Robert M. Kerr
1. Einleitung
Bisher ist bei Inârah zweifelsohne viel geleistet und hiermit ein seriöser
Neuanfang der überfälligen historisch-kritischen Forschung des Koran und
der islamischen Quellenliteratur sowie ihrer historischen und theologisch-
intellektuellen Welt wiederaufgenommen worden. Auch wenn die Rezep-
tion dieser Tätigkeit in der Schulislamwissenschaft augenscheinlich bisher
wenig Resonanz aufweist, die Resultate dieser Arbeiten sind nicht unbe-
merkt geblieben,1 auch wenn es seine Zeit dauern wird, bis historisch-
52
Die blauen Blumen von Mekka 53
Forschungsbeitrag, nicht als eine polemische Schrift gegen Muslime bzw. gegen
den Islam. Vom Letzteren distanziert der Autor sich ausdrücklich. Historisch-
kritische Forschung vermag keine Aussagen über Glaubens- bzw. Offenbarungs-
wahrheiten zu machen, wohl aber etwas über die Entstehung überlieferter Texte
herauszufinden. Zudem stellte kritische, dem Islam gewidmete Forschung keinen
Beweis für die Richtigkeit des Judentums bzw. des Christentums dar, allein schon
deshalb, weil alle drei Religionen Anteil am selben Überlieferungskontinuum
haben.
1 Vgl. aber die Rezension A. Rippins „The Qurʾān in Context: Historical and
Literary Investigations into the Qurʾānic Milieu.“ [=Texts and Studies on the
Qurʾān, Bd. 6; herausgegeben von A. Neuwirth, N. Sinai und Michael Marx] in,
Journal of the American Oriental Society 13/3(2011), S. 470-473. Wer aber allen
Ernstes behauptet (s. 473): „To me, this project of defining Qur’anic studies walks
a narrow path: it needs to historically contextualize the text – most appropriately
to the late antique milieu – while avoiding suggesting either a reductive approach
that sees the Qur’an as a poor imitation of pre-existing ideas and texts, or a
massive conspiracy that pictures the Qur’an as being an Islamicization of a Chris-
tian text. By continuing to emphasize the Arabian/Hijâzi origins of the Qur’an,
there remains a lack of historical clarity over the vehicle for the transmission of
this late antique context (which is why it is so important that Mecca remain on
trade routes and that Arabic be conceived of as well developed at the time),“ will
keine zeitgemäße Wissenschaft betreiben, sondern normative regressive Amnesie
vorschreiben, ohne das Wesen historisch-kritischer Forschung begriffen zu
haben.
54 Robert Kerr
2 Wie z. B. noch von A. Negev behauptet (The Architecture of Oboda: Final Report
(Jerusalem, 1997), S. 9. Inzwischen ist deutlich, dass als Zerstörungsursache ein
Erdbeben am Wahrscheinlichsten ist, vgl. A. M. Korjenkov, P. Fabian und A.
Becker, „Evidence for 4th and 7th Century ad Earthquakes, Avdat Ruins,
Israel“ in The Annual Meeting of the Israel Geological Society (Elath, 1996), S. 52;
P. Fabian, „Evidence of Earthquake Destruction in the Archaeological Record:
The Case of Ancient Avdat“ in The Annual Meeting of the Israel Geological Society
(Mitzpeh Ramon, 1998), S. 21-26 (Englisch); T. Erickson-Gini, Crisis and Re-
newal: Settlement in the Central Negev in the Third and Fourth Centuries c.e.
(Dissertation; Jerusalem 2004), S. 255. Vgl. im Allgemeinen die hervorragende
und wichtige Synthese: J. Magness, The Archaeology of the Early Islamic Settle-
ment in Palestine (Winona Lake, 2003) – s. auch Anm. 112. Walmsley a. a. O. S.
48: „Indeed, the seventh century stands out as one of the most conservative in
the cultural record of Late Antique and Early Islamic Syria-Palestine … Most of
the seventh century comes across as a time of considerable monotony, in which
cultural traditions responded only slowly to a new, emerging political reality.“
3 Besonders als nach der ersten Niederlage der Sassaniden in 622, die östlichen, im
persischen Herrschaftsbereich befindlichen Araber sich verselbstständigten. Ein
Hinweis hierauf ist die Tatsache, dass in syrischen Quellen die Datierung nach
Jahren „der Herrschaft der Araber“ ihren Anfang in Ostsyrien/ Nordmesopota-
mien gehabt zu haben scheint.
56 Robert Kerr
4 Die Intertextualität der Sīra mit sowohl der klassischen wie auch der biblischen
Literatur ist nicht zu übersehen, und wie Goldziher schon vor langer Zeit an-
merkte, sind die Ḥadīṯe mit die wichtigsten Quellen der erst im neunten
Jahrhunderte von Ibn Isḥāq geschriebenen und angeblich von Ibn Hišām
übernommenen und bearbeiteten Biographie des Propheten. Durchweg in dieser
Überlieferung, wie bei der Vita Jesu im Neuen Testament (oder der Davids im
ersten Buch Samuel; um den universellen Charakter dieser Prozesse aufzuzeigen
anzugeben könnte an dieser Stelle auch der Haudenosaunee/Irokesenbund ange-
führt werden. Dessen Mitbegründer Hiawatha, dem Longfellow in seinem
berühmten Gedicht The Song of Hiawatha ein literarisches, wenn auch wenig
historisches Denkmal gesetzt hat, ein Nachfolger des Deganawidas [des „Großen
Friedensstifters“], einem Propheten und spirituellen Führer des Huronenstam-
mes, der die Vereinigung aller Irokesen prophezeite, da sie gemeinsame Vorfah-
ren und ähnliche Sprachen hätten) fehlt jeglicher Bezug auf die zeitgenössische
historische Realität. Vielmehr werden solche Mythen post factum geschrieben,
um einen historisierenden Entstehungsmythos darzubieten, um so einem neuen
Glauben einen Hauch angeblicher Realität mitzugeben. Die Wahrheit solcher
theophanen Berichte liegt nicht in der Historizität. Wer von einem Plagiat redet,
hat ein anachronistisches Verständnis der antiken Literatur. Per definitionem be-
stehen alle Entstehungserzählungen von Gottesdiensten, aber auch von u. a. poli-
tischen Ideologien und Staaten, aus Mythographie, weil am Anfang das, was im
Entstehen begriffen ist, noch nicht ersichtlich sein kann: So hatten z. B. die
Erzählungen von Arminius oder Friedrich I., der einst von Schwaben nach
Nürburg zog, die spätere Gründung des deutschen Reiches unter Wilhelm I. von
Preußen nicht vor Augen, wie dies gelegentlich in der späteren deutschen Ge-
schichtsschreibung behauptet wurde. Zudem: historisch gesehen verhindern ein
unbedeutendes Leben und ein triviales Ableben nicht ein glorreiches Nachleben:
Horst Wessels Apotheose im Nazi-Film und der „Erfolg“ des von ihm verfassten
Hassliedes („Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im
Geist in unser’n Reihen mit“) nach seinem Tod können über die Banalität seines
Todes durch Blutvergiftung nach einer ansonsten gelungenen Notoperation nicht
Die blauen Blumen von Mekka 57
Diese Frage ist einerseits rhetorisch, aber zugleich weist sie hin auf ein
ungelöstes Problem der bisherigen Forschungstätigkeiten. Wenn, wie viele
historisch-kritische Islamforscher behaupten, kaum etwas an der islami-
schen Überlieferung im wissenschaftlichen Sinne „historisch“ sei und die
Ursprünge des Islam vielmehr in Syrien zu verorten sind, was ist mit den
Erzählungen über die heilige Stadt des Islam, Mekka? Wie muss man dann
die Wahl des Islam für diesen Ort, der weitab der zivilisierten Welt liegt, zu
ihrem centrum mundi erklären?
2. Mekka
Der klassische Islamforscher, sowie mancher Muslim, glaubt anhand der
islamischen Traditionsliteratur die Topographie dieser Stadt zur Zeit Mu-
hammads wie seine Westentasche zu kennen. Aber wenn der Prophet des
Islam aus sprachlich-philologischen Gründe niemals nach Medina geflüch-
tet sein kann, was ist wahr an den übrigen Überlieferungen? Dies bleibt
Forschungen, die z. B. von Inârah betrieben werden, ein Dorn im Auge.
Obwohl seit geraumer Zeit in manchen Kreisen eine vehemente Debatte
wütet, ob Mekka zur Zeit Muhammads überhaupt existierte bzw. schon die
Ausmaße besaß, die die späteren islamischen Traditionen schildern, möchte
ich hier aus zwei Gründen nicht an einer solchen Debatte teilnehmen:
Erstens, diese Stadt – wie die meisten noch bewohnten Städte des mittleren
Ostens – ist nicht ausgegraben und dies wird sich wohl in absehbarer Zeit
kaum verändern; zweitens, auch wenn Mekka seit Jahrtausenden bewohnt
worden wäre, und in der Spätantike schon zu einer wahren Metropolis an-
gewachsen wäre, sagt diese Tatsache nichts über die islamischen Erzäh-
lungen aus – eine Erkenntnis, die wir von der sogenannten „biblischen
Archäologie“ gelernt haben müssten. So z. B. lehrt uns die Archäologie
vieles über die Vergangenheit einer anderen ebenfalls unausgegrabenen
„heiligen“ Stadt, der sogenannten „Stadt Davids,“ Jerusalem. Wir wissen
aber dank historisch-kritischer Forschungen, dass die Stadt Davids und
Salomos, mit riesigem Tempel und großem Königspalast, eine literarische
Erfindung der Exilszeit bzw. der früh-nachexilischen Zeit ist – die Autoren
der biblischen Beschreibungen kannten die Stadt gar nicht, so wie sie vor
der babylonischen Zerstörung ausgesehen haben könnte. 5 Das heißt:
hinwegtäuschen.
5 Anhand der Textüberlieferung kann man auch z. B. sehen, dass auch die sakrale
Bedeutung Jerusalems eine spätere Entwicklung darstellt. Die samaritanische
58 Robert Kerr
8 „Nach diesem Orte erstreckt sich sofort ohne Unterbrechung das arabische Land,
das sich der Länge nach weithin am Erythräischen Meere ausdehnt. Verschie-
dene Völkerschaften wohnen in demselben, von denen sich die einen nur eini-
germaßen, die anderen aber gänzlich ihrer Sprache nach unterscheiden. Das da-
selbst am Meere gelegene Land ist gleichfalls [wie im gegenüberliegenden Afrika]
von Hürden der Ichthyophagen hin und wieder besetzt, die nach innen zu gele-
genen Striche aber werden, nach Dörfern und Weideplätzen [in Gaue und No-
madenlager] gesondert, von schlechten zweizüngigen [zwei Sprachen redenden]
Menschen bewohnt, von denen die von der Fahrt in der Mitte des Meerbusens
Abirrenden [Verschlagenen] teils ausgeplündert, teils auch von den Wracks Ge-
retteten zu Sklaven gemacht werden. Deshalb werden sie auch fortwährend von
60 Robert Kerr
Seit jener Zeit hat sich wenig verändert. In dieser Umgebung liegt auch
Mekka, das dann nur schwer mit den bildhaften Beschreibungen der Über-
lieferungen als „Mutter aller Städte“ (7,23) und als „Zentrum der Handels-
route“ in Übereinstimmung zu bringen ist – man denkt unwillkürlich an die
sprichwörtliche Goldstadt Plauti: „Chrysopolim Persæ cepere urbem in
Arabia.“ Patricia Crone9 merkt daher zurecht an:
„Mecca was a barren place, and barren places do not make natural
halts, and least of all when they are found at a short distance from
famously green environments. Why should caravans have made a
steep descent to the barren lands of Mecca when they could have
stopped at Ta’if?“
Und sie fragt zu recht:10
den Königen Arabiens und deren Vasallen in die Sklaverei abgeführt; sie heißen
Kananiten. Überhaupt ist die Fahrt an diesem Teile des arabischen Festlands
gefahrvoll, das Land ohne Hafen, schwierig zum Ankern, unrein [unwirtlich],
durch Springfluten und Klippen unnahbar und im Ganzen gefahrdrohend.
Daher halten wir bei der Fahrt daselbst die Mitte des Meeres ein und beschleu-
nigen noch bedeutend die Fahrt an dem arabischen Lande vorbei bis zur ver-
brannten Insel, nach der sich [auf dem Festland] sofort ohne Unterbrechung
Gegenden mit gesitteten Menschen, weidenden Herden und Kamelen fin-
den.“ Text und Übersetzung nach B. Fabricus (Hg.), Der Periplus des eryth-
räischen Meeres von einem Unbekannten. Griechisch und deutsch mit kritischen
und erklärenden Anmerkungen nebst vollständigem Wörterverzeichnisse
(Leipzig, 1883), S. 58-59. Eine sehr ähnliche Beschreibung findet sich u. a. auch
bei Diododorus Siculus, Bibliotheca Historica (vgl. Anm. 56) sowie bei Plinius
Hist. Nat. vi. 26-28; und besonders 37. Auch bei Plinius sind die angegebenen
Abstände ungenau.
9 P. Crone, Meccan Trade and the Rise of Islam (Princeton, 1987), S. 6-7.
10 A. a. O., S. 7. Zu den landwirtschaftlichen Erzeugnisse Arabiens gemeinhin zählt
Plinius u. a.: Ingwer („Zingiberi, alii vero Zimpiberi“ Nat Hist. xii.14), Zucker
(Saccaron 17), Gummiarabikum (Bdellium 19), Kardamom (Cardamomum 29),
Zimt (Cinnamomum 30), Ladanum (37) Kirschpflaume (? Myrobalanum 46),
aber sein Hauptexport und zugleich der Grund für seine Benennung „Glück-
lich“ („felix ac beata“) war Myrrhe: „principalia ergo in illa tus atque murra.“ Die
Reise dieser Produkte durch die arabische Halbinsel über fünfundsechzig Kara-
wansereien, die alle Abgaben verlangten, wird in 32 beschrieben: „At ille Arabiæ
potitus ture onustam navem misit et exhortatus est, ut large deos adoraret. Tus
collectum Sabotam camelis convehitur, porta ad id una patente. degredi via
capital reges fecere. Ibi decumas deo quem vocant Sabin mensura, non pondere,
sacerdotes capiunt, nec ante mercari licet: Inde inpensæ publicæ tolerantur; Nam
et benigne certo dierum numero deus hospites pascit. Evehi non potest nisi per
Die blauen Blumen von Mekka 61
Gebbanitas, itaque et horum regi penditur vectigal. Caput eorum Thomna abest
a Gaza, nostri litoris in Iudæa oppido, mcdxxxvii d p., quod dividitur in man-
siones camelorum lxv. Sunt et quæ sacerdotibus dantur portiones scribisque
regum certæ. Sed præter hos et custodes satellitesque et ostiarii et ministri popu-
lantur. Iam quacumque iter est aliubi pro aqua, aliubi pro pabulo aut pro man-
sionibus variisque portoriis pendunt, ut sumptus in singulas camelos dclxxxviii
ad nostrum litus colligat, iterumque imperii nostri publicanis penditur.“ Crones
Frage nach der Wirtschaftlichkeit dieses Handels, besonders während der Spät-
antike, aber bleibt offen, wie aus 39 deutlich wird: „... et tamen felix appellatur
Arabia, falsi et ingrati cognominis, quæ hoc acceptum superis ferat, cum plus ex
eo inferis debeat … periti rerum adseverant non ferre tantum annuo fetu,
quantum Nero princeps novissimo Poppaeæ suæ die concremaverit … nec
minus propitii erant mola salsa supplicantibus, immo vero, ut palam est,
placatiores. verum Arabiæ etiamnum felicius Mare est; Ex illo namque
margaritas mittit.“ Solches geht auch aus Strabon i.2 hervor, der : Τὴν δ᾽ Ἀϱαβίαν,
ἣν εὐδαίμονα πϱοσαγοϱεύουσιν οἱ νῦν, τότε δ᾽ οὐκ ἦν πλουσία, ἀλλὰ καὶ αὐτὴ
ἄποϱος καὶ ἡ πολλὴ αὐτῆς σκηνιτῶν ἀνδϱῶν: Ὀλίγη δ᾽ ἡ ἀϱωματοϕόϱος, δι᾽ ἣν
καὶ τοῦτο τοὔνομα εὕϱετο ἡ χώϱα διὰ τὸ καὶ τὸν ϕόϱτον εἶναι τὸν τοιοῦτον ἐν
τοῖς παϱ᾽ ἡμῖν σπάνιον καὶ τίμιον. Νυνὶ μὲν οὖν εὐποϱοῦσι καὶ πλουτοῦσι διὰ τὸ
καὶ τὴν ἐμποϱίαν εἶναι πυκνὴν καὶ δαψιλῆ, τότε δ᾽ οὐκ εἰκός. αὐτῶν δὲ χάϱιν
τῶν ἀϱωμάτων ἐμπόϱῳ μὲν καὶ καμηλίτῃ γένοιτ᾽ ἄν τις ἐκ τῶν τοιούτων
ϕοϱτίων εὐποϱία. Der Reichtum beschränkte sich scheinbar großenteils auf die
Erzeugergebiete im südlichen ( )يَ ِمن- glücklichem ( )يَمن- Arabien, d. h. اليم ن.
11 Vgl. P. Crone and M. Cook, Hagarism (Cambridge, 1977), 22, 152. Auf Land-
karten erscheint diese Stadt erst im zehnten Jahrhundert. Text nach Th. Momm-
sen (Hg.), Chronica minora Bd. 2 (Berlin, 1894), S. 347. Die (a. a. O.) Continuatio
Hispania dccliv gibt hier wieder: „Huius temporibus, in era dcxx, anno imperii
eius decimo, Arabum sexagesimo sexto, Abdilmelic apicem regni adsumpto
regnat annos xx. Hic emulum patris persequens aput Maccam Abrahe, ut ipsi au-
tumant, domum inter Ur Chaldeorum et Carras Mesopotamie per ducem
62 Robert Kerr
„Habdelmele [d.i. ʿAbd al-Malik ibn Marwān] vero apice regni ad-
sumpto reg. an. xx. Primo regni sui anno omnem experientiam atque
virtutem animi exercitus sui versus Habdela [d. i. Yazid ii.], quem
pater multoties variis inpetierat bellis, ad ultimum apud Maccam
Abrahæ, ut ipsi putant, domum, quae inter Ur Chaldeorum et Carras
Mesopotamiæ urbem in heremo adiacet, mota congressione.“
Diese späte Erwähnung bleibt sehr verdächtig, auch weil die syrische Vor-
lage nicht zur Verfügung steht: Es ist schwer festzustellen, ab wann die
islamische Historiographie durch die Geschichtsschreibung aufgenommen
wurde, wie Ähnliches schon früher in der biblischen Historiographie, z. B.
bei Josephus und in der christlichen Rezeption seiner Werke, stattfand.
Wichtig aber hier ist auch die Meldung, dass die zwischen dem Ur der
Chaldäer und Harran(!) gelegene Stadt Mekka das Zuhause Abrahams
gewesen sein sollte – dazu ohne Erwähnung von Hagar und Ismael. Aus ei-
ner späteren islamischen Quelle, aṭ-Ṭabarī, deren Geschichtstauglichkeit
undeutlich ist, hören wir über Ibn az-Zubayr, dass er 683, während der
zweiten Fitna, das bestehende Heiligtum12 zu Mekka zerstört:
„Gemäß Muḥammad ibn ’Umar al-Wāqidī – Ibrāhīm ibn Mūsā –
Ikrimah ibn Ḫālid: Ibn az-Zubair zerstörte das Heiligtum, bis er es
dem Erdboden gleichgemacht hat, und er grub sein Fundament aus
… Er stellte den schwarzen Eckstein in seiner Nähe auf, gewickelt in
Seide in einer Lade [tabut].“13
Dieselbe Quelle behauptet zum darauf folgenden Jahre (684):
„Gemäß Isḥāq ibn Abī Israʾīl – ’Abd al-Azīz ibn Ḫālid ibn Rustam
as-Sananī Abū Muḥammad: Ziyād ibn Ğijal erzählte er mir, dass er
in Mekka zugegen war am Tage, als Ibn az-Zubayr überwältigt
wurde, und hörte ihn sagen: ‚Meine Mutter Asma bint Abī Bakr sagte
mir, dass der Botschafter Gottes zu ʿĀ'iša gesagt hat: „Wäre es nicht
so, dass Dein Volk bis vor kurzer Zeit im Unglauben verkehrte, wür-
de ich die Kaʿba auf den Fundamenten Abrahams wiederherstellen
und würde ich den Stein (Ḥiğr) zur Kaʿba überführen.“‘ Ibn az-
Zubayr erteilte den Befehl, und er wurde ausgegraben, und sie fan-
den Felsen so groß wie ein Kamel. Sie versetzten einen Stein, und ein
großes Licht erschien. Sie stellten ihn auf seinem Fundament wieder
her, und Ibn az-Zubayr machte einen Neubau mit zwei Türen – eine
als Eingang und die andere als Ausgang.“14
Hier dann, mitten im zweiten islamischen Bürgerkrieg, im Aufstand gegen
die von Damaskus aus herrschenden Umayyaden, wird berichtet, Ibn az-
Zubayr – angeblich zurückgreifend auf eine Überlieferung des Propheten –
habe die Fundamente des Heiligtums von Abraham entdeckt und in Ehre
wieder hergestellt. Etwas später, für das Jahr 80 a.H., berichtet aṭ-Ṭabarī, Ibn
az-Zuhayr habe große Zahlen von Kamelen, Eseln und Gepäck gekauft,
wohl um so seine Anhänger nach Mekka zu bringen. Allem Anschein nach
handelt es sich hier um eine Innovation Aufständischer, da – wie ich in
meinem letzten Inârah-Vortrage deutlich gemacht habe – zu jener Zeit die
Qibla früher Moscheen in allerlei Richtungen wies, nur nicht in Richtung
Mekka – erstmals wird dies bei der sogenannten Zitadel-Moschee zu
Amman gefunden, die im Jahre 82 a.H. erbaut wurde. Dass die Richtung der
Qibla verändert wurde, findet anscheinend in Sure 2: 142-147 Erwähnung,
z. B. 142:
ﻮل ﻋَﻠَ ْﻴ ُ ْﲂ ﺷَ ﻬِﻴﺪً ا ۗ◌ َو َﻣﺎ ُ ﻮن َّاﻟﺮ ُﺳَ َو َﻛ َﺬ ِ َكل َﺟ َﻌﻠْﻨَ ُ ْﺎﰼ ُٔا َّﻣ ًﺔ َو َﺳ ًﻄﺎ ِﻟ ّ َﺘ ُﻜﻮﻧُﻮا ُﺷﻬَﺪَ َاء ﻋَ َﲆ اﻟﻨَّ ِﺎس َوﻳَ ُﻜ
َ َﺟ َﻌﻠْﻨَﺎ اﻟْ ِﻘ ْﺒ َ َةل اﻟ َّ ِﱵ ُﻛ
ﻨﺖ ﻋَﻠَﳱْ َﺎ ا َّﻻ ِﻟﻨَ ْﻌ َ َﲅ َﻣﻦ ﻳَﺘ َّ ِﺒ ُﻊ َّاﻟﺮ ُﺳﻮ َل ِﻣ َّﻤﻦ ﻳَﻨ َﻘ ِﻠ ُﺐ ﻋَ َ ٰﲆ َﻋ ِﻘ َﺒ ْﻴ ِﻪ ۚ◌ َوان َﰷﻧ َْﺖ
ِٕ ِٕ
ُ َّ ﻟَ َﻜﺒ َِﲑ ًة ا َّﻻ ﻋَ َﲆ َّ ِاذل َﻳﻦ ﻫَﺪَ ى ا َّ ُهلل ۗ◌ َو َﻣﺎ َﰷ َن
َ َّ اهلل ِﻟ ُﻴ ِﻀﻴ َﻊ اﳝَﺎﻧَ ُ ْﲂ ۚ◌ ا َّن
اهلل ِابﻟﻨَّ ِﺎس ﻟَ َﺮ ُء ٌوف َّر ِﺣ ٌﲓ
ِٕ ِٕ ِٕ
„Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht,
damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der
Gesandte über euch Zeuge sei. Wir hatten die Gebetsrichtung, die du
einhieltest, nur bestimmt, um zu wissen, wer dem Gesandten folgt
und wer sich auf den Fersen umkehrt. Und es ist wahrlich schwer
außer für diejenigen, die Allah rechtgeleitet hat. Aber Allah läßt
nicht zu, daß euer Glaube verloren geht. Allah ist zu den Menschen
wahrlich gnädig, barmherzig.“ [Bubenheim und Elyas]
14 Aṭ-Ṭabarī, Bd. XX, 592, S. 176. Vgl. auch Al-Azraqī, Kitāb Aḫbār Makka, apud
Wüstenfeld, Chroniken, Bd. I, S. 143, und ʿAbd ar-Razzaq, Muṣannaf Bd. V, S.
9157. Vgl. auch Wüstenfeld, Chroniken IV, §§135-136.
64 Robert Kerr
Dies wird auch von aṭ-Ṭabarī angedeutet: Im Jahre 71 a. H. soll die Stadt
Kūfa gegen die Umayyaden rebelliert und sich Ibn az-Zubayr angeschlossen
haben. „Jene, die dieselbe Qibla gebrauchen wie wir.“15 Um diese Zeit
wurden, diesen späteren Berichten zufolge, Schilder, die auf die korrekte
Gebetsrichtung hinwiesen, in den Moscheen aufgestellt. Dass dies eine
Innovation sein dürfte, geht aber auch deutlich hervor aus der Tatsache,
dass die Qibla in Moscheen der später nach Spanien geflüchteten Umay-
yaden auch nicht in Richtung Mekkas weisen: Die Moschee der Ribat-
Festung zu Susa (Tunesien) aus dem Jahre 770 besitzt eine gen Süden
weisende Qibla, ebenso wie die berühmte 784 erbaute Mezquita von
Córdoba, während alle nach 132 a. H. erbauten Moscheen der ʿAbbāsiden
eine Gebetsrichtung nach Mekka aufweisen. Dass die Richtung der Qibla
verändert wurde, geht auch aus islamischen Überlieferungen hervor, wie z.
B. al-Buḫārī, der berichtet, Muhammad habe angeblich seinen Anhängern
aufgetragen, in Richtung von Syrien bzw. gen „Šām“ ( )ش امzu beten also
wortwörtlich „nordwärts,“ was eigentlich hier die Stadt Damaskus andeu-
tet16 bzw. die Richtung nach Jerusalem.17
15 Ders., XXI, 107, S. 112. Archäologisch unterstützt wird dies durch die Tatsache,
dass der Bau von Moscheen im Negev, der erst am Ende des 7. und des 8. Jhdts.
in Gang kommt, und dann meistens außerhalb von Städten (vgl. Anm. 112), eine
Gebetsrichtung gen Süden aufweisen, vgl. G. Avni, „Early Mosques in the Negev
Highlands: New Archaeological Evidence on Islamic Penetration of Southern
Palestine,“ Bulletin of the American Schools of Oriental Research 294 (1994), S. 83-
100, bes. Tafel i (S. 95). Einen Hinweis auf die hier beschriebene Veränderung der
Qibla bieten anscheindend die Ruinen der frühen offenen Moschee zu Be’er Ora
(im südlichen ‘Arava-Tale, zirka 20 km nördlich von Eilat), in der der Mihrab
ursprünglich ostwärts wies und nachträglich Richtung Süden verändert wurde,
vgl. ders., „From Standing Stones to Open Mosques in the Negev Desert: The
Archaeology of Religious Transformation on the Fringes“ Near Eastern
Archaeology 70 (2007), S. 133.
16 „Während einige das Morgengebet zu Quba’ machten, kam ein Mann zu ihnen
und sagte: ‚Ein koranischer Befehl wurde Gottes Jünger offenbart, heute Abend
soll er in Richtung der Kaʿba zu Mekka (beten), ihr solltet auch eure Gesichter
ihr zuwenden. Zu jener Zeit aber beteten sie nordwärts‘ [d. i. Šām], aber danach
beteten sie in Richtung der Kaʿba [zu Mekka?],“ Ṣaḥīḥ al-Buḫārī Ḥadīṯ 6:17.
Dass mit Šām bei al-Buḫārī hier die Stadt Damaskus gemeint ist, geht deutlich
hervor aus einem anderen Hadith, worin er Šām als Machtzentrum Marwāns an-
deutet: „Als Ibn Ziyād und Marwān in Šām waren und Ibn az-Zubayr die Macht
übernahm in Mekka und die Qurra’ [also die Ḫārijiten] in Aufstand kamen in
Baṣra, ging ich zusammen mit meinem Vater zu Abū Barza al-Aslamī ... Wir
Die blauen Blumen von Mekka 65
Aus dieser, aus Platzgründen sehr knappen, Schilderung, geht deutlich her-
vor, dass die Qibla zu Mekka erst später zum Fokus islamischer Gebete ge-
macht wurde und allem Anscheine nach sich erst in ʿAbbāsidischer Zeit of-
fiziell durchsetzte. Dass die geflüchteten Umayyaden im fernen Spanien eine
andere Gebetsrichtung anhielten, deutet auch auf Mekka als eine Inno-
vation.18 Hinzu kommt die Tatsache, dass Mekka auch in späterer Zeit nicht
von allen Gläubigen akzeptiert wurde: Im zehnten Jahrhundert propagierten
Šīʿa Ismaʿīlī-Gruppen, dass die Pilgerfahrt nach Mekka sich nur auf Aber-
glauben stütze. In 899 übernahmen die Qarmāṭen in Bahrain die Macht und
versuchten, die Pilgerreise von Muslimen gen Mekka zu unterbinden: Ab
906 fielen sie Pilgerkaravanen an, in 926 verwüsteten sie Mekka, entweihten
den Zamzam-Brunnen mit den Leichen ihn besuchender Pilger und nah-
men den schwarzen Stein zu ihrer Hauptstadt al-Hasa mit. Ihr neuer in 931
mit mahdi-haften Zügen gewählter Kalif führte viele Änderungen ein, auch
dass man künftig mit dem Gesicht zum Feuer weisend beten soll – da die
ursprüngliche Qibla in Vergessenheit geraten war. In jedem Falle fielen in
dieser Zeit die Pilgerfahrten nach Mekka aus und erst 952 konnten die
setzten uns zu ihm und fingen ein Gespräch mit ihm an: ‚O Abū Barza! Siehst Du
nicht, in was für einem Dilemma Dein Volk sich jetzt befindet?‘ Der erste hörte
ihn sagen: ‚Ich suche die Belohnung Gottes, weil ich zornig und den Stamm der
Qurayš missachte. Ihr Araber, ihr wisst wohl, ihr waret im Elend, in geringer
Anzahl und zudem irregeleitet, und dass Gott euch hieraus mit dem Islam erlöste
und Muhammad euch diesen Zustand [des Wohlstandes], den ihr jetzt erlebt,
beschert hat. Es ist gerade diese Welt des irdischen Reichtums und irdischer
Genüsse, die diesen Unmut unter Euch verbreitet hat. Der, der sich zu Šām be-
findet (d.i. Marwān) kämpft wahrlich nur für weltlichen Gewinn, und eure Mit-
streiter kämpfen wahrlich nur für weltlichen Gewinn, und derjenige in Mekka [d.
i. Ibn az-Zubayr] kämpft wahrlich nur für weltlichen Gewinn;“ Ṣaḥīḥ al-Buḫārī
Ḥadīṯ 9:228.
17 „Wir beteten zusammen mit dem Propheten sechzehn oder siebzehn Monate
lang in die Richtung Jerusalems. Dann befahl Gott ihm sein Gesicht in die Rich-
tung der Qibla zu wenden: ‚Und wenn du jetzt betest, so wende dein Gesicht in
die Richtung von al-Masğid al-ḥaram‘“ (vgl. 2.149), Ṣaḥīḥ Al-Buḫārī Ḥadīṯ 6:19.
18 Nachdem 692, im Auftrage von ʿAbd al-Malīk ibn Marwān, al-Haǧğāğ ibn Yūsuf
Mekka erobert hatte, ließ er die von Ibn az-Zubayr vorgenommenen baulichen
Veränderungen an der Kaʿba wieder rückgängig machen. Später aber soll ʿAbd
al-Malīk, als ihm al-Ḥāriṯ ibn ʿAbdallāh, ein früherer Statthalter von Ibn az-
Zubayr in Baṣra, die Echtheit der Äußerung der ʿĀʾiša, auf die sich Ibn az-Zubayr
berufen hatte, bestätigte, al-Haǧğāğs Umbau bedauert haben (vgl. Wüstenfeld,
Chroniken Bd. IV §145).
66 Robert Kerr
ʿAbbāsiden für ein Vermögen den Schwarzen Stein freikaufen. Hiernach, bis
zu ihrem endgültigen Untergang im Jahre 976, waren die Qarmāṭen
großenteils mit internen Angelegenheiten beschäftigt.
Hier sehen wir wieder, daß Mekka erst eindeutig und offiziell zum heili-
gen Ort des Islam in ʿAbbāsidischer Zeit erkoren wurde, was aber nicht bei
allen Gläubigen Zustimmung fand, was wiederum ein Hinweis einer späte-
ren Neuerung ist. Interessant dabei, und später in dieser Auseinander-
setzung wichtig, ist die Tatsache, dass die Wahl Mekkas in der islamischen
Traditionsliteratur vorgetragen wurde von Gegnern der von Damaskus aus
herrschenden Umayyaden-Dynastie. Dass die Umayyaden den Ruf, schlech-
te Muslime zu sein, besaßen, ist ja bekannterweise tief in der islamischen
Überlieferungslieratur verwurzelt, eine Meinung, die aber auch aus zeit-
genössischen Quellen hervorgeht. 19 Die Marionitische Chronik z. B.
berichtet:
„Im achzehnten Jahre [661] des Konstans [II], versammelten sich
viele Araber zu Jerusalem und machten Muʿāwiya zu ihrem König,20
19 Der Übergang von der byzantinischen zur umayyadischen Herrschaft hat in den
materiellen Kulturhinterlassenschaften keine Spuren hinterlassen, die angebliche
„Eroberung“ Syrien-Palästinas vom Ḥiǧāz aus bleibt ein literarisches Ereignis
ideologisch motivierter Schriften, der Bruch kam erst in der Abbasidenzeit. Vgl.
auch Walmsley, a.a.O. S. 47; „Led by its cities, Syria-Palestine passed quietly and
almost willingly without even the slightest whisper into a new and momentous
period, the significance of which was neither recognized nor appreciated at the
time.“
20 In zeitgenössischen nichtarabischen Quellen wurde Muʿāwiya häufig unislamisch
als „König“ bezeichnet, z. B. die Continuatio byzantia arabia §26 (S. 344): „Mo-
habia Sarracenorum rex...“ – vgl. auch Anm. 22. Man könnte sich fragen, ob die
Wahl von Damaskus als Hauptsitz der Umayyaden mit beeinflusst war von der
von Nikolaus von Damaskus überlieferte Tradition (apud Eusebius, Præparatio
evangelica ix.16), dass Abraham hier einst als König geherrscht haben sollte und
noch zu seiner Zeit an diesem Ort verehrt wurde. Dies scheint auch für die
Negev-Wüste (vgl. Anm. 112) jener Zeit zu gelten, s. Y. D. Nevo and J. Koren,
„The Origins of the Muslim Descriptions of the Jahir Meccan Sanctuary,“ Journal
of Near Eastern Studies 49 (1990), S. 23ff. Was aber unter dem Begriff rex in
diesen Beschreibungen genau vorzustellen wäre, bleibt undeutlich – so bezeich-
nete schon Childerich I., der Sache nach wohl als ein spätrömischer Söldner-
führer zu betrachten, sich selber als solchen, was aber zu jener Zeit wohl nicht
ohne Weiteres mit „König“ übersetzt werden kann. Muʿāwiyas mekkanische
Abstammung scheint ebenso historisch zu sein wie die der Merowinger von dem
Quinotaurus-ähnlichen bistea Neptuni.
Die blauen Blumen von Mekka 67
3. Traditionen um Mekka
Die Identifikation Mekkas als Stadt des Propheten Muhammad beruht
ausschließlich auf Angaben der späteren islamischen Traditionsliteratur:
„Mekka“ selber wird bekannterweise im Koran nur einmal erwähnt, in Sure
48,23, ohne dass aber deutlich wird, was gemeint sein soll:
َﻨﲂ َو َٔاﻳْ ِﺪﻳَ ُ ْﲂ َﻋﳯْ ُﻢ ِﺑ َﺒ ْﻄ ِﻦ َﻣﻜَّ َﺔ ِﻣ ۢﻦ ﺑ َ ْﻌ ِﺪ َٔا ْن َٔا ْﻇ َﻔ َﺮُ ْﰼ ﻋَﻠَﳱْ ِ ْﻢ ۚ َو َﰷ َن
ْ ُ َوﻫ َُﻮ ا َّ ِذلى َﻛ َّﻒ َٔاﻳْ ِﺪﳞَ ُ ْﻢ ﻋ
ﻮن ﺑ َ ِﺼ ًﲑ َ ُا َّ ُهلل ِﺑ َﻤﺎ ﺗَ ْﻌ َﻤﻠ
„Und Er ist es, Der im Talgrund von Makka ihre Hände von euch
und eure Hände von ihnen zurückgehalten hat, nachdem Er euch
den Sieg über sie verliehen hatte. Und Allah sieht, was ihr tut, wohl.“
Zudem wird in 3,95 ein Ort „Bakka“ erwähnt, wo das erste durch Gott
bestimmte Gebäude (des Gebetes?) gewesen sein soll:
ا َّن َٔا َّو َل ﺑَﻴ ٍْﺖ ُو ِﺿ َﻊ ِﻟﻠﻨَّ ِﺎس ﻟ َ َّ ِذلى ِﺑ َﺒﻜَّ َﺔ ُﻣ َﺒ َﺎر ًﰷ َوﻫُﺪً ى ِﻟّﻠْ َﻌ ٰـﻠَ ِﻤ َﲔ
„Das erste (Gottes)haus, das für die Menschen gegründet wurde, ist
ِٕ
wahrlich dasjenige in Bakka, als ein gesegnetes (Haus) und eine
Rechtleitung für die Weltenbewohner.“
70 Robert Kerr
mit der Nennung geographischer Orte, und eine etwaige Verbindung mit
Mekka geht nicht selber aus den Ayas hervor, die die Geschehnisse in
diesem Ort angeblich schildern, wie etwa Sure 2, 127:
َّ اﻟْ َﻌ ِﻠ ُﲓ َوا ْذ ﻳَ ْﺮﻓَ ُﻊ ِٕا ْﺑ َﺮا ِﻫ ُﲓ اﻟْ َﻘ َﻮا ِﻋﺪَ ِﻣ َﻦ اﻟْ َﺒﻴ ِْﺖ َوا ْ َﲰﺎ ِﻋﻴ ُﻞ َرﺑَّﻨَﺎ ﺗَ َﻘﺒَّ ْﻞ ِﻣﻨَّﺎ ۖ ِٕاﻧ ََّﻚ َٔا َﻧﺖ
اﻟﺴ ِﻤﻴ ُﻊ
„Und (gedenkt,) als Ibrahim die ِٕ Grundmauern des Hauses errich- ِٕ
tete, zusammen mit Ismail, (da beteten sie): ‚Unser Herr, nimm (es)
von uns an. Du bist ja der Allhörende und Allwissende.‘“
Der Koran mit seinen nur spärlichen Verortungsangaben bringt uns in un-
serer Suche nach den Ursprüngen von Mekka als eine heilige Stadt nicht
weiter. Hier erfahren wir nur, was in der Hebräischen Bibel keine ausdrück-
liche Erwähnung findet: Dass Abraham zusammen mit Ismael ein Haus –
wohl eine Art Altarstätte, wie sie Abraham häufig der jahwistischen Gene-
sisüberlieferung zufolge29 – erbaute. Der außerbiblischen Baulegende wid-
(vgl. Anm. 57). Obwohl die Überlieferung viel älter sein muss, hat Ben-Ḥayyim
anhand des vermeintlich arabischen Einflusses seine jetzige Fassung um den
Anfang des 11. Jhs. n. Chr. datiert (a.a.O. S. 109-112; Gasters Datierung 250-200
v. Chr. [a.a.O. 168-163], obwohl veraltet, könnte für den Überlieferungskern
zutreffen). Später aber stellte er fest, dass nicht alles, was er einst für arabischen
Einfluss, besonders im Bereich der Syntaxis, ansah, wirklich auf diesen zurück-
zuführen war, sondern authentische aramäische Erscheinungen seien (ders., The
Literary and Oral Tradition of Hebrew and Aramaic Amongst the Samaritans
(hebräisch), Bd III/2, S. 17, Anm. 28). Anhand unseres heutigen Kenntnisstandes
ist die Gefahr von Zirkelschlüssen und Ignotum-per-Ignotas-Argumenten im-
merwährend, und die Mahnung M. Florentins ist zu beherzigen: „One of the
most important questions at the heart of the lexical discussion in this research is
the affinity between „Hybrid Samaritan Hebrew“ and the other Samaritan texts.
This is especially pertinent with regard to the Aramaic texts, Tībåt Mårqe, the
Samaritan Targum and the Book of Asatir. The precise date that these three
treatises were written is unknown, and their editors and commentators have
hypothesized the date based on assumptions and deliberation. They have deter-
mined the dates that these works were written by comparing them to what is
considered as known. In the absence of explicit evidence as to when the treatise
in question was written, this is indeed the best alternative. In general, scholars
have accepted the conclusions regarding the dates of these treatises. However,
without explicit evidence, we cannot ignore additional evidence that could
provide further clarification of this issue“ (Late Samaritan Hebrew. A Linguistic
Analysis of its Different Types [Leiden, 2005], S. 167).
29 Vgl. Gen. 12, 7, 8; 13, 4, 18; und natürlich 22, 9. Nach der Priesterschrift baute
Abraham keine Opferplätze, weil in dieser Vision dies nur dem späteren Tempel
von Jerusalem vorbehalten war.
72 Robert Kerr
men wir gleich unsere Aufmerksamkeit. Zunächst aber schauen wir nach
der Wiederentdeckung der oben erwähnten „Fundamente Abrahams“ und
der Kaʿba – mitsamt dem Zamzam ()زﻣﺰم, jenem Brunnen, den Gott hier
einst entspringen ließ, um angeblich die durch Abraham in die Wüste ver-
triebenen Hagar und Ismael (vgl. Gen. 21,19) zu tränken, der scheinbar
irgendwann in der dazwischenliegenden Zeit verloren gegangen war.30 Der
einen Überlieferung zufolge wurde die Quelle verborgen bzw. verschwand
der Sünden des Stammes Ğurhum ( )ﺟﺮﻫﻢwegen, der damals im Besitz der
Stadt und des Zamzam-Heiligtums ( )وﻻﻳﺔ اﻟﺒﻴﺖwar – dieser Stamm siedelte
hier der Überlieferung zufolge zusammen mit den Qaṭūra (vgl. Anm. 54)
Genannten nach dem Tode der Hagar– und zur selben Zeit aus der Stadt
vertrieben wurde. Nebst dem Zamzam kennt die islamische Überlieferung
aber auch eine Tradition über eine trockene Grube in der Kaʿba selber, den
sogenannten „Brunnen der Kaʿba.“ Hier kennt der Islam eine Fülle von Er-
zählvarianten: Es gibt, wie wir gleich sehen werden, keine einheitliche Über-
lieferung. Dies gilt auch für die islamischen Berichte zur Wiederentdeckung
des Heiligtums durch den vermeintlichen Großvater des Propheten ʿAbd al-
Muṭṭalib, dem im Traum, so die Erzählungen, der Ort des Zamzams offen-
bart wurde. Undeutlich ist, ob diese Erzählungen ursprünglich mit dem
Zamzam in Verbindung standen: In manchen Darstellungsvarianten der
Geschehnisse wird tatsächlich der Name Zamzam erwähnt, was aber besser
als eine sekundäre Einfügung aufgefasst werden sollte, da in anderen Ver-
sionen ʿAbd al-Muṭṭalib befohlen wird, etwas, verschiedentlich Ṭayba bzw.
Ṭība, Barra, al-Maḍnūna, Ḫabi’at aš-Šaiḫ genannt, auszugraben.31 Es ist
nicht deutlich, was hier gemeint wird, noch wie diese mysteriösen Namen
mit Zamzam in Verbindung stehen. Dies wird deutlich in der Überlieferung
Ibn Hišāms, die von Ibn Isḥāq stammen soll, in der ʿAbd al-Muṭṭalib vier
verschiedene Träume gehabt haben soll – wobei in den ersten drei der zu
entdeckende Gegenstand jeweils als Ṭayba, Barra, und al-Maḍnūna genannt
30 In diesen Ausführungen stütze ich mich z. T. auf die Angaben von G. R. Hawting,
„The Disappearance and Rediscovery of the Zamzam and the ‚Well of the
Kaʿba‘“ in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 43 (1980), S. 44-
53.
31 Al-Azraqī, Kitāb Aḫbār Makka, apud F. Wüstenfeld, Die Chroniken der Stadt
Mekka, Bd. i (Leipzig, 1858), S. 282 ff.; Ibn Hišām, Sīra (Kairo, 21375/1955), Bd. i,
S. 142 ff.; Ibn Saʿd, Kitāb al-ṭabaqāt al-kabīr (Leiden, 1904-21), Bd. I/1, S. 49 ff.;
Al-Yaʿqūbī, Tārīḫ (Beirut, 1390/1970), Bd. I, S. 246 ff.; Al-Fākihī, Tārīḫ Makka,
MS Leiden, Or. 463, Fol. 338a ff.
Die blauen Blumen von Mekka 73
wird. Erst im vierten Traum wird deutlich, dass hiermit der Zamzam ge-
meint ist, und er wird ihm dann in der Form eines Rätsels offenbart: „Grabe
Zamzam aus!“ – „Was ist Zamzam?“- „Er trocknet nie aus und lässt nie
nach.“32 Aber al-Azraqī und al-Fākihī,33 die beide auch eine, ihren eigenen
Angaben zufolge, auf Ibn Isḥāq stammende Tradition wiedergeben, be-
richten nicht vom dritten Traum – also der Vierte bei Ibn Hišām ist bei
ihnen der Dritte, und so wird der Eindruck erweckt, dass die Erwähnung
des Zamzams nicht ursprünglich einen Teil der Geschichte ausmachte. Hin-
zu kommt die Tatsache, dass beinah alle Überlieferungen der Entdeckung
ʿAbd al-Muṭṭalibs während seiner Ausgrabungen, von verschiedenen Fun-
den berichten: Meistens wird von einer Rüstung, bestimmten Schwertern
( )قلع يund zwei goldenen Gazellen erzählt. Die Gesamtheit aller betreffen-
den Berichte vergleichend ist nicht festzustellen, ob Zweck der Erzählung
die Wiederentdeckung des Zamzam oder aber jener Objekte ist. Eine ähn-
liche Verwirrung besteht bei den Äußerungen über das Verschwinden bzw.
das Vergessen des Zamzams in längst vergangenen Zeiten: Auch hier sind
die Berichte nicht einheitlich, da in manchen die Objekte selber – wobei die
Grube al-Azraqī (279ff.) zufolge als „Schatzhaus“ ( )البي ت حزان ةzur Auf-
nahme der von Pilgern mitgebrachten Gaben gedient haben sollte –, in an-
deren der Zamzam als Hauptpunkt im Mittelpunkt steht (man wird hier
zweifelsohne an Plinius Erwähnung §i.14 erinnert von Jubas Bericht, dass
„idem in Arabia fontem exilire tanta vi, ut nullum non pondus inpactum
respuat“). Zudem wird auch manchmal erwähnt, dass die Ğurhum auch den
– ال ركن حجرḥağar al-rukn begraben haben34 – al-rukn ist die meist ge-
bräuchliche Bezeichnung für den „schwarzen Stein,“ das kultussignifikante
in der Südostecke der Kaʿba eingemauerte Objekt35 – obwohl, was mit
ḥağar al-rukn angedeutet wird, nicht in allen Traditionen deutlich ist, wobei
in einigen mit Sicherheit etwas anderes gemeint ist.36 Aus dem Vergleich
aller Überlieferungen – hier konnte nur eine sehr kurze Übersicht geboten
werden – entsteht der Eindruck, dass ursprünglich die Zamzam-Geschichte
als Thema den Verlust und die Wiederauffindung von für das Heiligtum
und für den Kultus wichtigen Gegenständen hatte, und nur sekundär zu
einer Erzählung der Wiederentdeckung des Zamzams umgearbeitet wurde.
Das Motiv dieser Geschichten ist gut aus anderen, auch biblischen Quel-
len bekannt. So z. B. in 2 Makkabäer 2, 4-8, wo beschrieben wird, dass
Jeremia Objekte aus dem Tempel wegnahm, die er dann in der Höhle nie-
derlegte, von wo aus Mose das Gelobte Land sah – danach verschwand die
Höhle und ist seitdem nicht mehr auffindbar:
[4] Ἦν δὲ ἐν τῇ γϱαϕῇ ὡς τὴν σκηνὴν καὶ τὴν κιβωτὸν ἐκέλευσεν ὁ
πϱοϕήτης χϱηματισμοῦ γενηϑέντος αὐτῷ συνακολουϑεῖν· ὡς δὲ
ἐξῆλϑεν εἰς τὸ ὄϱος, οὗ ὁ Μωυσῆς ἀναβὰς ἐϑεάσατο τὴν τοῦ ϑεοῦ
κληϱονομίαν. [5] Καὶ ἐλϑὼν ὁ Ιεϱεμιας εὗϱεν οἶκον ἀντϱώδη καὶ τὴν
σκηνὴν καὶ τὴν κιβωτὸν καὶ τὸ ϑυσιαστήϱιον τοῦ ϑυμιάματος
εἰσήνεγκεν ἐκεῖ καὶ τὴν ϑύϱαν ἐνέϕϱαξεν. [6] Καὶ πϱοσελϑόντες
τινὲς τῶν συνακολουϑούντων ὥστε ἐπισημάνασϑαι τὴν ὁδὸν καὶ οὐκ
ἐδυνήϑησαν εὑϱεῖν. [7] Ὡς δὲ ὁ Ιεϱεμιας ἔγνω, μεμψάμενος αὐτοῖς
εἶπεν ὅτι καὶ ἄγνωστος ὁ τόπος ἔσται, ἕως ἂν συναγάγῃ ὁ ϑεὸς ἐπι-
συναγωγὴν τοῦ λαοῦ καὶ ἵλεως γένηται [8] καὶ τότε ὁ κύϱιος
37 „In dem Buch stand weiter zu lesen, dass der Prophet einen Gottesspruch em-
pfangen habe und daraufhin das Zelt und die Lade hinter sich hertragen ließ. Er
sei hinausgegangen zu dem Berg, auf den Mose gestiegen war, um das von Gott
verheißene Erbteil zu sehen. Dort fand Jeremia eine Höhle wie ein Haus. Er trug
das Zelt, die Lade und den Rauchopferaltar hinein; dann verschloss er den Ein-
gang. Einige von seinen Begleitern gingen hin, um sich den Weg zu markieren;
aber sie konnten ihn nicht finden. Als Jeremia davon hörte, schalt er sie und
sagte: Die Stelle soll unbekannt bleiben, bis Gott sein Volk wieder sammelt und
ihm wieder gnädig ist. Dann aber bringt der Herr dies alles wieder ans Licht und
die Herrlichkeit des Herrn wird erscheinen und auch die Wolke, genauso wie sie
sich in den Tagen des Mose gezeigt hat und in der Zeit, als Salomo betete, dass
der Ort hochheilig werden möge.“
38 „Denn als unsere Väter nach Persien in die Verbannung geführt wurden, nahmen
die Priester, die fromm geblieben waren, etwas von dem Feuer des Altars mit und
76 Robert Kerr
Begriff [ ְבּ ֵארbǝ’ēr] bezeichnen; 16, 7 ‘[ ַעי ִןayin]; man könnte auch an den
Fluß Zama, Plinius xxxi. 14, in Afrika gelegen, denken, der „ex quo canorae
voces.“ Und so ließ der schwarze Prophetengefährte Bilāl den Gebetsruf (أذان
adān) erklingen). Aber auch in Bezug auf den Zamzam sind die islamischen
Überlieferungen nicht einheitlich: Obschon manche entsprechend Gen.
21,14-21 berichten, dass der Brunnen erst der Hagar und dem Ismael nach
Abrahams Abreise erschien, gibt es auch solche, die den Zamzam als „Quel-
le Abrahams“ bezeichnen und behaupten, er habe sie selber ausgehoben. Es
gibt selbst eine Überlieferung, die den Streit Abrahams mit Abimelech über
den Brunnen zu Beer-Seba Gen. 21,25ff. – also unmittelbar nach dem Ende
der Erzählung über die Errettung von Hagar und Ismael – mit dem Zamzam
in Verbindung bringt. Im Midrasch, also in der rabbinischen Auslegung
wird der Wasserbrunnen Gen. 21,19 mit dem „Brunnen des Lebendigen,
der mich sieht“ ( ְבּ ֵאר ַלחַי רֹאִיbǝ’ēr laḥaj rō’ī) Gen. 16,14 gleichgesetzt, und
spätere jüdische Gelehrte identifizierten jenen Ort mit Mekka, so übersetzt
z. B. Saadia Gaon in seinem Tafsīr das hebräische Wort ( שׁוּרšūr) in Gen.
16,7, der Ort wo der „Engel des Herrn,“ die die Kebse Hagar bei ihrer ersten
Flucht fand, mit „ حج ر ف ي الحج ازbeim Steine des Ḥiǧāz,“ und der mittelal-
terliche jüdische Kommentator Ibn Ezra (ad 16,4) sagte, selbst die in der
Bibel genannte Wasserquelle sei der Zamzam. Problematisch ist natürlich
die Tatsache, dass in islamischer Zeit zumindest die Kaʿba keine Grube bzw.
keinen Brunnen aufweist, und es ist darum wahrscheinlich ein Topos der
erwähnten Legende, der dann auf die Kaʿba übertragen wurde. Eine mög-
liche Bestätigung dieser Vermutung liegt in der Feststellung, dass die ver-
schiedenen Berichte von Muhammads „Reinigung“ des Heiligtums nach
seiner Eroberung der Stadt Mekka kaum von einem Brunnen in der Kaʿba
sprechen – obwohl ein خزان ة البي تerwähnt wird, wobei nicht deutlich ist,
was hiermit gemeint wird.
Dieser kurze Abriss der Geschichte der Wiederentdeckung des Heilig-
tums zu Mekka sollte deutlich gemacht haben, dass die islamische Tradition
keine einheitliche Überlieferung bezüglich des Ursprungs und der Ge-
schichte dieses Ortes kennt. Aus der Vielfalt der jeweiligen tradierten Erzäh-
lungen entsteht der Eindruck, dass ein alter heiliger Ort Arabiens mit einer
jüdischen Schatzlegende in Verbindung gebracht wurde. Eine alte Tradition
über den „Brunnen der Kaʿba “ (bi’r al-Kaʿba) aus vorislamischer Zeit wurde
mit der Geschichte des Zamzams verbunden sowie ursprünglich über den
Brunnen Tradiertes auf den Zamzam übertragen – der Brunnen selber,
durch den Zamzam ersetzt, wurde so in ein Schatzhaus umgedeutet. Ob-
Die blauen Blumen von Mekka 79
wohl nicht alles deutlich ist, überdeutlich bleibt das Fehlen einer konkreten
historisch-glaubwürdigen Erzählung der Wiederentdeckung des Zamzam
im sechsten Jahrhundert – verschiedene Schichten untereinander wider-
sprüchlicher Legenden, die dem Fabelreich entsprungen sind und jeglicher
Historizität entbehren, werden miteinander verwoben. Wie und wann aber
wurden dieser Ort und sein Heiligtum dann mit dem biblischen Erzählzyk-
lus um Abraham, sowie auch um Hagar und Ismael in Verbindung ge-
bracht? Wie schon erwähnt, vermittelt der Koran nur spärlich genaue An-
gaben zu Ortsnamen, die aber dann sekundär in der islamischen exege-
tischen Literatur hineingelesen werden, wie z. B. in Sure 14,37:
َّ ﻨﺖ ِﻣﻦ ُذ ِّرﻳ َّ ِﱵ ﺑ َِﻮا ٍد ﻏَ ْ ِﲑ ِذي َز ْرعٍ ِﻋﻨﺪَ ﺑَﻴْ ِﺘ َﻚ اﻟْ ُﻤ َﺤ َّﺮ ِم َرﺑَّﻨَﺎ ِﻟ ُﻴ ِﻘﳰُﻮا
اﻟﺼ َﻼ َة ُ َّرﺑَّﻨَﺎ ا ِ ّﱐ َٔا ْﺳ َﻜ
ِٕ
ون ُ َّ َ ِ ِ ِ
َ ﻓَﺎ ْﺟ َﻌ ْﻞ َٔاﻓْﺌﺪَ ًة ّﻣ َﻦ اﻟﻨَّ ِﺎس ﲥَ ْ ِﻮي اﻟَﳱْ ِ ْﻢ َو ْار ُز ْﻗﻬُﻢ ّﻣ َﻦ اﻟﺜ َّ َﻤ َﺮ ِات ﻟ َﻌﻠﻬ ُْﻢ ﻳ َْﺸﻜ ُﺮ
ِٕ
„Unser Herr, ich habe (einige) aus meiner Nachkommenschaft in
einem Tal ohne Pflanzungen bei Deinem geschützten Haus wohnen
lassen, unser Herr, damit sie das Gebet verrichten. So lasse die Her-
zen einiger Menschen sich ihnen zuneigen und versorge sie mit
Früchten, auf daß sie dankbar sein mögen.“
In der Kommentarliteratur wird die Verbindung mit Mekka eindeutig be-
hauptet, wie im Tafsīr der al-Ğalālain, der sagt, dass „das Tal ohne Bepflan-
zungen“ ( هو مكةhuwa Makka, d. h. „das ist Mekka“) ist. Auch andere Verse
werden auf Mekka bezogen, wie z. B. 2, 125-127; 3, 97 und 22, 26, ohne dass
aber eine solche Verknüpfung selber aus dem Text hervorginge – nur mit
Hilfe der späteren Auslegungstradition können sie auf Mekka bezogen wer-
den. Jene Überlieferungen, wie die z. B. des Hišām b. Muhammad al-Kalbī,
aber stammen bekannterweise aus ʿAbbāsidischer Zeit, und sind mindestens
hundertfünfundzwanzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen, und na-
türlich im gerade eben besprochenen Falle des Prophetengroßvaters, viel
später erst aufgeschrieben worden. Diese Schriften haben dann auch als zu-
grunde liegendes Programm, den Islam und die durch ihn verursachten
Veränderungen als etwas ganz Neuartiges darzustellen. Aber, wie wir be-
züglich der Wiederauffindung des Zamzams gesehen haben, besitzen die
dazugehörigen Erzählungen etwas Künstliches bzw. Konstruiertes – sie
lesen sich nicht als eine zusammenhängende, sorgfältige bewahrte Tradi-
tion, und von gar „einer“ Tradition kann überhaupt nicht die Rede sein.
Im Fall der Abrahamserzählung ist die Quellenlage nicht viel anders: In
den islamischen Überlieferungen, im weitesten Sinne des Wortes, gibt es
80 Robert Kerr
grob vom neunten bis zum fünfzehnten Jahrhundert hunderte Belege, die
ganz oder zum Teil die vermeintlichen Reisen Abrahams nach Mekka wie-
dergeben. Der amerikanische Gelehrte Firestone,41 der diese Erzählungen
eingehend sammelte und untersuchte, kam zu dem Schluss, dass alle Vari-
anten auf drei bestimmte Erzählungen, die der Tradition nach alte Überlie-
ferungen sind, zurückgeführt werden können: auf die von ʿAlī b. Abī Ṭālib
(gest. 661), des Vetters und Schwiegersohnes des Propheten und späteren
Kalifen; die des Muğāhid b. Ǧabr al-Maḫzūmī (gest. 722), und selbstver-
ständlich die des Cousins des Propheten ʿAbd-Allāh ibn ʿAbbās (gest. 687).
Ob diese Männer wirklich gelebt haben bzw. ob das, was in den Über-
lieferungen ihnen zugeschrieben wird, tatsächlich von ihnen stammt, ist
hier von keiner Bedeutung – hier zählt nur die Tatsache, dass die Überliefe-
rungen abhängig sind von solchen, die einen dieser drei als Quelle nennen.
Im Folgenden werden die Hauptlinien dieser drei Erzählungen kurz
aufgeführt.
3.1 Die ʿAlī-Version
Im Grunde wird in diesem Überlieferungskreis erzählt, wie als Folge eines
Befehls Gottes Abraham nach Mekka reist, um dort die heilige Kaʿba zu
bauen. Die siebzehn einzelnen Nacherzählungen, die von „ʿAlī“ abhängig
sind, haben gemeinsam, dass Abraham übernatürliche Hilfe bekommt, um
die Kaʿba zu verorten, und können wiederum in drei Varianten unterteilt
werden. Weil Abraham nicht weiß, wo er die Kaʿba bauen soll, schickt ihm
in der ersten Gruppe Gott die Sakīna42 – einen zweiköpfigen Wind –, die
ihm den richtigen Ort anweist. In der zweiten Variante, in der Abraham von
Armenien aus (! vgl. das Zitat von Apollonius Molon §5 infra) seine Reise
anfängt, weist die Sakīna Abraham den richtigen Platz an, wie eine Spinne
ihr Netz zu weben anfängt, die mit einem Faden erst den Umriss auslegt. In
der letzten Gruppe, zugleich die Kleinste, nimmt Abraham Hagar und Isma-
el mit auf seine Reise, und eine Wolke leitet sie zum Ort, wo die Kaʿba er-
richtet werden soll. Hiernach, als der Bau fertig ist, will Abraham allein nach
Syrien zurückkehren. Hagar fragt ihn, wem er den Ismael anvertraut. Seine
Antwort lautet: „An Gott“ – eine Gegebenheit, die Hagar mit den Worten
zu akzeptieren scheint „Er wird uns nicht zugrunde gehen lassen.“ Hierauf
bekommt Ismael Durst, und es folgt eine Wiedergabe des Gesprächs (vgl.
Gen. 21,16) der Hagar mit dem Engel Gabriel (ein Anachronismus!), sowie
eine Schilderung ihres Laufens zwischen den Bergen Saffa ( )الص فاund
Marwa ( ;الم روةvgl. der Saʿy – الس عيdes Haǧǧ). Danach kratzt Ismael mit
einem Finger den Grund, und hieraus sprudelt dann die Quelle des
Zamzams hervor.
Hier scheint eine monotheistische Umdeutung einer heidnischen Tradi-
tion vorzuliegen. Diese Variante, die die biblische Schilderung Gen. 21,14-
21 nacherzählt, welche sich allerdings in nur drei der siebzehn Wiedergaben
vorfindet, ist zugleich die einzige Parallele mit der Bibel in dieser Erzähl-
gruppe. Überhaupt erwähnen nur fünf Varianten die Hagar und den Ismael.
Der Kern der ʿAlī-Überlieferungen behandelt Abrahams Bau der Kaʿba,
nachdem er hierhin durch die Sakīna, die göttliche Präsenz, bzw. durch eine
übernatürliche Wolke geleitet wurde. Nebenher sollte erwähnt werden, dass
in diesen Geschichten die Sakīna nur eine entlehnte Namensgleichheit mit
der hebräischen Šeḵina hat – die Beschreibung passt eher auf die arabischen
Dschinn, die etwa aus Tausendundeine Nacht bestens bekannt sind. Zum
Schluss dann sehen wir bei den vermeintlich auf ʿAlī zurückgehenden
Erzählungen wiederum verschiedene Erzählschichten: Eine alte, wohl ara-
bische Legende über den Bau des Heiligtums zu Mekka, die dann nachträg-
lich mit biblischen Legenden angereichert wurde. In dieser Überlieferung
spielen Hagar und Ismael eigentlich keine Rolle, und Abraham figuriert nur
als Bauherr. Interessant in dieser Hinsicht ist 2,127, das in der Übersetzung
von Bubenheim und Elyas lautet: „Und (gedenkt,) als Ibrahim die Grund-
mauern des Hauses errichtete, zusammen mit Ismail ...,“ obwohl der ara-
bische Text wie der jetzige nicht ohne Weiteres eine solche Auslegung her-
82 Robert Kerr
gibt: – وإذ يرفع إبراھيم القواعد من البيت وإسماعيلwa’iḏ jarfaʿu ibrāhīm al-qawāʿid
min al-bayt wa-ismaʿīl... – „und Ismael“ wurde scheinbar als eine sekundäre
Einfügung (eine Art unabsichtlicher Casus pendens?) angehängt, also wort-
wörtlich „Und gedenkt Abraham errichtete die Fundamente des Hauses –
und Ismael...“ – offensichtlich ein unbeholfener Versuch, nach der Fest-
stellung einer islamischen Auslegung Ismael mit aller Gewalt im korani-
schen Bericht über den Bau der Kaʿba eine Rolle zuzuweisen, auch wenn
dies den Text verstümmelt.43
3.2 Die Muǧāhid-Version
Reduziert auf das Wesentliche, beginnen in dieser Überlieferung Abraham,
Hagar und Ismael ihre Reise nach Mekka von Syrien aus, als der Letzt-
genannte noch ein Säugling ist,44 geführt von Gott bzw. vom Engel Gabriel,
43 Also nach der Festlegung einer Tradition wurden Texte emendiert, um konform
mit der neuen Sicht gelesen werden zu können. Dies ist ein gut bezeugtes
Phänomen, vgl. in der Hebräischen Bibel etwa Ex. 32,10-14, eine nachdeuterono-
mistische Einfügung, die 32 mit Dtn. 9-10 harmonisiert oder etwa 32,9, die in
der Septuaginta fehlt, womit Dtn. 9,13 in Ex. 32 eingefügt wird.
44 Durchweg wird in der islamischen Überlieferung Ismael als ein kleines Kind
geschildert, etwas, das aus der Hebräischen Bibel nicht deutlich hervorgeht (so
auch z. B. bei 𝔓𝔖𝔗𝔙): Ismael war dreizehn Jahre alt, als zusammen mit seinem
neunundneunzigjährigen Vater „das Fleisch seiner Vorhaut beschnitten
ward“ (Gen. 17,24-25, vgl. 16,16), und ein Jahr danach wurde Isaak geboren, ob-
wohl Ismael in 21,14 und 15 als ein ( יֶלֶדjäläd), 18 ( נַעַרnaʿar) bezeichnet wird,
muss er logischerweise zumindest ein Teenager (z. B. Kimchi a. l. 15) gewesen
sein (für einen solchen Gebrauch dieser Lexeme vgl. 2 Kön. 4,32-37); Genesis
Rabba (51,13) gibt sein Alter mit 27, das Raschi zu 25 korrigiert. Die Verwirrung
wird meistens dadurch erklärt, dass die Chronologie der Priesterschrift (Gen.
16,16; 17,25; 21,5) auf die der elohistischen Rahmenerzählung (z. B. 21, 8-21, das
Ismael scheinbar als Kleinkind darstellt) aufgelegt wurde, wie z. B. Levenson
verdeutlicht: „The simplest solution is the documentary one: the teenaged Ish-
mael is a product of P, a later source than the one reporting the episode of his
near-death, which is almost universally attributed to E. Once one discounts for
the moment the Priestly material that is Genesis 17, all one knows about Ish-
mael’s age is that it is greater by an indeterminable figure than that of Isaac, who
has just been weaned. This is true whether we are to envision the first-born son
riding on his mother’s shoulder or walking on his own“ (J. D. Levenson, The
Death and Resurrection of the Beloved Son, The Transformation of Child Sacrifices
in Judaism and Christianity [New Haven, 1993], S. 105; vgl. auch T. D. Alexander,
„The Hagar Tradition in Genesis xvi and xxi“ in: J. A. Emerton [Hg.], Studies in
the Pentateuch [Leiden, 1990], S. 131-148). Die islamische Überlieferung scheint
Die blauen Blumen von Mekka 83
und in manchen Fassungen reitet die Reisegesellschaft auf dem Hengst al-
Burāq. Bei jedem scheinbar passenden Ort fragt Abraham, ob er hier die
Kaʿba bauen solle, und jedes Mal wird die Frage verneint, bis zu ihrer
Ankunft in Mekka. Hier, am Ort der künftigen Kaʿba, lässt Abraham Frau
und Kind, die schon erwähnte Āya 14,37 rezitierend, zurück, um nach
Syrien heimzukehren. In dieser Überlieferung, wie bei der Vorigen, sehen
wir die spätere Zusammensetzung einer ursprünglich alten arabischen Le-
gende über den Bau der Kaʿba mit biblischem Erzählstoff – hier aber wird
die Reisegruppe durch den anachronistischen Gabriel, einen der spätbibli-
schen Erzengel,45 der aber eindeutig eher Züge eines Dschinn hat, geführt,
also wurde eine solche Erscheinung wohl auf den Namen einer ungefähr
vergleichbaren biblischen Figur umbenannt. Im Gegensatz zur ʿAlī-Version
aber machen Hagar und Ismael strukturell einen Teil von Abrahams Reise
aus. Die biblischen Motive sind eher vage, scheinbar haben wir es wohl hier
mit der Anpassung einer alten Legende an biblische Personen zu tun: Der
beinahe eingetretene Tod Ismaels durch Verdurstung spielt aber in dieser
Variante überhaupt keine Rolle. Das Koranzitat ist wohl eine noch spätere,
aus islamischer Zeit zu datierende Hinzufügung.
hier aber der Septuaginta zu folgen, die 21,14 () ְו ֶאת־ ַהיֶּלֶד עַל־שִׁ כְמָהּ שָׂם ֶאל־ ָהגָר ַויּ ִתֵּ ן
wiedergibt, als ob Abraham Ismael Hagar auf die Schulter legte: Καὶ ἐπέϑηκεν ἐπὶ
τὸν ὦμον αὐτῆς τό παιδίον (vgl. Raschi z. Stelle: )אף הילד שם על שכמה, was wir
auch bei Josephus finden.
45 Vgl. Kerr a. a. O. §5.8 (= hier „Von der aramäischen Lesekultur zur arabischen
Schreibkultur II. Der aramäische Wortschatz des Koran,“ in: M. Gross und K.-H.
Ohlig [Hg.], Die Entstehung einer Weltreligion II. Inârah Band 6 [Berlin 2012],
553-614).
84 Robert Kerr
2) Hagar zog ihren Rock nach unten bzw. benässte dessen Unterteil,
um so ihre Spuren vor Sarah zu verbergen (9/19) – keine bibli-
schen Parallelen.
3) Abraham gab der Hagar einen Wasserschlauch (12/19), und
brachte Hagar und Ismael, auf Geheiß eines göttlichen Befehles
bzw. geleitet durch ein göttliches Wesen, nach Mekka (19/19), wo
er sie dann unter einem großen Baum zurückließ (9/19) – vgl.
Gen. 21,14-15.
4) Hiernach zog Abraham wieder nach Syrien und kam in Kada,
einem Ort in der Nähe Mekkas an (7/19) – keine biblischen
Parallelen.
5) Hagar folgte Abraham und fragte ihn, wem er gedenke, sie und
ihren Sohn anzuvertrauen. Mit Verzögerung antwortete Abra-
ham „An Gott“ bzw. er folge nur einen Befehl Gottes, eine Ant-
wort, die Hagar offenbar zufrieden stellte. Hiernach kommt eine
späte Einfügung: Abraham rezitiert Āya 14,37 (7/19) bzw. 14:38
(2/19).
6) Als das Wasser im Schlauch aufgebraucht war, konnte Hagar den
Säugling nicht mehr stillen (11/19), der dann einen Anfall bekam
(6/19), und Hagar war nicht im Stande zuzusehen, wie ihr Sohn
ihr wegstirbt (8/19) – vgl. Gen. 21,15-16.46
7) Hagar erklomm die Berge Safa und Marwa (15/19) und lief
zwischen ihnen sieben Mal hin und her (11/19) – vgl. Gen. 21,16.
8) Eine angeblich auf Muhammad selber zurückgehende Einfügung
berichtet, dies sei der Grund des Saʿy (Lauf zwischen Safa und
Marwa während der Pilgerfahrt) (8/19) – keine biblischen
Parallelen.
9) Hagar verzweifelte zunehmend am Zustand ihres Sohnes und
meinte, eine Stimme zu vernehmen (10/19), die, wie sich heraus-
46 Das Bild der Hagar in der biblischen Erzählung ist sicherlich nicht positiv, durch
Abraham gedemütigt und verlassen, will sie scheinbar seinen erstgeborenen
Sohn vernichten: „... sie warf den Knaben unter einen Strauch weg ( שׁלְֵך ְ ַוַתּ
… )אֶת־ ַהיֶּלֶד תַּ חַת אַחַד ַהשִּׂיחִ ֽםdenn sie sprach ‚Ich will nicht des Knaben Sterben
ansehen ( “… )אַל־ ֶא ְראֶה בְּמ ֹות ַהיָּלֶד-vgl. A. Pinker „The Expulsion of Hagar and
Ishmael (Gen 21:9-21)“ Women in Judaism: A Multidisciplinary Journal 6/1(2009),
S. 19-21. Man sollte beim letzten Abschnitt von V. 16 der Lesung der Septuaginta,
ἀναβοῆσαν δὲ τὸ παιδίον ἔκλαυσεν, folgen: Im nächsten Vers erhörte Gott des
Knaben Stimme und nicht die der sich selbst bemitleidenden Hagar.
Die blauen Blumen von Mekka 85
stellt, einem Engel (8/19) namens Gabriel (6/19) gehört, der dann
mit seiner Ferse (14/19) bzw. seinem Flügel (3/19) den Boden
kratzte, wonach Wasser aufsprudelte, bzw. als sie zu ihrem Sohne
zurückkehrt, findet sie Ismael, der Wasser hervorbringt, indem er
mit seiner eigenen Ferse den Grund aufkratzt (2/19) – vgl. Gen.
21,17-19.
10) Hagar dämmte den Wasserstrom unverzüglich und füllt ihren
Schlauch (19/19) – vgl. Gen. 21,19.47
11) Eine zweite, Muhammad (15/19) bzw. Ibn ʿAbbās (1/19) zuge-
schriebene Einfügung besagt, dass Gott der Mutter Ismaels gnä-
dig sein möge, weil immer noch vom Zamzam unendlich große
Wassermengen hervorflössen, wenn sie dies nicht getan hätte –
keine biblischen Parallelen.
12) Der Engel befahl Hagar, sich keine Sorgen um ihr Kind zu
machen, da irgendwann der Junge zusammen mit seinem Vater
vor Ort ein Heiligtum erbauen werde (7/19) – vgl. Gen. 21,18.
Die Ibn ʿAbbās zugeschriebenen Erzählungen folgen also im Großen und
Ganzen mit den Unterteilen 1, 3, 6, 7, 9, 10 und 12 treu der Erzählung Gen.
21,9-19, allerdings mit der Hinzufügung verschiedener zusätzlicher Elemen-
te. Wie bei der Überlieferung der Bibel finden sich hier, außer beim Wunder
des Wassers, keine Einwirkungen übersinnlicher Kräfte. Wiederum aber ist
ersichtlich, wie eine alte Legende um ein Heiligtum zu Mekka in 11 „bibli-
siert“ wurde. Bei den Elementen 5 und 8 handelt es sich um spätere islami-
sche Einfügungen. Die Bestandteile 2 und 11 sind auch von der rabbini-
schen Auslegung der Geschichte bekannt. Die in der jetzigen Form wohl in
das neunte Jahrhundert zu datierende pseudepigraphische und midrasch-
artige Schrift Pirqê de Rabbi Eliezer (67a-b) wie im babylonischen Talmud
(Baba Meziʿa, 87a) lässt Abraham, als er Hagar auf Geheiß der Sarah weg-
schickt, ihr einen Schleier (bzw. in manchen Handschriften eine Wasser-
tonne) um ihre Mitte binden, den sie hinter sich her schleppen muss, um
sichtbar zu machen, dass sie eine unfreie Frau ist.48 Die etwas frühere rabbi-
47 Die Lesung der Septuaginta, ὕδατος ζῶντος, ist hier wiederum auch zu bevor-
zugen, da es sich um „Wasser des Lebens“ handelt (vgl. Gen. 26,19).
48 וכשירצה אברהם. כדי שיהא סוחף אחריה,לקח את הדרדורוקשר במותניה של הגר
לראות את ישמעאל בנו יראה אתהדרך שהלכו בה. Vgl. hier die Zufügung des
Targum Pseudo-Jonathans zu Gen. 21,14: וקשר לה במותנהא לאודועי דאמתא היא. S.
im Allgemeinen: F. García Martínez, „Hagar in Targum Pseudo-Jonathan“ in: M.
Goodman, G. H. van Kooten und J. van Ruiten (Hg.), Abraham, the nations, and
86 Robert Kerr
nische Schrift Genesis Rabba (53:14)49 gibt ungefähr Element 11 von Ibn
ʿAbbās wieder, obwohl es in der islamischen Fassung wahrscheinlich um-
gedeutet wurde, um so die geringe Wasserzufuhr des Zamzams zu erklären.
Die Ähnlichkeit mit diesen jüdischen Schriften reicht noch viel tiefer:
Die Ibn-ʿAbbās-Variante fungiert wie ein rabbinischer haggadischer Mid-
rasch: Sie füllt die biblische Erzählung an, aber ohne ihr zu widersprechen,
allerdings mit einer überraschenden Wende, nämlich das Versprechen Got-
tes, nicht Isaak in Israel, sondern Ismael in Arabien. Jedoch steht dies nicht
in Widerspruch zu der biblischen Überlieferung, da immerhin auch in der
Bibel selbst nach der Episode in Gen. 21,21 Ismael nicht verschwindet: In
Gen. 25,9 begraben Ismael und Isaak gemeinschaftlich mit ihren Kindern
ihren verstorbenen Vater Abraham; in 25,11 heißt es, „Isaak wohnte beim
‚Brunnen des Lebendigen, der mich sieht,‘“ also der oben erwähnte ְבּ ֵאר ַלחַי
ר ֹ ִאי- bǝ’ēr laḥay rō’ī, offensichtlich derselbe Ort, wohin Hagar zuerst
geflüchtet war (16,14); in 28, 9 heiratet Isaaks Sohn Esau seine Cousine
Maalath, eine Tochter Ismaels. Eine ähnliche Erweiterung ist auch bei der
schon genannten rabbinischen Schrift Pirqê de Rabbi Eliezer zu finden, die
von regelmäßigen Besuchen Abrahams bei Ismael berichtet, selbst dass
Ismael wusste, dass sein Vater sich noch um ihn kümmerte ( וידע ישמעאל
)שעד עכשו רחמי אביו עליו. In der rabbinischen Überlieferung werden selbst
nach dem Tode der Sarah (Gen. 23,2) die Beziehungen Abrahams zu seiner
„anderen“ Familie intensiver: Dass Abraham auf Geheiß der Sarah (Gen.
21,9-10) die Hagar sozusagen im Stich ließ, stört den jüdischen Ausleger,50
the Hagarites: Jewish, Christian, and Islamic perspectives on kinship with Abraham
(Leiden, 2010), S. 263-274.
49 Vgl. Pseudo-Jonathan a.l.: וגלי ייי ית עינהא ואיתגלי לה בירא דמיא ואזלת ומלת ית
„ קרווה מיא ואשקיית ית טליאDer Herr deckte ihre Augen auf, und eine Wasser-
quelle ward ihr offenbart, und sie ging zu ihr hin und füllte einen Schlauch mit
Wasser und gab dem Knaben zu trinken.“
50 Ein Teil des Problems ist die Bedeutung des hebräischen Wortes ( ְמ ַצחֵקmǝṣaḥēq)
in 21,9, das eine crux interpretationis darstellt. Scheinbar ist hier ein Wortspiel
mit dem „Lachen“ in Sarahs Rede in Vers 6 ()צְח ֹק ָעשָׂה לִי אֱֹלהִים כָּל־הַשּׁ ֹ ֵמ ַע י ִ ְצחַק־לִי
sowie mit dem Namen Isaak ( – י ִ ְצחַקjiṣḥaq), was Targum Onqelos wiedergibt
()מחייך, ohne aber das hieraus verständlich wird, was hiermit gemeint ist. Diese
Unsicherheit ist alt: Die Septuaginta fügt eine Erweiterung hinzu und übersetzt
παίζοντα μετὰ Ισαακ τοῦ υἱοῦ αὐτῆς, und die Vulgata gibt das Wort mit
„ludentem“ wieder, die Peschitta mit „lächerlich machen“ ( ). Bei Targum
Jonathan wird dann Ismael Abgötterei vorgeworfen ()וגחין לײ מגחך לפולחנא נוכראה.
Die letztgenannte Auslegung wird dann bei Genesis Rabba (53:11) in extenso
Die blauen Blumen von Mekka 87
auch weil gemäß Dtn. 21,15-16 seine Handlung Ismael gegenüber und die
Bevorzugung Isaaks untersagt ist – Ismael ist und bleibt ein legitimer Erbe
Abrahams51 – und dies ist auch bei Josephus zu spüren,52 was auch im
nachfolgenden Abschnitt behandelt wird, – und gut ersichtlich wird bei der
Übersetzung Pseudo-Jonathans zu Gen. 21,14 „und er schickte sie fort“
(שׁ ְלּ ֶח ָה
ַ ְ )וַ ֽיmit „ ופטרה בגיטאund er reichte ihr die Scheidung ein.“53 In Gen.
25,1 wird zusätzlich berichtet: Abraham „nahm wieder ein Weib und ihr
Name war Ketura“ (טוּרה ֽ ָ שׁמָהּהּ ְק
ְ – ) ַויִּקַּח אִ שָּׁה וּdie Targume Pseudo-
Jonathan und Neofiti identifizieren sie mit Hagar, und bei Genesis Rabba
61,4 finden wir dann die Bemerkung „Rabbi Jehuda sagt, dies sei Hagar“ ( ר׳
)יהודה אומר זו הגרund in 60,14 wird sogar behauptet, Isaak habe seinen
Vater ersucht, Hagar zu heiraten (die Rabbiner legen natürlich populär-
etymologisch aus, warum Hagar, die jetzt als rechtgläubig geschildert wird,
fortan Ketura heißt; Pseudo-Jonathan a. l. mit einer Anspielung des Ver-
bums „ קטרbinden“: „ ושמא דקטירא ליה קטורא היא הגר מן שרריהund ihr
Name war Ketura, dies ist Hagar, die ihm vom Anfang an gebunden war“).54
Spuren dieser Auseinandersetzung sind zweifellos auch in der korani-
schen Erzählung feststellbar. So z. B. die häufigen Erwähnungen Isaaks und
Jakobs (z. B. 4,163; 6,84; 12,6,38; 19,49; 21,72; 29,27; 38,45) wirken im Lichte
der späteren islamischen Überlieferung etwas befremdend – warum über-
auch bei Genesis Rabba (a. a. O.), wo R. Azaria im Namen von Rabbi Levi מְ ַצחֵק
(mǝṣaḥēq) als „Erbe“ (d. h. mit Erbanspruch) auslegt, vgl. auch Raschbam a.l.,
der meinte, dass Ismael seines Alters wegen Isaak beim (Wett)Spielen sein Erbe
abnehmen könne, und Abarbanel, der meinte das Wort weise auf die Bevor-
mundung eines Erstgeborenen hin ()בבית כבן יחיד בבית ירושתו משתעשה.
53 Diese Übersetzung des Verbums שׁלַח ָ (√šlḥ) „(weg)schicken“ im Sinne von
„scheiden“ hier im Targum wurde wohl durch diese Semantik des II. (Piel) Stam-
mes im späteren Bibelhebräischen eingegeben: Vgl. z. B. in der nachpriester-
schaftlich eingefügte Episode Ex. 18, 1-12, Vers 2b, in dem über Zippora erzählt
wird: שׁלּוּחֶי ָה ִ שׁה אַחַר ֶ ֹ ’( אֵ שֶׁ ת מēšäṯ mōšäh ’aḥar šillūḥäyah) mit Dtn. 24,1-4, z. B. 1b
( ְוכָתַ ב לָהּ ֵספֶר כּ ְִריתֻ ת ְונָתַ ן ְבּי ָדָ הּ וְשִׁ ְלּחָהּ ִמבֵּית ֹוwǝ-ḵåṯaḇ låh sēp̄är kǝrīṯūṯ wǝ-nåṯan bǝ-
yåḏåh wǝ-šillǝḥåh mibbêṯô) sowie die vergleichbare Formulierung in Jes. 50,1
() ֵספֶר כּ ְִריתוּת אִ ְמּכֶם אֲ שֶׁר שִׁ ַלּחְתִּ י ָה.
54 Die Interpretation der Hagar als Ketura weist nicht nur hinsichtlich des ge-
brauchten Verbums interessante Parallelen mit Ex. 18 (vgl. die vorige Anm.) auf:
Die Zurückführung von Frau und Kind(ern), nach Zuwendung zur Gottheit
YHWH, entspricht der nachexilischen Programmatik von Esra 9-10 und Num.
25,6 ff. Eine Erinnerung hieran bewahrt wohl die islamische Überlieferung: Die
aus dem Jemen hergekommenen Stämme Ğurhum und Qaṭūra ( )قط ورةbesiedeln
Mekka zur Lebzeit Ismaels nach dem Tode der Hagar, vgl. Wüstenfeld, Chroniken,
Bd. iv (Leipzig, 1861), §6 XXX . Die abweichende Vokalisierung der hebräischen
Wiedergabe kommt durch die masoretische Vokalreduktion zustande (vgl. Anm.
63).
Die blauen Blumen von Mekka 89
haupt den zweitgeborenen Isaak nennen, wenn er keinen Anteil haben soll-
te? – besonders wenn man sich erinnert, dass bei der Opferung ( )ذبيحin
Sure 37, 101-103 der Name des zu opfereneden Kindes nicht erwähnt wird,
und dass dies Ismael gewesen sein soll, geht aus dem Koran selber nirgends
hervor und beruht lediglich auf Teilen der späteren islamischen Überlie-
ferung – wobei wohlgemerkt 112-113 eher auf Isaak hinweisen, eine An-
sicht, die auch von Ṭabarī geteilt wird. Allem Anschein nach hat Abraham
in der koranischen Überlieferung, wie z. B. in Genesis Rabba (55,7), beide
Söhne gleich lieb.55
Aus den vorhergehenden Ausführungen sollten drei Gegebenheiten
deutlich geworden sein: Der Islam hat keine eigenständige Erinnerung an
die Geschichten von Gen. 16 und 21 bewahrt, vielmehr, was wiederum sehr
deutlich aus den Varianten von ʿAlī und Mujahid hervorgeht, dürfte eine
alte Überlieferung um die Kaʿba in Mekka mit biblischem Stoff angefüllt
worden sein – die vielen islamischen Erzählungen um die polytheistische
Vorgeschichte der Kaʿba, also die Zeit vor Muhammad (und nach Ismael),
bewahren vielleicht teilweise hieran eine Erinnerung;56 die Version des Ibn
ʿAbbās macht zudem deutlich, dass die Hinzufügungen eine eindeutige
Ähnlichkeit und Abhängigkeit zu rabbinischen exegetischen Traditionen
(Midrasch) aufweisen, die islamische Erzählung folgt also und betreibt zu-
gleich rabbinische Auslegung – besonders auffallend sind die Überein-
stimmungen mit dem in westaramäischer Sprache verfassten Targum (mit
haggadischen Zusätzen) Pseudo-Jonathan, und nicht die uns vertraute bib-
lische Überlieferung: Die arabische Variante des Ibn ʿAbbās hätte eigentlich
nur diese aramäische Bibelübersetzung als Quelle nötig gehabt.57 Diese zu-
55 Vgl. auch hierzu M. Reiss, „Ishmael, Son of Abraham“ Jewish Bible Quarterly
30/4(2002), S. 254-255.
56 Vielleicht wird bei Diodorus Siculus eine Erinnerung hieran bewahrt in der
Bibliotheca historica iii. 44, 2 im arabischen Wohngebiet der Banizomines, das
ähnlich wie schon in Anm. 8 beschrieben wird, einen von allen Arabern für hei-
lig gehaltenen Tempel besaß: Ἱεϱὸν δ᾽ ἁγιώτατον ἵδϱυται, τιμώμενον ὑπὸ
πάντων Ἀϱάβων πεϱιττότεϱον.
57 Für die vorislamische Datierung dieses Targums s. jetzt B. P. Mortensen, The
Priesthood in Targum Pseudo-Jonathan [Studies in the Aramaic Interpretation of
Scripture 4] (Leiden, 2006), 2 Bde. In diesem Werk stellt die Autorin die These
auf, dass dieser Targum eine Anleitung für Priester sei und aus dem späten vier-
ten Jahrhundert n. Chr. stamme. Das Hauptargument der Vertreter einer nach-
islamischen Datierung ist die Behauptung, die Übereinkünfte mit der islami-
schen Überlieferung durch islamische Beeinflussung beweisen sollten, eine Mut-
90 Robert Kerr
maßung, die sich nur durch einen Zirkelschluß beweisen ließe: Als ob Jesaja 7:14
(græce) nachchristlich sein müsste, weil hier Jesu Parthenogenesis angeblich vor-
ausgesetzt sei. Wichtig ist zu bemerken, besonders bei der sicherlich in ihrer
jetzigen Fassung nachislamischen Schrift Pirqê de Rabbi Eliezer, dass rabbinisch-
jüdische Traditionsliteratur, besonders am Ende dieser Periode, Traditionen
überliefert anstatt sie zu erfinden; auch wenn die Pirqê hie und da scheinbar eine
implizite Polemik zum Islam betreibt; sie erfindet eigentlich keine neuen Tradi-
tionen, um dies zu tun, sondern deutet Überliefertes neu. Die Datierung rabbi-
nischer Texte anhand scheinbar islamischen Inhaltes ist zudem methodologisch
falsch: Warum sollte ein „polemisierender“ rabbinischer Text zudem eine islami-
sche Erneuerung implizit bestätigen? In casu Pseudo-Jonathans müsste darüber
hinaus bei einer nachislamischen Datierung gefragt werden, wer ihn zu jener
Zeit in eine westaramäische Mundart übersetzen konnte und wer ihn hätte lesen
können, also : was wäre der Sinn eines Targums in einer kaum noch verwendeten
Sprache? Wie dem auch sei, deutlich ist das Vorhandensein einer jüdischen
exegetischen Tradition von Hagar und Ismael im Ḥiǧāz , vgl. auch Anm. 28.
58 Dies wird auch u. a. durch die Orthographie der Patriarchennamen im Arabi-
schen deutlich, die als Transkriptionen syrischer Schreibungen aufgefasst werden
müssen, vgl. Kerr 2014 (=2012), § 5.8.
59 Vgl. A. Guillaume, The Life of Muhammad. A Translation of Ibn Ishaq’s Sirat
Rasul Allah (Oxford, 1950), S. 87 und Anm. 136. S. auch ausführlich bei
Muhammad Amin al-Baghdadi as-Suwaidi, ( سبائك الذھب في معرفة قبائل العربBeirut,
1921), S. 62, 78.
Die blauen Blumen von Mekka 91
sehen ist die Tatsache auch absonderlich: In den übrigen Büchern wird der
Stammvater Ismael nirgendwo erwähnt,60 nur „Ismaeliten“ (שׁ ְמעֵאלִים ְ ִ )יals
eine Art von biblischem Pseudo-Ethnonym61 ohne nähere Angaben tauchen
auf, eben wie solche Bezeichnungen in der Bibel des Häufigeren vorkom-
men, wie z. B. auch die „Hagariter.“62 Das Alte Testament, also die Hebrä-
ische Bibel, erlaubt uns nicht, eine Verbindung von Arabern mit Ismaeliten
oder gar Hagarenern herzustellen – selbst in 2 Makk. 5,8 ist nur von Ἀϱέτας
ὀ τῶν Ἀϱάβων τύϱαννος die Rede. Die ersten ausgearbeiteten Hinweise
einer Veränderung stammen von Josephus, dessen Auslegung gleich im
nächsten Abschnitt behandelt wird. Eine Bestätigung dieser Sicht aber kann
aus dem Targum Jonathan entnommen werden: Im eschatologischen 60.
Kapitel des Buches Jesaja, worin beschrieben wird, wie fremde Völker ihre
Reichtümer vor Gott in Zion bringen werden, lesen wir im 7. Vers über die
Wüstenbewohner:
ַל־רצוֹן ִמזְ ְבּחִי וּבֵית
ָ שׁ ְרתוּנְֶך יַעֲלוּ ע
ָ ְ כָּל־צ ֹאן ֵקדָ ר י ִ ָקּבְצוּ לְָך ֵאילֵי נְבָיוֹת י
ְאַרתִּ י ֲא ָפ ֵאר׃
ְ תִּ פ
„Alle Schafe von Kedar werden sich zu dir versammeln, die Widder
Nebajots werden dir dienen; sie werden als angenehmes Opfer auf
meinen Altar kommen; und ich will das Haus meiner Herrlichkeit
noch herrlicher machen.“
Nebajot ( – נְבָיוֹתnǝḇāyōṯ)63 erinnert hier an den erstgeborenen Sohn Ismaels,
dessen Geburt in Gen. 25,13 erwähnt wird. Targum Jonathan aber, anhand
60 Abgesehen von der Zusammenfassung in 1 Chr. 1. Die als Ismael in 2 Kön. 25, 23,
25; 1 Chr. 8, 38; 9,44; 2 Chr. 19,11; 23,1; Esra 10,22 und Jer. 40-41 genannten
Personen stehen hier natürlich außer Betracht.
61 Ri. 8,24; II Samuelis 17,25; 1 Chr. 2, 12; 27,30; Ps. 83, 6. Was die Hebräische Bibel
hiermit meint, ist ebenso unklar wie bei anderen in diesem Buch erwähnten
Pseudo-Ethnonymen wie z. B. „Kanaaniter.“ Während „Hagariter“ und „Saraze-
nen“ offenbar ursprünglich Stammesnamen sind (vgl. die Ἀγϱαῖοι und Σαϱακη-
νοί jeweils Strabon, Geog. xvi.4,2; Plinius, Nat. hist. vi.154,161; Ptolemäus, Geog.
v.19,2) „... ‚Ishmaelites‘ never had been; it had never been used by pagan writers,
and was an appellation or characterisation whose meaning was derived from an
interpretation of Genesis“ (F. Millar, „Hagar, Ishmael, Josephus and the Origins
of Islam“ Journal of Jewish Studies 44 (1993), S. 41). Hieronymus scheint der erste
gewesen zu sein, der im Stammesnamen Hagariter die Nachkommen der Hagar
sah, s. zu Anm. 136.
62 1 Chr. 5, 10, 19, 20; 27, 31; Ps. 83, 6.
63 N.B.: die Septuaginta bewahrt eine vormasoretische Orthographie ohne Vokal-
reduktion: Ναβαιωϑ.
92 Robert Kerr
64 Der ganze Vers in dieser Übersetzung lautet: כרי נְבָט ֵ ִכָל עָן עַרבָאֵ י י ִתכַנשָן ְלגַוִיך ד
שבַח׃
ַ י ְשַ ְמשוּנִיך י ִתַ סקוּן ל ְַר ְעוָא עַל ַמד ְבחִי ֻובֵית תוּשבַחתִ י ְא
65 So auch bei den anderen alttestamentlichen Belegen dieses Ortsnamens: Gen.
20,1; 25,18 (nur Onqelos, Ps.-J. ;)חלוצאOnq.: 1 Sam. 15, 7; 27, 8. Man erinnere
sich auch der oben angegebenen Übersetzung Saadia Gaons dieser Stelle.
66 Was aber nicht richtig sein kann, da das hebräische Wort שׁ ְפחָה ִ (šip̄ḥāh) „Kebs-
Die blauen Blumen von Mekka 93
weib“ hier sowie bei der ähnlichen Erzählung Gen. 29-30, etwas im Besitze der
Frau (vgl. 29, 24, 29) zu bezeichnen scheint, die dann auch über die eventuelle
Frucht ihres Leibes verfügt, siehe auch etwa 30,1-3 mit einer ähnlichen Wortwahl
zu Gen. 16. Dass Hagar ein Geschenk des Pharao an Sarai gewesen sein soll, ist
schon im sog. in aramäischer Sprache verfassten „Genesis Apocryphon“ (1 Q 20)
aus Qumran bezeugt (xx 30-32): Als der Pharaoh Zoan, der Königs Ägyptens,
erfährt, dass Sara(i) die Gattin Abra(ha)ms (und nicht seine Schwester) ist, gibt
er ihr Schätze sowie die Hagar, und dies alles stattet er dann Abram zurück ( ̊ואת̊י̊ב
קודמיהא ואף להגר... )לי̇ לש̊ר̇י ויהב לה̇ מלכא̊ כ̊]סף וד[הב ]ש[ג̇יא ולבוש שגי די ב̇ו̇ץ̇ וארג̇ו̊א̇ן.
67 Muʿǧam al-buldān, Ausgabe F. Wüstenfeld, Bd. III (Leipzig, 1868), S. 34. Aus den
übrigen biblischen Belegen Parans wird eine solche Verortung verständlich: Gen.
14, 6; Num. 10, 12; 12, 16; 13, 3, 26; Dtn. 1, 1; 33, 2; 1 Sam. 25, 1; 1 Kön. 11, 18;
Habakuk 3, 3 – vgl. auch Anm. 100.
68 Abū al-Fidā’ Ismā’īl ibn Kaṯīr, Tafsīr al-Qurʾān al-‘Aẓīm (Ausgabe: Beirut, 1990),
Bd. IV, S. 14.
94 Robert Kerr
späte Erfindung des werdenden Islams gewesen wäre.69 Auch im Licht der
übrigen alttestamentlichen Belege paßt √mṣr hier eher auf eine Bezeichnung
eines Ortes bzw. Stammes Arabiens, als dass es auf Ägypten hinweist.
Interessant in dieser Hinsicht ist die Erweiterung des Targum Pseudo-
Jonathan zu Gen. 21, 21 („Und er wohnte in der Wüste Paran, und seine
Mutter nahm ihm ein Weib aus Ägypten“): ויתיב במדברא דפארן ונסיב איתא
– ית ע]ד[ישא ותרכה ונסיבת ליה אימיה ית פטימא אתתא מארעא דמצריםalso die
aus „Ägypten“ (√ > מצריםmṣr) stammenden Gattinnen, die seine Mutter für
Ismael nahm, hießen ‘Aïšā und Pāṭīmā – was in den in nachislamischer Zeit
verfaßten Pirqê de Rabbi Eliezer weiter ausgebaut wird: Aïscha wird eine
Moabiterin genannt (keine Ägypterin!), und Ismael reichte ihr, weil sie
Abraham, der auf Besuch war (s.o.), nicht mit Brot und Wasser bediente,
die Scheidung ein, was Fatima hingegen tat und so Abrahams Segen für
Ismaels Haus gewann.70 Hier muss daran erinnert werden, dass, obwohl das
letztgenannte Werk eindeutig nachislamisch ist, und hie und da eine ge-
wisse Polemik zum Islam zu betreiben scheint, sicherlich alte rabbinische
Überlieferungen bewahrt, eine Tatsache, die durch den Targum Pseudo-
Jonathan seine Bestätigung findet – ein, wie schon erwähnt, vorislamisches
Werk (vgl. Anm. 57). Ob im Licht dieser Gegebenheiten der überlieferten
Biographie Muhammads historische Gültigkeit zugeschrieben werden darf,
wird zweifelhaft (vgl. Anm. 4).
Hier muss zudem bemerkt werden, dass, obwohl die hier aufgeführten
Zeugnisse großenteils den rabbinischen Überlieferungen entnommen wor-
den sind, diese Gegebenheit sicherlich nicht so gedeutet werden kann, dass
solche Traditionen bei Christen, sicherlich den Judenchristen, also bei den
anfangs erwähnten Nazoräern und Ebioniten, unbekannt gewesen seien.
69 Die gilt auch für den Briefwechsels des Kaisers Leo mit dem Kaliphen ʿUmar,
auch wenn er apokryph ist, der sich nur über die arabische Heiligung der Kaʿba ,
aber nicht über Abrahams Beziehung zum Ort zu wundern scheint, vgl. J.-M.
Gaudeul, „The Correspondence between Leo and ’Umar: ’Umar’s Letter Re-
discovered?“ Islamochristiana 10(1984), S. 127-128.
70 Eine Erinnerung an die hier geschilderte Episode findet sich auch in der isla-
mischen Überlieferung an die erste Frau Ismaels ’Umāra, eine Tochter des Sād b.
Usāma des Ğurhum Stammes, die Abraham, als er zu Besuch kommt, in Ismaels
Abwesenheit unfreundlich aufnimmt; bei seiner Wiederkehr zeigt Ismael ihr auf
Befehl Abrahams die Schwelle seines Hauses, schickt sie zu ihrer Familie zurück
und heiratet eine Ri’la bzw. Za’la, eine Tochter des Ğurhum-Stammeshauptes
Muḏāḏ b. ’Amr. Bei seiner Abreise segnet Abraham Ismaels Haus - vgl. Wüsten-
feld, Chroniken, Bd. IV (Leipzig, 1861), §6.
Die blauen Blumen von Mekka 95
Wichtig hier ist die literarische Evolution der Figur Abrahams:71 In der
Hebräischen Bibel ist Abraham eine fehlerhafte Person mit menschlichen
Schwächen, die als einziger Monotheist in einer polytheistischen Welt sich
durchzusetzen versucht; als sein Leben gefährdet ist, ist er sogar bereit, das
Leben der Sarah aufs Spiel zu setzen (vgl. Gen. 12, 12-13; 20, 1-11).72 Im
71 Hier sollte mit aller Deutlichkeit erwähnt werden, dass der Roman um Abraham
(nach)exilischen Datums ist. Seit den bahnbrechenden Arbeiten Th. L. Thomp-
sons und J. Van Seters in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist
deutlich, dass hierin keine authentischen Erinnerungen an eine historische Figur
des zweiten Jahrtausends v. Chr. zu finden sind. Nebenher bemerkt ist die Vor-
lage für Abraham und seine Reise der neubabylonische König Nabonid, der seine
Hauptstadt verließ, Abschied nahm von seiner Mutter – einer Priesterin des
Mondgottes Sîn in Ur (der Chaldäer) – und seiner Schwester – Priesterin dessel-
ben in Harran –; er reiste danach in die arabische Wüste, um seine neue Haupt-
stadt in der Oase Taima zu gründen, wo er dann auch dreizehn Jahre lang
verblieb. Die Verortung Abrahams in der arabischen Wüste ist also kein Zufall,
auch wenn in der biblischen Überlieferung das Ziel seiner Reise immer das Land
„Kanaan“ war.
72 Überhaupt ist der erste alttestamentlicher Text, der etwas über Abraham aussagt,
der also mehr als eine bloße Nennung seines Namens bietet, Ezechiel 33, 23-26,
worin die eingeborenen Judäer, die den Ansturm der Babylonier überlebt hatten,
als seine wahren Nachkommen Anspruch auf dieses Land erheben. Aber erst in
der spätexilischen Periode hat dann Deuterojesaja diese gemeinsame Abkunft als
Schlüssel der jüdischen Identität in der Diaspora umgedeutet. Aus der neueren
Forschung geht also deutlich hervor, dass die Patriarchen den älteren Pentateuch-
strata größtenteils unbekannt waren und mindestens seit R. Kesslers Dissertation
(Die Querverweise im Pentateuch: Überlieferungsgeschichtliche Untersuchung der
expliziten Querverbindungen innerhalb des vorpriesterschriftlichen Pentateuchs
[Heidelberg, 1972], S. 180-327, bes. S. 314-327) ist deutlich geworden, dass die
Verweise auf Genesis in den vorpriesterschriftlichen Teilen der übrigen Bücher
der Tora sehr beschränkt sind – besonders auffallend ist die Abwesenheit eines
deutlichen Hinweises auf Genesis im Deuteronomium, das aber den Auszug aus
Ägypten als bestimmendes Ereignis Israels kennt – es handelt sich um sekundäre
harmonisierende Einfügungen. D. h. die Genesiserzählungen waren ursprünglich
unabhängig von denen um Mose bzw. den Auszug aus Ägypten entstanden und
diesen Autoren nicht bekannt. So wurde z. B. das Versprechen der Gottheit an
Mose in Ex. 32, 13 seit langem als ein sekundärer Zusatz bei der Erzählung über
das goldene Kalb erkannt. Andere späte nichtpriesterschriftliche Hinzufügungen
wie Num. 14,16 (שׁר־נִשְׁ בַּע ָלהֶם
ֶ ָאָרץ ֲא
ֶ ) ִמ ִבּלְתִּ י י ְכֹלֶת י ְהוָה ְל ָהבִיא אֶ ת־ ָהעָם ַהזּ ֶה ֶאל־הsowie
Dtn. 26,5 setzen höchstens ein allgemeines Wissen eines Versprechens YHWHs
an patriarchalische Vorväter voraus. Vgl. hierzu N. Lohfink, Die Väter Israels in
Deuteronomium, Göttingen, 1991, S. 34 und E. Blum, „Die literarische Ver-
96 Robert Kerr
Neuen Testament aber fängt Abraham an, die Konturen eines archetypi-
schen Gerechten zu bekommen (vgl. Römerbrief 4, 18-24). Im Koran da-
gegen wird Abraham mitsamt allen Propheten als fehlerfrei betrachtet –
Abrahams Verstand beweist die wahre Ein-heit Gottes (6, 74-79) und er
zweifelt nie an Gottes Willen oder an seine Güte (vgl. z. B. 37, 83-113). Das
koranische Bild Abrahams setzt also das Christliche voraus bzw. stellt eine
Weiterentwickelung dessen dar.
Ein wichtiger Beleg, der zeigt, dass auch den (frühen) Christen solche
Überlieferungen geläufig waren, stammt von Paulus, der natürlich aus
seinem früheren Leben als Saul mit jüdischen Traditionen bestens vertraut
war (der jüdisch-griechische Doppelname war bei Juden in der Spätantike
durchaus üblich). Hier in der wohl frühesten erhaltenen christlichen Schrift,
im Paulusbrief an die Galater,73 ist 4,21-26 für das behandelte Thema von
entscheidender Bedeutung, besonders der undeutliche und vielbesprochene
erste Teil von Vers 25:
Τὸ δὲ Ἁγὰϱ Σινᾶ ὄϱος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀϱαβίᾳ, συστοιχεῖ δὲ τῇ νῦν
Ἰεϱουσαλήμ, δουλεύει γὰϱ μετὰ τῶν τέκνων αὐτῆς74
bindung von Erzvätern und Exodus. Ein Gespräch mit neueren Endredaktions-
hypothesen,“ in: J. C. Gertz, K. Schmid und M. Witte (Hg.), Abschied vom
Jahwisten: Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion, Berlin, 2002,
153-154. Erst in der Priesterschrift wird versucht, aus diesen verschiedenen
Überlieferungen eine Einheitserzählung zu gestalten: So finden sich z. B. in den
priesterschriftlichen Erzählungen über Mose viele Querverweise zu P-Material in
Genesis.
73 Die Einleitung dieses Briefes (1,1-10) scheint vorauszusetzen, dass die Christen-
gemeinde in Galatien schon früher durch Paulus belehrt wurde, jedoch in der
Zwischenzeit unter den Einfluß von Juden-Christen gekommen waren (d. h. in
seinen Worten der „Jerusalemer Lehre,“ vgl. 1,17; 4,25 συστοιχεῖ δὲ τῇ νῦν
Ἰεϱουσαλήμ) und sie ihn deshalb der Lüge bezichtigten. Paulus will deutlich
machen, er habe nicht gelogen (1,20 ὅτι οὐ ψεύδομαι) und betreibt daher eine
gezielte Polemik gegen die toratreue Irrlehre.
74 So Nestle-Aland (abd folgend), vgl. B. M. Metzger, A Textual Commentary on the
Greek New Testament (London-New York, 1971), S. 596. Vgl. auch die Kom-
mentare a. l. (z. B. Cambridge Bible zur Stelle; J. B. Lightfoot, Saint Paul’s Epistle
to the Galatians [London, 81884], S. 180 f., 192 f.; H. D. Betz, Galatians: A
Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia [Hermeneia; Philadelphia,
1979], S. 244 f.; J. D. G. Dunn, A Commentary on the Epistle to the Galatians
[Black’s New Testament Commentaries; London, 1993], S. 250-252). Hier werden
auch die Probleme behandelt, die manche dazu verleitet haben τὸ δὲ γὰϱ Σινᾶ
ὄϱος ἐστὶν ἐν τῇ Ἀϱαβίᾳ „denn der Berg Sinai ist in Arabien“ mit ℵCFG, Ori-
Die blauen Blumen von Mekka 97
Wobei die Übersetzung Luthers „denn Hagar heißt in Arabien der Berg
Sinai und kommt überein mit Jerusalem, das zu dieser Zeit ist und dienstbar
ist mit seinen Kindern“ grammatikalisch zu bemängeln ist, und daher die
Geses vorzuziehen ist:75 „Denn Hagar ist der Sinai Berg in Arabien ...“ Gese
identifiziert den ursprünglichen Berg Sinai, den Berg der Theophanie also,
anhand einer kritischen Lektüre der biblischen Texte76 und außerbiblischen
Quellen, auch unter Hinweis auf gängige jüdische Ortslegenden (a. a. O. S.
61) als den Berg Hala l-Badr im Gebirge Harrat ar-Rha in nördlichen Ḥiǧāz,
in der Nähe der schon erwähnten Stadt Hegra. Die heutige Identifizierung
des Sinai mit dem Ğabal Musa in der gleichnamigen Halbinsel ist relativ
jung und wohl christlichen Ursprungs:77 In der Mitte des vierten Jhs.
erbaute der syrische Mönch Julian Saba eine Kapelle auf dem Berggipfel,78
das berühmte Katharinenkloster an seinem Fuße wurde dann erst ein Jahr-
hundert später, 530 n. Chr., gegründet.
Die Verbindung des YHWH-Kultes mit der arabischen Wüste ist nicht
von ungefähr und berührt zugleich die komplexe Problematik der Ur-
sprünge seiner Verehrung, auch in der biblischen Überlieferungsgeschichte.
Die Frage ist, ob dieser Kult aus dem Süden nach Israel kam; die Antwort
wiederum hängt vom Alter der diesbezüglichen biblischen Überlieferungen
ab: Die Motive einer exogamen Verschwägerung der Gründerfigur Mose,
noch dazu mit dem Priester der für unversöhnlich gehaltenen Midianiter,
wäre kaum in exilisch-nachexilischer Zeit zu erklären.79 Für eine Vermitt-
lung des YHWH-Glaubens durch im Süden beheimatete Midianiter bzw.
Keniter sprechen unter anderem die Abwesenheit dieses Gottes, auch be-
züglich des Onomastikons, in syro-palästinensischen Texten der (Spät-)
Bronzezeit (etwa in den Amarna-Briefen, den Texten aus Ebla, Emar und
bes. Ugarit)80 nebst den Midianitertexten der Hebräischen Bibel (etwa Ex.
32, vgl. Anm. 72) auch jene, die von der Theophanie eines aus den Berg-
regionen des Südens zum Kampf herkommenden YHWH handeln, wie das
aus dem Debora-Lied (Seir/Edom/Sinai), Habakuk 3,3.7 (Teman/Gebirge
Paran/Kuschan/Midian) und Dtn. 33,2 (Sinai/Seir/Gebirge Paran) hervor-
geht. In dieser Hinsicht stellte M. Leuenberger fest, dass „die ältesten Belege
für YHWH einen südpalästinensischen Ursprung im Bereich Edoms und
der Araba indizieren.“81 Obwohl ein hohes Alter dieser Überlieferung, be-
sonders hinsichtlich des Gebrauchs von jungen nachpriesterschriftlichen
79 Vgl. E. Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch (Berlin, 1990), S. 142f.
mit weiterführender Literatur. Zu Ex. 18 hier vgl. auch V. Haarmann, YHWH-
Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alt-
testamentlichen Überlieferungen (Zürich, 2008), S 59-94. In der nachpriester-
schaftlichen Fortschreibung vom P-Text Num. 25,1-5, sieht man in 6ff. eine im-
plizite Beurteilung der Verschwägerung des Mose mit Midian, was der genuinen
P-Überlieferung selber fremd ist (vgl. E. A. Knauf, Midian. Untersuchungen zur
Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr.
[Wiesbaden, 1988], S. 164).
80 Für eine südliche Lokalisierung sprächen aber die ägyptischen Listen der
„Schasu-Länder“: die Ältere, nur zum Teil erhaltene, stammt aus einem in Soleb
befindlichen Tempel Amenophis III. (Ende des 15. Jhs. v. Chr.) und die Jüngere
aus einem Tempel Ramses ii. (vgl. M. Weippert [Hg.], Historisches Textbuch zum
Alten Testament [Göttingen, 2010], S. 183f.; O. Keel, Die Geschichte Jerusalems
und die Entstehung des Monotheismus Teil 1 [Göttingen, 2007], S. 200), die unter
der Rubrik des „Schasu-Landes Seir“ auch ein „Schasu-Land Jahwe“ (t3 š3sw
jhw(3)) nennen, ohne aber dass dessen Ortung genauer zu bestimmen wäre.
Beim letzten liegt wohl der Gottesname zugrunde, und hier kann sowohl ein
Toponym wie auch eine Gottheit gemeint sein (vgl. Knauf, Midian, S. 46f.).
81 M. Leuenberger, Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge
zur Gottesvorstellung im alten Israel (Tübingen, 2011), S. 17; vgl. auch ders.,
„YHWHs Herkunft aus dem Süden. Archäologische Befunde – biblische Überlie-
ferungen – historische Korrelationen,“ in: Zeitschrift für die alttestamentliche
Wissenschaft 122 (2010), S. 1-19 mit weiteren Literaturangaben.
Die blauen Blumen von Mekka 99
Texten wie Ex. 18, in der jüngsten Forschung in Frage gestellt wird,82 muss
man daran erinnern, dass die fraglichen Texte keine religionshistorischen
Dokumente sind.83 Jedenfalls kann aber die Identifizierung des Sinai mit
einem bestimmten Berg, also die oben angesprochene Gleichsetzung Geses,
nicht während der israelitischen Königszeit geschehen sein, da solches die
narrative Verknüpfung der Auszugsüberlieferung mit der des Gottesberges
voraussetzt.84 Dies aber sagt nichts aus über die ursprüngliche Heimat des
YHWH.
Eine archäologische Bestätigung etwa der theophanen Geographie des
Debora-Liedes, also für einen aus dem Süden, folglich aus Arabien, herkom-
menden kampfbereiten YHWH, finden wir bei den Inschriften aus der
zwischen Kadesch Barnea und Elath gelegenen Karawanserei Kuntillet ‘Ar-
ğūd85 aus dem achten Jahrhundert v. Chr. Auf zwei der hier gefundenen
Vorratskrügen finden sich die Segens- bzw. Grußwünsche mit Nennung
von „YHWH von Samaria“ ( ;יהוה שמרןKAgr [9]:8/Pithos A)86 einmal,
Ašera.“ Hier und im Folgenden bleibt undeutlich, was mit „Ašera“ angedeutet
wird – der Verfasser teilt die Ansicht, dass es sich hier um die Gemahlin YHWHs
handeln muss.
87 אמר אמריו אמר לאדני חשלם את ברכתך ליהוה תמן ולאשרתה יברך וישמרך ויהי עם
[כ...][כ...] אד]נ[יÜbersetzung: „Es spricht Amarjaw: ‚Sprich zu meinem Herrn:
Geht es dir gut? Ich segne dich bei/vor YHWH von Teman und seiner Aschera.
Er möge segnen und dich behüten und mit meinem Herrn sein ...‘“ Die
Schreibung tmn, also ohne Diphthong, deutet auch auf die nördliche Herkunft
dieser Texte.
88 [ונתן לה יהו כל בבה...][כל אשר ישאל מאש חנן...][ וליהוה התמן ולאשרתה...]א
Übersetzung: „... bei/vor YHWH von dem Teman und seiner Aschera ... was
immer er von jemandem erbitten wird, er gewährt es ... und YHWH gibt ihm
nach seiner Absicht.“
89 Vgl. J. A. Emerton, „New Light on Israelite Religion: The Implications of the
Inscriptions from Kuntillet ‚Arjud‘“ Zeitschrift für die alttestamentliche Wissen-
schaft 94 (1982), S. 2-20, bes. S. 10: „... the idea of Yahweh’s connexion with
Teman would be relevant to a blessing on someone who hoped for divine
protection on the journey.“
90 Vgl. auch den Aufenthalt Elias in der Wüste I Regum 19, 3, 8. Diese Stellen sieht
L. E. Axelsson (The Lord Rose up from Seir. Studies in the history and traditions of
the Negev and Southern Judah [Lund, 1987], S. 62f., 181) als „literary evi-
dence“ für Wallfahrten in der Königszeit vom Norden nach Süden. S. auch Anm.
93.
91 Wahrscheinlich ist, dass die Erzählung des Auszugs aus dem Ägypterlande, ge-
führt durch den Gott YHWH, den identitätsstiftenden Mythos des Nordreiches
darstellt – vgl. Blum, „Der historische Mose,“ S. 42-49. D.h. „dieser YHWH-Kult
durch eine „Exodus-Gruppe,“ die das Gelingen ihres „Auszuges“ diesem Gott
zuschrieb, an das sich in Kanaan konstituierende Israel vermittelt wurde“ (ders.,
Die blauen Blumen von Mekka 101
a.a.O. S. 60).
92 „In der judäischen Traditionsüberlieferung erklärt sich aus dem „traditio-
nell“ konkurrierenden Gegenüber von Sinai und Zion das Zugleich von Rezep-
tion und Abgrenzung im Blick auf die Gottesbergtradition nach dem Ende des
Nordreiches. Einen – letztlich gescheiterten – Versuch der „Distanzierung“ bildet
die Ersetzung des alten Sinai-Namens durch „Horeb“ in der im weitesten Sinne
dtn/dtr Überlieferung“ (E. Blum, „Der historische Mose“ S. 59f.). Der Verlust der
arabischen Tradition kam dann dadurch zustande, wie Gese a.a.O. 56 beschrieb,
„als heiliger Ort durfte außerdem nichts neben dem Zion bestehen, so daß im
Judentum die Frage nach der Lage des Sinai einen rein historischen Charakter
hatte.“
93 Ἀϱαβία ist im Neuen Testament nur zweimal belegt, nebst der Passage hier auch
in der ungewöhnlich langen autobiographischen Erzählung Pauli über die Ge-
schehnisse um und nach seiner Bekehrung Gal. 1,11-2,21 – in der er deutlich
machen will, dass er die Evangeliumsbotschaft nicht aus menschlichem Quell,
sondern als Offenbarung Jesu Christi selber empfangen habe (vgl. 1,11-12) – das
verdeutlicht er in Vers 17 … οὐδὲ ἀνῆλϑον εἰς Ἱεϱοσόλυμα πϱὸς τοὺς πϱὸ ἐμοῦ
ἀποστόλους, ἀλλὰ ἀπῆλϑον εἰς Ἀϱαβίαν, καὶ πάλιν ὑπέστϱεψα εἰς Δαμασκόν.
Undeutlich bleiben seine Beweggründe für dieses εὐϑέως sowie sein Ziel und
sein Dauer, es wird beispielsweise nirgendwo in der Apostelgeschichte erwähnt
(9-15; 2 Kor. 11,32-33 beschreibt nur die Flucht des Paulus aus Damaskus), und
daher in der Kommentarliteratur verschiedentlich beurteilt (vgl. M. Hengel,
102 Robert Kerr
„Paul in Arabia,“ in: Bulletin for Biblical Research 12 (2002), S. 47-66 mit Lit.; ob
Paulus hier möglicherweise missionarisch tätig war, wie Hengel [S. 58-66] ver-
mutet, bleibt eine Mutmaßung). Wie aber N. T. Wright („Paul, Arabia, and
Elijah,“ in: Journal of Biblical Literature 115, S. 683-692) überzeugend argu-
mentiert, steht S/Paulus hier für Elias: Saulus hatte in seinem Eifer für den Gott
Israels anfangs den Elias von 1 Kön. 18 nachgeahmt: Wie jener die Propheten
Baals tötete, so verfolgte Saulus die Christen (Gal. 1, 13-14, auch z. B. Philemon 3,
5-6); Paulus dagegen ahmt den Elias von 1 Kön. 19 nach – vgl. Römer 11, 1-5, bes.
Vers 3, ein Zitat von 1 Kön. 19, 10 (wiederholt in 14). Also Pauli Rückzug in
dasselbe Gebiet (19, 3, 8) zeigt (vgl. Anm. 90 oben), dass Paulus sehr wohl diese
Tradition des Gottesberges im Süden kannte, auch weil er in der hier bespro-
chenen Passage aus Galater 4 konsequent damit abrechnet, ein Abschnitt der
auch in 1, 17 kontextualisiert ist. Bei beiden kam die Wende auf dem Gottesberg
Sinai~Horeb (vgl. die vorige Anm.), wonach bei der Rückkehr aus der Wüste
nach Damaskus (1 Kön. 19,15~Gal. 1, 17), Elias den Hasael zum König über
Syrien, und Jehu, den Sohn Nimsis, zum König über Israel gesalbt hatte, so
wurde Paulus zum Herold eines Gesalbten, der auch für einen König gehalten
wird.
Die blauen Blumen von Mekka 103
94 Die Vokalisierung des masoretischen Textes ( ְסנֶהsǝnäh) ist hier fehlerhaft und
bedeutet nicht „Busch“, vgl. L. Seeligmann, „A Psalm from Pre-Regal
Times“ Vetus Testamentum 14 (1964), S. 75-92. סנהist eine Nebenform *Sinā/
*Sīnā zu Sīnaj vergleichbar mit שרי/( שרהSarah vs. Sarai – Gen. 17,15, vgl. Anm.
133) und „snh ist dann der späteren Einfügung des y in sny entgangen, aber dafür
104 Robert Kerr
Ṣǝḇåjōṯ, der auf dem Berge Zion wohnt“ in Jesaja 8, 18, also eine „implizite
Konkurrenz zwischen Sinai und Zion“95 der jeweiligen YHWH-Kulte, die
für die Königszeit keine historische Aporie bedeutet. Hier arbeitet Paulus
diesen alten Gegensatz aus und deutet ihn fortschreibend um, um so deut-
lich zu machen, dass seiner Ansicht nach Christen keine Nachkommen
Ismaels, also einer Sklavin – auch des Gesetzes – sind, etwas, das für Paulus
mit der alten Tradition des Gottesberges im Süden gleich ist, sondern die
Nachkommen des versprochenen Sohnes (v 31: Διό, ἀδελϕοί, οὐκ ἐσμὲν
παιδίσκης τέκνα ἀλλὰ τῆς ἐλευϑέϱας, also κατὰ Ἰσαὰκ ἐπαγγελίας τέκνα
ἐστέ). Die Worte der Sarah von Gen. 21,10 (LXX) in Vers 30 frei zitierend,
macht Paulus den Galatern deutlich, wer sich an das Gesetz klammere, ge-
höre zu Ismael und sei damit von Christus verstoßen, ein Thema, das im
nachfolgenden Kapitel dann vertieft wird (z. B. 2-4: Ὅτι ἐὰν πεϱιτέμνησϑε
Χϱιστὸς ὑμᾶς οὐδὲν ὠϕελήσει. Μαϱτύϱομαι δὲ πάλιν παντὶ ἀνϑϱώπῳ πεϱι-
τεμνομένῳ ὅτι ὀϕειλέτης ἐστὶν ὅλον τὸν νόμον ποιῆσαι. Κατηϱγήϑητε ἀπὸ
Χϱιστοῦ οἵτινες ἐν νόμῳ δικαιοῦσϑε, τῆς χάϱιτος ἐξεπέσατε usw.96). Hier
also stellt Paulus den Unterschied zwischen dem Halten des Gesetzes und
dem Glauben (an Christus) – also den Kern seiner Theologie dar in Bezug
auf Soteriologie, die diagnostische Funktion des Gesetzes und die Rechtfer-
tigung nur durch den Glauben – als eine Frage der legitimen Abstammung
von Abraham (vgl. auch Römer 4,13: Οὐ γὰϱ διὰ νόμου ἡ ἐπαγγελία τῷ Ἀβ-
ϱαὰμ ἢ τῷ σπέϱματι αὐτοῦ, τὸ κληϱονόμον αὐτὸν εἶναι κόσμου, ἀλλὰ διὰ
δικαιοσύνης πίστεως) – die Frage nach der wahren Nachkommenschaft Ab-
rahams war schon in den Evangelien, sowohl bei den Predigten des Täufers
über die Reue (vgl. Matthäus 3,9=Lukas 3,8) wie auch bei der Verkündigung
Jesu (z. B. Matthäus 8, 1-12; Lukas 13, 16, 28; 16,19-30; 19,9; s. auch Anm.
20) heiß umstritten.
Inzwischen sollte jedenfalls deutlich sein, dass Arabien, also das Gebiet
der Nabatäer bis zum Ḥiǧāz keinesfalls terra incognita war. Von hier aus
dem Gebiet Paran, wo einst Abraham Hagar und Ismael zurückgelassen ha-
ben soll, stammen die ältesten Überlieferungen der Theophanie am Gottes-
berg. Nebst den von Gese angedeuteten jüdischen Ortslegenden zeigen die
theologischen Ausführungen Pauli die diesen Überlieferungen und dieser
Gegend zukommende Bedeutung. Arabien machte um die Zeitenwende
sicherlich einen Teil des dem Abra(ha)m gelobten Landes aus, wie aus ei-
nem der Qumran-Texte, aus dem sog. „Genesis Aprocryphon“ (1Q20) deut-
lich hervorgeht. In Kolumne XXI (frei nach Gen. 13,14-18), nach seiner
Trennung von Lot, der dann ein Haus für sich in Sodom kaufte, erschien
dem auf dem Berge Bethel wohnenden Abraham Gott in einem Traum (8ff.)
und sagte:
„Geh hinauf zu Ramat-Hazor, das nördlich von Bethel, dem Orte wo
Du jetzt wohnst, gelegen ist. Hebe Deine Augen auf und schaue nach
Osten, nach Westen, nach Süden und nach Norden, und schaue auf
das ganze Land, das ich Dir und Deinen Nachkommen für alle Zeit
gebe.“
Dies tat Abraham am folgenden Tag, und von Ramat Hazor aus sah er das
ganze gelobte Land:
„Von Ägyptens Fluß bis zum Libanon und Senir, und vom großen
Meere bis nach Hauran, und das ganze Land Gebal bis nach Kadesch
und die Gesamtheit der großen Wüste, die östlich von Hauran und
Senir ist, bis zum Euphrat.“97
Hiernach bereist Abraham, auf Befehl Gottes, die Grenzen dieses ganzen
Gebietes (17-19):
„Ich reiste den Euphrat ostwärts bis zum erythräischen Meere, und
bereiste das erythräische Meer entlang bis zur Meereszunge des
Roten Meeres, der vom erythräischen Meere hinausragt. Ich ging
dann um den Süden bis ich den Fluß Gihon erreichte, und dann kam
kam ich unversehrt daheim an,“98
97 ואתחזי לי אלהא בחזוא די ליליא ואמר לי סלק לך לר̇מת חצור די על שמאל בית אל אל אתר די
אנתא יתב ושקול עיניך וחזי למדנחא ולמערבא ולדרומא ו̇לצפונא וחזי כול ארעא דא מן נהר מצרין
עד לבנן ושניר ומן ימא רבא עד חורן וכול ארע גבל̇ עד קדש וכול מדברא רבא די מדנח חורן ושניר
עד פורת.
98 סחרת ליד פורת עד די דבקת לימא שמוקא למדנחא והוית אתה לי ליד ימא שמוקא עד די דבקת
106 Robert Kerr
ללשן ים סוף די נפק מן ימא שמוקא וסחרת לדרומא עד די דבקת גחון נהרא ותבת ואתית לי לביתי
בשלם.
99 בעשת ̇רא דקרנין ̇ וה ̇ווא ̇מחין ובזין מן פורת נהרא ומחו לרפאיא די
̇ וסלקו ארחא די מדברא
ש ̇וה הקריות לחוריא די בטורי גבל עד דב̇ ̇ק ̇ו לאיל פרן די ̇ [ולזומזמיא די בעמן ולאימיא ]די ב
-ות ̇ב ̇ו ̊ו ̊מ ̊ח ̊ו ל
̇ מדבר ̇א
̇
100 Nur in 1 Kön. 18, 11 ließe Paran sich möglicherweise mit der im südlichen
Sinai befindlichen Oase Fairān ( )الف يرانidentifizieren (s. P. Grossmann, Die
antike Stadt Pharan. Ein archäologischer Führer [Kairo, 1998]), wobei sowohl
das Alter wie der Ursprung dieser arabischen Bezeichnung unbekannt ist. Vgl.
hierzu die von Ptolemäus (Geog. v. 17), wohl im nördlichen Arabien bzw. Sinai
verorteten ϕαϱανῖται und Anm. 67.
Die blauen Blumen von Mekka 107
(unter der Patronage von Papst Sixtus iii, 432-440 erbaut) und das etwas
ältere Mosaik der S. Pudenzia, die Christus und seine Jünger im Stil des
Kaisers mit dem römischen Senat abbildet. Bis zum sechsten Jahrhundert
hat sich aber eine viel weniger klassifizierende Kirchenarchitektur ent-
wickelt mit vielen Abwandlungen der erwähnten Hauptbauweisen.
Zudem war der Kirchenbau in späterer Zeit im Nahen Osten, besonders
ab dem sechsten Jahrhundert, nicht nur der Kaiserfamilie vorbehalten, und
viele noch so unscheinbare Städte besaßen mehrere basilikalische Kirchen;
manche, wie Gerasa im Transjordanischen, weisen auffallend viele Bauten
im Verhältnis zur damaligen Einwohnerzahl auf. Die Errichtung bzw. die
Restauration einer Kirche wurde zur Prestigesache: Die wohlhabenden loka-
len Eliten, die früher den Bau bzw. die Erneuerung von Bädern, Stoas und
anderen öffentlichen Bauten finanzierten, richteten sich jetzt auf Kirchen
und ihre Einrichtung. Die vielen Kirchen konnten an biblische Gescheh-
nisse, die am Orte stattgefunden haben sollen, bzw. an einen örtlichen Heili-
gen erinnern und konnten dann auch viele Gläubige für diesbezügliche
Feste bzw. Liturgien anziehen. So z. B. in manchen Teilen Syriens des sieb-
ten Jahrhundertes, wo selbst Dorfkirchen aufwändig verarbeitetes Silber-
werk für liturgischen Gebrauch besaßen, wie beispielsweise der bekannte
„Schatz“ aus Kaper Koraon.105 Obwohl die meisten nahöstlichen Kirchen
einfache Bauwerke blieben, entstanden hie und dort größere an Wallfahrts-
orten, wie das Heiligtum des Sergius bei Rusafa am Euphrat, wo im sechsten
Jahrhundert eine Kathedrale ein früheres Bauwerk ersetzte, oder zu Qelaat
Semaan, wo eine große aus vier kreuzförmig angeordneten Basiliken be-
stehende Kirche, mit angebautem Kloster sowie mit verschiedenen Beige-
bäuden um die Säule des Simeon Stylites entstand.106 Auch in Palmyra, eine
Stadt, die vermeintlich seit der Überwindung der Zenobia im späten dritten
Jahrhundert im Untergang begriffen war, sind acht Kirchen gefunden wor-
den, darunter eine große Basilika des sechsten Jahrhundertes. Diese Bau-
bzw. Erneuerungsaktivitäten von Christen wurden während des umayyadi-
105 S. z. B. M. Mundell Mango, Silver from Early Byzantium. The Kaper Koraon and
Related Treasures (Baltimore, 1986).
106 Die von Justinian und von den Ghassaniden begünstigte Basilika des hl. Kreu-
zes behielt während der Umayyadenherrschaft ihre Bedeutung. Hier wurde der
Kalif ibn Hišām (724-743), der auch manchmal dort wohnte, begraben. Die
frühe Moschee am Ort wurde neben dieser Kirche gebaut und mit ihr durch
eine Gasse verbunden.
Die blauen Blumen von Mekka 109
107 Vgl. R. Schick, The Christian Communities of Palestine from Byzantine to Islamic
Rule. A Historical and Archaeological Study (Princeton, 1995), S. 171-172.
108 Vgl. z. B. die basikalische Kirche zu Khirbet asch-Schubaika im westlichen Ga-
liläa. Die ursprüngliche Basilika scheint aus dem sechsten Jahrhunderte zu
stammen, einer Zeit, in der viele Kirchen gebaut wurden, und danach wurde sie
fünfmal erneuert bzw. restauriert. Eine Inschrift aus Phase 2 datiert diese auf
785 n. Chr. (6293 post creationem mundi): Inschrift 2 Ἰψιϕόϑη κτίσεος ἔτους
ʹϚϹϚΓ (vgl. D. Syon, „A Church from the Early Islamic period at Khirbet el-
Shubeika“ in G. C. Bottini, L. Di Segni und L. D. Chrupcała [Hg.], One Land –
Many Cultures. Archaeological Studies in Honour of Stanislao Loffreda (Jerusa-
lem, 2003), S. 75-82 und V. Tzaferis, „The Greek Inscriptions from the Church
at Khirbet el-Shubeika“ a.a.O. S. 83-86). Zur Evolution der Basilika vgl. auch S.
Margalit, „The Binated Churches and the Hybrid Binated Church Complexes in
Palestine“ Liber Annus 45 (1995), S. 357-400.
109 So z. B. die Mosaik der Marienkirche zu Madeba aus 767 (vgl. M. Piccirillo et al,
Byzantinische Mosaiken aus Jordanien [Wien, 1986], S. 140).
110 Robert Kerr
Nessana-Papyri, die die die Rolle des Christentums hier in dieser Zeit ver-
deutlichen.110 Erkennnbar wird zudem der Unterschied zwischen den zum
Christentum bekehrten Bewohnern der Städte des Negev und der umliegen-
den nomadischen Stammesbevölkerung, den sog. „Sarazenen,“ die außer-
halb der Städte am Rande der Wüste wohnten. Diese Gruppen, wovon auch
durch die Nachrichten durch die Wüste reisender Wallfahrer gelegentlich
berichten,111 sind auch archäologisch bezeugt durch die vielen aufgefunde-
nen antiken Lagerplätze z. B. im westlichen und südlichen Hochland des
Negev. Diese „Barbaren“ hielten an ihren eigenen Kulten fest, bezeugt durch
die zahlreichen Betylfunde bei ihren Lagerplätzen – es gibt keine Anzeichen
für ihre massenhafte Bekehrung zum christlichen Glauben – und der Unter-
schied zwischen diesen zwei Bevölkerungsgruppen wird in den zeitgenös-
sischen Berichten deutlich hervorgehoben.112 In den Städten des Negev
C.E. was not a swift wave emanating from central Arabia and sweeping through
the Negev like a storm, but rather a gradual process that took shape slowly over
several decades.“ S. auch Anm. 119.
112 Robert Kerr
113 A. Segal, „Shivta-A Byzantine Town in the Negev Desert“ in Journal of the
Society of Architectural Historians 44( 1985), S. 317-328, Zitat S. 317. Zu den
Kirchen s. R. Rosenthal-Heginbottom, Die Kirchen von Sobota und die Dreiap-
sidenkirchen des Nahen Ostens (Wiesbaden, 1982).
114 „Church construction in the Negev towns intensified during the Byzantine
period. Several churches were constructed in each of the Negev towns, either
within the residential quarter, like the central and southern churches of Shivta
and the central church at Rehovot (Y. Tsafrir und K. Holum, „Rehovot in the
Negev. Preliminary Report 1986“ Israel Exploration Journal 38 [1988], S. 117-
127), or separate units at the edge of the town, integrating a church within a
monastic compound, like the northern churches of Shivta (Rosenthal-Hegin-
bottom, Die Kirchen von Sobota) and Rehovot (Tsafrir et al., „Excavations at
Rehovot in the Negev, Vol. i: The Northern Church.“ Qedem 25 [Jerusalem:
1988]) and the southern church at Nessana (H. D. Colt [Hg.], Excavations at
Nessana. Vol. II, [London-Jerusalem, 1962], S. 43-45).” – Avni, „From Standing
Stones to Open Mosques,“ S. 126.
Die blauen Blumen von Mekka 113
115 Segal, „Shivta-A Byzantine Town,“ S. 336f. Vgl. auch A. Negev, „The Churches
of the Central Negev“ Revue Biblique 81 (1974), S. 400-422, Abb.. xvi-xxii; R.
Rosenthal, „Bauform und Kult in den Negev Kirchen“ Das Heilige Land 108
(1976), S. 7-30. Ders., Die Kirchen von Sobota, S. 129-143; J. W. Crowfoot, Early
Churches in Palestine (London, 1941), S.102-156; W. Kendall, „Architectural
Report,“ in H. D. Colt (Hg.), Excavations at Nessana, S. 25-31.
114 Robert Kerr
117 Bzw. Phiala, früher ein Brunnen zwecks der rituellen Reinigung von
Kirchengängern, ein wohl aus dem Judentum stammender Brauch. Als dann im
Westen das Atrium verkleinert wurde, verschwand der Kantharus, jetzt erinnert
der Weihwasserbecken noch hieran. Im Islam ist dies natürlich auch in الوضوء
(al-wuḍūʼ) bewahrt geblieben.
118 Vgl. im Allgemeinen: G. Peers, „‚Crosses’ Work Underfoot: Christian Spolia in
the Late Antique Mosque at Shivta in the Negev Desert (Israel)“ ECA 8(2011), S.
101-119.
116 Robert Kerr
Abb. 5: Blick auf die Apsis der St. Nilus Kirche in Mamschith
Abb. 6. Blick auf die Südkirche in Abb. 7. Blick auf die Südkirche in
Schivta Avdat
vererbt (Ant. II. 213)120 – und erst hiermit wurden die Bewohner „Arabiens“
zu Nachkommen Ismaels – sowie bei seiner Nacherzählung des Verkaufs
Josephs durch seine Brüder (Gen. 37,25-28; 39,1), ihm zufolge an Ἄϱαβες
(Ant. II. 32) – die hier gegebenen Vorbilder müssen ausreichen, um einen
Eindruck zu vermitteln. Josephus, der sich hier in der griechischen ethno-
graphischen Tradition, wovon er sich eigentlich absetzen will, bewegt, hält
also die Araber nur für Ismaeliten, weil sie ebenfalls ihre Knaben mit drei-
zehn Jahren beschneiden, eben das Alter Ismaels bei seiner Beschneidung in
der biblischen Überlieferung. Dies ist an sich nicht überraschend, da die
Beschneidung eigentlich durchweg ein Rite de Passage der Pubertät ist, um
das Erreichen des Erwachsenenalters zu symbolisieren, nur das Judentum
stellt hier die Ausnahme dar.121 Undeutlich bleiben aber die Beweggründe
des Josephus für diese Abweichung. Hieraus ist deutlich, dass die vermeint-
liche Abstammung der Araber von Ismael nicht auf irgendwelche apokry-
phen altarabischen Überlieferungen zurückgehen kann, sie ist vielmehr ein
Ergebnis der jüdischen Hermeneutik, und in seiner ausdrücklichen
120 Auch in dieser Hinsicht interessant ist Josephus Hinzufügung zu Gen. 25, 6,
dass Abraham Kolonistenexpeditionen dieser Nachkommen, um Arabien zu
bewohnen, bedacht habe (Ant. I. 239): Τούτοις ἅπασι τοῖς παισὶ καὶ τοῖς
υἱωνοῖς Ἅβϱαμος ἀποικιῶν στόλους μηχανᾶται, καὶ τήν τε Τϱωγλοδῦτιν
καταλαμβάνουσι καὶ τῆς εὐδαίμονος Ἀϱαβίας ὅσον ἐπὶ τὴν Ἐϱυϑϱὰν καϑήκει
ϑάλασσαν (vgl. auch II. 213). Die Aufnahme dieser von Josephus stammenden
Tradition ist zu sehen bei Philostorgios (HE III.4), der in einem Bericht von
einer christlichen Mission des Kaisers Constans II (337-361) unter den Sabäern,
in den dortigen Ὁμηϱῖται, also Bewohnern der Arabia felix, Nachkommen
Abrahams und der Keturah (Anm. 54), sah. Targum Pseudo-Jonathan zu Gen.
16,12 scheint auf die Ismaelabstammung der Araber anzuspielen, er werde
„gegen alle seine Brüder wohnen (Luther)“ (‘*< תערבביrb ~ ʿarab; vgl. in
galiläischem Aramäisch „ למערבביאZerstörer“ – Vajikra Rabba 369, 6): ואיהוא
יהוי מדמי לערוד בבני נשא ידויי יתפרעון מבעלי דבבוי וידי דבעלי> דבבוי< יתושטון לאבאשא
ביה ועל אנפי כל אחוי יתערבב וישרי.
121 Man könnte hier auch den Barnabasbrief heranziehen, der 9,6 erwähnt, dass u.a.
τᾶς Σῦϱος καὶ Ἄϱαψ beschnitten ist, was ihnen aber keinen Zugang zum Bünd-
nis mitbrachte. Epiphanius (Panarion XXX. 33) erwähnt bei seiner Erwiderung
der ebionitischen Ketzerei auch die weite Verbreitung dieses Brauches, u. a.
auch bei den Ismaeliten, die aber nichts mehr als eine inhaltslose Sitte darstellt:
Ἀλλὰ καὶ οἱ Σαϱακηνοὶ οἱ καὶ Ἰσμαηλῖται πεϱιτομὴν ἔχουσι καὶ Σαμαϱεῖται [καὶ
Ἰουδαῖοι] καὶ Ἰδουμαῖοι καὶ Ὁμηϱῖται.
Die blauen Blumen von Mekka 121
Manifestation ist sie eine Erfindung des Josephus, der griechische Ethno-
graphie auf die biblische Erzählung anwendete.122
Eine weitere Umdeutung bei Josephus’ Wiedergabe der biblischen Epi-
sode um Ismael betrifft die Frage seiner Legitimität. Hier scheint Josephus
in einer gewissen Auslegungstradition beheimatet zu sein, da auch das wohl
ursprünglich während der hellenistischen Zeit in hebräischer Sprache ver-
fasste Buch der Jubiläen, das deutlich macht, dass das Bündnis nur für
diejenigen, die am achten Tage beschnitten wurden, Geltung habe;123 somit
könne Ismael kein Teil des Bundes sein. Josephus, scheinbar unter dem
Einfluss damals geltender römischer Rechtspraxis, kommt mit einem an-
deren Verfahren zum selben Schluss:124 Josephus macht in seiner Nacher-
zählung biblischer Geschichten einen Unterschied zwischen legitimen
(γνήσιος), von einer Ehefrau oder einer Bediensteten (ϑεϱαπαινίς) gebo-
renen Kinder etwa bei den Nachkommen Jakobs (Ant. I. 344~Gen. 35,22-
26),125 bei den Kinder Nachors (I. 153), Davids (I. 70) und Gideons (V. 233),
etwas, das im biblischen Recht nicht vorgesehen ist (vgl. Anm. 51). Sowohl
im griechisch-hellenistischem wie auch im römischen Recht galten aber
Kinder einer Beifrau als illegitim und konnten keinen Anspruch auf des
Vaters Erbe erheben; Kinder-, also Erblosigkeit wurde hier mit Scheidung
bzw. Adoption gelöst.126 In seinem Bericht über Ismael sagt Josephus nicht
expressis verbis, Ismael sei illegitim, weil dann die ganze Erzählung hätte
ausgelassen werden müssen (was beispielsweise die Suda sub s. v. Ἀβϱαάμ
[A69] tut], Van der Lans (a. a. O.) aber zeigt, wo er kann, dass Josephus die
namentliche Erwähnung Ismaels als Abrahams Sohn meidet, so z. B. in Gen.
16,15 wo Ismael ausdrücklich als Abrahams Sohn beschrieben wird („Und
Hagar gebar Abram einen Sohn; und Abram nannte seinen Sohn, den ihm
Hagar gebar, Ismael“) begnügt sich Ant. I. 191 mit: Ἁβϱάμῳ μὲν οὖν ἕκτον
ἤδη καὶ ὀγδοηκοστὸν ἔτος γεγονότι ὁπϱοειϱημένος ἐγεννήϑη, „der schon
erwähnte“ (πϱοειϱημένος), und er unterlässt gänzlich die Erwähnung der
von Abraham geäußerten Sorge Gen. 21,11 („Dieses Wort missfiel Abraham
sehr um seines Sohnes willen“). Zudem (s. Anm. 51) beschreibt Josephus
Isaak bei seiner Opferung (1.222) als μονογενής, also als ein Einzelkind.
Alles zusammen genommen wird deutlich, dass Josephus alles daran gele-
gen ist, die Legitimität Ismaels sowie die Verbundsgültigkeit seiner Be-
schneidung erst in der Pubertät abzustreiten, scheinbar nicht, weil er ir-
gendeine tiefverwurzelte Abneigung gegen die seiner Vorstellung nach ara-
bischen Abkömmlinge Ismaels gehabt hätte, sondern weil er die biblische
Überlieferung z. T. durch eine römisch-hellenistische Brille las.127
Die Ausweisung der Araber als Nachkommen Ismaels und die Frage
nach der Gültigkeit ihrer Beschneidung bzw. Zulassung zum Bündnis
Abrahams gemäß Josephus oder Paulus (s. o.) scheint vorerst keine
Inschrift Nordafrikas aus der Römerzeit deutlich hervor (KAI 124=IRT 338).
Die lateinische Formulierung testamento adoptatus musste beschreibend
übersetzt werden: b‘lytn qmd’ ’š ‘l’ bbnm ’t m‘qr bn g‘y bktbt dbr’ hbt š g‘y bn ḥn’
„Baljathon Commodus, der aufging in den Söhnen mit Macer, dem Sohn des
Gaius, mittels eines Dokumentes betreffend die Angelegenheiten des Hauses
des Gaius, des Sohnes Anos“ = Balitho Annonis Marci f. Commodus testamen-
to adoptatus (vgl. K. Jongeling, Handbook of Neo-Punic Inscriptions [Tübingen,
2008], S. 26-27 Labdah N18). Im Koran wird die Adoption wohl nicht zufällig
ِ َّ َُﻮﱒ ِﻻ ٓ َابﲛِ ِ ْﻢ ﻫ َُﻮ َٔا ْﻗ َﺴﻂُ ِﻋﻨﺪ
33,4-5 verboten: اهلل ْ ُ ( ا ْدﻋtrotz der Prophetenadoption des زي د
)ب ن حارث ة.
127 Vgl. P. Spilsbury, The Image of the Jew in Flavius Josephus’ Paraphrase of the
Bible (Tübingen, 1998), 34. Van der Lans, a.a.O. S. 198 sieht in der von Abra-
ham angesteuerten Kolonisation Arabiens durch Ismael zusammen mit seinem
Nachkommen und mit denen Abrahams von Keturah (vgl. Anm. 120) ein Vor-
bild von Emanzipation. Josephus erfand die Episode dann, um so Isaak als allei-
nigen Erben Abrahams schildern zu können, ohne seinen römischen Lesern
den Eindruck zu vermitteln, Abraham habe seine übrigen Kinder, besonders
die seiner zweiten Frau Ketura (Anm. 54), die vom römischen Rechte her ge-
sehen legitime Nachkommen hervorbrachte, benachteiligt.
Die blauen Blumen von Mekka 123
feststellbaren Folgen gehabt zu haben. Auch nicht, als nach 106 u. a. das
vormalige nabatäische Reich zur Provincia Arabia wurde: Ein ausgedehntes
Gebiet, der Negev, der Sinai, der nördliche Ḥiǧāz, das bewohnbare Gebiet
zwischen Aqaba und dem südlichen Hauran sowie die nicht zum nabatä-
ischen Herrschaftsgebiete gehörenden griechischen Städte Philadelphia und
Gerasa, kam unter römische Herrschaft – Arabia adquisita (der Münzen;
Dio LXVIII.14 κατὰ δὲ τὸν αὐτὸν τοῦτον χϱόνον καὶ Πάλμας
<Frontonianus> τῆς Συϱίας ἄϱχων τὴν Ἀϱαβίαν τὴν πϱὸς τῇ Πέτϱᾳ
ἐχειϱώσατο καὶ Ῥωμαίων ὑπήκοον ἐποιήσατο übertrieb wohl) – d.h. das
Gebiet, aus dem der Islam ein halbes Jahrtausend später muslimischer
Sagenliteratur zufolge entspringen sollte, und schon seit Langem, wie oben
beschrieben, einen Teil der biblischen Heilsgeschichte ausmachte, kam jetzt
unter direkten römischen Einfluss: „Hanc provinciæ inposito nomine rec-
toreque adtributo obtemperare legibus nostris Traianus conpulit imperator
incolarum“ (Ammianus Marcellinus XIV. 8,13). Vom Judentum in dieser
Zeit gibt es hier nur vereinzelte Zeugnisse, und erst ab dem dritten Jahr-
hundert finden sich erste Hinweise, dass das Christentum sich in der da-
zwischen liegenden Zeit hier ausgebreitet hat: Eusebius berichtet von einem
Beryll ἐπίσκοπος δʼοὗτος ἧν τῶν κατὰ Βόστϱαν Ἀϱάβων.128 Allem Anschein
nach hat der Gebrauch des Ethnonyms „Araber“ hier keine theologischen
Folgen und, wie anderswo im Morgenland, war die Kirchensprache
griechisch.129
Um diese Zeit jedoch ist in der christlichen Rezeption – die in griechi-
scher Sprache überlieferten Werke des Josephus hatten kaum einen merk-
lichen direkten Einfluss auf das in dieser Zeit auch im Werden begriffene
rabbinische Judentum – die Aufnahme der oben angesprochenen ethnogra-
phischen Befunde des Josephus erfolgt, z. B.: unterscheidet Origenes
(Contra Celsum v.48,3) zwischen der jüdischen Beschneidung und der der
128 Hist. Eccl. VI. 20,2, vgl. VI. 33, A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung
des Christentums (Leipzig, 41924), S. 699f. und Millar, „Hagar, Ishmael, Jose-
phus,“ S. 39f. Ausführliche Diskussion bei G. Kretschmar, „Origenes und die
Araber“ Zeitschrift für Theologie und Kirche 50 (1953), S. 258f. Bostra ( بصرى
)الشامwar die Hauptstadt der römischen Provincia Arabia und hieß dann Nea
Traiane Bostra.
129 Dies geht auch deutlich aus den Inschriften der zahlreichen Kirchenmosaiken
hervor: Griechisch blieb in Palästina und Transjordanien die Kirchensprache
bis ins 8. bzw. 9. Jh. (s. Anm. 108).
124 Robert Kerr
„ismaelitischen Araber,“ obwohl Ismael auch ein Sohn Abrahams war und
zugleich mit ihm beschnitten wurde:
Κἂν σεμνύνωνται τοίνυν Ἰουδαῖοι τῇ πεϱιτομῇ, χωϱίσουσιν αὐτὴν οὐ
μόνον τῆς Κόλχων καὶ Αἰγυπτίων πεϱιτομῆς ἀλλὰ καὶ τῆς
Ἰσμαηλιτῶν Ἀϱάβων, καίτοι γε ἀπὸ τοῦ πϱοπάτοϱος αὐτῶν Ἀβϱαὰμ
τοῦ Ἰσμαὴλ γεγενημένου καὶ σὺν ἐκείνῳ πεϱιτεμνομένου.130
Mit einer etwas anderen Betonung erwähnt Eusebius (Præp. Ev. vi.11,69):
Τῶν δὲ ἐν Ἶσμαηλίταις τοῖς κατὰ τὴν Ἀϱαβίαν τοιόνδε ὡς πάντας πεϱι-
τέμνεσϑαι τϱισκαιδεκατεῖς. Τοῦτο γὰϱ ἱστόϱηται πεϱὶ αὐτῶν – seine Ab-
hängigkeit von Josephus ebenso wie die des Philostorgius (Anm. 120) und
des Epiphanius (Anm. 121), ob direkt oder indirekt, bleibt unklar. Noch
aber werden keine Schlüsse mit diesen bloßen Feststellungen verbunden, ih-
re theologische Aufnahme wird erst im nachfolgenden vierten Jahrhundert
feststellbar, als einerseits die christliche Mission in abgelegenere Wüstenge-
biete außerhalb des (eigentlichen) römischen Herrschaftsbereiches vordrang
und als anderseits die Auseinandersetzungen bei den Bemühungen um eine
christliche Orthodoxie der sich herausbildenden Reichskirche zunahmen.
In dieser Zeit, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, als die
römische Zivilisation sich auch in den südlichen Wüstengebieten allmählich
auszubreiten anfing und in Kontakt bzw. in Konflikt mit den dort ansässi-
gen Nomadenvölkern (vgl. Anm. 8 und 56) kam, sollte dann auch der
Umschlag kommen. Dies wird deutlich sichtbar bei den Schriften des
Kirchenvaters Hieronymus, z. B. in seiner Auslegung von Gen. 16,11-12:131
130 „Wenn also die Juden „sich mit ihrer Beschneidung brüsten,“ so werden sie
diese nicht nur von der Beschneidung „der Kolcher und Ägypter,“ sondern
auch von derjenigen der ismaelitischen Araber unterscheiden, obwohl doch Is-
mael der Sohn ihres Stammvaters Abraham gewesen ist und mit diesem die
Beschneidung empfangen hat“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter,
http://www.unifr.ch/bkv/).
131 Ausgabe P. de Lagarde, Corpus Christianum, Scriptores Latini Bd. 72 (Tourn-
hout, 1959), S. 20-21. Auffallenderweise bietet Hieronymus hier eine andere
Übersetzung als die der Vulgata: „Hic erit ferus homo manus eius contra omnes
et manus omnium contra eum et e regione universorum fratrum suorum figet
tabernacula. Also hier anstatt eines Homo rusticus wird er als ein ‚wilder‘ Mann
beschrieben, der ‚Zelte in Gebieten aller seiner Brüder aufschlägt.‘“ Der
Einfluss von Josephus bei den Kirchenvätern ist bedeutend, sichtbar z. B. auch
bei Hieronymus’ Rezeption dessen Behauptung (s. o.), dass Ismaeliten-Araber
den Joseph nach Ägypten verkauft hätten, vgl. Ep. 79 „Pro Silvana:“ „...Sie
fühlen sich überaus glücklich, dass sie Joseph kaufen und verkaufen können;
Die blauen Blumen von Mekka 125
denn ihre Ware versinnbildlicht das ‚Heil der Welt‘“ – n. b. in der Vulgata gibt
Hieronymus den vom Pharao an Joseph gegebenen Namen (Gen. 41,45)
„Zaphenat-Paneach“ ( ;צָ ֽ ְפנַת ַפּ ְענֵחΨονϑομϕανηχ) wieder mit „et vocavit eum
lingua Aegyptiaca Salvatorem mundi.“
132 Beda venerabilis rezipiert Hieronymus mit einem Zusatz zu den Ausführungen
des Paulus in Galater 4 (s.o.): „… Notandum autem quia hic primus antequam
nasceretur secundus Isaac a Domino nomen accepit, certi utique gratia mysterii,
quia et veteris testamenti, quod significatur in Ismahel, et novi, quod in Isaac,
hæredes ante secula fuerunt in divinia electione præcogniti” (Ausgabe C. W.
Jones, „In principium Genesis usque ad nativitatem Isaac IV. 16,11-12,“ Corpus
Christianum, Scriptores Latini Bd. 118a (Tournhout, 1967), S. 200-201. Beda,
der ungefähr drei Jahrhunderte nach Hieronymus tätig war, sieht im Zustand
seiner Zeit den Vollzug von Hieronymus’ Auslegung von Gen. 16, 12: „Signifi-
cat autem...“ (s.o.), „Sed hæc antiquitus. Nunc autem in tantum manus eius
contra omnes, et manus sunt omnium contra eum, ut Africam totam in longi-
tudine sua dictione premant, sed et Asiæ maximam partem, et Europæ non-
nullam omnibus exosi et contrarii teneant. Quod autem dicit, figet tabernacula,
morem gentis antiquum ostendit, quæ in tabernaculis semper, non in domibus,
habitare solebant.“ Beda, von seinen Quellen informiert (Anm. 21), ist also mit
der Araberherrschaft, die er biblisch anhand von Hieronymus (der wiederum
hier Josephus rezipiert) kennt, und weiß auch, dass sie inzwischen schon lange
ihre Zelte mit Häusern eingetauscht haben. Von einem neuen Gottesdienst aber
weißt er, wie schon erwähnt, nichts.
126 Robert Kerr
136 Kedar, der zweitgeborene Ismaels (Gen. 25,13) wird bei Hieronymus zum
Stammvater der Sarazenen-Ismaeliten-Araber, im Gegensatz zu Nebajoth bei
Josephus. Diese Auffassung ist auch in die islamischen Überlieferungen überge-
gangen: قيدار بن اسماعيلsoll der Urahn Muhammads sein, obwohl die isla-
mischen Quellen keine einheitlichen Angaben bezüglich der Art und Weise
vermitteln. Von Hieronymus scheint auch die Ausweisung der Hagarener-Ab-
kunft von Hagar zu stammen, vgl. Anm. 61 und 158.
128 Robert Kerr
nissen seiner Zeit, sie wandern seit ihrer Vertreibung aus Hazor in den
Wüsten kämpfend und raubend auf und ab: Cuius præsagii veritatem et
exosa omnibus hodie Sarracenorum qui ab eo orti sunt natio probat.137 Eine
lebendige Schilderung des wüsten Benehmens dieser Sarazenen gibt Hiero-
nymus in seiner romanhaften Hagiographie, die literarischen Übereinkünfte
etwa mit der Sira sind evident, Vita Malchi 4, die beschreibt, wie die
Reisegesellschaft des heimkehrenden Mönchs von einer Bande Ismaeliten,
die Frauen und Kinder, Greise und Jungen nicht schonte, angefallen,
weggerafft und versklavt wurden:138
„De Berœa Edessam pergentibus vicina est publico itineri solitudo,
per quam Saraceni incertis semper sedibus huc atque illuc vagantur.
Quæ suspicio frequentiam in illis locis viatorum congregat, ut
imminens periculum auxilio mutuo declinatur. Erant in comitatu
meo viri, feminæ, senes, iuvens, parvuli, numero circiter septuaginta.
Et ecce: Subito equorum camelorumque sessores Ismælitæ irruerunt
crinitis vittatisque captibus ac seminudo corpore, pallia et latas
caligas trahentes. Pendebant ex umero pharetræ, et laxos arcus
vibrantes hastilia longa portabant. Non enim ad pugnandum, sed ad
prædandum venerant. Rapimur, dissipamur in diversa distrahimur.
Ego interim longo postliminio hereditarius possessor et sero mei
consilii pænitens cum altera muliercula in unius heri servitutem
sortitus venio. Ducimur, immo portamur sublimes in camelis et per
vastam eremum semper ruinam timentes hæremus potius quam
sedemus. Cibus semicrudæ carnes, et lac camelorum potus erat.“
Halbgares Fleisch und Kamelmilch, selbst für einen Mönch grauenhaft, über
weitere Entbehrungen berichtet er in V. M. 8. Ähnliches findet sich schon
bei Eusebius (Hist. eccl. VI. 42) über die Christenverfolgungen:
„Einen einzigen Fall will ich als Beispiel anführen. Chäremon, ein
hochbetagter Greis, war Bischof der Stadt Nilus. Dieser war mit
seiner Frau in das Arabische Gebirge geflohen und nicht mehr
zurückgekehrt. Und trotz vielen Suchens vermochten sie die Brüder
weder lebendig noch tot zu Gesicht zu bekommen. Viele wurden in
demselben Arabischen Gebirge von den wilden Sarazenen zu Sklaven
gemacht. Einige derselben konnten mit Mühe gegen hohe Geld-
137 Bede, „In cantica canticorum I. 1,4“ Ausgabe D. Hurst, Corpus Christianum,
Scriptores Latini Bd. 119b (Tournhout, 1983), S. 195. Vgl Tolan a. a. O., S. 521.
138 Vgl. Anm. 132 für eine anhand der kirchenväterlichen Auslegung biblische
Vorlage der Ismaeliten-Araber als Sklavenhändler Unschuldiger.
Die blauen Blumen von Mekka 129
summen losgekauft werden, bei anderen aber war es bis heute noch
nicht möglich.“
Hieronymus c.s. sprechen hier eindeutig nur von den nomadischen
Bewohnern der Wüste, also von den nicht Sesshaften, jenen „Barbaren,“ die
nicht wie brave Bürger des römischen Reichs einen festen Wohnsitz – sei es
in Dörfern, Städten bzw. anderen Orten des zivilisierten Lebens – inne
hatten. Obwohl manche, wie scheinbar die Equites Saraceni thamudeni,139
wohl von den Römern als berittene Hilfstruppen angeheuert wurden, ent-
zogen die meisten sich der direkten römischen Herrschaft, um so, wie schon
lange im Nahen Osten üblich, bei Bedarf oder Gelegenheit Karawanen und
Ortschaften zum Beutemachen anzufallen. Von jenen, die
„habitant in tentoriis; Qui quas nox compulerit sedes tenent, quibus
armenta sunt et pecora camelorumque greges; Qui non habent ostia
nec vectes, non enim versantur in urbibus, sed in solitudine
habitant“
ist die Rede; wie schon bemerkt (vgl. Anm. 112) gibt es im Negev starke
Anzeichen dafür, dass die dort ansässigen Nomaden sich nicht zum Chris-
tentum bekehrten und bei ihrem seit altersher ausgeübten Gottesdienst blie-
ben.140 Das Christentum hat hier, wie auch anderswo, in dieser Zeit noch
wir dem Worte Gottes, das uns von neuem durch die Apostel Christi
verkündet wurde und durch die Propheten gepredigt worden war,
und haben todesmutig auf alles, was die Welt bietet, verzichtet. Das
Volk also, welches Gott dem Abraham verheißt, glaubt gleich Abra-
ham, fürchtet Gott, ist gerecht und erfreut den Vater. [vgl. Sprichw.
10,1] Da euch jedoch der Glaube [vgl. V Mose 32,16-23] fehlt, so seid
nicht ihr jenes Volk.“ [Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter,
http://www.unifr.ch/bkv/]
D.h. obschon die meisten damaligen Christen des Nahen Ostens zweifellos
auf irgendeine Weise als „Araber“ bestimmt werden können – ob sprach-
lich, ethnisch, kulturell, geographisch oder sonst wie, sei hier dahin gestellt
– spielte dies im Kontext des seinerzeitigen Christentums keine Rolle: Nur
der aufrechte Glaube, und zunehmend der rechte Glaube der konstantini-
schen Konzilskirche zählte. Wer aber glaubte, hatte eine von Abraham
stammende Abkunft (eine vom Judentum entlehnte Vorstellung für Bekehr-
te), und nur die zählte, eine Vorstellung, die theoretisch zumindest im Islam
bewahrt geblieben ist ( دار اإلسالم,)أمة. Mit Ethnonymen wurden also noch
nicht zum Christentum übergetretenen Völker angedeutet. Mit Sarazene
bzw. Araber bzw. Ismaelit bzw. Hagarener wurden hier demgemäß nur die-
se heidnischen, meistens nomadisch lebenden Stämmen der Wüste ange-
sprochen – und nicht „Araber“ gemeinhin, also Christen arabischer Ab-
stammung, die großenteils in Ortschaften lebten. 141 Die vermeintliche
141 „Sarazene“ konnte auch Heiden arabischer Abstammung andeuten, die durch-
aus gebildete Menschen sein konnten, wie sie beispielsweise mehrfach in der
Suda erwähnt werden. Der Begriff wurde jedoch nur auf Christen angewendet,
um ihre Abkunft vor ihrer Bekehrung anzudeuten. Die wüsten Nomaden konn-
ten sich auch bei Gelegenheit, zur Überraschung der Leser, wohl die literarische
Absicht, freundlich benehmen, wie z. B. in Ambrosius, Vita Antonii §§49-50.
Aber auch die Gewaltbereitschaft der Sarazenen konnte wann nötig durch
Christen geschätzt werden: Manchen Überlieferungen zufolge wurde Julian
Apostata von einem Sarazenen ermordet: „Die einen sagen, das habe irgendein
unsichtbares Wesen getan, andere, es sei einer von den sogenannten ismae-
litischen Nomaden gewesen … sicher ist, daß er hierbei als Diener des gött-
lichen Willens gehandelt hat“ (Theodoret von Cyrus, Hist. Eccl. III. 361f.; vgl.
Gregor von Nazianz, 5. Rede, §13). Feststellbar ist auch die Weiterentwicklung
des Begriffes natio, eig. „das Geborenwerden“, im Sinne von gens, populus bes.
(> angeborene Eigenschaft[en]) für Fremdvölker u. a. bei Cicero („Omnes
nationes servitutem ferre possunt: nostra civitas non potest“), Cæsar, Tacitus
usw., aber auch schon Plautus (Menæchmi II. i.34 „nam ita est haec hominum
132 Robert Kerr
kam im Laufe der Zeit die im Christentum aufgegangene alte Identität zum
Ausdruck in „nationalen“ bzw. regionalen „Ketzereien:“ Der Arianismus
der Vandalen, der Donatismus der Berber, der Nestorianismus der Ostvöl-
ker und das Judenchristentum der semitischen und arabischen Bewohner
des Nahen Ostens usw. usw. – es ist auch kein Zufall, dass die religiösen
Grenzen Westeuropas nach der Gegenreformation großenteils mit der des
alten Limes übereinstimmen.
Während des vierten Jahrhunderts gab es Missionstätigkeit bei den in
Syro-Palästina wohnenden nomadischen Arabern, auch wenn sie nicht, der
schwierigen Umstände wegen, ohne Gefahr durchzuführen war, aber wie
Sozomenon lebhaft schildert, konnten durch vorbildliche Mönche nicht
geringe Erfolge erzielt werden:142
„Syria vero, iam ea quæ Cœle dicitur, quam quæ supra illam posita
est, excepta urbe Antiochia, serius quidem ad Christi religionem
conversa fuit, sed tamen ecclesiasticis philosophis non caruit. Qui
quidem eo fortiores et fuerunt et visi sunt, quo magis invisi erant
incolis earum regionum, eorumque crebris insidiis appetebantur;
iisdemque virili animo resistebant, [269] non vim vi repellendo, nec
semetipsos ulciscendo, sed contumelias et verbera sibi a gentilibus
illata alacri animo perferentes. ... Illi enim Syros fere omnes, et ex
Persis ac Saracenis quamplurimos, ad religionem suam traduxerunt,
et a superstitioso dæmonum cultu abstraxerunt. Cumque monasticæ
philosophiæ studiis vacare cœpissent, multos sibi similes
reddiderunt.“
Diese Art von Bekehrung, durch asketische Mönche, die das Vertrauen die-
ser Menschen gewinnen konnten, scheint typisch gewesen zu sein. Vielen
Berichten zufolge trat häufig ein ganzer Stamm zugleich in Nachfolge ihres
Führers nach einem von Mönchen verübten Wunder über, der dann zu
ihrem Bischof ernannt wurde. Das erste eindeutige Zeugnis ist jedoch die
Bekehrung eines, in der Wiedergabe des Sozomen, sarazenisch geheißenen
Stammes,143 anscheinend ein im Sinai zu verortender Stamm. Die Königin
hieß Mavia, nach dem Ableben ihres Gatten um 378 n. Chr. rebellierte der
Stamm, der scheinbar in einem Bündnisverhältnis mit Rom stand, und fiel
dann in nahegelegene Provinzen ein. Bei den Friedensverhandlungen wurde
von Rom die Bedingung gesetzt, dass sie sich zum Christentum bekehren
müssten; die Gegenbedingung war, dass ein örtlicher Eremit namens Mose
als ihr autokephaler Bischof ernannt werden solle. Seines aufschlussreichen
Inhalts wegen wird hier der ganze Bericht wiedergegeben, sowie der Text
zur Bekehrung des Häuptlings Zocomus mitsamt seinem ganzen Volk, nach
der Aufhebung seiner Kinderlosigkeit durch die Intervention eines nament-
lich nicht genannten Mönchs, des Sozomen, der etwas mehr als ein Jahr-
hundert vor der angeblichen Geburt Muhammads schreibt:144
„Sub idem tempus mortuo Saracenorum rege, soluta sunt corum
fœdera cum Romanis, eiusque uxor Mavia quæ principatum gentis
illius administrabat, urbes provinciæ Phœnices ac Palæstinæ vastavit,
an den Tag legte. Nach vielen Kämpfen schloß sie Frieden, nahm sodann das
Licht der Gotteserkenntnis an und bat, daß für ihr Volk ein Bischof aufgestellt
werde in der Person eines gewissen Moses, der auf dem Grenzgebiete zwischen
Ägypten und Palästina sich aufhielt. Valens nahm diese Bitte wohlwollend auf
und befahl, den heiligen Mann nach Alexandrien zu geleiten, auf daß er dort
die hohepriesterliche Weihe empfange. Diese Stadt war nämlich die nächst-
gelegene. Als dieser aber daselbst ankam und merkte, daß Lucius ihm die Hand
auflegen wollte, sprach er: ‚Das sei ferne von mir, daß ich von deiner Hand
mich weihen lasse; denn auf deine Anrufung hin wird die Gnade des Heiligen
Geistes nicht herabkommen.‘ Da entgegnete ihm Lucius: ‚Woher vermutest du
denn das, was du da sagst?‘ Jener aber erwiderte: ‚Das vermute ich nicht, das
weiß ich bestimmt. Denn du kämpfst gegen die apostolischen Lehren und
trägst entgegengesetzte Meinungen vor, und mit den gotteslästerlichen Reden
gehen Hand in Hand die ungerechten Werke. Denn wo wäre ein Gottloser, der
nicht durch dich veranlaßt worden wäre, die kirchlichen Versammlungen zu
höhnen? Wo ein lobenswürdiger Mann, der nicht durch dich in die Verban-
nung geschickt worden wäre? Wo eine barbarische Roheit, die nicht von deinen
täglichen Freveltaten in Schatten gestellt würde?‘ Solches sprach er mit kühnem
Freimut, jener aber hörte es mit mordgieriger Wut. Allein obschon ihn Mord-
lust beherrschte, fürchtete er doch, den eben beendigten Krieg von neuem zu
entflammen. So befahl er denn, ihn zu anderen Bischöfen zu führen, zu denen,
die er verlangte. Mit solch bewunderungswürdigem Glaubensmut empfing also
dieser die hohepriesterliche Weihe. Darauf zog er zu denen hin, die nach ihm
verlangt hatten, und führte sie durch apostolische Unterweisung und Wunder-
werke zur Wahrheit.“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter,
http://www.unifr.ch/bkv/). Vgl. auch Rufinus, H.E. XI. 6, Socrates, H.E. VI. 38.
144 A. a. O., Cap. 38, S. 1407-1413 mit griechischem Paralleltext.
Die blauen Blumen von Mekka 135
145 Ein vergleichbarer Bericht findet sich z. B. auch bei Theodoret von Cyrus a. a.
O.: „Die Königin der Ismaeliten, die unfruchtbar war und nach Kindern ver-
langte, sandte einige der angesehensten Männer zu ihm mit der Bitte, daß sie
Mutter werden möchte. Nachdem ihr Wunsch erfüllt war und sie erreicht hatte,
was sie verlangte, nahm sie den neugebornen König und brachte ihn zu dem
göttlichen Greise. Da aber die Frauen keinen Zutritt zu ihm hatten, schickte sie
das Kind zu ihm hinein und bat um seinen Segen. ‚Dein ist diese Garbe,‘ ließ
sie sagen. ‚Ich habe unter Tränen den Samen des Gebetes dargeboten. Du hast
den Samen zur Garbe gemacht, indem du den Regen der göttlichen Gnade
durch Fürbitte darauf herabgezogen‘“ (Übersetzung nach Bibliothek der
Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/).
138 Robert Kerr
146 Vgl. auch Theodoret von Cyrus, Hist. Rel.: „...Durch diese Wundertaten wurde
der gottselige Mann berühmt und zog viele Barbaren der Nachbarschaft heran.
Es bewohnen jene Wüste, die sich Ismaels als ihres Stammvaters rüh-
men“ (Übersetzung nach Bibliothek der Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/).
Die blauen Blumen von Mekka 139
147 Das Nichtessen von Schweinefleisch wie auch der Brauch der Beschneidung
(s.o.) sind nicht exklusiv dem Judentum vorbehalten, es handelt sich vielmehr
um ein weitverbreitetes Tabu des östlichen Mittelmeergebietes (vgl. der grie-
chische Ritus der Thesmophoria, vgl. auch Kukian de Dea Syria 54), s. z. B. Ori-
genes, Contra Celsum v.34: „Die einen enthalten sich der Schafe, da sie diese als
heilig betrachten und verehren, andere der Ziegen, andere der Krokodile, an-
dere der Kühe; von den Schweinen aber halten sie sich mit Abscheu fern.“
148 Ant. VIII. 257-258. Strabo meinte, dass die Idumäer einst zu den Nabatäern
zählten, dieser Gruppierung aber verwiesen wurden und sich danach an jüdi-
sche Bräuche anschlossen (Geog. xvi, 2, 34).
149 Millar, a. a. O., S. 43.
150 Theodoret von Cyrus, Philotheos Historia IV. 26; Übersetzung nach Bibliothek
der Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/.
140 Robert Kerr
151 A. a. O. „Es wurde von ihm noch ein anderes Wunder gewirkt, das nicht ge-
ringer ist als dieses erste. Aus der Zahl der Ismaeliten, die den Glauben an den
heilbringenden Namen des Herrn Christus angenommen hatten, machte ein
angesehener Mann Gott ein Gelübde, wobei er den Symeon zum Zeugen seines
Versprechens erwählte. Er gelobte, fernab bis ans Lebensende jeglicher Fleisch-
nahrung sich zu enthalten. Nach einiger Zeit aber wurde er wortbrüchig, indem
er ein Huhn schlachtete und es zu verspeisen wagte. Da ihn Gott unter Beschä-
mung bekehren und zugleich seinen Diener, der Zeuge des verletzten Verspre-
chens gewesen, ehren wollte, wurde das Fleisch des Huhnes in Stein verwandelt,
so daß er es bei aller Gier nicht mehr verzehren konnte. Denn wer vermöchte
Fleisch zu essen, das zu Nahrungszwecken zubereitet und dann in Stein sich
gewandelt? Entsetzt über diesen ungewöhnlichen Anblick, eilte der Barbar so
Die blauen Blumen von Mekka 141
Obwohl die Quellen etwas sparsam mit konkreten Auskünften sind, sollte
deutlich sein, dass die christliche Glaubensausprägung der nomadisch
lebenden Araber an den Grenzen des römischen Reiches von Rom bzw.
Konstantinopel aus gesehen heterodox war. Ihre im Lauf des vierten Jahr-
schnell er konnte zu dem Heiligen, eröffnete ihm die geheime Sünde und be-
kannte sein Vergehen vor aller Welt, von Gott Verzeihung erflehend für den
Fehltritt. Und den Heiligen rief er als Fürsprecher an, daß er ihn durch all-
vermögendes Gebet von den Fesseln der Sünde befreie. Viele waren Augen-
zeugen des Wunders und konnten das Bruststück aus Knochen und Stein be-
tasten.“ Zur Fleischenthaltung bei den Ebioniten s. Anm. 155. Das Nichtessen
von Fleisch, bei asketischer Lebensführung, scheint mit einer Fortsetzung der
jüdischen Speisegesetze und des Schächtens in Verbindung zu stehen. Das
Concilium Gangrense (nach 340; heute Çankırı), das zusammenkam, um die
asketisch-häretische Bewegung der sogenannten Eustathianer (um Eustathius
von Sebaste) zu anathematisieren und dessen Beschlüsse beim Konzil von
Chalkedon bestätigt wurden, untersagte das Ablehnen von blutlosem Fleisch,
außer wenn es Götzen geopfert bzw. durch Erwürgen zum Tode erbracht
worden war (und erschien dem Augustinus als etwas ganz Fremdartiges, vgl.
Anm. 185): Si quis carnem manducantem ex fide cum religione præter
sanguinem et idolo immolatum et suffocatum crediderit condemnandum
tamquam spem non habentem, quod eas manducat, anathema sit. So ist wohl
das Verbot des Athanasius von Baldad, Opfer der zu verzehren, zu
verstehen (Ausgabe A. Vööbus, Syrische Kanonessammlungen Band I [Löwen,
1970], S. 200-202. (Nebenher sei bemerkt, dass hier auch die meisten Formen
des Zölibats verboten wurden!) Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese
Araber Muslime waren (pace R. G. Hoyland, Seeing Islam as Others Saw it. A
survey and evaluation of Christian, Jewish and Zoroastrian writings on early
Islam [Princeton, 1997], S. 149 – hierin ḥalāl geschlachtetes Fleisch zu sehen
lässt sich in keinerlei Weise begründen). Das Verbot von Esel- und Kamel-
fleisch entstammt natürlich Dtn. 14,3 ff.; es ist darum unwahrscheinlich, dass
بُ ْدنim Koran 22,36 ursprünglich Kamele bedeutete, wohl eher ein Stein- bzw.
Springbock (eigentlich „fettes“); der islamisch بِي َْحة َذist eine Fortsetzung des
jüdischen שחיטה-Brauches, der Begriff selber kommt vom Aramäischen, vgl. im
Talmud (BT Pes 42b[21]) דבחאals Andeutung für das Pessachfest (auch Markus
14,12 𝔓: ܃ ܐ ܿ ̈ ܘܕ ܿ ܿ ̈ ܿ
ܼ ܼ ܼ܃ ܕܼ ܕ ܼܕ ܼ ܼܘ
ܿ ܿܕ ܼܬܐ ܼ ܼ ܠ ܼ ܼ ܿܕ ܙܠ ܐ̱ܿ܂ ܼܨ
ܿ ܐ ܘܗ ̈ܝ܂
̱ ܼ ܿܬ
„Eucharistiefeier“ ( قُرْ بَانin 3,183; 5,27 als terminus technicus ist vom syrischen
ܘܪentlehnt und letztendlich vom Hebräischen קָרבָּן ְ abgeleitet). Wenn
Plinius’ Angaben korrekt sind: „At in Arabia suillum genus non vivit“ (Nat Hist.
viii.78), dann ergäbe das Verbot auf Schweinefleisch im Ḥiǧāz zudem keinen
Sinn.
142 Robert Kerr
152 A. a. O. §7.2.9.
153 Z. B. Epiphanius, Panarion xxviii.5: Ὄντες μὲν κατὰ τὸ γένος Ἰουδαῖοι καὶ τῷ
νόμῳ πϱοσανέχοντες καὶ πεϱιτομὴν κεκτημένοι. Bei den Judenchristen
herrschte die Ansicht: Ἐὰν μὴ πεϱιτμηϑῆτε τῷ ἔϑει τῷ Μωϋσέως, οὐ δύνασϑε
σωϑῆναι (Apostelgeschichte 15,1 vgl. auch Vers 5).
154 Ders., a. a. O. xxviii.6: Τὰ πάντα δέ εἰσιν Ἰουδαῖοι καὶ οὐδὲν ἕτεϱον. χϱῶνται δὲ
οὗτοι οὐ μόνον νέᾳ διαϑήκῃ, ἀλλὰ καὶ παλαιᾷ διαϑήκῃ, καϑάπεϱ καὶ οἱ Ἰουδαῖοι.
Οὐ γὰϱ ἀπηγόϱευται παϱ' αὐτοῖς νομοϑεσία καὶ πϱοϕῆται καὶ γϱαϕεῖα τὰ
καλούμενα παϱὰ Ἰουδαίοις βιβλία, ὥσπεϱ παϱὰ τοῖς πϱοειϱημένοις· οὐδέ τι
ἕτεϱον οὗτοι ϕϱονοῦσιν, ἀλλὰ κατὰ τὸ κήϱυγμα τοῦ νόμου καὶ ὡς οἱ Ἰουδαῖοι
πάντα καλῶς ὁμολογοῦσι χωϱὶς τοῦ εἰς Χϱιστὸν δῆϑεν πεπιστευκέναι. Παϱ'
αὐτοῖς γὰϱ καὶ νεκϱῶν ἀνάστασις ὁμολογεῖται καὶ ἐκ ϑεοῦ τὰ πάντα
γεγενῆσϑαι, ἕνα δὲ ϑεὸν καταγγέλλουσι καὶ τὸν τούτου παῖδα Ἰησοῦν Χϱιστόν.
Vgl. etwa auch Augustinus, De Hæresibus ix: Nazoræi, cum Dei Filium
confiteantur esse Christum, omnia tamen veteris legis observant, quæ
Christiani per apostolicam traditionem non observare carnaliter, sed spiritaliter
intellegere didicerunt.
155 Vgl. z. B. Epiphanius, Pan. XXX.16, Clement, Strom. I, Irenäus, Adversus
Hæreses 96. v. 1.3: Vani autem ei Ebionæi, unitionem Dei et hominis per fidem
non recipientes in suam animam, sed in veteri generationis perseverantes fer-
mento ; neque intelligere volentes, quoniam Spiritus sanctus advenit in Mariam,
et virtus Altissimi obumbravit eam; qua propter et quod generatum est, sanc-
tum est, et filius Altissimi Dei Patris omnium, qui operatus est incarnationem
eius, et novam ostendit generationem; uti quemadmodum per priorem genera-
tionem mortem hæreditavimus, sic per generationem hanc hæreditaremus
vitam; vgl. Anm. 151.
Die blauen Blumen von Mekka 143
wohl die Quelle des islamischen Alkoholverbotes, aber sie glaubten zugleich
an die Jungfrauengeburt Christi (vgl. Kerr a. a. O.) und lehnten die Lehre
des Paulus ab.156
Das Einhalten ihrer „jüdischen“ Bräuche stand natürlich in direktem Wi-
derspruch zur paulinischen Theologie der Hauptkirche. Paulus beteuerte:
“Ich versichere noch einmal jedem, der sich beschneiden lässt: Er ist
verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Wenn ihr also durch das
Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr
zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen“ (Gal. 5, 3-4).157
Da sie außerdem auch, und jetzt nicht mehr nur „in bildlichem Sinne,“ die
Nachkommen Ismaels waren, also unfreier Abkunft nach paulinischer An-
sicht, ist die Frage, ob sie überhaupt zu „Kindern der Verheißung“ werden
konnten. Die theologische Erklärung der Sarazeneneinfälle bei Hieronymus
wurde den Ismaeliten nach ihrer Konversion zum unlösbaren Verhängnis.
Hierin ist wohl die spätere Entstehung des Islams schon vorgegeben.
Bei diesen Gruppen hielt sich auch der Psilanthropismus, nach dem
Jesus „nur ein Mensch“ war, was vom ersten ökumenischen Konzil von
Nizäa im Jahre 325 verworfen wurde (vgl. das Nizenische Glaubensbe-
kenntnis). Dass im Islam eine alte vornizenische Christologie erhalten ge-
blieben ist, ist keine neue Entdeckung. Es ist dann auch kein Zufall, dass die
„Orientalische Orthodoxie“ (die Armenische Kirche, ebenso wie die Syri-
sche, Koptische und Äthiopische Kirche) nach wie vor die Beschlüsse des
Konzils von Chalkedon (451) ablehnen, auf dem die Zwei-Naturen-Christo-
logie offiziell angenommen wurde,: توحيدtawḥīd – „Einzigartigkeit“ anstatt
156 Z. B. Eusebius , Hist. eccl. iii.27.4: οὗτοι δὲ τοῦ μὲν ἀποστόλου πάμπαν τὰς
ἐπιστολὰς ἀϱνητέας ἡγοῦντο εἶναι δεῖν, ἀποστάτην ἀποκαλοῦντες αὐτὸν τοῦ
νόμου …; Irenäus, Adv. Hær. iii.15: Ebionæos perstringit, qui Pauli
auctoritatem elevabant.
157 Vgl. auch die vehemente Bestreitung bei Origenes (Contra Celsum V. 48,3):
Ἀλλὰ ταῦτα μὲν πεϱιεϱγότεϱά πως εἶναι δοκοῦντα καὶ οὐ κατὰ τὴν τῶν
πολλῶν ἀκοὴν παϱακεκινδυνευμένως ἐπὶ τοσοῦτον λελέχϑω, οἷς ἔτι ἓν ὡς
Χϱιστιανῷ πϱέπον πϱοσϑεὶς ἐπὶ τὰ ἑξῆς μεταβήσομαι. Ἐδύνατο γὰϱ οὗτος
οἶμαι ὁ ἄγγελος κατὰ τῶν μὴ πεϱιτεμνομένων ἀπὸ τοῦ λαοῦ καὶ ἁπαξαπλῶς
πάντων τῶν σεβόντων μόνον τὸν δημιουϱγόν, καὶ ἐπὶ τοσοῦτόν γε ἐδύνατο,
ὅσον οὐκ ἀνειλήϕει σῶμα ὁ Ἰησοῦς. Ὅτε δ' ἀνείληϕε, καὶ πεϱιετέμνετο τὸ
ἐκείνου σῶμα, καϑῃϱέϑη πᾶσα ἡ κατὰ τῶν ἐν τῇ ϑεοσεβείᾳ ταύτῃ <μὴ>
πεϱιτεμνομένων δύναμις αὐτοῦ· ἀϕάτῳ γὰϱ ϑειότητι καϑεῖλεν ἐκεῖνον ὁ Ἰησοῦς.
Διὸ τοῖς μαϑηταῖς αὐτοῦ ἀπείϱηται πεϱιτέμνεσϑαι καὶ λέγεται αὐτοῖς· «Ὅτι ἐὰν
πεϱιτέμνησϑε, Χϱιστὸς οὐδὲν ὑμᾶς ὠϕελήσει.»
144 Robert Kerr
7. Spätantike Kontextualisierung
Die schlussendliche Unmöglichkeit der Erlangung eines einheitlichen
christlichen Glaubens, um so das angestrebte Ideal einer Einheit des Römer-
reichs zu verwirklichen, heißt nicht, dass solches nicht angestrebt wurde.
Die Bestrebungen des sechsten Jahrhundertes führten zum zweiten (5. Öku-
menischen) Konzil von Konstantinopel im Jahr 553, das keine Resolution
hervorbrachte, nur eine neue Absplitterung, die der sog. Neochalkedonier;
Justinian II. und seine Kaiserin Sophia konnten in Callinicium auch keinen
Erfolg erzielen. Die Verwirrung wurde nur größer, als verschiedene Grup-
pen anfingen, einander den Zugang zur Kommunion zu verweigern und
158 S. jetzt die Beiträgen von P.-A. Beaulieu, G. Frame und R. Zadok in A.
Berlejung und M. P. Streck (Hg.), Arameans, Chaldeans, and Arabs in Babylonia
and Palestine in the First Millennium B.C. (Wiesbaden, 2013). Vgl. etwa auch
die Suda s.v. Κηδάϱ (K1483): Δεύτεϱος τοῦ Ἰσμαὴλ υἱός. Οἱ δὲ τούτου
ἀπόγονοι μέχϱι τήμεϱον οὐ πόϱϱω τῆς Βαβυλῶνος ἐσκήνηνται.
Die blauen Blumen von Mekka 145
159 Z.T. etwa vergleichbar „O grito do Ipiranga“ Peters I. (wonach später Portugal
sich faktisch von brasilianischer Oberherrschaft befreite) oder mit den Folgen
der Abdicaciones de Bayona für die Besitztümer des spanischen Königs, die kei-
ne Kolonien Spaniens waren, so kam die „retroversión de la soberanía“ als
Folge der vacatio regis: In der Abwesenheit eines legitimen Herrschers über-
nahmen die cabildos abiertos die Macht, eine Entwickelung, die schlussendlich
zur Unabhängigkeit führte.
Die blauen Blumen von Mekka 147
gelebt hatte – zurück. Von ihrer Abkunft von Ismael, von dem legitimen
Erstgeborenen Abrahams – die hellenistischen vom römischen Recht aus
geschehene Umdeutung zum Bastarden des Josephus und dessen Weiter-
führung bei den Kirchenvätern war ihnen fremd – überzeugt, meinten sie,
die ihnen zustehende Bündniserbschaft wiedererlangt zu haben.
Dies erklärt dann die spätere Wahl Mekkas als heilige Stadt: wo alten
Überlieferungen zufolge Ismael und seine Mutter Hagar wohnten und be-
graben wurden. Der Ḥiǧāz, auch der Herkunftsort YHWHs, war, wie ge-
zeigt wurde, keine theologische terra incognita. Die bestehende Basilika
wurde selbstverständlich abgetragen und ein schlichteres Bauwerk errichtet,
entsprechend den in zeitgenössischen „offenen“ bzw. „kongregationellen“
Moscheen sichtbaren Vorstellungen, auf altem, dem Abraham zugeschrie-
benen Fundament, wohl denen eines alten arabischen Heiligtums, als Sym-
bol des Antretens dieser Erbschaft. Damit sollte dann endgültig mit den
Geisteskindern Isaaks abgerechnet worden sein. Die komplette Verselbst-
ständigung, die unter ʿAbd al-Malīk erste Konturen annahm, erfolgte dann
in der Abbāsidenzeit mit einer gewissen Distanznahme zur hellenistisch-
römischen Kultur, symbolisiert durch den Umzug des Machtzentrums zur
Araberheimat in Mesopotamien, nach Bagdad, das auf den Ruinen der alt-
orientalischen Reichsstadt Akkad, erbaut wurde.
Hiermit wurde ein wichtiges Kapitel eines langen Vorgangs der Heraus-
bildung eines arabischen Bewusstseins, das Jahrhunderte zuvor begann, ab-
geschlossen. Bis aber dieses deutliche Konturen, eine bestimmbare Gestalt
annahm, sollten wiederum Jahrhunderte vergehen. Die Entstehung des Got-
tesdienstes aber stellt zugleich nur einen Teil dieser Entfaltung dar, und wer
die historische Islamentstehung begreifen will, muss sich um eine sinnvolle
was auch die Bedeutung seiner Figur in der rabbinischen Tradition um die
‚mündliche Tora‘ ( )תורה שבעל פהdeutlich macht, sowie die radikalen Umdeu-
tungen seiner Figur etwa in den Qumran-Texten 4QRP und 11QTemple. Deut-
lich jedenfalls ist, dass Mose wegen seiner Bedeutung für das Judentum der
Spätantike, die vielleicht durch die Bestrebung, ihn als jüdische Entsprechung
bzw. als jüdischen Gegensatz zum Homer der Griechen herauszustellen, nicht
als vermeintlicher Gründer des Proto-Islam dienen konnte. Anstoßend war
vielleicht zudem die Vergöttlichung Mosis in Ex. 7,4: „Der Herr sprach zu Mose:
Siehe zu, ich habe dich dem Pharao zum Gott gesetzt ()נְתַ תִּיָך אֱֹלהִים ְלפ ְַרע ֹה, und
dein Bruder Aaron soll dein Prophet ( )נְבִיאֶ ָֽךsein” – vgl. Sirach 45,1; 4 Q 374
Frag. II. 2,6; Philo, De Vita Mosis I. 158; Josephus, Ant. III. 320. S. hierzu im
Allgemeinen, J. Kugel, Traditions of the Bible (Cambridge MA, 1998), S. 544-546,
560-561.
Die blauen Blumen von Mekka 149
162 Dies stellt ein großes Problem auch in vielen modernen Werken dar, wie z. B. R.
G. Hoyland, Seeing Islam as Others Saw it. A survey and evaluation of Christian,
Jewish and Zoroastrian writings on early Islam (Princeton, 1997). Sarazenen
sind nicht ohne Weiteres Muslime, und das Wort mḥmṭ ( ) in syrischen
Quellen darf nicht vorbehaltlos als der arabische محمدder späteren islamischen
Überlieferungen verstanden werden. Inschriften sagen nur, was sie selber sagen,
und nicht was bei ihnen aus Überlieferungen hineingelesen wird, wie etwa bei
‘A. I. Ghabban und R. Hoyland, „The Inscription of Zuhayr, the Oldest Islamic
Inscription (24 ah⁄ad 644–645), the rise of the Arabic script and the nature of
the early Islamic state“ Arabian Archaeology and Epigraphy 19 (2008) 19, S.
209–236. Eigenschaftswörter wie „islamisch“ können nur dann Anwendung
finden, wenn dies deutlich aus dem fraglichen Text hervorginge.
150 Robert Kerr
166 J. van Seters, „Cultural Memory and the Invention of Biblical Israel“ in P.
Carstens, T. Bjørnung Hasselbalch und N. P. Lemche (Hg.), Cultural Memory in
Biblical Exegesis (Piscataway, 2012), S. 88. Zur Umwandlung der biblischen
Schriften zur „Heiligen Schrift“ siehe jetzt M. L. Saltow, How the Bible Became
Holy (New Haven, 2014).
154 Robert Kerr
167 Ein bekanntes Beispiel des Altertums ist die sog. Mescha-Stela (KAI 181), 1-2:
הדיבני. מאב. מלכ. .. כמש. בנ. משע.„ אנכIch bin Mescha, Sohn des Kemosch […],
König von Moab, der Dibonite“ ()ذيبان.
Die blauen Blumen von Mekka 155
168 Vgl. hierzu den klassischen Aufsatz von E. Bickerman, „Origines Gen-
tium,“ Classical Philology 47 (1952), S. 65-81.
169 F. Millar, The Roman Near East 31bc-ad 337, (Cambridge MA, 1993), S. XIX.
156 Robert Kerr
stellt keine Einheit dar und ist ein Produkt wiederholter Fortschreibung mit
Sequels und Prequels, um so die Grundlage der kollektiven Identität eines als
Einheit vorgestellten Volkes „Israel“ und seines Gottes YHWH in jeweils
neuen Bedingungen historisch zu rechtfertigen.
Hier wird der Unterschied zwischen Geschichte und Historiographie deut-
lich. Wenn man mit Noth das Deuteronomistische Geschichtswerk (Josua-
II, Könige) als eine rückwirkende Fortschreibung (Prequel) des Deuterono-
miums, einen Vertrag zwischen YHWH und seinem Volke Israel nach dem
Vorbild neuassyrischer Vasallenverträge170 versteht, dann wird hier zweifels-
ohne die Erschaffung einer kollektiven Identität mittels einer gemeinsamen
Vergangenheit deutlich:171 Ein Volk, ein vom Deuteronomium übernomme-
ner Begriff, das von seinem Gott aus Ägypten geleitet wurde, erobert unter
Führung Josuas das ihm „gelobte Land.“ „Israel“ wird hier als selbständige
Größe gegenüber den einheimischen Völkern der Amoriter, Hethiter, Ka-
naaniter172 vorgestellt. Die Künstlichkeit dieser Vorstellung wird dann im
Land mit der Einteilung in Stämme und die vorgestellte Führung des Landes
durch „Richter“ deutlich,173 die dann der Überlieferung zufolge Kriege im
Namen von ganz Israel und seiner Gottheit führen. Das Deuteronomistische
Geschichtswerk (DtrG) stellt die Geschichte Israels als die von einem in
zwei Staaten lebenden Volk, mit einer gemeinsamen Gottheit, einem ge-
174 S. J. van Seters, The Biblical Saga of King David (Winona Lake, 2009), worin die
Anachronismen dieser biblischen Erzählung ausführlich besprochen werden.
Der epigraphische belegte Ausdruck בית דודsagt weder etwas über David als
eine historische Person, noch über das ihm zugeschriebene Reich als eine
historische Wirklichkeit aus.
158 Robert Kerr
176 Vgl. BJ II. 119ff.: Τϱία γὰϱ παϱὰ Ἰουδαίοις εἴδη ϕιλοσοϕεῖται, καὶ τοῦ μὲν
αἱϱετισταὶ Φαϱισαῖοι, τοῦ δὲ Σαδδουκαῖοι, τϱίτον δέ, ὃ δὴ καὶ δοκεῖ σεμνότητα
ἀσκεῖν, Ἐσσηνοὶ καλοῦνται … Für eine ausführliche Darstellung s. G.
Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (Stuttgart, 1991).
177 Im „dreigliedrigen eschatologischen Schema“: Unheilssprüche gegen Israel –
160 Robert Kerr
180 Vgl. Cassius Dio, Historiæ Romanæ LXIX. 12-14, zu den Folgen 14.1-3: „Καὶ
ϕϱούϱια μὲν αὐτῶν πεντήκοντα τά γε ἀξιολογώτατα, κῶμαι δὲ ἐνακόσιαι καὶ
ὀγδοήκοντα καὶ πέντε ὀνομαστόταται κατεσκάϕησαν, ἄνδϱες δὲ ὀκτὼ καὶ πεν-
τήκοντα μυϱιάδες ἐσϕάγησαν ἔν τε ταῖς καταδϱομαῖς καὶ ταῖς μάχαις ῾τῶν τε
γὰϱ λιμῷ καὶ νόσῳ καὶ πυϱὶ ϕϑαϱέντων τὸ πλῆϑος ἀνεξεϱεύνητον ἦν᾽, ὥστε
πᾶσαν ὀλίγου δεῖν τὴν Ἰουδαίαν ἐϱημωϑῆναι, καϑάπεϱ που καὶ πϱὸ τοῦ
πολέμου αὐτοῖς πϱοεδείχϑη: Τὸ γὰϱ μνημεῖον τοῦ Σολομῶντος, ὃ ἐν τοῖς
σεβασμίοις οὗτοι ἄγουσιν, ἀπὸ ταὐτομάτου διελύϑη τε καὶ συνέπεσε, καὶ λύκοι
ὕαιναί τε πολλαὶ ἐς τὰς πόλεις αὐτῶν ἐσέπιπτον ὠϱυόμεναι. πολλοὶ μέντοι ἐν
τῷ πολέμῳ τούτῳ καὶ τῶν Ῥωμαίων ἀπώλοντο.“ Im Allgemeinen s. P. Schäfer,
The Bar Kokhba War Reconsidered: New Perspectives On The Second Jewish
Revolt Against Rome (Tübingen, 2003).
Die blauen Blumen von Mekka 163
181 Synagogen, sowohl in Judäa wie auch in der Diaspora, sind schon vor 70 archä-
ologisch nachzuweisen – die zentrale Bedeutung des Tempels galt nicht glei-
chermaßen für alle jüdische Gruppierungen vor der Vertreibung, die Kult-
reform Josias (vgl. Anm. 170) konnte den Volksglauben nicht aufheben. Dies ist
schon in der Hebräischen Bibel festzustellen: J beschreibt den ִמשְׁ כַּןals eine
Proto-Synagoge, während bei P der Begriff als ein Proto-Tempel verstanden
wird. So z. B. in Num. 8,9 wird der אֹהֶל מ ֹועֵדin 𝔊 mit συναγωγή wiedergegeben.
Aber auch das Judentum des Tempels von vor der Zerstörung stellte eine Qua-
lität dar, die im späteren rabbinischen Judentum verpönt gewesen wäre: Ein
Vorbild ist die reichlich verzierte Menora des Titusbogens. Aber auch in der
Spätantike konnten Synagogen noch mit Mosaiken reichlich verziert werden –
nebst Abbildungen von Menschen gibt es auch die zurecht berühmten Tier-
kreiszeichen in Sepphoris, Hammat Tiberias, Beit Alfa und Tzippori.
182 Vgl. D. Boyarin, „Rethinking Jewish-Christianity: An Argument for Dismant-
ling a Dubious Category“ Jewish Quarterly Review 99 (2009): 7-36. Kunstge-
schichtlich kann man die Abbildungen der Akedah wie etwa an der Nordmauer
der Beit-Alfa-Synagoge (vgl. Anm. 181) als jüdische Polemik gegen die in dieser
Zeit aufkommenden Gewohnheit, in der christlichen Kirchenkunst die Kreuzi-
gung abzubilden, ansehen. Aber die Opferung Isaaks wurde dann auch Teil des
Repertoires zeitgenössischer christlicher Kunst, die vielleicht als eine Präfigu-
ration des Kreuzestodes Christi auszulegen wäre.
164 Robert Kerr
183 Der babylonische Talmud galt nicht umsonst als die „tragbare Heimat“ der
Juden. Für die spätere Herausbildung der jüdischen Identität vgl. Sh. Sand, Die
Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand
(Berlin, 2010). Der Zionismus, der eigentlich vom Judentum losgelöst ist,
gehört zu den künstlichen von der Romantik her stammenden nationalisti-
schen Bewegungen Europas des 19. Jahrhunderts. Aber auch aus dem rabbini-
schen Judentum gingen Schismen hervor, wie die der Karaiten (Karäer) im 8./9.
Jahrhundert, die sich in Bagdad gegen die göttliche Inspiration der mündlichen
Tora wehrten. Hierfür war einerseits der entstehende Islam des Abbasidenzeit-
alters von Bedeutung, sowie vielleicht ein früher Fund von Qumranrollen (vgl.
A. A. Di Leila, „Qumran and the Geniza Fragments of Sirach,“ Catholic Bible
Quarterly 24 [1962] 245-267) – der Codex Leningradensis (Anm. 179) ent-
stammt der Karaiten-Synagoge zu Kairo.
184 S. auch Eusebius, Hist. Eccl. IV. 5. 3-4. Judenchristen sahen im Christusglauben
das wahre Judentum: „In effect, they seemed to regard Christianity as an affir-
mation of every aspect of contemporary Judaism, with the addition of one extra
belief – that Jesus was the Messiah. Unless males were circumcised, they could
not be saved (Acts 15:1)“ (A. E. McGrath, Christianity: An Introduction
[London, 2006], S. 174).
Die blauen Blumen von Mekka 165
185 Vgl. Augustinus, Contra Faustum xxii.7: „Quapropter, ut vos ex Vetere Testa-
mento solas admittitis prophetias, et illa quæ superius diximus, civilia atque ad
disciplinam vitæ communis pertinentia præcepta; supersedistis vero peritomen,
et sacrificia, et sabbatum et observationem eius, et azyma.“ In 13 macht er
deutlich, wieweit das Christentum seiner Zeit von seinen jüdischen Wurzeln
entfernt war (vgl. hierzu Anm. 151): „Transacto vero illo tempore, quo illi duo
parietes, unus ex circumcisione, alter ex præputio venientes, quamvis in
angulari lapide concordarent, tamen suis quibusdam proprietatibus distinctius
eminebant, ac ubi Ecclesia Gentium talis effecta est, ut in ea nullus Isrælita
carnalis appareat; quis iam hoc Christianus observat, ut turdos vel minutiores
aviculas non attingat, nisi quarum sanguis effusus est, aut leporem non edat, si
manu a cervice percussus, nullo cruento vulnere occisus est? Et qui forte pauci
adhuc tangere ista formidant, a cæteris irridentur: ita omnium animos in hac re
tenuit illa sententia veritatis: Non quod intrat in os vestrum, vos coinquinat, sed
quod exit [Matthäus 15,11]; nullam cibi naturam, quam societas admittit
humana, sed quae iniquitas committit peccata, condemnans.“
Die blauen Blumen von Mekka 167
Scholastikos und in ihrer Rezeption bei Sozomenos 186 sowie auch bei
Hieronymus. Deutlich muss geworden sein, dass das Araberbild und die
Deutung des Ismael dieser Autoren ihren Ursprung bei Josephus hat.
9. Schluß
Wer die Islamentstehung bzw. die Verwandlung zum Islam in seinem spät-
antiken Kontext verstehen will, muss notwendigerweise die erforderliche
historische Demut aufbringen, um diese verschlungenen Pfade historisch-
kritisch zu durchforsten: Natura non facit saltus! Es gibt keinen Anlass und
keine historische Grundlage zu behaupten, dass die Einwohner Arabiens
eine sprachliche und kulturelle Einheit gewesen seien oder sich so gesehen
hätten.187 Wie bei der autochtonen Bevölkerung der Neuen Welt war dies
ein Ergebnis der Begegnung mit den Fremden, noch deutlich sichtbar in der
anachronistischen kanadischen Eigenbezeichnung „Premières Nations.“ Die
allgemeine griechisch-römische Bezeichnung „Arabien,“ hauptsächlich eine
Gebietsandeutung, stellte inhaltlich auch keine Einheit vor (vgl. z. B. Anm.
8). Anderseits findet sich auch in der biblischen Überlieferung der Hebrä-
ischen Bibel kein Zusammenhang zwischen Ismaeliten und Hagariten mit
etwaigen „Arabern“ (vgl. z. B. Anm. 61). Erst in der späteren Tradition der
jüdischen Bibelübersetzungen (z. B. 𝔊, 𝔗) ist ein erster Ansatz hierfür greif-
186 Vgl. H. Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche
Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret
(Göttingen, 1996).
187 So die Beschreibung von T. E. Lawrence in seinem Meisterwerke Sieben Säulen
der Weisheit: „A first difficulty of the Arab movement was to say who the Arabs
were. Being a manufactured people, their name had been changing in sense
slowly year by year. Once it meant an Arabian. There was a country called
Arabia; but this was nothing to the point. There was a language called Arabic;
and in it lay the test. It was the current tongue of Syria and Palestine, of
Mesopotamia, and of the great peninsula called Arabia on the map. Before the
Moslem conquest, these areas were inhabited by diverse peoples, speaking
languages of the Arabic family. We called them Semitic, but (as with most
scientific terms) incorrectly. However, Arabic Assyrian, Babylonian, Phoenician,
Hebrew, Aramaic and Syriac were related tongues; and indications of common
influences in the past, or even of a common origin, were strengthened by our
knowledge that the appearance and customs of the present Arabic-speaking
peoples of Asia, while as varied as a field-full of poppies, had an equal and
essential likeness. We might with perfect propriety call them cousins – and
cousins certainly, if sadly, aware of their own relationship.“
168 Robert Kerr
dingers sprichwörtliche Katze, die Schwelle des Umbruches lässt sich nicht
festlegen.
Der Islam kann im Grunde aus einer Fortsetzung solcher jüdisch-christ-
lichen Strömungen verstanden werden, und seine spätere Verselbständi-
gung liegt in der Natur der Sache. Ohne Kenntnis der hier beschriebenen
Vorgeschichte ist eine Entstehungsbegründung für den neuen Gottesdienst
nicht denkbar – und diese ist zugleich bedeutungslos außerhalb der Reichs-
grenzen, etwa in der abgelegenen Arabia deserta, wo der reichsinterne dog-
matische Lehrenstreit keinen Widerhall fand. Dass Muʿāwiya, vestigia pressit
maiorum, die momentane Strukturschwäche Konstantinopels ausnützte, um
sich teilweise politisch und religiös in einem postkolonialen Nachfolgereich
nach der ersten Fitna zu verselbstständigen, ist nur verständlich188 – logi-
scherweise zu vergleichen sind diese Ereignisse mit ähnlichen bei Vandalen,
Westgoten, Merowingern und etwas später bei den Karolingern: Solche
Revolutionen passieren, wenn die alten Herrscher nicht mehr können und
ihre Untertanen nicht mehr wollen. So war dann der Weg frei für den von
den lokalen Eliten praktizierten und vom Reich und seiner Kirche lang
bekämpften Glauben, zur Staatsräson zu werden: Die klassische Dreiheit
voluntas, necessitas und utilitas als Legitimationsgrößen waren vorhanden –
die Lage war jetzt eine andere als wenige Jahrzehnte zuvor, als auch die
letzten Ghassaniden-Könige verketzert ins Exil geschickt wurden. Von den
Anhängern dieses autokephalen توحيدtawḥīd-Glaubens (tawḥīd = „Einheit
Gottes“) verstand er sich als Ἀμήϱα Ἀλμουμενὴν/ الم ومنين ام يرamīr al-
muʾminīn, er (und seine Nachfolger) behauptete sich als der wahre ﷲ
خليف ةḫalīfat Allāh /Vicarius Dei.
Es sollte niemand überraschen, dass hieraus neue Traditionen hervor-
gegangen sind, die dann teleologisch gesehen – „l’existence précède l’es-
sence“ – bei ʿAbd al-Malik ibn Marwān deutlich feststellbar sind, aber wie-
derum erst während der Abbāsidenzeit deutliche Konturen bekamen – „se
rencontre, surgit dans le monde, et qu’il se définit après.“ Wie sich schon
zuvor der Schwerpunkt des Christentums von Jerusalem nach Rom ver-
188 Die Fortsetzung der römischen Administration wird u.a. deutlich durch die
Weiterführung der Indiktionsjahren. Auch der جن د فلس طينin ب الد الش ام
kann hier nur von Παλαιστίνη bzw. Palästina abgeleitet und nicht etwa vom
ܵ
Semitischen, z. B. ְפּלִשְׁ תִּ יםoder ܵ ܸ – Arabisch gebraucht /ṭ/ und nicht /t/
wie zu erwarten wäre (تين )*فلس, was auf eine Entlehnung aus dem
Griechischen bzw. Lateinischen hindeutet (vgl. R. M. Kerr, Latino-Punic
Epigraphy [Tübingen, 2010], S. 123).
Die blauen Blumen von Mekka 171
schob, wurde Mekka zur Achse des Islam um die Mitte des achten Jahr-
hunderts (wie Salt Lake City, mitten in einer anderen Wüste, das sakrale
Zentrum eines weiteren monotheistischen Ablegers werden sollte). Hierfür
spricht einerseits die islamische Überlieferung selber, die Mekka erst spät als
heilige Stadt erwähnt. Andererseits fällt die zusammengesetzte intertextuelle
und uneinheitliche Art der islamischen Berichte über die sekundären bibli-
schen Personen Abraham, Hagar und Ismael zu Mekka auf: Von einer Tra-
dition kann keine Rede sein, lediglich eine allgemein inhaltliche und be-
hauptete Zurückführung von Erzählkernen auf drei frühe Traditionsver-
mittler. Die auf ʿAlī zurückgeführten Legenden betreffen hauptsächlich den
Bau eines Heiligtums in Mekka, der Abraham wohl sekundär zugeschrieben
wurde, biblische Inhalte sowie Hagar und Ismael spielen eigentlich keine
Rolle. Die Muǧāhid zugeschriebenen Erzählungen bieten auch größtenteils
Baulegenden eines Heiligtums zu Mekka, wobei Hagar und Ismael Beirollen
zugedichtet werden; auch hier sind die biblischen Anklänge sehr oberfläch-
lich und der beinahe erfolgte Tod Ismaels durch Verdursten beispielsweise
bleibt unerwähnt. Nur jene der Tradition nach auf Ibn ʿAbbās zurückführ-
baren Märchen beinhalten Kernteile der biblischen Erzählung, deren Über-
einstimmungen mit der exegetischen Tradition des Targums Pseudo-Jona-
thans sehr auffallend sind. Auch bezüglich des Wesens und der Natur des
Zamzam-Brunnens und seiner „Wiederentdeckung“ durch ʿAbd al-Muṭṭalib
sind die überlieferten Angaben widersprüchlich – die Ähnlichkeiten mit
eschatologischen biblischen Schatzlegenden bleiben auffällig. Literaturhisto-
risch gesehen sind drei ursprünglich unabhängige Überlieferungsstrata
sichtbar: Die einer alten arabischen Heiligtumslegende, die dann verschie-
dentlich mit biblischem Erzählstoff angereichert und umgedeutet wurde, so-
wie die eines nachfolgenden Stadiums, in dem die Geschichte dann ober-
flächlich islamisch ausgestaltet wurde. Der Ḥiǧāz war kein unbekanntes
Territorium für die biblische Heilsgeographie, aus dieser Gegend ent-
stammte der Judengott YHWH,189 und es gibt deutliche Hinweise, dass in
der jüdischen Tradition Hagar und Ismael hier verortet wurden, und Chris-
ten später Mekka zum Kultort ausbauten. Das Ausbleiben archäologischer
189 Ein wichtiger Hinweis, dass der Islam sich aus christlichen Überlieferungen
und nicht direkt aus Jüdischen fortentwickelte, ist der Gebrauch von ( ربrabb)
„Herr“ als einem Epitheton Gottes entsprechend griechisch Κύϱιος und syrisch
– mārā. Wie bei den meisten christlichen Schriften, bewahrt der Koran
keine Erinnerung an den jüdischen Gebrauch dieses Wortes, um den Eigen-
namen seines Gottes anzudeuten, vgl. Kerr, „Aramaisms“ §7.2.2.
172 Robert Kerr
190 M. Weinreich, דער יי ִוואָ און די פּראָבלעמען פֿון אונדזער צײַט, YIVO-Bletter ( יי ִווא
]בלעטער25 (1945], S. 3.
Die blauen Blumen von Mekka 173
191 Sondern auf das vulgärlateinische „caballus.“ Die einzige Spur, die das latei-
nische equus in den romanischen Sprachen hinterlassen hat, ist das spanische
Wort für die Stute: yegua < equa.
192 So ist die einheimische Sprachenvielfalt von Vancouver Insel einer der wenigen
Hinweise der Erstbesiedlung Amerikas nach Ende der Eiszeit vor 11.500 bis
10.000 Jahren über die Bering-Landbrücke. Erinnert werden muss, dass diese
Theorie erstmals von Menasse Ben Israel als Teil eines theologischen
Argumentes vorgebracht wurde.
193 Was jetzt arabisch heißt, ist älter als der Islam, jedoch kann sie keinesfalls als
eine archaische semitische Sprache bezeichnet werden. Ihre Herausbildung
zum Verwaltungsinstrument unter den Umayyaden ist deutlich, ihr Gebrauch
als Mittel religiöser Äußerung ist Teil einer Entwicklung der Spätantike be-
sonders an den Grenzgebieten des römischen Reiches wie, nach eigenen
Schrifterfindungen, etwa die Entstehung einer religiösen Literatur in koptischer
Sprache, die gotische Bibelübersetzung Wulfilas, Iakob Zurtawelis წამებაჲ
წმიდისა შუშანიკისი დედოფლისა, die armenischen Schriften Eznik von
Kolbs oder die altkirchenslawischen Konstantins/Kyrillos und Methodios. Ob
es vorislamische Bibelübersetzungen, noch von S. H. Griffith (The Bible in
Arabic: The Scriptures of the ‚People of the Book‘ in the Language of Islam. Jews,
Christians and Muslims from the Ancient to the Modern World [Princeton, 2013])
kategorisch abgewiesen, gegeben hat, bleibt unklar. Dass der Islam dann eine
eigene „Heilige Schrift“ entwickelte, ist nicht weiter verwunderlich, da eine
solche Fortschreibung zu dieser monotheistischen Überlieferung gehört. Ver-
174 Robert Kerr
gleichbar ist dem z.B. das Buch Mormon oder das bis heute praktizierte
Gaihwiyo („Gute Wort“) des Θkanyatararíyau (‚Handsome Lake;‘ *1735-†1815)
vom Seneca-Stamme der Haudenosaunee. Hier wurde eine Brücke zwischen
dem traditionellen irokesischen Glauben und dem Christentum geschlagen.