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Es soll nicht mehr als eine Trivialität darstellen, wenn Kant in der
«Kritik der reinen Vernunft» sagt, dass «Glückseligkeit die
Befriedigung aller unserer Neigungen» ist. Eine verwandte
Bestimmung findet sich in der «Kritik der praktischen Vernunft».
Glückseligkeit, sagt Kant hier, «ist der Zustand eines vernünftigen
Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach
Wunsch und Willen geht». In einem bestimmten Sinn ist dies
tatsächlich trivial - insofern es nämlich analytisch wahr ist: Wenn
wir wünschen und wollen, wünschen und wollen wir eben das, was
wir wünschen und wollen. Wünschen und Wollen, so könnte man
sagen, enthält stets ein Verlangen nach Erfüllung. Zwar können
wir uns kritisch zu unseren eigenen Wünschen und unserem
eigenen Willen verhalten, aber wenn wir das ernsthaft tun, bilden
wir umgehend neue Wünsche und Absichten aus, für die Erfüllung
so wichtig ist wie für ihre Vorgänger. Alles Verlangen, wie
reflektiert oder begründet es auch sei, ist ein Verlangen nach
Erfüllung.
Diese enge Verbindung von Wunsch und Erfüllung ist jedoch nur
ein Teil der Wahrheit über die Verfassung eines guten Lebens.
Denn dass ein Wunsch ein Wunsch nach Erfüllung ist, bedeutet
nicht notwendigerweise, dass ein Wunsch erfüllt ist, wenn das
Subjekt dieses Wunschs die gewünschte Situation erreicht. Ein
Wunsch mag so «informiert» oder «vernünftig» sein, wie er will, er
mag die wohlüberlegte Komponente eines rationalen Lebensplans
sein: Es bleibt dennoch eine offene Frage, ob seine zu einem
bestimmten Zeitpunkt des Lebens erreichte Erfüllung für das
Subjekt dieses Lebens tatsächlich eine Situation der Erfüllung
darstellt. Man darf die Vorstellung oder Vorwegnahme der
Erfüllung auf Seiten der begehrenden Person nicht mit dem
gleichsetzen, was im Prozess ihres Lebens tatsächlich als Erfüllung
zählt.
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Natürlich ist auch das intime Verhältnis zwischen Glück und Zufall
auf den ersten Blick reichlich trivial. Aber in dieser Trivialität liegt
wiederum eine Einsicht verborgen, die nicht übersehen werden
sollte. Das Element des Zufalls, von dem die Rede war, betrifft
nämlich nicht allein die Objekte unseres Verlangens, es betrifft
auch unser Verlangen selbst. Wenn es zutrifft, dass unsere
Erwartungen in vielen Situationen der Erfüllung positiv enttäuscht
werden - wir bekommen nicht ganz das, was wir wollten, aber eben
das verschafft uns eine ausserordentliche Befriedigung -, dann
schliesst Glück eine Bekanntschaft mit Wünschen (oder Aspekten
von Wünschen) mit ein, die wir möglicherweise vor ihrer Erfüllung
noch gar nicht hatten.
Diese Bekanntschaft freilich lässt sich nicht von den Objekten oder
Gelegenheiten solch einer überraschenden oder überwältigenden
Erfüllung trennen. Wir lernen etwas kennen, das wir schätzen
lernen, während wir es kennen lernen. Sexuelle und andere
ästhetische Erfahrungen sind hierfür ein einschlägiges Beispiel,
aber eben nur ein Beispiel. Diese Erfahrung ist ein
paradigmatischer Fall der Erfahrung existenziellen Glücks. Glück
in diesem Sinn ist nicht so sehr - wie es Kant darstellt - eine
Befriedigung gegebener Neigungen, sondern vielmehr eine
Erfüllung (bis dahin) ungeahnter Wünsche.
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Dieses Glück ist etwas ganz anderes als eine Summe erfreulicher
Zustände. Nach dem antiken Verständnis beispielsweise wäre es
abwegig, das, was ein gutes menschliches Leben ausmacht, als
Konstellation erfüllter Wünsche oder erreichter Ziele zu deuten. So
unterstützend solche Verhältnisse auch sein mögen, die
entscheidende Qualität liegt für die antiken Autoren vielmehr in
der Art der Führung des Lebens. Ein gutes Leben wird so geführt,
wie eine Person es vernünftigerweise wollen kann - wie gut oder
schlecht die Umstände ihres Lebens auch sein mögen. Für Sokrates,
Platon und Aristoteles ist diese Qualität der Lebensführung nicht
etwas neben dem Glück und Gedeihen, es ist Wohlergehen in
seinem besten Sinn.
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Sobald man auf die gesamte Strecke des Lebens sieht, kommt ein
zweites Paradox hinzu. Ein «erfülltes Leben» ist kein Leben in
Erfüllung. Im Blick auf den Vollzug des Lebens nämlich ist es gar
nicht Erfüllung allein, wonach es uns verlangt. Was wir begehren,
ist Erfüllung und Begehren. Es genügt uns nicht, befriedigt zu sein,
ist Erfüllung und Begehren. Es genügt uns nicht, befriedigt zu sein,
und sei es auf die ekstatischste Weise. Wir wünschen, was wir
wünschen und wollen, aber wir wollen uns auch wünschend und
wollend. Es ist uns nicht allein wichtig, erreichbare Ziele zu haben,
es ist uns gleichermassen wichtig, etwas - und gewöhnlich mehr als
nur etwas - zu haben, an dem uns wirklich etwas liegt oder um das
es uns mit ganzem Herzen geht. Ein solches Caring, wie es Harry
Frankfurt in den Mittelpunkt seiner praktischen Philosophie stellt,
ist eine Art des Festgelegtseins im Handeln, durch das wir uns
bestimmten Werten oder Idealen - zumindest eine Zeit lang -
vorbehaltlos verschreiben. Dies können politische, familiäre,
artistische oder andere Vorhaben sein.
Das Caring, mit dem wir uns ihnen verschreiben, ist weniger ein
Ziel als vielmehr eine Art des Verlangens. Es schliesst mit ein, dass
einem daran liegt, dass und wie einem an den fraglichen Dingen
liegt. Das aber bedeutet, dass dieses Sichsorgen, Sichkümmern,
Sich-etwas-angehen-Lassen oder mit einem Wort (das hier die
eleganteste Übersetzung sein dürfte): dass diese Leidenschaft für
bestimmte Dinge des Lebens selbst ein zentrales Ziel des Lebens
ist. Und zwar ist sie es unabhängig davon, ob wir alles das erreichen
und also Erfolg damit haben, worum es uns dabei (als Politiker, als
Mütter oder Väter, als Künstler usw.) jeweils geht. Leidenschaften
dieser Art stellen ein geformtes Verlangen dar, das seinen Wert im
Leben von Personen gerade als eine Form des Verlangens hat. Es
ist ein Verlangen, das sie nicht missen wollten. Es ist ein
Verlangen, von dem sie nicht wollen, dass es sich beruhigt.
Was und wer wir sein wollen, lässt sich nur im Austausch mit
anderen und anderem entwickeln. Dieser Austausch aber hält
Überraschungen bereit, die uns nicht allein von aussen begegnen.
Denn um einen eigenen Willen zu bilden, müssen wir einigen der
Antriebe folgen, die sich in uns gebildet haben; um unseren
Lebensweg selbst zu bestimmen, müssen wir unbestimmte - und
vielleicht unbestimmbare - Bereiche unseres Wünschens und
Wollens durchqueren.
Obwohl diese Antwort auf die Frage nach dem Glück alles in allem
die philosophische Standardantwort ist - gut zu leben, heisst,
autonom zu leben -, weicht sie doch in entscheidender Hinsicht
vom klassischen Standard ab. Ein abschliessendes Gedankenspiel
kann dies verdeutlichen. Immer wieder ist überlegt worden,
welches denn der wichtigste unter den menschlichen
Charakterzügen sei. Die Tradition hat auf die Frage nach dem
bevorzugten Medium eines guten menschlichen Lebens stets mit
dem Hinweis auf Tugenden wie «Gerechtigkeit», «Besonnenheit»,
«Bescheidenheit» und «Aufrichtigkeit» geantwortet, die alle ihren
Schwerpunkt im moralischen Verhalten haben. So wichtig sie aber
auch sind, sie allein werfen auf die Strecke des Lebens ein allzu
steriles Licht.
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