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Spes Christiana 18–19, 2007–2008, 23–37

Der Sabbat und seine sozioökonomische Bedeutung:


Die biblischen Wurzeln für sozialethische Fragen

Franz Segbers

1. Biblische Wurzeln sozialethischer Fragen

„Dabru emat“ – „Redet Wahrheit“: So haben namhafte US-amerikanische Rabbi-


ner eine bedeutsame Erklärung überschrieben, die in großer Aufmachung am 10.
September 2000 in der New York Times erschienen ist. Darin wird vom dramati-
schen und beispiellosen Wandel gesprochen, der sich seit zwei Jahrzehnten in
christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen habe. Die Rabbiner wollten ihrerseits
eine wohl bedachte jüdische Antwort auf die zahlreichen theologischen Bemü-
hungen von Christen und Kirchen geben, das Judentum zu würdigen: „Wir
meinen“ – so heißt es in der Erklärung –, „es ist für Juden an der Zeit, über das
nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum zu sagen hat.“ Die Tora
wird darin als ein Christen und Juden verbindendes Element genannt:
Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Thora: Im Zen-
trum der moralischen Prinzipien der Thora steht die unveräußerliche Heiligkeit
und Würde eines jeden Menschen. Wir alle wurden nach dem Bilde Gottes
geschaffen. Dieser moralische Schwerpunkt, den wir teilen, kann die Grund-
lage für ein verbesserten Verhältnis zwischen unseren beiden Gemeinschaften
sein. ... Juden und Christen erkennen, ein jeder auf seine Weise, die Unerlöst-
heit der Welt, wie sie sich in andauernder Verfolgung, Armut, menschlicher
Entwürdigung und Not manifestiert. Obgleich Gerechtigkeit und Frieden letzt-
lich in Gottes Hand liegen, werden unsere gemeinsamen Anstrengungen
helfen, das Königreich Gottes, auf das wir hoffen und nach dem wir uns
sehnen, herbeizuführen. Getrennt und vereint müssen wir daran arbeiten, unse-
rer Welt Gerechtigkeit und Frieden zu bringen.

Auf Israel auch in sozialen und wirtschaftlichen Fragen zu hören, steht im


Mittelpunkt unseres Symposiums. Wir stellen diese Fragen, weil wir sehen, wie
die Globalisierung und die Flexibilisierung der Arbeitswelt unsere bisherigen
Ordnungen in Frage stellen.
Meine These lautet: Die Tora ist eine Ressource, ein wahrer Schatz, den Christen
lange übersehen, ja verachtet haben, der aber gerade für unserer Zeit wichtige
Einsichten vermittelt. Die den Juden und Christen gemeinsame Bibel enthält
Einsichten und Weisheiten aus einer vorkapitalistischen Zeit. Angesichts des
Vakuums und der Suche nach Alternativen kann mit den biblischen Traditionen
und Visionen eine radikal andere Vision und auch Praxis wirtschaftlicher Gerech-
tigkeit zur Sprache gebracht werden. Denn alle Weisheiten und Einsichten der
Bibel entstammen zwar einer vormodernen Zeit, sind aber dennoch nicht über-
holt.
Die Tora kann, wie der Alttestamentler Frank Crüsemann anmerkt, unbeschadet
des historischen Abstandes allein „die Grundlage einer biblisch orientierten
christlichen Ethik sein“(1992, 424 f.). Diese Grundlage christlicher Ethik ist
biblisch wie sachlich angemessener, als alle anderen bekannten Versuche, christ-
liche Ethik zu begründen. Dabei ist eine doppelte Tradition kritisch aufzuzeigen:
Die Kirche darf nicht die Tora vergessend argumentieren, noch die Tora dem
Judentum enteignen. Es gilt, sich von der falschen Tradition einer dualistischen
Gegenüberstellung von alttestamentlichem Gesetz und neutestamentlichem Evan-
gelium zu distanzieren. Christen sind in den verheißungsvollen Bund Gottes
durch Jesus Christus hineingenommen und haben dabei indirekt Anteil an der
Tora des Mose.

2. Sabbatökonomie

Im ganzen Mittelmeerraum traten ab der Mitte des 8. Jh. v. Chr. tief greifende
ökonomische und soziale Änderungen ein: Die Gesellschaften spalteten sich in
Arm und Reich; Verarmung und Bereicherung nahmen zu. Verschuldung wurde
zum zentralen Problem. Propheten in Israel und Mahner traten gegen diese Ent-
wicklungen an (vgl. Amos, Hosea, Micha, Jesaja). Über diese Missstände erhoben
sich Klagen; Gesetze sollten schließlich Abhilfe schaffen. Das Wirtschafts-,
Arbeits- und Sozialrecht der Tora mit ihren Bestimmungen über den Sabbat, den
Schuldenerlass, ein Zinsverbot und die menschenwürdige Behandlung von
Knechten und Sklaven war eine Antwort auf jene ökonomischen und sozialen
Missstände, die von den Propheten angeprangert wurden.
Die Hebräische Bibel spricht von der Ökonomie als Haushalt. Die Tora hat den
Begriff oi=koj aus der griechisch geprägten Umwelt übernommen und das
hebräische Wort tyIB; (Haus) mit einer klaren theologischen Aussageabsicht gefüllt
(Meeks 1989, 33). Die biblische Ökonomie bezieht sich auf die soziale und
ökonomische Grundstruktur des Hauses, das Teil des größeren Hauses, der
Schöpfung, ist. Das Haus bildet die ökonomische und soziale Grundeinheit. Doch
dieser Kontext des Hauses wird auf die gesamte Schöpfung ausgeweitet. „Die
Menschen laben sich am Reichtum deines Hauses“ (Ps 36,9).
Die Bibel kennt viele Bilder für Gott: Fels, Hirte, König. Wenn die Bibel von
einem Gott spricht, der Leben bewahrt und errettet, dann zeigen sich in diesem
Bild Aspekte eines Verständnisses von Gott als einem Ökonomen. Gott zeigt sich
als ein Ökonom, der für den oi=koj sorgt: Er hat die Schöpfung reichlich mit
Gütern ausgestattet und gibt in der Tora eine Hausordnung für den gerechten
Umgang mit diesen Gütern. Im alles umfassenden Horizont der Schöpfung als
eines Haushalts besteht die Ökonomie Gottes in der Austeilung von Gottes

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Gerechtigkeit. Der Mensch ist bevollmächtigt, im Namen Gottes die Schöpfung
zu verwalten. Der Haushalter Gott macht alle Menschen zu Hausgenossen. Der
Haushalter Mensch vertritt den Haushalter Gott, und seine ökonomische Aufgabe
ist es, den Haushalt Gottes treuhänderisch in Fürsorge für das Leben der Bewoh-
ner des Haushaltes zu verwalten. Für die Verwaltung des Hauses der Schöpfung
gibt Gott den Menschen mit der Tora eine Hausordnung. Diese regelt, was gelten
soll, damit ein Zusammenleben in Recht und Gerechtigkeit unter den Bewohnern
des Hauses möglich wird. Ökonomie ist nach biblischem Verständnis also keines-
wegs die Lehre von der optimalen Gewinnerwirtschaftung, sondern die Sorge um
ein gutes und gerechtes Zusammenleben im Haus der Schöpfung. Die Ökonomie
der Tora ist eine politische Ökonomie, da sie zur Gestaltung der wirtschaftlichen
und sozialen Lebenswirklichkeit beitragen will.
Das Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialrecht der Bibel enthält praktische Anweisun-
gen zu gerechtem Wirtschaften im Haus. Das Herz der biblischen Ökonomie ist
der Sabbat. Man kann sie deshalb auch eine Sabbat-Ökonomie nennen (ausführ-
licher siehe Segbers 2002). Das hebräische Wort tbv heißt ruhen, unterbrechen.
Im Zentrum der biblischen Sabbat-Ökonomie steht also ein Paradox: Ein nicht-
ökonomischer Begriff, der das Unterbrechen des Wirtschaftens beinhaltet, defi-
niert, was unter Ökonomie zu verstehen sei. Dies ist ein wichtiger Hinweis auf
den Unterschied zum modernen Ökonomie-Verständnis, das sich von ethischen
Vorgaben löste und sich rein funktional versteht. Was ökonomisch vernünftig ist,
kann sich die Ökonomie nicht selber sagen. Gegen einen ökonomistischen Zirkel-
schluss verweist der Sabbat bereits vom Begriff her auf außerökonomische,
nämlich ethische Gesichtspunkte für das, was ökonomisch vernünftig ist.
Die Ökonomie wird benannt nach einem Beenden des Wirtschaftens. Dies ist ein
erstes Anzeichen für das Grundverständnis der ökonomischen Vorstellungen der
Bibel, wie auch der gesamten Antike überhaupt, das bis zur Moderne hin galt.
Seit Aristoteles wie auch in der ganzen Antike und der Bibel bis zu Beginn der
Moderne war die Ökonomie eingebettet in die Gesellschaft. In der Moderne
jedoch hat sich dieses Verhältnis umgedreht und einen Vorrang der Ökonomie vor
dem Leben und vor der Gesellschaft etabliert. Es wird erst dann wieder
nachhaltig, vernünftig und zum Wohle aller, mit denen wir diesen schönen
Globus bewohnen, gewirtschaftet, wenn die Vorstellung wieder befolgt wird, die
die längste Zeit der Menschheitsgeschichte richtungsweisend war: Wirtschaften
hat dem Leben zu dienen, es ist eine gemeinsame Anstrengung von Menschen, um
die notwendigen Mittel für das Leben aller zu erwirtschaften. Aber genau dieses
Wissen ist in der Moderne verloren gegangen. Dass die Bibel aus
vorkapitalistischer Zeit stammt, ist vor diesem Hintergrund nun keineswegs zu
beklagen, sondern beweist deren Reichtum, den es zu heben gilt. Denn dadurch
haben wir mit der Tora eine Alternative in den Händen, die zeigt, dass
Wirtschaftsordnungen keineswegs zeitlose Systeme darstellen und die
Vorstellungen der Bibel nicht einfach antik und deshalb überholt sind, sondern
von einer anderen ethischen Grundhaltung zeugen.

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3. Sabbat: Rechte für die arbeitenden Menschen

Der Exodus ist das Grundgeschehen der Bibel. Bereits hier tritt die Frage nach
dem Wirtschaften auf. Kaum der Sklaverei in Ägypten entkommen, stellt sich
dem Volk die Frage, wie man außerhalb des pharaonischen Sklavensystems leben
kann. Ist es überhaupt möglich? Die Mannaerzählung geht auf diese Frage ein und
berichtet vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Ägypten nicht einfach von
einer wundersamen Speisung, die sich vielleicht gar mit dem Hinweis auf ein
natürliches Sekret der Tamariskenbäume erklären ließe. Diese Geschichte bietet
vielmehr Gottes Alternative zu einer – ägyptischen – Wirtschaft, die auf Sklaven-
arbeit und Bedrückung mitten im Reichtum und Wohlstand einer Hochkultur
beruhte, in einem Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (Num 16,13). Die
entkommenen Hebräer konnten sich kein alternatives Wirtschaftssystem vor-
stellen – wie wir heute auch nicht.
Mit der Mannaerzählung wird uns ein grundlegender ökonomischer Sachverhalt
vermittelt: Wie bekommen wir die Lebensmittel und die Güter zum Leben? Die
gerade freigekommenen Sklaven erinnerten sich der „Fleischtöpfe Ägyptens“ (Ex
16,3) und erzählten sich von den „Fischen, die sie in Ägypten umsonst bekamen,
an die Gurken und an die Melonen“ (Num 11,5). Ihr Urteil lautete: „In Ägypten
ging es uns gut“ (Num 11,18). Drei Merkmale kennzeichnen diese alternative
Ökonomie (Ex 16,13–36):
Jede Familie erhielt erstens die Anweisung, nur so viel zu sammeln, wie für die
tägliche Ernährung gebraucht wird. Der erste Grundsatz lautet also: Jeder nach
seinen Bedürfnissen. Ein jeder bekommt nach seinem Essbedarf, wie Martin
Buber übersetzte. Dieses Recht auf Nahrung galt ohne Einschränkungen. Gott
erweist sich hier als ein guter Ökonom. Er sorgt dafür, das es Nahrung gibt und
diese Nahrung für alle reicht.
Zweitens soll das Brot nicht gelagert werden wie in den ägyptischen Vorrats-
städten (Ex 1,11). Der Sinn des Wirtschaftens besteht nicht darin, möglichst viel
anzuhäufen und zu akkumulieren. Das Leben soll gelebt und nicht zur Akkumu-
lation genutzt werden. Der menschlichen Natur des Raffens und Begehrens, der
Habgier also, wird Einhalt geboten. Das Recht auf Nahrung ist mit einer An-
weisung verbunden: Gott warnt davor, zu horten oder habgierig zu sein. Wenn
über den Essbedarf hinaus eingesammelt wird, dann wird selbst Gottes Gabe
„wurmig und stinkend“ (Ex 16,20).
Drittens wurde zusammen mit dem Sammeln der Nahrung die zentrale Idee der
biblischen Kultur eingeführt: der Sabbat. Genauer gesagt – die Hebräer entdeck-
ten ihn. Am sechsten Tag sollte es die doppelte Menge geben. Denn Mose
forderte auf, am Freitag, dem Tag vor dem Sabbat, die doppelte Menge einzu-
sammeln und gibt zugleich die Zusicherung, dass damit für den Sabbat vorgesorgt
ist. Sechs Tage für die Beschaffung der Nahrungsmittel reichen also, um sieben
Tage leben zu können. Die Fleischtöpfe Ägyptens sind das Gegenteil zum Manna,
wie der Sabbat den Gegensatz zur Sklavenarbeit darstellt.

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Die biblische Wertschätzung der Arbeit unterscheidet sich dabei von der grie-
chisch-römischen Kultur. Diese versteht Arbeit als einen negativen Wert. Sie ist
neg-otium, also Verneinung von Muße, Ruhe, Freiheit. Bei Aristoteles heißt es:
Wir sind unmüßig, um Muße zu haben. Während Arbeit und Ruhe hier nach
Klassen verteilt wurde, gehört es zu den Grunddaten des biblischen Arbeits-
verständnisses, Arbeit und Ruhe egalitär zu verteilen.
Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten
Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes (Ex 20,9).

Diese Mahnung richtet sich an Herrn und Knecht. Arbeit wird also nicht aristo-
kratisch abgewertet oder elitär auf andere abgewälzt. Herr und Knecht stehen in
einem gleichen Rhythmus von Arbeit und Ruhe:
Für den Knecht ist der Ruhetag ein Anspruch an Lohn nach erzwungener
sechstägiger Arbeit, für den Herrn ist die Arbeit an sechs Tagen die Grenze der
Zulassung, und im Sabbat begegnen sich beide (Jacob 1997, 574).

Benno Jacob ist auch die genaue Differenzierung bezüglich der Frage zu ver-
danken, um welche Art der Arbeit es an den sechs Tagen geht und die am sie-
benten Tag ruhen soll. In Ex 20,9 werden zwei unterschiedliche Bezeichnungen
für die Arbeit an den sechs Tagen verwendet, die Buber übersetzt mit „dienen“
und „Arbeit machen“. Dienen (die hebräische Wurzel db[) deutet auf den Per-
sonenstand des Knechts, „Arbeit machen“ dagegen bezeichnet ein „nützliches,
zweckdienliches Schaffen“. In der christlichen Theologie wurde das Sabbatgebot
lediglich als Verbot von Arbeit und Gebot von Muße ausgelegt. Der rabbinische
Theologe Benno Jacob jedoch weist auf eine Unterscheidung hin, die einen
anderen Sinn des Sabbats erschließen kann. Der Sabbat verbiete nicht Arbeit an
sich, sondern nur „objektiv nützliches, zweckdienliches Schaffen“. Dass sowohl
für die erledigten Tätigkeiten der Arbeitswoche wie für die zu unterlassenden am
Sabbat dasselbe Verb (hk'a'l.m); verwendet wird, zeigt, dass ein Zusammenhang von
„Inhalt und Würde“ beider Zeiteinheiten besteht. Es ist zudem die Schöp-
fungstätigkeit, von der Gott nach Gen 2,2 ruht, die unter denselben Begriff hk'a'l.m;
gefasst wird. Ex 20,11 greift also diesen positiv konnotierten Begriff der
Beschreibung der Arbeit auf, die es in der Woche zu tun gibt und die durch die
Ruhe am Sabbat zum Abschluss gebracht werden soll. Der Sabbat ist ein
Anspruch an die Arbeit in der Woche. Sie soll zu einer „Vorhalle zum Heiligtum“
(Benno Jacob) werden.
Den Sabbat zu halten meint mehr, als nur Ruhe einkehren zu lassen. Ruhen soll
die zur Existenzsicherung nötige Arbeit. Der Sabbat ist eine uralte soziale Er-
rungenschaft, ein Tag, an dem die Menschen aufatmen können und frei sind von
der Last der Arbeit. Darin drückt sich ein Ethos aus, das allen Menschen und
gerade denen, die unter dem Zwang stehen, alle ihre Lebensenergien auf die
Existenzsicherung ausrichten zu müssen, einen Freiraum geben will.

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Erich Fromm hat diesen humanen Sinn des Sabbats erläutert, wenn er ihn einen
Tag nennt, an dem der Mensch lebt,
als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel außer zu sein, d. h . seine wesent-
lichen Kräfte auszuüben – beten, studieren, essen, trinken, singen, lieben
(Fromm 1976, 57).

Der Sabbat unterbricht also nicht nur die Arbeit, sondern ist ein lebensfördernder
Raum. Er ist ein Freiheitstag in doppelter Hinsicht: Symbol einer Freiheit von
nützlicher, zweckdienlicher Arbeit unter der Verfügung des Herrn und Symbol
einer Freiheit zu zweckfreien, selbstbestimmten, lebensfördernden Tätigkeiten.
Ethisch aber bedeutet dies, dass es nicht nur den Dualismus von Arbeit und Ruhe
gibt, wie er selbst in jeder Sklavenhaltergesellschaft bekannt war, sondern der
Sabbat bildet eine dritte Zeit jenseits von Erholungs- und Arbeitszeit.
Das Sabbatgebot enthält eine doppelte Weisung: die Weisung zu arbeiten und die
Weisung, am siebten Tag zu ruhen (Ex 20,9 f.; Dtn 5,13 f.). Der Sabbat ist keine
ökonomisch vernünftige Einrichtung. Er unterbricht die Logik der Ökonomie.
Amos klagt die Händler an, die drängend fragen: „Wann endlich ist der Sabbat
vorüber? Wir wollen unsere Kornspeicher öffnen“ (Am 8,5). Geld zu vermehren,
Handel möglichst lange zu treiben, ökonomische Aktivitäten nicht unnütz zu
unterbrechen, das ist ökonomisch vernünftig. Der Sabbattag bricht die Dominanz
der Logik der Ökonomie vor der Lebenswelt. Nicht die Ökonomie soll das Leben
bestimmen. Bereits Aristoteles kannte wie Amos die Gefahr, wenn er von den
Wirtschaftsleuten seiner Zeit sprach: „Alle Geschäftemacher wollen ins Unbe-
grenzte hinein ihr Geld vermehren“ (Politik I 9, 1257 b, 30 ff.). Der Sabbat meint
mehr als eine Unterbrechung der Arbeit zur Erholung. In der Begrenzung der
Arbeit drückt sich ein Vorrang der Ethik des Humanum vor der Logik der Ökono-
mie aus. Mit dem Sabbat will Gott verhindern, dass ökonomische Interessen und
Unternehmungen das Leben in Beschlag nehmen können. Kommerz, Handel und
Geldmachen muss eine Pause haben, um sich daran zu erinnern, dass dies alles
nicht im Zentrum des Lebens stehen darf.
Der Sabbat verdrängt die Ökonomie von einem zentralen Platz in der Gesellschaft
und ordnet sie ein als Teil der Lebenswelt. Ökonomisches Handeln wird
eingebettet in die Lebenswelt. Ökonomie wird dadurch zu einem Mittel, das einen
Zweck erfüllt. Der Zweck ist das Leben: Ökonomie soll Leben ermöglichen, nicht
aber den Lebensinhalt bestimmen. Der wöchentlich wiederkehrende Sabbat ist der
wöchentlich wiederkehrende Einspruch gegen eine Ökonomisierung aller
Lebensbereiche. Nicht optimale Effektivität ist das Ziel, sondern das Optimum für
den Menschen: mögliche Produktions- oder Arbeitszeit nicht realisieren, sondern
loslassen, Mensch und Natur in Ruhe lassen, Möglichkeiten zur
Gewinnmaximierung hintenanstellen.
Den Sabbat halten bedeutet, sich jede Woche immer wieder an die beiden Grund-
sätze der Ökonomie zu erinnern: Sechs Tage arbeiten genügt für die Sicherung
des Lebens. Jeder soll Raum haben, seine Fähigkeiten und Begabungen zu

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entwickeln. Es gibt genug für alle und für jeden und deshalb ist die Anstrengung
nicht auf das Horten, Ansammeln und Akkumulieren auszurichten.
Der Sabbat steht für eine dritte Zeit jenseits von Arbeit und Ruhe: Verboten wird
nämlich nicht Arbeit an sich, sondern gerade jene lebensnotwendige und auf die
Zwecke der Ökonomie ausgerichtete Arbeit, zu der abhängig Arbeitende gezwun-
gen sind. Der Sinn des Sabbats besteht darin, befreit zu werden von der zweck-
gerichteten, instrumentellen Zeit und frei zu werden für Tätigkeiten jenseits der
Zwecke.
Der Sabbat ist die Antwort auf die Frage, welchen Stellenwert Wirtschaft und
Arbeit im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft einnehmen dürfen. Die Ant-
wort lautet: Sechs Tage arbeiten reicht, um sieben Tage zu leben. Der Sabbat
relativiert die Arbeit der Werktage. Die rabbinische Tradition sagt dazu:
Der Sabbat ist nicht um der Wochentage willen da; die Wochentage sind um
des Sabbat willen da (vgl. Heschel 1990, 12).

Der Sabbat verdrängt die Ökonomie von einem dominierenden Ort in der Gesell-
schaft und ordnet sie der Lebenswelt unter. Ökonomie ist eingebettet, sie ist ein
Mittel, das einen Zweck erfüllt. Der wöchentlich wiederkehrende Sabbat ist eine
Realutopie eines zweckfreien Lebens mitten in einem Leben, das von Zwecken
beherrscht ist. Nicht die maximale Produktivität, das Optimum für das Leben
steht im Mittelpunkt des ökonomischen Denkens der biblischen Tradition. Die
erste ökonomische Lektion der Bibel lautet also: Nicht alles herausholen, sondern
ruhen lassen; möglichen Gewinn und Reichtum nicht realisieren.

4. Das Sabbatjahr: Ökologische und soziale Weisheit

Nach dem Vorbild der Sabbatruhe an jedem siebenten Tag ist ein weiterer Rhyth-
mus nachgebildet: das Sabbatjahr. Alle sieben Jahre soll das Land Sabbat halten.
Es soll ruhen, und was die Erde hervorbringt, gehört den Armen (Ex 23,10 f.). Die
Sabbatmaxime, „Nicht das Letzte herausholen!“, zeigt sich auch im Sabbatjahr.
Die Ackerbrache des Sabbatjahres wird später umgeformt in einen Schulden-
erlass, der alle sieben Jahre Verschuldung rückgängig macht (Dtn 15). Der
Schuldner wird aus der ökonomischen, sozialen und politischen Abhängigkeit von
den Gläubigern befreit. Das ist eine Barriere gegen die Entwicklungstendenz in
der Gesellschaft, Macht und Reichtum in den Händen einiger weniger zu konzen-
trieren. In der Agrargesellschaft Israels begann der Teufelskreis der Verarmung
damit, dass Familien sich verschuldeten. Die Ernte war schlecht, man musste also
für Saatgetreide Kredite aufnehmen. Wer diese nicht abzahlen konnte, wurde
gepfändet – zuerst das Land, dann die Kinder und schließlich der Hausvater
selbst. Im Buch der Sprüche heißt es:

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Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines
Gläubigers Knecht (Spr 22,7).

Die Lektion des Sabbat- und Erlassjahres lautet: Befreit euch von den Zwängen
des Geldes! Lasst nicht zu, dass das Geld die Zukunft des Menschen verbaut. Die
Gesetze des Geldes dürfen nicht über den Menschen bestimmen!

5. Jobeljahr: Rückgabe des Bodens und Neuanfang

Das Jobeljahr bestimmte, dass alle sieben Sabbatjahre, also alle fünfzig Jahre, ein
jeder seinen Grund und Boden zurückerhalten konnte. Akkumulation an Grund
und Boden wurde wieder korrigiert (Lev 25), die Spaltung der Gesellschaft rück-
gängig gemacht und Gerechtigkeit wieder hergestellt. Nach Reichtum zu streben
und das ganze Leben auf Geld und Bereicherung auszurichten lohnt sich nicht.
Habsucht wird nicht bloß moralisch oder tugendethisch abgewertet, sondern
rechtlich begrenzt. Das von der Tora festgesetzte Datum war nicht zufällig
gewählt, sondern bestimmte den zehnten Tag des siebten Monats, d. h . den Tag
von Jom Kippur, dem Versöhnungsfest. So wird die Versöhnung zur Losung der
sozialen Freiheit.
Die Lektion, die das Jobeljahr vermittelt, lautet: Korrigiert regelmäßig die Un-
gleichheiten zwischen Arm und Reich. Tragt Verantwortung dafür, dass Gerech-
tigkeit wieder hergestellt wird, begrenzt die Bereicherung in der Gesellschaft.
Der Siebener-Rhythmus von Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahr ist ein Befreiungs-
programm, das sich auf alle Sektoren der Ökonomie beziehen kann: Der Sabbat
befreit den arbeitenden Menschen von den Zwängen der Arbeit zu einem Leben
außerhalb der Arbeitswelt; die Ackerbrache des Sabbatjahrs befreit den Boden
von ununterbrochener Ausnutzung; der Schuldenerlass im Sabbatjahr befreit die
Wirtschaft von den Zwängen des Geldes; die Rückgabe des Bodens im Jobeljahr
befreit von der Abhängigkeit von Grund und Boden. Die Befreiung der Sklaven
im Sabbat- und im Jobeljahr gab den Menschen und auch das Land sich selbst
zurück. Der abhängig Arbeitende, der Boden, der Schuldner und der Sklave
wurden erlöst. Der Siebener-Rhythmus der Sabbatökonomie ist ein ethisch an-
spruchsvolles gültiges Befreiungskonzept, das den abhängig Arbeitenden, den
Boden, den Schuldner und den Sklaven aus der Dominanz der Logik der Ökono-
mie befreit. Es fordert, den Sabbat zu halten, zu dem die Tora mahnt. Um nie
mehr die Ökonomie des Sabbats zu vergessen, wurde das Volk angewiesen, einen
Krug mit Manna-Himmelsbrot in der Bundeslade im Tempel zu verwahren (Ex
16,33 ff.; Hebr 9,4).

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6. Ökonomie des Genug

Jede Gesellschaft muss sich die Frage stellen, wie sie mit dem erwirtschafteten
Sozialprodukt umgeht. Wie soll es verteilt werden? Wofür soll es aufgewendet
werden? Für Paläste, für Kriege? Das alte Israel hatte eine klare Entscheidung
getroffen: Der erwirtschaftete Gewinn sollte nicht in erster Linie der Akkumu-
lation von Reichtum dienen, sondern gesamtgesellschaftlich in eine „ökonomie-
freie“ Zeit umgewandelt werden – in Sabbat und Sabbatjahr. Indem die Bibel den
gesamtwirtschaftlichen Überschuss in Zeit für alle umwandelt, beantwortet sie die
Frage nach dem Sinn der Ökonomie. Er besteht in der Versorgung mit den not-
wendigen Lebensmitteln im weiteren Sinn. Ökonomie darf allerdings nicht auf
dieses Ziel reduziert werden. Sie hat für Güterwohlstand ebenso zu sorgen wie für
Zeitwohlstand. Zu den Lebensmitteln gehören nämlich nicht allein die materiellen
Güter, auch Zeit für kulturelle, zweckfreie Tätigkeiten zu haben, gehört zu den
Lebensmitteln.
Während die Ökonomie der Moderne von der Grundannahme der Knappheit der
Güter und der unbegrenzten Bedürfnisse des Menschen ausgeht, nimmt die
Ökonomie der Bibel einen diametral entgegengesetzten Ausgangspunkt ein. Die
Güter sind nicht knapp, denn Gott hat wie ein guter Ökonom für die reichliche
Ausstattung der Schöpfung mit Gütern gesorgt.
Die Menschen laben sich am Reichtum deines Hauses, du tränkst sie mit dem
Strom deiner Wonnen (Ps 36,9; ähnlich auch Ps 34,11; 65,10 ff.; 104,14 f.;
145,15 f.; 146,7; 147,14).

Der Sabbat steht für eine Lebenskunst, die ein Wissen davon hat, dass es ein
Genug gibt. Die sechs Tage Arbeit reichen für sieben Tage; nach sechs Jahren
Arbeit ist zum Leben für das folgende Sabbatjahr noch genug da. Genug ist eine
kulturelle und ethische Kategorie, die entsprechend den ökonomischen und tech-
nologischen Möglichkeiten gefüllt werden muss. Die materielle Produktion hatte
sich noch nicht wie in der kapitalistischen Moderne verselbständigt. Ein allein auf
materielle Aspekte verengter Begriff von Knappheit, die es ökonomisch zu be-
seitigen gilt, ist der Antike unbekannt. Die Moderne lässt sich deshalb auch
gerade dadurch kennzeichnen, dass in ihr die Erwirtschaftung der Lebensmittel
zum Hauptzweck des Lebens geworden ist. Max Weber nennt genau diese
Umkehrung von Zweck und Ziel das,
was dem präkapitalistischen Menschen so unfasslich und rätselhaft, so
schmutzig und verächtlich erscheint. Dass jemand zum Zweck seiner Lebens-
arbeit ausschließlich den Gedanken machen könne, dereinst mit hohem mate-
riellen Gewicht an Geld und Gut belastet ins Grab zu sinken, scheint ihm nur
als Produkt perverser Triebe: der ‚auri sacra fames‘, erklärlich (Weber 1927,
55).

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Was die modernen Ökonomen unter dem Begriff der Knappheit als erstrebens-
wertes Gut angeben, wird im biblischen Denken mit shalom angesprochen. Die
Grundbedeutung der hebräischen Wurzel slm, von der shalom abgeleitet ist, meint
„genug haben“, also: Wenn es shalom gibt, hat ein jeder genug an allem, was man
braucht und sich erwünscht. Nach biblischem Verständnis ist shalom ein Ziel, um
dessentwillen man alle Ziele verfolgt, ein Leitziel, das den anderen Zielen eine
Richtung gibt. Das Leben, Ökonomie eingeschlossen, hat diesem Shalom zu
dienen. Der im Hebräischen angesprochene Sinnbereich von shalom reicht aller-
dings erheblich weiter als die zumeist mit „Friede, Ganzheit, Unversehrtheit“
wiedergegebene Bedeutung. Ökonomie hat die Mittel für ein solches Leben
bereitzustellen. Das Wissen von einem Genug begrenzt die Habgier und den
Wachstumszwang. Der ethische Gehalt der Sabbat-Idee zeigt, dass die Kategorie
des Genug keine ökonomische, sondern eine kulturelle Kategorie ist. Sie weiß,
dass das, was genug ist, auch genügt und durch ein Mehr nicht besser werden
kann.
Die Lebensinteressen der modernen Gesellschaften beziehen sich auf ein schier
unbegrenztes Güterwachstum, um ein gutes Leben führen zu können. Aspekte des
gerechten Zusammenlebens treten demgegenüber gänzlich zurück. Das individu-
elle Begehren richtet sich also auf die materiellen Güter. An die Stelle des
Begehrens nach den materiellen Dingen lehrt und praktiziert der Sabbat, wie
Heschel in rabbinischer Auslegungstradition sagt, ein „Begehren nach den Gaben
der Zeit“ (Heschel 1990, 71). Der Sabbat ist die Einübung eines guten Lebens,
einer Lebenskunst des Genug-Haben-Könnens.

7. Ökonomie der Fülle contra Ökonomie der Bereicherung

Die Solidar-Ökonomie der Tora ist von einer Haltung des Vertrauens auf die Güte
des Schöpfers und die Fülle der Schöpfung getragen; die ökonomische Tugend in
der Kapitalerwerbsökonomie ist aufgrund des Knappheitstheorems dagegen struk-
turell die Habgier. In der Ökonomie aus Vertrauen auf die Fülle der Schöpfung
geht man haushälterisch mit der Schöpfung um.
Denn der Herr wird dich reich segnen in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir
als Erbbesitz gibt (Dtn 15,4).

Da die Schöpfung überreich gesegnet ist, können Menschen solidarisch mit-


einander umgehen. In einer Ökonomie der Knappheit dagegen ist eine Haltung
nötig und auch vernünftig, die Wachstum und Gewinne zur Beseitigung der
Knappheiten erzielen will. Menschen konkurrieren miteinander um die knappen
Güter. Die Tora beschränkte das Erwerbsstreben und die Habgier des Menschen
auf zweifache Weise: Sie verurteilte die Habgier auf der motivationalen Ebene als
Untugend und setzte ihr mit dem Sabbatgebot eine verbindliche Grenze. Habgier
und Erwerbsstreben sollten sich also nicht frei ausleben können. Diese doppelte

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Temperierung regulierte die Ökonomie insgesamt und verschaffte dem Erwerbs-
trieb nur einen begrenzten Spielraum. In der kapitalistischen und am Markt
orientierten Wachstumsökonomie sind diese inneren und äußeren Grenzen aller-
dings nicht nur gänzlich gefallen, sondern seit Adam Smith ist der von einem
grenzenlosen Erwerbsstreben getriebene Mensch zum Leitbild geworden. Der
homo oeconomicus ist Leitfigur der kapitalistischen Epoche. Er ordnet sein Leben
und alle seine Lebensinteressen den Zwecken der Ökonomie unter.
Es gibt eine lange und noch keineswegs abgeschlossene Auseinandersetzung über
die Bewertung der antiken Ökonomie, in der es vornehmlich um den Stellenwert
von Märkten im ökonomischen System geht. Jenseits dieses Streits sieht der
Schweizer Ökonom Hans C. Binswanger eine Gemeinsamkeit, die die Ökonomie
der Antike mit der Ökonomie der Neuzeit verbindet:
Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirtschaft, deren
Triebfeder das Gewinnstreben ist (Binswanger 1995, 34).

Das Streben nach Gewinn durch Produktion oder Handel ist demnach jene
gemeinsame Triebkraft. Auch wenn erst mit der industriellen Revolution im
18./19. Jahrhundert sich ein voll ausgebildetes Marktsystem entwickelte, so
trugen doch eben diese Triebkräfte des Gewinnstrebens dazu bei, dass die Markt-
wirtschaft aus keimhaften Ursprüngen in der Antike inzwischen zu einem mächti-
gen Exemplar globalen Ausmaßes herangewachsen ist. Binswanger schreibt
deshalb zu Recht:
Die Bibel ist in ökonomischer Hinsicht modern, weil die Wirtschaft, die sie
beschreibt, eine Marktwirtschaft ist bzw. sich immer stärker in marktwirt-
schaftlicher Richtung ausbildet. Die Grundlagen dieser Marktwirtschaft sind
wie heute: das private Eigentum an den Produktionsmitteln, insbesondere am
Boden, und ein weiträumig zirkulierendes Geld, das Waren aus den verschie-
densten Gebieten an zentrale Handelsplätze zusammenbringt und austauschbar
macht, sowie die Kreditvergabe gegen Zins [die allerdings gemäß der Bibel
unter „Brüdern“ d. h . unter Juden, aber auch nur unter ihnen, verboten war]
(Binswanger 1995, 23).

Es gibt deshalb Gesichtspunkte, die es sinnvoll erscheinen lassen, gerade ange-


sichts der Krise der Weltwirtschaft Einsichten der Vormoderne heranzuziehen:
Wollen wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen, müssen wir daher zu
ihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnanten und scharfsinnigen Ana-
lysen und Vorschlägen der damaligen Zeit zurückgehen, um auch von dort
Richtlinien für unser eigenes Handeln zu gewinnen (Binswanger 1995, 34).

Die Lebensinteressen der modernen Gesellschaften beziehen sich auf ein schier
unbegrenztes Güterwachstum, um ein gutes Leben führen zu können. Aspekte des
gerechten Zusammenlebens treten demgegenüber zurück. An die Stelle des
Begehrens nach den materiellen Dingen lehrt und praktiziert der Sabbat, wie
Heschel in rabbinischer Auslegungstradition äußert, ein „Begehren nach den

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Gaben der Zeit“. Der Sabbat ist die Einübung eines guten Lebens, einer Lebens-
kunst des Genug-haben-Könnens.
Zusammengefasst heißt das: Zentral für die Idee des Sabbats steht das Leitbild
einer Freiheit von ökonomischen Zwängen und einer Befreiung zu einer Lebens-
fülle. Ökonomie ist in ihrer humanen Lebensdienlichkeit daran zu messen, dass
sie nicht den Markt, sondern die Menschen frei macht. Denn Ziel des Wirtschaf-
tens ist nicht, die Güter zu maximieren, sondern die Nutzung der Güter für ein
gutes Leben und gerechtes Zusammenleben der Menschen. Anders gesagt: Die
Wirtschaft ist ein Mittel, das einem Zweck dient. Sie ist ein „Lebens-Mittel“, das
einem Zweck nützlich ist, nämlich dem Leben der Menschen förderlich zu sein.

8. Die Ökonomie des Sabbats: eine Tora für Christen

Jesus war Jude. Er lebte den Sabbat. Wie die Rabbinen seiner Zeit rang er um eine
Sabbatpraxis, die dem Sabbat entspricht. Er kannte das Sabbatjahr und wusste um
die Hoffnung der Menschen auf ein Jobeljahr, in dem sie endlich von der
Schuldenlast befreit in Ruhe den Boden bestellen und die Früchte ihrer Arbeit
genießen konnten. Jesus knüpfte an diese Hoffnungen seiner Zeitgenossen an, als
er in der Synagoge von Jerusalem seine Sendung beschrieb:
Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich
gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht verkünde und den Blinden
das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnaden-
jahr des Herrn ausrufe (Lk 4,18 f.).

Diese Rede Jesus enthält ein Sabbatprogramm: Schuldenerlass, endlich ein Jobel-
jahr, endlich Freiheit für die, die in Schuldknechtschaft gefangen sind. Die ökono-
mische Sabbattradition hinterließ in den Evangelien zahlreiche Fußspuren. „Ver-
gib uns unsere Schuld, wie auch wie vergeben unseren Schuldigern“, lehrt Jesus
seine Jünger beten. Keineswegs ist hier nur an moralische Schuld gedacht, denn
das hier verwendete Wort (avfi,hmi) meint „Sünden vergeben“ und Schulden
„erlassen“. „Leiht auch, wenn ihr nichts dafür erhoffen könnt“(Lk 6,35), heißt es
in der Bergpredigt. Biblisch geschulte Ohren hören hier die Mahnung aus dem
Deuteronomium, angesichts des Sabbatjahres dennoch zu leihen: „Bereitwillig
sollst du [das erbetene Darlehen] geben“ (Dtn 15,10). Lesen wir doch die neu-
testamentlichen Schriften von der Einsicht her, dass die Grundforderungen der
Tora nach Sabbatjahr, Zinsverbot und Darlehensgabe nicht wiederholt werden
mussten, und zwar deshalb, weil sie ganz unbestritten für die jüdischen Nach-
folger Jesu in der frühen Kirche galten.
Der Alttestamentler Frank Crüsemann nennt dies ein entscheidendes Prinzip der
Tora: Es ist eine unbedingte und vorrangige Logik der Humanität, die Recht und
Gerechtigkeit gegen andere Rationalitäten durchsetzen will. Biblische Einsichten,
wie sie im Sabbat, Sabbatjahr, Jobeljahr, Zinsverbot und Erlassjahr einen

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Ausdruck finden, begrenzen die Dominanz des Ökonomischen und dringen auf
einen Vorrang der Humanität vor der Logik des Marktes. Nicht Antworten auf
ökonomische Probleme, die die wirtschaftliche Moderne stellt, sind von der Tora
zu erwarten, wohl aber ethisch bedeutsame Grundentscheidungen und Prioritäten
für eine lebensdienliche Ökonomie. Sie kann nur dann entstehen, wenn im Kon-
flikt zwischen den ethischen Zielen und der Logik der Ökonomie eine parteiliche
Logik der Humanität zugunsten der Schwächeren zum Maßstab wird. Das ist
unser ethisches und theologisches Erbe, dem wir als Christen auch heute ver-
pflichtet sind.

9. Kulturgesellschaft der befreiten Zeit für alle

Der Sabbat ist eine reale Praxis der Umverteilung des Sozialprodukts, das zur
„Finanzierung“ von Zeitwohlstand als Praxis eines guten Lebens und gerechten
Zusammenlebens herangezogen wird. Das Sozialprodukt steht also nicht für eine
Akkumulation in den Händen weniger zur Verfügung und dient nicht der
Maximierung der privaten Aneignung des Sozialproduktes, sondern vielmehr der
Maximierung der frei verfügbaren Zeit. Wie in der Sabbatpraxis das Sozialpro-
dukt zur Umverteilung auf einen ökonomiefreien Sabbattag verwendet wird, so
kann dieses Ethos inspirieren, das Sozialprodukt hocheffizienter Märkte heute für
eine tatsächliche Freisetzung der abhängig Beschäftigten einzusetzen: Nicht der
Markt, sondern die Menschen sollen frei werden, darin besteht die Alternative des
Sabbatethos zur neoliberalen Verheißung der Marktfreiheit. Wenn auch von einer
anderen Argumentation und normativen Begründung her, kommt der Wirtschafts-
ethiker Peter Ulrich zu einer ähnlichen Reformperspektive, die er eine „Kultur-
gesellschaft der partiell befreiten Zeit für alle“ (Ulrich 1997, 227, 332) nennt. Der
ökonomische Befreiungsaspekt, der sich im Sabbat äußert, ist gegenwärtigem
Denken gänzlich abhanden gekommen, denn Effizienz, Wachstum und Steige-
rung der Produktivität bestimmen die Bewusstseinslage. Die Ökonomie des
Sabbats ist ein Widerlager zu einem Vorrang der Logik der Ökonomie vor den
Ansprüchen des Lebens. Jenseits einer allein gültigen Logik des Marktes
beschreibt er eine andere, eine alternative Zweckbestimmung von Ökonomie.
Auch wenn die Sabbat-Ökonomie einer fernen Zeit entstammt, so kann ihr
ethischer Grundansatz doch auch unter gegenwärtigen Bedingungen eine Gegen-
bewegung gegen eine grenzenlose Kolonialisierung der Lebenswelt durch die
Logik der Ökonomie motivieren.
Hannah Arendt führte darüber Klage, dass die Dramatik des Endes der Arbeits-
gesellschaft gerade darin bestehe, dass sie von den Fesseln der Arbeit befreit,
keine Vorstellung mehr habe von der „höheren und sinnvolleren Tätigkeit, um
derentwillen die Befreiung sich lohnen würde“ (1981, 11). Genau dies ist der Ort,
an dem die Sabbatidee ihre die Arbeitsgesellschaft überwindende Kraft entfalten
kann. Sie kann einen zielführenden Exodus aus einer Gesellschaft, die Arbeit,

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Erwerb und Gewinnorientierung in das Zentrum gerückt hat, in eine Gesellschaft
der befreiten Zeit für alle einleiten oder wenigstens inspirieren. Ständig
gesteigerte Naturbeherrschung, rastlose Dynamik einer im Grunde ziellosen
Wachstumsgesellschaft mit ihren naturzerstörerischen Folgen unterbricht die
Sabbatidee und befreit dazu, die ökonomischen und technologischen Mög-
lichkeiten der Ökonomie für ein von den Zwängen der Ökonomie befreites Leben
einzusetzen. Lebenszeit, die zuvor für die Produktion aufgewendet werden
musste, kann wieder angeeignet werden. Ein Freiraum für selbstbestimmte und
keinem Zweck unterworfene Tätigkeiten kann sich eröffnen – eine Sabbatzeit.
Die Knappheitsökonomie geht von einer sinnverkehrten Realität aus. Sie unter-
stellt Mangel und Knappheit, wo doch Fülle, sogar Überfülle existiert. Sie setzt
weiterhin anachronistisch wie in Zeiten von Mangelgesellschaften auf eine Öko-
nomie der Güterfülle. Sie hält an ihrem Versprechen von einem nie endenden
Wohlstandsgewinn fest. Dieser Verheißung von bloßer Güterfülle im Übermaß
hält der Sabbat eine diametral entgegengesetzte Vision entgegen, die sinngebende
Idee nämlich, den technologischen Fortschritt in den Dienst des guten Lebens und
gerechten Zusammenlebens der Menschen zu stellen. Der Sabbat enthält einen
Begriff einer anderen Modernität als jener der bloßen Güterfülle, denn er
beschreibt das Leitbild einer Freiheit von ökonomischen Zwängen und einer Be-
freiung zur Lebensfülle. In seinem berühmten Essay Ökonomische Möglichkeiten
unserer Enkel hat der Ökonom John Maynard Keynes 1930 eine vergleichbare
Perspektive aufgenommen, als er die Hoffnung ausdrückte, dass eine Zeit
kommen werde, in der die drängenden wirtschaftlichen Probleme gelöst seien und
dadurch Wirtschaften – wie in präkapitalistischen Zeiten – wieder tatsächlich zu
einer Nebensache eines guten Lebens werden könne.
Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch damit vor seine wirk-
liche, seine beständige Aufgabe gestellt sein – wie seine Freiheit von
drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden, wie seine Freizeit auszu-
füllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er
weise, angenehm und gut leben kann. (Keynes 1988, 122)

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Literatur

Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. 2. Aufl. München: Piper,
1981.
Binswanger, Hans Chr.: „Die Marktwirtschaft in der Antike: Zu den ökonomi-
schen Lehren der griechischen Philosophen.“ Kuno Füssel und Franz
Segbers (Hg.): „…so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit“: Ein
Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie. Luzern: Edition Exodus, 1995, 23–35.
Crüsemann, Frank: Die Tora: Theologie und Sozialgeschichte des alttestament-
lichen Gesetzes. München: Kaiser, 1992.
Fromm, Erich: Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesell-
schaft. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1976.
Heschel, Abraham J.: Der Sabbat: Seine Bedeutung für den heutigen Menschen.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1990.
Jacob, Benno: Das Buch Exodus. Stuttgart: Calwer, 1997.
Keynes, J. M.: „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder.“ (1930)
Norbert Reuter: Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität: Wirtschafts-
politische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen. Marburg: Metropolis,
1988, 122.
Meeks, M. Douglas: God the Economist: The Doctrine of God and Political
Economy. Minneapolis: Fortress, 1989.
Segbers, Franz: Die Hausordnung der Tora: Biblische Impulse für eine theologi-
sche Wirtschaftsethik. 3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell-
schaft, 2002.
Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen
Ökonomie. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt, 1997.
Weber, Max. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Ge-
sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen: Mohr, 1927.

Franz Segbers, Dr. theol., alt-katholischer Theologe, apl. Professor für Sozialethik
an der Universität Marburg; Referent für Ethik und Sozialpolitik im Diakonischen
Werk in Hessen und Nassau. E-Mail: franz.segbers@online.de

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