Wahr ist die Aussage, dass heutzutage kein Mensch mehr in völliger Ruhe leben kann.
Ruhe – was ist das überhaupt? Ein Abwesend-Sein von Lärm, oder nicht doch etwas mehr?
Wahr ist auch die Aussage, dass Schönheit nicht nur Geschmackssache ist, sondern dass uns
meistenteils im Alltag eindeutig Hässliches seine Fratze entgegensetzt, nicht zuletzt in Zeitungen
und Fernsehbildern, aber auch in der so genannten Freizeit. Allenthalben und von allen Seiten wird
des Menschen Seele bestürmt von Eindrücken und Einflüssen, die ihn seiner Mitte berauben, ihn
hin- und herwanken lassen, ihn verzweifelt nach einem Lichtschimmer in dunklem Kerker des
Geistes (und manchmal auch des Körpers) suchen lassen.
Schönheit – ist das für einen Muslim nicht insbesondere das Erkennen der Dinge in ihrer Wahrheit,
gemäß der qur’anischen Aussage, dass Allah die Wahrheit (Haqq) ist und ebenso Sein (ta’ala)
Wort? Und ist nicht das, was Freude im Herzen des Menschen erweckt, schön? Und wird nicht
zuhauf in Qur’an und authentischer Tradition gesagt, dass Schönheit in äußeren und innerlich
verborgenen Dingen gut und erwünscht ist, ja zum ausgewogenen Menschen gehört?
Gerade heute bewegt mich der starke Wunsch nach Ruhe, nach Betrachtung schöner Dinge, wohl
weil ich mich in der Stadt umgeben sehe von lauter unangenehmen Stimmen, Bildern; stinkende
Gerüche krempeln mir gleichsam die Nasenschleimhäute um. In der Bahn, auf der Straße, in Läden
und Gängen viel Dreck, Schmutz und Lärm, wie es ihn vor Jahren so nicht gab.
Doch vor meinem inneren Auge sehe ich Schönes, wenn es mir nur gelingt, die Widerwärtigkeit
des Alltags auszublenden: trockenes Grasrascheln, nicht blödes Handy-Gepiepse; gemächliche
Klassik und traditionelle Kunstmusik anstelle von Hip-Hop und Konsorten; feine
Federzeichnungen und herrliche Farben statt plumper Plakatwerbung mit dumm-ekligem Inhalt und
verrückter Botschaft.
Ohne klaren Plan, wie man in dieser Lage zu einem „schönen“, also von Schönheit erfüllten, Sein,
zurückgelangen kann, ist man verloren, vor sich hin kriechend; stammelnd und lallend versucht
man, Stellungen zu erreichen, Posten zu ergattern, die letztendlich doch nur die Leere würdelosen
Seins bekräftigen.
Ehre und Anstand bilden eine der Voraussetzungen, ein schönes Inneres im Menschen
heranzubilden, jedoch sind diese Eigenschaften sicherlich immer dünn gesät. Aber wenn sich nur
ein kleiner, feiner Keim dieser inneren Haltung gegen den ihn umgebenden Schmutzflor von
Skrupellosigkeit und Hemmungslosigkeit durchsetzt, dann hat man Hoffnung, gibt sich nicht
geschlagen.
Schönheit entsteht, wird zu etwas, was der wahre Liebhaber des ruhigen Seins schätzt.
Weil aber Schönheit sich dauerhaft in bestimmten Dingen, feinstofflichen Seinsformen, darstellt,
entsteht auch beim anspruchslosen, einfachen Geist der Wunsch nach Schönem. So wird die
aufgesparte Ruhe aufgebraucht durch das Streben nach etwas, was schön ist oder zur Schaffung
von Schönem nötig und unentbehrlich ist.
Ein Bild braucht Papier, Leinwand, Holz oder eine Steinwand; Farben sind ein Muss, Pinsel,
Lösmittel und Instrumente zur Vorzeichnung kann man nicht entbehren... und wie das alles zur
Ruhe und Schönheit erhalten? Durch Suchen, Hetzen, Kämpfen, Streben, kurz: Verbrauchen der
Ruhe, welche man doch noch kurz zuvor angespart hatte...
So gesehen gleicht das erfolgreiche Schaffen von Schönem (im Kunstsinne) einem gesunden
Atmungsvorgang:
Einatmen - Ruhe sammeln;
Ausatmen - Ruhe opfern, ausgeben, für SCHÖNES.
Aber tatsächlich wird Ruhe meist nicht für Schönes angespart, sondern für Hässliches vergeudet:
Probleme, Streitigkeiten, unnützes Zeug und Gerede, Zerstörung und Wut, das ist das Ergebnis von
Streben, Anstrengen und Hetzen der meisten Menschen.
Es ist klar, dass niemand sich ganz davor bewahren kann: es ist nun einmal Allahs Gewohnheit, den
Menschen durch solche Heimsuchungen zu prüfen. Aber wer schmeißt denn ohne Notwendigkeit
seine Erträge in den Müll, vernichtet sein Kapital ohne Sinn und Zweck? Nur ein Schwachsinniger
oder ein Wahnsinniger.
Wo liegt nun die besondere Verbindung zum Monat Ramadan, den Allah (ta’ala) – mit Seiner
Erlaubnis – uns gewähren wird?
Gerade in dem: im Ausruhen.
„Saum“ (wörtlich: Fasten) bedeutet ursprünglich „Innehalten“; man bezeichnete in alter Zeit
Pferde, die in ihrem Lauf innehielten, anhielten und dann stillstanden, als „Khail sā’im“. In diesem
Sinne wird auch in einer Reihe berühmter Sahih-Hadithe seitens des Propheten (saws) empfohlen,
dass der Fastende, wenn er angegriffen wird, nur sagen solle: „innī sā’im“, also: ich halte inne, mit
Essen, Trinken, Geschlechtsverkehr, aber auch MIT ALLEM ANDEREN.
Der Ramadan schafft eine Trennung, zwingt – wenn er ernst genommen wird und aufrichtig befolgt
wird – zu einer Ruhe, zur Besinnung; wer darunter nur ein Nicht-Essen und Nicht-Trinken, einen
rein körperlichen Verzicht sieht, und sei es aus sozialen Aspekten heraus, reduziert die Kraft des
Ramadan dementsprechend. In Sahih-Hadithen heißt es vom Gesandten Allahs (saws): „Und so
mancher wird vom Fasten [des Ramadan] nicht mehr haben, als dass er hungert und dürstet.“
Wem sich aber die innerliche und geistige Dimension des Ramadan erschließt, findet hierin einen
Schlüssel zur Ruhe, Ruhe des Körpers und des Herzens, und somit auch Schönheit, und somit auch
Wirklichkeit und Wahrheit.
Gebe Allah (ta’ala) einem jeden geschätzten Leser und einer jeden geschätzten Leserin dieser
Zeilen die Gelegenheit, diese kostbare Frucht des Fastens, des Monats Ramadan, besonders der
„Nacht der Bestimmung“ (Lailatu-l-qadr) zu finden, und möge Allah der Allbarmherzige uns nicht
den darin verborgenen Segen verwehren.