reizbarkeit, psychologische Ill I75
Religion, Religiosität, das Religiöse I 44-47, 254f; II 38, IJJ; III I82,
264
Renaissance I 2I 9
Repräsentant II I 79
Republik II 59-93
Republik ist ein Schicksal II 69
Republik, soziale II 127, I37, I44
Restauration II I 37
Revolution, revolutionär (s. a. >Konservatismus und Revolution<) II 75,
25J, 289, 29I; Ill I2I, I56f, I59f, I64
Revolutionär I 37
Revolutionär, konservativer (Luther) II 286
Revolution I 848 Ill 22 3
Revolution, archaische II 250
Revolution, christliche II I 69
Revolution der leeren Gewalt II 240
Revolution, französische II 3 I, 289, 333
Revolution, russische II 3 I I
Revolution und Reaktion II I39
Revolution wider den Geist Ill I65
Rhetor-Demagog II 48.
Ritter zwischen Tod und Teufel Ill I75
Rittertum II 86
Roman I 6of,J43-354>367; II I 58, I75 f, 33I; III .z8
Roman, intellektualer II 84; III I47
Romancier I 352
Romanindustrie II 175
Romantik, romantisch I 58-63, II5, IJ2; II 66, nf, So, 82f, 9rf, 294ff;
Ill 48, 55, 57f, 92, 94, 96f, I 58, I6off, I70ff, 1.28, 230
Romantik, politische II I I 5
Romantik und Aufklärung III I 54
Romantizismus, hochtechnisierter II 1.95
Rückschlag II I I 5 f
Rückzugsgefecht romantisch-apolitischer Bürgerlichkeit II 95, I49
Ruhm II 5I

JI4
Russe, menschlicher II 40
russisch-uferlose Art Ill 147
Rußland I 163, 166; II 2I2, 3 I I

Sachlichkeit I 363
Saint-Simonismus II 233
Sansara III 48
Scham II 48, J29
Schamhaftigkeit II I 84
Schauspieler I 372 f
schauspielerisch Ill I I I
Scheu und Schüchternheit vor dem Wirklichen II 50
Schlaflosigkeit, ehrenhafte I I 6 I
Schleier der Maja Ill 2Ioff, 2I4
Schönheit,dasSchöne I II7,I22; II 42,45,92,33I; Ill 39,I93f,252
Schönheit und Tod I I 15
Schöpfung I 259
Schriftsteiler (s. a. >Dichter und Schriftsteiler<) II 62
Schuld I I7of
Schule II 47
Schwäche von Geist und Vernunft Ill I 57
Schwärmer I 2 33
Schweiz II 302
Seekrankbei t I 3o 5
seelisch-moralisch (statt politisch) II 57
Sein 111 209
Sein und Handeln (esse- operari) Ill 209
Sein und Meinen (s. a. >Meinung<) II I03; Ill 41
Sein und Wirken II 54 f
Selbstbiographie I I So
Selbsterkenntnis II 96
Selbstkritik II 297
Selbstmord I 22I; Ill 205
Selbstzitat 111 59
Sendung I 246
Sexualität (s. a. >Erotik<, >Geschlecht<) Ill I7I, 229 f
Shuffleboard I 317
Sieg der Seele über die Mehrzahl II 28
Sieg, deutscher II 249
Simplizität II II 8
das Sinnliche und das Geistige I 3 58
Sinnlichkeit 111 97 f
das Sittliche I I 22
Skepsis als Leidenschaft I 2 53
Slawenturn II So
Snob (Spengler) 111 I 52
Solidarität aiier Geistigen II 333
Sozialdemokratie, sozialdemokratisch II II7, II9, I2I, I29, Ip, 258, 32I
das Soziale II 76, I 33
Sozialisierung der Rohstoffe II 2 I 3
Sozialismus I p, I63; II 62, 8I, Ioof, I09, I20, 13off, IJ5, I6of, I92ff,
209, 2II ff, 233 f, 258, 275 f, 3II f; III I08, I22, I7I, 256,258
Sozialismus, christlicher II 2 34
Sozialismus, humaner II J2 5

315
Sozialist I 27, 29, s 1
Spiel I 358
Sport I 363 f; II 116
Sprache I 24 7; 111 7S
Sprung aus dem Fenster II 189, 2p, 268
Staat II 76; 111 221 f
Staatskapitalismus II 239, 275
Staatssozialismus II 239
Staatswesen, das keine Bürger hat II 6o
Standpunktlosigkeit I 1s 8
Sterben Ill 21 6
Stil 111 81
Stimulation 111 103
Südtirol II 116
Symbolbildung 111 3S
Sympathie mit dem Abgrund II 26
Sympathiemitdem Tod I 238; II 9d,9s; 111 s6ff, 164

Tat twam asi Ill 213


Technik II 116
Tendenz II 157
Terror II 66, 204
Teufel I IJS, 175; II 284f, 293, 307
Teufelspakt II 307
Theater I 354-369; II 99; 111 66
Tod (s. a. •Sympathie mit dem Tode<, •Liebe und Tod<) I 57, 111, 208;
11 9d, 296; Ill 56, 92f, 211, 216ff
Totalität des Humanen II 150, 181, 190, 238
Totalität des Menschlichen 111 222
Tradition II 305
Traditionalist I 37
Tragödie I 366f
Traum Ill 180
Treue I 258
Trieb 111 169 f
Trost II 336

Oberdruß am Mechanismus der Zivilisation I 329


Oberläuferei, Oberläufer II S9• 74; 111 1p
Obermensch I 174; 111 255 f
Obersetzen I 319
Umfall II S9• 74
unbewußt I 354; II 327; 111 168
das Unbewußte I s8f; II IIS, IJS; 111 IS6f, I78ff, I89ff. 23J
unconditional surrender II 256
Universalismus II 253
unpolitisch (s. a. >Politik<) I 229f, 268; 111 108
Unschuld 111 49
Unterschiede im Verhältnis des russischen Sozialismus und des Faschismus
zur Humanität II 311
»Unterwanderung« des politischen Lebens in der DBR II 321
Urverwandtschaft des deutschen Charakters mit dem Nationalsozialismus
ll2p
Utopie II 310; 111 264

JI6
Vaterland II 138
Verantwortung des deutschen Volkes für den Nationalsozialismus II 247
Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes I 213-21 5
Verbrechen I 170; II 292
Verbrecher, das Verbrecherische I 171; II 109
Verfall I 349
Verdienste, angeborene Ill 210
das verdienstlos Göttliche I 21 o
Verführung zum Tode II 296
Vergessen I 318
Verhunzung II 164, 224, 227, 265
Verinnerlichung I 349
Verlegenheit I 233
Vernichtungslager II 277
Vernunft I 365; II 109, 246
Vernunft und Blut I 257
Versailler Yenrag II 113, 123 f
Verwirrung des Gefühls I 272 f
Verzicht auf Machtpolitik II 321 f
victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni II 53
viel »Hitler• in Wagner Ill 144
Völkerbund III 258
die Völkischen II 99
Vokabular der Revolution II 185
Volk II 250
Volksbewegungen des ausgehenden Mittelalters II 2 58
Volksgemeinschaft II 131, 212
Volksmärchen II 251
Volksseele III 99
Volkstümlichkeit III 120
Vornehmheit I 62, 235; II 84; Ill 152
Vorstellung Ill 201

waffenlos II 11 3
Wagalaweia II 250; Ill 122
Wahnbilder III 246f
Wahnsinn I 72
Wahrheit I 167,181, 248f, 253f; II 17of; Ill 175,216
Wahrheit und Schönheit III 193
» Wahrheits•-Erlebnisse bedeuten dem Künstler neue Spielreize Ill 89
Wanderredner der Demokratie II 33 5
Was tun? I 156, 158, 161, 167
Weiblichkeit I 59
Weigerung, sich definieren und festlegen zu lassen I 36
Weizenpreis II 143
Weltgeist II 171, 2p; Ill 134
das Weltläufige I 240
Weltliteratur I 239, 296
Welt, neue I 244
Welt nicht die alleinige Schöpfung Gottes, sondern ein Gemeinschaftswerk
mit jemandem anders II 292
Weltreform, soziale II 298
Welt, soziale I 24 3
Weltstaat II 298

317
Weltverbesserung II 326
Werk I 334; 111 62 f, 126
Wert I 278
Widerstand II 273
Wiederaufrüstung II 319-325
Wiedererkennen 111 I 84
Wiederherstellung II 260
Wille 111 2oo-203, 206
Wille der Völker II I36
Willensfreiheit 111 209
Wirkung II 43; 111 35, 59f, 67, I05> I37
Wissenschaft 111 I97
Wollust II 87, 9I
Wonnen der Nerven und des Intellekts 111 6o, 72, I I 5
World Government bleibt rationale Utopie Ill 264
Würde II 118
Würde des Menschen II 202
Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit II 226

Zahlenzauber II 28 5
Zeit I 3I5; II 324f; 111 I97
Zeitökonomie I 22 5
Zerreden I 49
Zivilisation II 23-37; 111 I49 ff
Zivilisationsliterat Ill 28, 4 I
Zürich 111 I25
Zukunft 111 159, I 90 ff
in (... ) Zurückgezogenheit memen persönlichen Aufgaben (... ) leben
IIIp
Zweifel II 336
Zwiespalt, deutscher Ill I I9
NAMENREGISTER
ZU DEN BÄNDEN 1-111
(mit Marle Kurzke)

d' Abernon, Edgar Vincent Lord II u2 f


Achilleus Tatios I 31.1, 345
Aisopos von Sardes I 34 5
Aksakow, Iwan Sergejewitsch I 73
Alarc6n y Ariza, Pedro Antonio de I 298
Alexander III. der Große, König von Makedonien Ill I 87
Alexander III., Zar I I 50
Andersen, Hans Christian I 367
Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) III I82, 2I 5
d'Annunzio, Gabriele II 48; III I37
Anouilh, Jean II 324
Apponyi, Alben Graf II IZ2
Apuleius, Lucius I 297, 322f, 345
Archer, William I 27
Arendt, Manin Friedeich I 22I
Aristogeiton II 90
Aristophanes I 28
Arnout, Daniel I 345
Arndt, Ernst Moritz Ill I 57
Arnim, Achim von I 354 III 97
Asquith, Herben Henry, Earl of Oxford and Asquith II 30
Augustinus, Aurelius I I90

Bach, Johann Sebastian II 267; Ill 49, 78, I I7


Bachofen,JohannJakob III I57ff, I86
Bakunin, Michail Alexandrowitsch 111 99
Balzac, Honore de I 82, IJ2, I46, 3I3, 348, 352; II 250,285, 334; Ill 65,
IJ3, I40
Bandello, Matteo I 345
Barbarossa (s. Friedeich 1., Kaiser, genannt Barbarossa) II 283
Barker, Harley Granville (s. Granville-Barker, Harley) II 26
Barres, Maurice I 37, 230; II 93, I05; Ill J2, 64, I 12, I6o
Bassennann, Alben I 360
Baudelaire, Charles II 63; Ill 32, 72, 79, 98, I I I f, I37
Becher, Johannes R. II I75
Beecher-Stowe, Harriet Elisabeth I I 87
Beethoven, Ludwigvan I 372; II 257,259, 267>304; Ill 49, 78f, 113, 117f
Behrs, Andrej Jestjewitsch 111 88
Belinski, Wissarion Grigorjewitsch I I 53
Bentham, Jeremy I 235
Bergson, Henri II 36, 205; Ill 263
Benram, Ernst I 58; Ill I47
Bismarck,OttoFürstvon I 30,93; II 49f•55•2p,28J,294•3o7; III 4I,62,
I08 f, I43· I62, 245

319
Bizet, Georges III 2.6 I
Björnson, Björnstjerne II I 54
Blei, Franz I 66
Blum,Leon II 2.o7,2.II
Boccaccio, Giovanni I 40,32.3
Böck, Johann Michael I 2.06
Böhme,Jakob I 59; III 2.34
Börne, Ludwig Ill Io8
Bonn, Ferdinand I 373
Bonnier, Kar! Otto (genannt Ake) II 31.7
Borgia, Cesare II I 67
Boulez, Pierre II 32.4
Bourget, Paul I I 48
Brahm, Otto (eigentlich Abrahamsohn) I 2.5- 36I
Brahms, Johannes I 362.; Ill 33, 77• 90
Brandes, Georg (eigentlich Morris Cohen) I 372.; III I62., 2.61
Brecht, Bertolt I p; II I75
Brennen, Hans I 370
Brentano, Bernard von II I75
Brentano, Clemens I 2.55, 2.97, 354
Bretschneider, Heinrich Gotdried I 2.2.4
Briand, Aristide II I 22., 2.45
Brockhaus, Clara III I 2. 5
Brod, Max I 45
Bruckner, Ferdinand (eigentlich Theodor Tagger) I p
Brunetiere, Ferdinand I 37
Buber, Martin I 298
Buchau (eigentlich Buchan), Berta von I I03
Buddha, Gautama Ill 87, 2.63
Bülow, Hans von I 372.; Ill 82.
Burckhardt, Jacob II 54; III 2.37
Burke, Edmund II 333 f
Busoni, Ferruccio Ill 49
Byrnes, James II 314
Byron, George Gordon Noel, 6. Baron I 2.2.0, 2.37

Caesar,Caiusjulius II I98; Ill I50, I87


Caillaux, Joseph-Marie-Auguste II 31
Calas, Jean I So
Calderen de Ia Barca, Pedro III I I 7
Caldwell, Erskine (Preston) I 38
Carl August, Großherzog von Sachsen-Weimar I 201, 2.05
Carlyle, Thomas I 2.13 f, 2.I7, 2.40, 2.96
Carus, Carl Gustav Ill I 57
Cellini, Benvenuto I 2.I9
Celsius, Andres I 8 I
Cervantes Saavedra, Miguel de I I I 6, 2.98, 3oo-34o
Cezanne, Paul I 363
Chamfort (eigtl. Nicolas, Sebastien Roch) III 38
Chamisso, Adelbert von (eigtl. Louis Charles Adelaide de Chamisso)
I 12.4-I42.
Chamisso, Antonie, geb. Piaste I 142.
Chomjakow, Alexej Stepanowitsch I I 86
Chopin, Frederic I 96

J20
Churchill, Sir Winston Spencer I 30
Claudel, Paul I 36; II I05
Clemenceau, Georges I 238; II 33, u3
Cocteau, Jean II 324
Comte, Auguste II 323
Conrad, Joseph (eigtl. JozefTeodor Konrad Nale~z Korzeniowski) I 32, 37
Constant, Benjamin II 228
Corinth, Lovis II 208
Coster, Charles Theodore Henri de I 298
Creuzer, Georg Friedrich III I 57
Croce, Benedetto Ill I47
Cruikshank, George I I34

Dacque, Edgar III I63


Dalberg, Wolfgang Heriben von I 206
Dante, Alighieri I 298, 345; III 24I
Darwin, Charles Ill I 5I
Degas, Edgar I I73
Dehmel, Richard II 38
Delacroix, Eugene I 240; Ill I u
Deli, Roben II 34 f
Descartes, Rene II 206
Deschanel, Paul-Eugene-Louis II 36
Deussen, Paul Ill 238
Dickens, Charles I I79· 352; II 250; Ill IJJ, I40
Donizetti, Gaetano II 2 59
Dostojewski, Fedor Michailowitsch I 37, 40, I5J, I64, 167-184,228, 352;
II 38, so, 54· I 54, I99> 250, 334; Ill 27, 38, 71, IJJ, I40, 237
Dürer, Albrecht II 267, 270
Dumas, Alexandre, der Jüngere Ill 68
Dunoyer, Banhelemy Charles II 232
Durieux, Tilla II I04

Ebers, Georg I I07


Ebert, Friedrich II 61, 72 f
Eckermann, Johann Peter I 82, 223, 236; II I9I
Eichendorff, Joseph Freiherr von Ill I04
Einstein, Albert I 3 I 5; II I 30, I 92
Eiser, Otto III 239
Epikur III 207
Erasmus von Rotterdam I 2I8f; II 286, 293; III I 55
Esmarch, Constanze s. Storm, Constanze, geb. Esmarch
Eulenberg, Herben Ill 28
Euripides III I I 3

Faulkner, William I 38
Feuerbach, Ludwig Ill 90
Fichte, Johann Gottlieb I 224; II I09
Fielding, Henry I 351
Figueroa, Christoval Suarez de I 3I 9
Fiori, Ernesto de I 364
Firdusi I 345, 347f
Flauben, Gustave I 44, 297; II 91
Fontane, Theodor I 86-94, Ioo, Io2, 353; II 55; Ill 28

J2.I
Fouque, Friedrich, Freiherr de Ia Motte-Fouque I 129, 134, 139, 141 f
France, Anatole (eigtl. Jaques Anatole Thibault) I 36
Franco, Bahamonte, Francisco II 220
Frank, Leonhard II 174
Franz von Assisi I 40
Freud, Sigmund I 35; II 226; 111 69, 153-192, 225, 232 f
Frey, Alexander Moritz II 175
Friedrich 1., Kaiser, gen. Barbarossa II 283
Friedrich 111., Kaiser von Deutschland 111 262
Friedrich II., der Große, König von Preußen II 27f, 202, 307; 111 32
Friedrich Wilhelm 1., König von Preußen II 82
Friedrich Wilhelm II., König von Preußen I Ii8
Friedrich Wilhelm III., König von Preußen I 130
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 111 236
Fritzsche, Hans II 300
Fuchs, Carl Dorius Johannes 111 261

Gagern, Hans Christoph Ernst Freiherr von I 238


Galen, Bischof Clemens August Graf II 300
Garschin, Wsewolod Michailowitsch I 1p
Gast, Peter (eigtJ. Heinrich Köselitz) 111 242
Gaudy, Franz Freiherr von I 131
Geibel, Emanuel I 99
Gelber I 373
Gentz, Friedrich von II 53• 333
George, Henry I 27
George, Stefan I 89, 92, 97; II 63, 74• 98, 190; 111 40, 147, 167
Gide, Andre I 24, 31-38, 63, 66; II 104, 324
Giraudoux, Jean II 324
Gladstone, William Ewert G. II 334
Gläser, Ernst II 175
Goebbels, Joseph II 156, 300, 302, 304
Göring, Hermann II 156, 255, 271, 275, 292
Görres, J oseph von 111 157, 160
Goethe, Johann Wolfgang von I 30, 32, 40, so, 52, s8 f, 61, 82, 84 f, I I d,
115, 122, 142, 167f, 185, 194,201,203, 209-212,216-244, 245,249, 2p,
260, 272, 296, 300, 315, 327· 345 ff, 350f, 353· 359· 368f; II 24, 39· so,
54• 59• 61, 64f, 74• 88f, 91, 98, 106f, 117, 130, 132, 134, 150, 155, 162f,
177· 185-191, 193· 196, 206, 229ff. 233,236, 257· 262, 267,284,286,290,
296f, 306, 326, 330, 332; 111 28, 39• 62f, 67f, 76, 87, 91, 98, 104, 108,
118f, 121, 126,148, 150ff, 188, 190,210, 223ff, 229-232, 237• 241,259
Goethe, Ottilie von, geb. Pogwisch I 212, 233
Goeze, Johann Melchior I 254
Gogol, Nikolai Wassiljewitsch I 72f, 178, 183-185,297, 352; II 83,271
Goldsmith, Oliver I 351
Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch I 301
Gorki, Maxim (Alexej Maximowitsch Peschkow) I 147, 152, 158, 164, 166
Gotthelf, Jeremias (eigentlich Albert Bitzius) I 353
Gounod, Charles 111 130
Graf, Oskar Maria II 175
Le Grand-Maison (=Grandmaison, Roben Baron de) II 220
Granville-Barker, Harley I 26
Grigorowitsch, Dimitri Wassiljewitsch I 153
Grillparzer, Franz 111 73

322
Grimm, Jacob Ludwig Kar! I 25; III I 57
Grimm, Wilhelm I 25; III I 57
Grosz, George I 364
Grote (Verlagsbuchhandlung) I I 34
Guerard, Alben Joseph I 3I-38
Gundolf, Friedeich (eigentlich Gundelfinger) I 58; III I47
Gutzkow, Kar! Ferdinand I 353

Haas, Willy II I03


Hamsun, Knut (eigentlich Pedersen) I 24, 63-69; II I99• 334
Harden, Maximilian (eigentlich Isidor Witkowski) I 369
Hardy, Themas I 32
Harmodios II 90
Hatvany, Ludwig von II Io7f
Hauptmann, Gerhart I 24,47-53,92, 355; II 59, 6I ff, 7I, I 55; Ill 28
Haüy, Rene-Juste I I40
Hebbel, Friedeich I 359, 36I; III IJI
Hecke!, Emil III 88, I09
Hege!, Georg Friedeich Wilhelm II 227, 295; III 216, 22I f
Heine, Heinrich I 25, 97, u2f, II5, u8f, I22, I30, I8o, I85, 252, 363,
372; II sz, 229, 232, 236f; III 42
Heins, Valemin II I47
Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand II 24, 55; 111 259
Hemingway, Ernest I 38
Herder, Johann Gottfried I 251
Herrmann, Helene I 88
Herwegh, Georg Ill I95
Hesse, Hermann I 39; II I74• 302
Heydrich, Reinhardt II 269 f
Heyse, Paul von I 9I f, 99f
Himmler, Heinrich II 273, 279, 305
Hitler, Adolf I 43; II I 56, 207, 209, 222-227, 239, 246f, 250,252, 264ff,
269-272, 275, 278 f, 296, 300, 303 f, 307, 320, 324, 334; III I36ff, I4I,
I44
Hitzig, Julius Eduard I 128, I32 f, I39> I4I
Höflich, Lucie I 36o
Hölderlin, Friedeich I uz; II 74, I02, I64, 251, 29n III 40
Hölz, Max II Io7
Hofer, Kar! II 208
Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm (Amadeus) I 25, I34, 3I3, 354;
Ill 96, I 12
Hofmannsthal, Hugo von I 54-57, 333, 354
Hofmannsthal, Raimund von I 54
Homer I 324, 345, 349
Hoover, Herben Clark II J13 f
Honhy von Nagybanya, Nikolaus II I05
Hoyer, Niels I 63
Huber, Kurt II 273
Huch, Ricarda I 58-63
Hugo, Victor II 334 f; 111 I 76
Humboldt, Wilhelm von I 2II, 237

Ibsen, Henrik I 24, 27-30, 83-85, 9I, 359; II sz, 62, I 54-I65, I67;
Ill 37> 67f, 7J, I29, I77f

313
Iffland, August Wilhelm I zo6
lmmennann, Kar! Leberecht I 353

Jäger, Hans Henrik I 63


Jahn, Friedrich Ludwig II Z90
James, Henry I 37
Jean Paul (eigentlich Johann Paul Friedrich Richter) I z 5, 40, n 5, 350, 354
Jensen, Dorothea (s. Stonn, Dorothea, geb. Jensen) I 103
Jensen, Johannes Viihelm 111 50
Jesus von Nazareth Ill 188, Z49
Joliot-Curie, Frederic II 317
Jung, Carl Gustav Ill 181 f

Kadu (Ulea-Indianer) I 131


Kafka, Franz I 4z, 43-47, 354
Kainz, Joseph I 360
Kant, Immanuel II 31, p; Ill 117, zoo, zoz, zo6f, zz9
Kar! der Große III 18 7
Kar! August, Großherzog von Sachsen-Weimar I zo1, zos
Karlweis, Martha II q6
Katkow, Michail N. I 190f
Keller, Gottfried I 95• Ioz, 107-109, 353; II 2Z4
Kerenyi, Kar! I 3u
Kerr (eigentlich Kempner, Alfred) I 369ff, 373
Keyserling, Eduard Graf von I 58
Keyserling, Hermann Graf von III 147
Kierkegaard, Sören I 47; II z85; Ill 174, z63
Klages, Ludwig III 157
Klee, Paul II 208
Kleist, Heinrich von I 132, zs8-Z91, 359; II 107; Ill 231
Kleopatra III 186 ff
Klopstock, Friedrich Gottlieb III 59
Knipper, Olga Leonardowa I 165
Körner, Theodor I 22z
Kokoschka, Oskar II zo8
Kolb, Annette II 175
Korolenko, Wladimir I 166
Korrodi, Eduard II 173-177
Kotzebue, August von I u9
Kotzebue, Otto von I u9
Krieck, Ernst II 305

Lafontaine, Jean de I 134f


Lagerlöf, Selma I 58; II 3z7f
Lasker-Schüler, Else II 175
Lemaitre, Jules I 37z
Lemos, Graf I 334
Lenbach, Franz von Ill So
Lengefeld, Charlotte von (s. a. Schiller, Charlotte von, geb. von Lengefeld)
I Z09
Lenin (eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow) I 154
Leo X. ( =Giovanno de Medici) II 286
Lennontow, Michail Jurjewitsch I 184
Lesskow, Nikolai Semjonowitsch I 184, 297
Lessing, Gotthold Ephraim I 244-25n II 336
Levetzow, Ulrike von I 30
Levi, Hermann I 84
Lewitan, Isaak Iljitsch I I 5I
Ley, Roben II 275
Lie, Jonas Lauritz Idemil I 63
Lincoln, Abraham II I97
Linne, Kar! von I 8I
Lionardo da Vinci I 2I9
Liszt, Franz 111 65, 76f, 85, IOI, I03, I05, 126, 128ff
Lope de Vega (eigentlich Lope Felix de Vega Carpio) III I I 7
Lonzing, Alben Ill Io8
Ludwig II, König von Bayern III 75 f, 94
Ludwig, Otto I 249
Luther, Manin I 30, 2I8f, 2p, 254ff; II 3I, 44, 98, 283, 286ff, 293;
III I55

Machiavelli, Niecola II I 67
Maeterlinck, Maurice II 36
Mahler, Gustav II 85> 259; Ill I48
Maistre, Joseph Marie de II 333, 335
Makart, Hans III I o3
Mallarme, Stephane I 92
Mann, Heinrich II I04, I 56, I74• I76
Mann, Klaus I 32
Manning, Henry E. II 252
Mare, Franz II 208
Marinetti, Filippo Tommaso II I4I
Marschner, Heinrich Ill Io8
Marx, Kar! I 27; II I02, I67, 258; Ill Ip, 228
Masaryk, Thomas Garrigue II 207
Maßmann, Hans Ferdinand II 290
Maupassant, Guy de I I46, 297
Maurras, Charles I 37
McCoy, David II 309
Melville, Herman I 37• 298 f
Mendelssohn, Moses I 250
Mendelssohn-Banholdy, Felix u6; Ill 77, II7
Mendes-France, Pierre II 325
Merck, Johann Heinrich I 228
Mereschkowski,DimitriSergejewitsch I 72f, I69, I72, I74• I85.352; II 83
Merimee, Prosper I 66, 297, 372
Metternich-Winneberg-Beilstein, Clemens Lotbar Fürst von I 238
Meyer, Conrad Ferdinand I 3 53
Meyerbeer, Giacomo (eigtl. Jakob Liebermann Beer) Ill 47
Michelangelo Buonarotti (eigtl. Michelangelo di Ludovico di Lionardo di
Buonarotto Simoni) I 30; II 270; Ill 64
Michelet, Jules II 333
Minne, George I 55
Misinowa, Lidija I I65
Möbius, Paul Julius III 237
Mörike, Eduard I 40
Moliere (eigtl. Jean-Baptiste Poquelin) 28, I79• 239, 259f
Molo, Walter von II 30I, 303, 305, 308
Moltke, Helmut Graf von II 55
Montaigne, Michel Eyquem de I 93
Morris, James I 92
Mozan, WolfgangAmadeus I 24I; II 259,285; Ill 78, II7
Müller, Adam Heinrich I 259; II 52; 111 I 57
Müller, Friedrich von I 232
Mussolini, Benito II IOS, I4I, 207

Napoleon 1., Kaiser der Franzosen I 30; II 227, 236, 256, 288, 290;
Ill I06, I08, I 50, I 87
Nerri, Graf s. Verri, Graf
Newton, Isaac II I30, I92
Nicolai, Friedeich I 224
Nicolson, Harold 111 I42
Nietzsche, Friedeich August Ludwig Ill 240
Nietzsche, Friedeich Wilhelm I 29f, 35f, 52, 6I, 65f, 89, u2f, u8f, I64,
I68 f, I72-I77· 24I f, 25 5· 257· 259>327>352· 369; II JI, 52· 54 ff, 7I, 74·
8of, 89, 98, II8, I30f, I34f, I67, I90, I93 f, I99> 206,251, 286f, 295,297,
31.2, JJI, 334; Ill 27-42, 48, 63, 66, 68f, 72, 74• 76, 88, 90, 93> 96-99,
I05, I09, III, II3, I36f, I47f, Ip, I5J ff, I 57> I59f, I62, I65, I70, I74ff,
I8o, I95• I99• 218 f, 226ff, 23I ff, 235-264
Nisami I 345
Nolde, Emil II 208
Novalis (eigtl. Friedeich Leopold Freiherr von Hardenberg) I 40, 59, 62,
350, 354; II 6I f, 64, 66ff, 70, 72,75-87,89, 9I ff; Ill 84, 92, I48, I 52,
I 59> I6I f, I70f, I74> 249, 255
Novelli, Ermete I 360

Onega y Gasset, Jose II I65; Ill I87


Orwell, George (eigtl. Eric Blair) I 38
Ossietzky, Carl von I 43; II I 99

Pallenberg, Max I 360


Palmin, Liodor lwanowitsch I I 5I
Panizza, Oskar I 7I
Parthenios I 34 5
Pascal, Blaise I 327; II I67; III 38
Pechstein, Max II 208
Peterson-Berger, Wilhelm Ill 32, uo
Petrarca, Francesco Ill I 55
Petronius Arbiter, Gaius I 345
Pfitzner, Hans I 39; Ill 43-58, I64
Philipp III., König von Spanien I 330
Picasso, Pablo II 324
Pichon, Stephen II 36
Platen-Hallermünde, August Graf von I II.2, II3-1.24, IJJ; II 92, I77,
233; III 39
Platon II 45• 206; Ill I96-203, 205 ff, 249, 252
Plautus, Titus Maccius I 259
Plutarch I 323; Ill Io6, I86
Pobedonoszew, Konstantin Petrowitsch I I 51
Poe, Edgar Allan I I78, 298; III II2, I37
Pogodin, Michail Petrowitsch I 72
Ponsonby of Shulbrede, Anhur Augustus William Harry II 35
Potapenko, Ignati Nikolajewitsch I I 65
Pound, Ezra Loomis II 334
Praxiteles II 270 f
Preetorius, Emil III I43 ff
Probst, Christoph II 273
Proust, Marcel I 3 52,·11-C·
Puccini, Giacomo I 3 I 8
Puschkin, AlexanderSergejewitsch I I 52, I84f, I89, 352; II 83
Raffael (eigentlich Raffaelo Santi) 111 74
Rathenau, Walther I 364
Rauschenbusch, Wilhelm I I34
Regler, Gustav II I75
Reinhardt, Delia III I44
Reinhardt (eigentlich Goldmann), Max 25> 36I
Reisiger, Hans II 77
Rembrandt, Harmensz van Rijn II 27of
Renan, 1oseph Ernest I 36
Renoir, Auguste I 363; Ill 75
Rhodes, Cecil 111 I 50
Richardson, Samuel I 35I
Richepin, 1ean II 36
Richter, 1ean Paul Friedrich, s. 1ean Paul
Riemenschneider, Tilman II 287
Riemer, Friedrich Wilhelm I 2I8
Ritschl, Friedrich Wilhelm III 236
Ritter, 1ulie Ill I03
Rohde, Erwin I 32I
Rolland, Romain II 36, 248; III 57
Romains, 1ules (eigentlich Louis Farigoule) II I04
Rooseve!t, Franklin Delano II 207, 2II, zzo, 262, 27of, 3I2, 3I4
Rossini, Gioacchino Ill I 04
Rotrou, 1ean de I 259
Rousseau, 1ean-1acques I 33, I3I, I8o, I9o; II 38
Rubinstein, Arthur Ill 50
Rücken, Friedrich I I 33
Ruge, Arnold Ill Io8
Sacco, Nicola II I07
Sainte-Beuve, Charles-Augustin I 372; II 333
Saint-Simen, Claude Henri de II 232, 234
Sandoval y Rochas, Don Bernhardo de I 334
Sartre, 1ean Pa ul II J24
Saukel, Fritz II 275
Scheidemann, Phitipp I 38
Scher!, August II I03 f
Schewyrow, Stepan Petrowitsch I 72
Schickele, Rene II 174. w2
Schiller, Charlotte Antoitiette von, geb. von Lengefeld I 209, 232
Schiller, Friedrich von I 26, 30, I85, 20I-2I 5, 2I9, 222, 228 f, 232, 234, 236,
273,296,352,359, 36I, 369; II 38, 83, I07, Io9; Ill 28, 76, I04, I 52,244
Schirach, Baidur von II 270
Schlegel, Friedrich I 59f, 224, 25of, 354; 111 93
Schlesinger II I 07
Schmeling, Max I 364
Schönberg, Arnold II 324
Scholl, Hans II 273
Schopenhauer, Anhur I 234, 24I, 250, 305, 349 f; II 84, 90, 98, u8, 336;
Ill 27-42, 70, 84, 9D-95> Iooff, I06, I48, I54f, I 57• I62, I74f, I77-I82,
I93-2J4, 238 f, 24I, 243, 2j8, 260
Schopenhauer, Heinrich Floris Ill 222
Schopenhauer, Johanna Ill 224
Schuhen, Franz I I I 3; Ill 33
Schumann, Roben I I I 3; III 33, 77
Schwab, Gustav I I 3I
Schwan, Christian Friedrich I 205
Schwarzschild, Leopold II I73
Scott, Sir Walter I 350
Shakespeare, William I 28, I79• I87, 260, 298f, 346f, 359• 364; II 7I;
III 75• II3, II7f, 24I
Shaw, George Bernard I 24-3I, 362, 364; II 34; Ill 99
Sheridan, Richard Brinsley Butler Ill 248
Simmel, Georg Ill 39
Skowronnek, Richard I 370, 373
Sömmering, Samuel Themas I 235
Sokrates I 33; Ill 244, 249, 2 52
Sore!, Georges Ill 247
Spengler, Oswald I s8; II 84; III I46-I p, I 57· 257
Spielhagen, Friedrich I 35 3
Spinoza, Baruch Ill 2I 4
Spontini, Gasparo Ill Io8
Stael-Holstein, Germaine de I 128
Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch I I65
Steinbeck, John Ernst I 38
Steiner, Rudolf I 43
Stendhal (eigentlich Henri Beyle) I 63, 66
Stifter, Adalben I 4 s. 89; II 6 5
Stöcker, Adolf III 262
Storm, Constanze, geb. Esmarch I 94, I02
Storm, Dorothea, geb. Jensen I I03
Storm, Emil I I I I
Storm, Theodor I 94-I 12
Strachow, Nikolai Nikolajewitsch II 54
Strauß, David Friedrich Ill 245
Strauss, Richard I 24
Strawinsky, Igor Feodorowitsch II 324
Stresemann, Gustav II I I9, I2I-I24
Strindberg, Johann August I 24, 30, 8I-83
Sudermann, Hermann I 369
Swedenborg, Emanuel I 8 I

Taine, Hippolyte I I93; II 333


Thackeray, William Makepiece I 352; II 250; Ill IJ3, 140
Thyssen, Fritz II 209
Tieck, Ludwig I 225,306, 319,354,372
Tillinger, Eugene II 316 f
Tolstoi, Leo Nikolajewitsch Graf I 30, 68, 83, I46--148, I 53• 164, 166,
I67-17o, 182-I 96, 228,2 97 , 347 f, 352 ; 11 4 3, 7o,8I, t 54,z 5o; Ill 6 5f,
87f, IJ3, 140, I95> 242

J2.8
Toynbee, Philip II 335
Trebitsch, Siegfried I 24
Tschaikowski, Peter Iljitsch II 27I
Tschechow, Anton Pawlowitsch I I46-I67
Tunney, James Joseph (Gene) I 364
Turgenjew, Iwan Sergejewitsch I 95f, IOI, Ipf, I72, I83f, I87, 297;
II 24, I 54

Unruh, Fritz von II I75


Uspenski, Gleb Iwanowitsch I I 5I

Valery, Paul II I04


Vandervelde, Emile II 22I
Vanzetti, Bartolomeo II I07
Varnhagen von Ense, Kar! August I 127f
Verdi, Giuseppe II 259
Vergil (=Publius Vergilius Maro) I 345
Verri, Graf Ill 227
Vessella, Alessandro Ill 36
Viardot-Garcia, Michele-Pauline I 95
Viereck, Peter Ill I36, I38, I4of
Vogue, Eugene-Melchior I I87
Voltaire (eigentlich Fran~ois-Marie Arouet) I So; II 28; Ill I05, I55•
205, 2J4

Wackenroder, Wilhelm Heinrich I 6I


Wagner, Richard I 27, 29, 79, 83 ff, 87, I46f, I87, 196, 23I, 24I, 300, 353·
359, 36I; II 48, 55, Io6f, u8, I45 f, I9o, 224, 249f, 259, 304;
Ill 27-42, s6, s9-I45· I 54, I 58, I62, I95· I99· 2I9f, 239, 24d, 26I
Walter (eigentlich Schlesinger), Bruno Ill I44
Walther von der Vogelweide I 97
Wandrey, Conrad I 9 I
Wassermann, Jakob II I76
Weber, Carl Maria von Ill 79, I08
Wedekind, Frank I 69-74
Wedgwood, Josiah I 35I
Werfe!, Franz II I74
Wesendonck, Mathilde Ill 74, 86ff, 94, IOO
Wesendonck, Otto Ill I02, Io6, 124
Whitman, Walt I 37 ; II 77, 79 f, 83, 85--92, I97
Wieland, Christoph Martin II 57
Wilde, Oscar Ill 248 f, 260
Wilhelm 1., Kaiser 111 I09
Wilhelm II., Kaiser II 208
Wilson, Lyle C. II 3I6
Wolf, Hugo I 174
Wolfe, Thomas Clayton I 298
Wolfskehl, Kar! 111 I45

Xauregui I 3I9

Zelter, Kar! Friedrich I 22I


Zoega, Georg Ill I 57
Zola, Emile I 79f, 83,352, 354; II 62, I 54, 250; Ill 37, 65, IJJf, I40
ALPHABETISCHES
GESAMT-INHALTS-VERZEICHNIS
DER BÄNDE I-III

Achtung,Europa!(I935) . . . . . . . . . . · · · · · · · · II, I62


An das Reichsministeriumdes Inneren, Berlin (I 9 34) II, I45
[AnDavidMcCoy](I945) . . . . . . . . · II, 309
•Andre Gide< von Albert]. Guerard ( I9 5 I) I, 3I
[AnEduardKorrodi](I936) .. II, I73
AnGerhartHauptmann](I932) I, 47
•AnnaKarenina<(I939) I, I82
AugustStrindberg(I948) I, 8I
AugustvonPlaten(I930) . . . . . . . I, I I3
BernardShaw(I95I) . . . . . . I, 24
BriefwechselmitBonn(I937) . . . . II, I78
Chamisso(I9II) . . . . . . . . . . . I, I24
DasProblemderFreiheit(I939) .. . II, 228
Der Künstlerund die Gesellschaft ( I95 2) II,J26
Deutsche Ansprache. EinAppell an die Vernunft (I 930) . . . . . II, I09
DeutscheHörer!(I94o-45) . . . · · · II, 262
Deutschland und die Deutschen (I 94 5) . . . . II, 28 I
DieKunstdesRomans(I939) . . . . . . . . . . . . . . . · · I, 343
DieLager(I945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II, 299
[•DieschönstenErzählungenderWelt•](I955) . . . . . . · .. I, 296
Die Stellung Freuds in dermodernen Geistesgeschichte (I 929) . III, I 53
>DieWeiberamBrunnen<(I922) I, 63
Dostojewski- mit Maßen (I 946) . . . . I, I67
EinBruder(I939) .. · · · · · · · · · . . II, 222
Einkehr(I9I7) . · · · · · · · · · · · · . 111, 27
•Einleitung< zuFontanes Werken( I928) I, 86
[FragmentüberZola](I952) . . . . . . I, 79
FreudunddieZukunft(I936) . . . . . . III, I73
GedankenimKriege(I9I4) . . . . . . II, 23
[Gegendie>BerlinerNachtausgabe•](I928) .. II, I03
[Gegen die WiederaufrüstungDeutschlands] ( I95 4) II,JI9
Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (I 93 2) I, 2I6
Hermann Hesse zumsiebzigsten Geburtstag( I 947) I, 39
IbsenundWagner(I928) . . . . . . . . . . . . I, 83
Ichstellefest ... (I95I) . . . . . . . . . . . . . · · II, 310
InMemoriamHugovonHofmannsthal(I929) .. I, 54
Ironie und Radikalismus ( I9 I 8) II, 41
Kleists•Amphitryon<(I927) . . . . . . . . I, 258
[•Kritik<undSchaffen](I896) . . . . . . . I, 370
KulturundSozialismus(I928) . . . . . . . II, 94
Leiden und Größe Richard Wagners (I 9 33) . III, 64

331
LiteratureandHider(I9J4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II, I54
·MaßundWert<(I937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II, ISS
Meerfahrtmit>DonQuijote<(I934) . . . . . . . . . . . . . . . I, 300
Nietzsche'sPhilosophieimLichteunsererErfahrung(I947) .. Ill, 2.35
Palestrina(I9I7) . . . . . . . . . . . .... Ill, 43
RedeüberdasTheater(I92.8) . . . . . . . . . . . . . . . . . I, 354
RedeüberLessing(I92.9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . I, 2.44
[Rede vor Arbeitemin Wien](I932.) . . . . . . . . . . . . II, 12.9
RichardWagnerundder•RingdesNibelungen<(I937) . . . , Ill, 115
SchicksalundAufgabe(I944) . II, 2.45
Schopenhauer(I938) . . . . . . . . . . . . .. Ill, I93
TheodorStortn(I930) . . . . . . . . . . I, 94
[UberdieKritik](I90S) . . . . . . . . . I, 369
UberdieKunstRichardWagners(I911) . Ill, 59
UberdieLehreSpenglers(I92.2.) . . . . Ill, I46
UbereineSzenevonWedekind(I9I4) I, 69
[OberHeinrichHeine](I92.7) . . . . I, 112.
VersuchüberSchiller(I955) . . . . . I, 2.0I
VersuchüberTschechow(I954) . . . I, I46
VomkommendenSiegderDemokratie(I938) II, I97
VondeutscherRepublik(I92.2.) . . . . . . . II, 59
WagnerundkeinEnde(I949) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ill, I43
WarumichnichtnachDeutschlandzurückgehe(I945) . . . . II, 30I
Waswirverlangenmüssen(I932.) . . . . . . . . . . . II, 12.6
Weltfrieden?(I9I7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II, 38
WiestehenwirheutezuRichardWagner?(I92.7) . . . . . . . . Ill, 62.
ZumsechzigstenGeburtstagRicardaHuchs(I92.4) . . . I, 58
Zur amerikanischenAusgabevon Kafkas >Schloß< (I 94I) I, 43
[Zu Wagners Verteidigung] (I 940) . . . . . . . . . . . . . . . . Ill, I 36
NACHTRÄGE UND BERICHTIGUNGEN
ZU ESSAYS II

Im folgenden werden einige Neuermittlungen mitgeteilt sowie eine Reihe


von Hinweiszahlen korrigien. Beim erst während der Fahnenkorrektur
vorgenommenen Austausch einer Textpanie wurde es leider unterlassen,
alle davon betroffenen Hinweise auf Seitenzahlen innerhalb des Bandes
um 1-4 Seiten nach unten zu korrigieren. Es ist daher zu ersetzen bzw. zu
ergänzen:

In der Einleitung:
S. u Anm. u: Siehe S. 362.

In den Texterläuterungen:
28 über den Krieg: ... Die Information stammt aus Josef Popper,
Voltaire, Dresden 1905, S. 204-208.
41 .. die Bejahung~: ... Siehe S. 348.
45 »göttlich und sichtbar~: Die Stelle findet sich nicht wönlich bei
Platon, man kann jedoch in diesem Falle ihre Genese nachzeichnen.
Bei Platon steht im Phaidros: »Nurdie Schönheit ist zugleich sichtbar
und liebenswürdig« (übersetzt von R. Kassner, Jena 2 1910, S. 44).
Thomas Mann exzerpien die Stelle in einer Notiz für den Tod in
Venedig in folgender Form: »Nur die Schönheit ist zugleich sichtbar
(sinnlich wahrnehmbar, sinnlich auszuhalten) und liebenswürdig,
d.h. ein Teil des Göttlichen, der ewigen Harmonie« (Mendelssohn
S. 88o). Im Tod in Venedig wird daraus: »Denn die Schönheit,
Phaidros, merke das wohl, nur die Schönheit ist göttlich und sichtbar
zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg, ist, kleiner
Phaidros, der Weg des Künstlers zum Geiste« (GW VIII, 521).
Thomas Mann zitien also nicht Platon, sondern GustavvonAschen-
bach.
59 nur der Betrachtende: Siehe S. 343·
87 Anschauen sei bereits: Novalis, a.a.O. Band 111, S. 275·
95 »Sympathie mit dem Tode~: Siehe S. 348.
98 Nietzsche schrieb: Siehe S. 346.
105 Barres: Siehe S. 349·
109 individualistischen Müßiggang: Siehe S. 361.
uo Ich sprach einmal: in Neujahrswunsch an die Menschheit, GW X,
897·
u6 Novemberverbrecher:SieheS. 353·
131 »Derreligiöse Mensch.r: Siehe S. 350.

333
I 34 •Dritte Reich<: siehe S. 348.
I34 »Mit Menschlichem~: ... Direkte Quelle warwohl Bertram, Nietz-
sche, Berlin I9I8, S. 202.
I45-I57 Oberdiejahre I933 und I934istmanmittlerweilegenauunter-
richtet durch die Publikation der Tagebücher I9JJ-J4, Frankfurt
I 977, die über Manns Kritik des Nationalsozialismus viele aufschluß-
reiche Passagen enthalten.
I90 »unter ihr fortstehlen~: aus Wagners Oper und Drama, dem Origi-
nalzusammenhang jedoch völlig entfremdet (siehe in diesem Band
S. 28o).
I97 Whitman: Siehe S. 346.
24 5 Briand: Siehe S. 3 53.
252 »Wenn der Deutsche~: Siehe S. 362.
255 Feldmarschall Göring: Siehe S. 358.
262 Roosevelt: Siehe S. 364.
266 Es ist ein Streit: Siehe S. 368.
266 im ·Dritten Reich<: Siehe S. 348.
268 Ein boshafter Franzose: Siehe S. 362.
275 >München<: Siehe S. 370.
275 Göring:SieheS. 358.
28I amerikanischer Bürger: Siehe S. 372.
28 5 Schmucke: ... Das Argument von den Deutschen als unmelodischen
Harmonikern mochte Th. Mann erstmals wohl von Bertram haben,
vgl. dessen Nietzsche, Berlin I9I8, S. II7f (Hinweis H.-J. Sand-
berg).
287 Bauernaufstand: . .. Die gesamte Passage über Luther ist angeregtvon
einem Brief Nietzsches an PeterGast vom 5. Io. I 879 (Gesammelte
Briefe IV, Leipzig I9o8, S. 25 f).
292 Göring-Konzern: Siehe S. 358.
293 >Lob der Torheit<: ... Das Zitat stammt aus Triumph und Tragik des
Erasmus von Rotterdamvon Stefan Zwc:ig(Wien I 93 5, S. 2 I 5), das die
ganze Konzeption Luther - Erasmus 'entscheidend mitprägte (vgl.
Tagebücher I9JJ-I9J4, Frankfurt I977• S. 497).
293 »auf seinen Hals~: ... Wohl nach St. Zweig, a.a.O. S. I94f.
296 Goethe: Siehe S. 348.
30I Wagner-Aufsatz: Siehe S. 357·
302 Rene Schickele: Siehe S. 360.
303 amerikanischer Bürger: Siehe S. 372.
305 Himmler: Siehe S. 372.
305 ausbürgerte: Siehe S. 359·
309 peace rally: ... Näheres in Die Entstehung des Doktor Faustus,
GWXI,289.
312 »Will man Sklaven~: Nietzsche, Götzendämmerung, Werke II,
IOI7·
312 großen Präsidenten: ... siehe S. 364.
po Amerikaner: Siehe S. 372.
p6 »des Lebens Leben.-: Siehe S. 3 55.
334 Knut Hamsun: Siehe S. 363.

334

Das könnte Ihnen auch gefallen