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Globalisierung der Bilder (5)

Die Ästhetik der globalisierten Bildwirtschaft


11.12.2003

[Dia links: Mondrian] [Dia rechts: Wols]


die beiden letzten Vorlesungen stellten verschiedene Versuche innerhalb der Kunst vor,
Bilder zu produzieren, die interkulturelle, globale, universale oder gar planetarische
Verbreitung erstreben
dabei ging es den Bildproduzenten auch jeweils darum, mit den Bildern die Menschen zu
prägen, ihr Bewußtsein zu formatieren, ja vielleicht sogar einen Neuen Menschen zu schaffen
der Anspruch auf Globalisierung der Bilder resultierte erst aus der Überzeugung, mit ihnen
das Glück der Welt steigern zu können
ein Avantgardist wie Mondrian glaubte an die wahre Gestaltung, befreit von allem
Beiläufigen, Vergänglichen, Beliebigen – und damit von höchster Reinheit, Klarheit – eben
universal
die Vertreter der abstrakten Kunst, vor allem ihre Fürsprecher glaubten daran, daß Werke, die
direkter Ausdruck von Welterfahrung sind, Allgemeinmenschliches zum Thema haben und
insofern überall verständlich sind – daß diese Werke die Sprache der Freiheit sprechen und
die Menschen dazu bringen können, sich selbst besser zu begreifen [Dia rechts:
Sozialistischer Realismus]
die Propagandisten des Sozialistischen Realismus setzten darauf, daß sich mit Sujets von
Glück und Frieden alle Menschen erreichen lassen, ja daß damit kollektive Bilder von
Zukunft und Paradies dargestellt werden können – und daß sich die Menschen auf diese
Weise motivieren lassen
bei all diesen Ansätzen spielt nicht nur die idealerweise weltweite Verbreitung der jeweiligen
Kunst eine Rolle, sondern deren Initiatoren scheinen zugleich der Ansicht, daß damit eine
Endstufe erreicht sei
weder Mondrians Reduktionen, noch die Formensprache der Abstraktion noch das Repertoire
des Sozialistischen Realismus, der sich selbst als stilfrei und damit zeitlos empfand, sollten
nochmals durch andere Arten von Bildern überholt werden können
=> neben der territorialen Unbegrenztheit gehört zu diesen Konzepten auch eine temporäre
Unbegrenztheit – es sind der Idee nach jeweils Bilder nicht nur für den gesamten Globus,
sondern auch für alle Ewigkeit
etwas anders verhält es sich bei einem weiteren Versuch, nämlich bei der 'planetarischen
Folklore' des Victor Vasarely [Dia rechts]
zwar war auch er davon überzeugt, Bildprinzipien gefunden zu haben, die allen Menschen
Freude bereiten bzw. sie stimulieren können – und indem er diese Prinzipien – seine
'plastischen Einheiten' – zum Patent anmeldete, bekundete er auch, daß er darin etwas sah,
was den Charakter einer technischen Erfindung besitzt, hinter die man nicht mehr
zurückgehen kann
die Interpretation des Bilds als Form von Technik bedeutet jedoch auch, daß es bei weiterem
technischen Fortschritt obsolet werden könnte, dies eine Möglichkeit, die Vasarely eigens
bedachte
seine an Science Fiction erinnernde Weltbeglückungsvision sah vor, daß Menschen am besten
von vornherein mit Hilfe z. B. der Genetik glücklich programmiert werden, so daß sie es
irgendwann nicht mehr nötig haben, durch visuelle Stimulation nachträglich beglückt zu
werden
=> die 'planetarische Folklore' als Art von Drogenprogramm
dabei dachte Vasarely rein konsumentenbezogen, d. h. es ging ihm nicht darum, die
Menschen zu einem besseren Geschmack zu erziehen, sondern er wollte sich seinerseits
danach richten, was bei den Bildkonsumenten am besten ankommt

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mit Hilfe computergestützter Massenumfragen wollte er ästhetische Vorlieben ermitteln, um
zu erreichen, "daß die Kunst sich dem ewigen Kreislauf von Produktion-Konsum einfügt"
=> die Nachfrage sollte über das Angebot bestimmen, d. h. letztlich sollten die Konsumenten
darüber bestimmen, welche Bilder in Umlauf kommen – dies aus der Überlegung heraus, daß
so optimal wirksame Bilder produziert werden
eine solche nachfrageorientierte Bildökonomie kann natürlich genauso deshalb attraktiv
erscheinen, weil sie am profitabelsten ist
anstatt irgendetwas zu produzieren und darauf zu hoffen, Käufer zu finden, orientiert man sich
im Angebot an dem, was ohnehin verlangt wird
vorteilhaft für den Produzenten: Bilder, die nicht nur von irgendwem verlangt bzw. gekauft
werden, sondern die möglichst von vielen – oder möglichst lange – gekauft werden, da dann
die Rentabilität steigt
im Idealfall ist dasselbe Bild weltweit absetzbar und dies auch nicht nur für kurze Zeit
heute: Beschäftigung mit einem Typ von Bildern, bei dem dieser ökonomische Idealfall
eigens angestrebt wird – d. h. wo es nicht darum geht, Menschen mit Bildern zu verändern, ja
wo kein Sendungsbewußtsein die Motivation für die Bildproduktion darstellt, sondern der
Wunsch, damit möglichst viel Geld zu verdienen – was im Zeitalter der Globalisierung auch
bedeutet: möglichst weltweit Geld zu verdienen [Dia links] [Dia rechts]
bei diesem Typ von Bildern handelt es sich um die sog. 'stock photography', d. h. um Fotos,
die von Agenturen auf Vorrat gemacht werden und aus denen sich Redaktionen von
Zeitschriften oder Werbeagenturen bedienen können, wenn sie Abbildungen für einen Artikel
oder eine Anzeige benötigen – und selbst nicht die Zeit oder das Equipment haben, welche
herzustellen
in den letzten Jahren gab es auf dem Markt der Bildagenturen, die ja noch viel mehr als nur
'stock photography' im Angebot haben, gewaltige Umwälzungen, ja große
Konzentrationsprozesse
diese ergaben sich dadurch, daß fast gleichzeitig zwei der reichsten Männer die Idee hatten,
im Bereich der Bildagenturen zu investieren – Bill Gates und Mark Getty (letzerer eigentlich
Banker)
Gates gründete 1989 Corbis, Getty 1995 Getty Images – beide kauften zahlreiche kleinere
Agenturen auf, die oft aus spezielle Bildtypen spezialisiert waren (food photography,
Sportfotografie etc.), erwarben auch große Bildarchive (Corbis: Bettmann-Archiv mit 15 Mio.
oft berühmten Fotos aus der Geschichte des Fotojournalismus)
heute sind beide Marktführer, haben jeweils mehr als 70 Mio. Bilder in ihrem Eigentum – und
sind global tätig, ja haben Niederlassungen in fast allen Industrieländern in Europa, Amerika
und Asien
um 'stock photography' zu produzieren, haben die großen Agenturen jeweils zahlreiche
Fotografen unter Vertrag, die jedoch kaum noch aus eigener Initiative Bilder anbieten,
sondern konkrete Aufträge bekommen und dabei auch ästhetische Richtlinien einhalten
müssen
das oberste Prinzip ist dabei, daß die Fotos (wie schon angesprochen) möglichst oft und
möglichst lange verkauft werden können, sich also optimal rentieren
die Themen der Bilder ergeben sich aus der Nachfrage der Kunden der Agentur
seit z. B. Bildungspolitik aktuell geworden ist, achten die Agenturen darauf, immer
Bildmaterial im Angebot zu haben, das sich als Illustration über Artikel zur PISA-Studie, zum
Notstand der Hochschulen, zu Kriminalität an Schulen etc. eignen – die aber im besten Fall
zugleich vielleicht in Japan unter einer ganz anderen Headline verkäuflich sind
mehrere Fotografen werden zu einem speziellen Setting eingeladen, das von der Agentur
vorbereitet und durchgeführt wird – danach werden die geeignetsten Bilder ausgewählt und
über Kataloge sowie via Internet offeriert [Dia links] [Dia rechts]

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vor allem aber werden sie verschlagwortet, so daß sie einem Kunden sofort angeboten werden
können, wenn dieser etwas ganz Bestimmtes sucht
dabei gibt es sowohl Verschlagwortungen, die angeben, zu welchen Themen ein Bild passen
könnte (Sicherheit, Risikofreude, Urlaub etc.) – als auch Verschlagwortungen, die die
Bildinhalte spezifizieren (junge Frau, offene Haare, lächelnd, am Strand, Sommer)
daß es zu bestimmten Themen katalogisierte Bilder gibt, die man gleichsam abrufen kann, ist
im übrigen nichts Neues
in der Geschichte der Kunst spielten derart standardisierte Bildmuster sogar lange Zeit eine
große Rolle – ja man kann darin sogar eine Vorstufe globalisierter Bilder erkennen
so war es über Jahrhunderte hinweg üblich, daß gerade Maler mit sog. Musterbüchern
arbeiteten, d. h. anstatt sich jedesmal, wenn sie eine Beweinung Christi, den Selbstmord der
Lucretia oder die Tugend der Gerechtigkeit zu malen hatten, eine neue Komposition
auszudenken, rekurrierten sie auf Muster – auf geradezu kanonisierte Bildschemata, die
zudem den Voerteil hatten, vom Rezipienten schnell in ihrer Bedeutung erkannt zu werden, da
sie eben schon bekannt waren
gerade die (erkennbare) Darstellung von Allegorien klappt nur, wenn die Attribute oder auch
die Haltung der Figuren gewissen Regeln entspricht
=> die Musterbücher, die oft nicht nur regionale, sondern internationale Verbreitung besaßen.
garantierten, daß die Bilder, die in Spanien entstanden, sich nicht gravierend von denen
unterschieden, die in Flandern oder Italien gemalt wurden
allerdings: in vielen Musterbüchern befanden sich nicht etwa die Bilder selbst (das wäre sehr
aufwendig zu produzieren gewesen), sondern allein deren Beschreibung in Form von Texten
das bekannteste und einflußreichste (keineswegs aber erste) dieser Musterbücher kam 1593 in
Rom auf den Markt – und stammte von Cesare Ripa – in zahlreichen Auflagen und Varianten,
vor allem auch in vielen Übersetzungen war es unter dem Titel "Iconologia" bis ins 19.
Jahrhundert im Umlauf
als besonders schön galt eine (deutschsprachige) Ausgabe, die 1760 in Augsburg erschien –
und die sich dadurch auszeichnete, aus rund zweihundert Kupferstichtafeln zu bestehen
auf jeder dieser Tafeln ist ein Sujet behandelt – dargestellt sind vor allem Tugenden und
Laster, aber auch z. B. die artes liberales oder die fünf Sinne [Dia links] [Dia rechts]
es bietet sich nun geradezu ein Vergleich an, was sich zum selben Thema im 18. Jahrhundert
(auf Traditionen des späten 16. Jahrhunderts beruhend) bei Cesare Ripa und heute bei einer
Agentur wie Corbis finden läßt – z. B. zum Thema 'Tastsinn', 'Gefühl' [Dia rechts]
bei Ripa sieht man jeweils eine Personifikation des Begriffs im Vordergrund des Kupferstichs
– im Hintergrund eine Szene aus der Geschichte oder Mythologie, bei der der jeweilige
Begriff eine relevante Rolle spielt
erklärt ist diese Szene in einem kurzen lateinischen Text über dem Bild – darunter findet sich
eine gereimte deutsche Übersetzung dazu
in diesem Fall: eine Geschichte aus dem 12. Jahrhundert – Konstanze, Frau von Heinrich VI.,
gerät unter Verdacht, ein Verhältnis mit einem sizilianischen Grafen zu haben – dieser wird
daraufhin der Folter überantwortet – er wird auf einen glühenden Nagelstuhl gesetzt, während
ihm zugleich eine glühende Nagelkrone auf den Kopf gehämmert wird
=> der Tastsinn, das Gefühl wird sehr martialisch – als Extremzustand – in Szene gesetzt
diese Szene ist im Hintergrund zu sehen – die Dame im Vordergrund ist aber nicht etwa
besagte Konstanze, sondern die Allegorie des Tastsinns bzw. Gefühls
hier kommen noch andere Komponenten ins Spiel: sie streichelt gerade einen Vogel, ist also
mit etwas Zartem beschäftigt
=> der Tastsinn wird auch als Sensibilität interpretiert, als etwas, mit dem sich feine sinnliche
Erfahrungen machen lassen (das Streifen über das Gefieder eines Vogels)
andererseits prunkt über dem Kopf der Frau, in einer Bauruine, ein riesiges Spinnennetz, das
daran erinnert, daß es auch gefährlich sein kann, mit manchen Dingen in Berührung zu

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kommen, ja das letztlich davor warnt, alles anzufassen – dies kann im Äußersten sogar tödlich
sein
wenn man nun das Angebot von Corbis daraufhin sichtet, was zum Thema 'Tastsinn/Gefühl'
vorliegt, stößt man auf Fotos, die meist nur einen einzigen Aspekt illustrieren – z. B. das
Gefühl, das es bereitet, wenn man Wasser über seine Hand fließen läßt
formal ergibt sich sogar eine ähnliche Konstellation wie bei der Szene mit dem Vogel – ein
Spiel der Hände, das Konzentration auf das sinnliche Erleben verrät – und damit einen
gewissen Genuß
bei Corbis fehlt jedoch (nicht nur in diesem Fall) der Versuch, verschiedene Ebenen des
Themas zugleich ins Bild zu setzen, ja auch negative oder abgründige Seiten zu zeigen –
vielmehr findet eine Zuspitzung bzw. Reduktion statt (dazu später noch mehr)
das hat damit zu tun, daß sich ein Corbis-Foto nicht als selbständig verstehen läßt; vielmehr
ist es von vornherein darauf angelegt, einen Text zu illustrieren – d. h. es bedarf des
'Anschlusses' an einen Kontext, um überhaupt sinnvoll zu sein
ein Bild in einem traditionellen Musterbuch hingegen enthält selbst schon den 'Text', d. h. ist
mehr als nur Illustration, nämlich die komplette Behandlung eines Themas
doch nicht nur dieser Unterschied fällt auf – vielmehr handelt es sich bei den Bildern der
'stock photography' um einen ganz anderen Bildtyp als bei den Bildern in traditionellen
Musterbüchern, geht es doch darum, die Fotos zu verkaufen, diese also als Ware zu begreifen
(natürlich ist ein Musterbuch auch eine Ware, doch das einzelne Bild darin hat einen
Informationsanspruch, soll als Vorbild fungieren, seinem Produzenten nicht mit jeder
erneuten Verwendung wieder Geld bringen)
wann aber läßt sich ein Foto der 'stock photography' überhaupt oft, breit und lange – bzw.
immer wieder – verkaufen?
am besten ist es, wenn ein Foto so gestaltet ist,
> daß es nicht nur als Illustration zu einem einzigen Thema paßt – obwohl es plakativ ist (wie
das eben besprochene Beispiel), sollte es nicht nur für eine Sache plakativ sein (dasselbe Bild
läßt sich z. B. auch unter dem Thema 'Trinkwasserqualität' oder 'Sommerfreuden' verkaufen)
> daß es keine Indikatoren enthält, die es eindeutig datieren lassen und damit auch rasch
altern lassen (Handymodell, ausgefallene Kleidungsmode etc.)
> daß es keine Tabus spezifischer Kulturen verletzt (nackte Haut an 'falschen' Stellen, Posen,
die politically incorrect sind etc.)
> daß es kulturell neutral oder plural gestaltet ist – nur dann ist es weltweit absetzbar [Dia
links] [Dia rechts]
oft sind deshalb z. B. Gesichter an- oder abgeschnitten, die eine Person eindeutig als
Japanerin oder als Europäer identifizierbar machten – und damit die Reichweite eines Fotos
einschränken würden
oder die Gesichter sind nur von hinten zu sehen, überbelichtet oder unscharf gehalten, was die
ethnische Zugehörigkeit der jeweiligen Person ebenfalls verunklärt
oder es sind Personen verschiedener Ethnien oder mit mehreren ethnischen Wurzeln auf
einem Foto
dies suggeriert Multikulturalität, ja ein Ende aller Rassenkonflikte
vor allem für den Bildermarkt in den USA ist ein ethnischer Pluralismus wichtig, da hier
besonders viel Wert auf eine Repräsentation der wichtigsten Volksgruppen gelegt wird
insofern läßt sich auch davon sprechen, daß US-Standards exportiert bzw. generalisiert
werden – was multikulturell und global aussieht, ist letztlich doch nur Folge einer
spezifischen political correctness, die aus Angst vor ökonomischen Einbußen befolgt wird
doch die ökonomischen Vorgaben greifen noch weiter in die Ästhetik ein, wie sich
analysieren läßt: [Dia links] [Dia rechts]
die Fotos zeigen oft auch abgesehen von den Personen nur Ausschnitte, so daß man gar
keinen klaren Bildraum hat, in dem man sich orientieren könnte

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=> eine sonst hilfreiche Möglichkeit zur Gliederung und damit auch zum Sich-Merken eines
Bilds, nämlich die Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund, aber sogar Ortsangaben wie
"links davon" oder "schräg dahinter", entfallen fast gänzlich
vielmehr sind alle Bildsujets merkwürdig auf einer Ebene, und überall da, wo es räumlich
werden könnte, wird entweder mit Überbelichtung oder mit Unschärfe – und am liebsten mit
beidem – gearbeitet
=> die Ortlosigkeit der Bilder verleiht ihnen eine Kontextoffenheit – sie könnten überall
aufgenommen sein, sind also auch insofern 'global' – überall und nirgendwo
gerade weil sie sich auf keinen spezifischen Ort festlegen, sind die Fotos auch vielfach
anschlußfähig, ja gewinnen sogar erst eine Aussage, wenn sie 'angeschlossen' werden
die häufig angewendete Überbelichtung und Unschärfe hat den weiteren Effekt, daß nahezu
alle Details aus den Bildern verschwinden
=> sie verlieren jegliche anekdotische Anmutung, sind abstrakt, zeigen nur Allgemeines,
Unspezifisches, ja neutralisieren nochmals eigens jede konkrete Lebenswelt, was es dem
Betrachter schwer macht, sie mit eigenen Erfahrungen zu verbinden und damit auch besser ins
Gedächtnis zu integrieren, ja eine persönliche Beziehung aufzubauen
=> es sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß man das Foto schnell wieder vergißt –
und gerade das ist ideal für die Agentur und eigens ein Ziel, da sie so dasselbe Bild erneut
verkaufen kann – bzw. da der Kunde dasselbe Bild nochmals publizieren kann, d. h. 'mehr
davon hat' und sich entsprechend an dieselbe Agentur wenden wird, wenn er wieder ein Bild
benötigt
tatsächlich wird, wer darauf zu achten beginnt, rasch feststellen, daß in denselben Zeitungen
dieselben Bilder innerhalb relativ kurzer Zeit häufiger vorkommen können, ohne daß das
jemals bemängelt würde (anders als Wiederholungen im Fernsehprogramm), da den meisten
diese Re-Reproduktion gar nicht auffällt
Beispiel aus dem Handelsblatt: [Dia links] [Dia links] [Dia links]
hieran wird auch nochmals deutlich: die Kontextrobustheit eines 'stock photos' – die
Praktikabilität der Unschärfe als ein Mittel, das Konkretes verwischt, so daß gerade auch
nationale Unterschiede nicht mehr sichtbar werden, sondern z. B. nur noch 'der' Supermarkt
das Sujet ist (weder eine bestimmte Kette, noch eine bestimmte nationale oder
milieuspezifische Ausprägung)
wer versucht, sich ein solches Foto anhand von Einzelheiten, ja durch das Entdecken von
etwas Typischem und Unverwechselbarem zu merken, wird schon während des Betrachtens
feststellen, wie schwer das ist [Dia links] [Dia rechts]
durch die Flachheit des Bildraums rutscht der Blick geradezu von der Oberfläche ab, kann
nirgendwo einhaken oder sich einnisten, und wenn er einmal ausruhen oder sich Zeit nehmen
will, wird er enttäuscht, da es eigentlich nirgends auf den Fotos etwas zu sehen gibt, das Bild
vielmehr sogleich überall dort ins Vage und Nichtssagende ausweicht, sich auf visuelle
Floskeln zurückzieht, wo man etwas Genaueres von ihm erfahren will
scheint es im ersten Moment noch ein Bild mit ziemlich viel Information zu sein, entpuppt es
sich bei etwas ausführlicherer Betrachtung als erstaunlich leer
=> es passiert genau das Gegenteil von dem, was sonst oft – und gerade bei der Betrachtung
von Fotos – zu geschehen pflegt, entdeckt man da doch nach und nach mehr, als man zuerst
gesehen hat, staunt über das, was ein Bild preisgibt, sobald ihm zusätzliche Aufmerksamkeit
entgegengebracht wird
der französische Semiologe Roland Barthes hat in seinem Photo-Essay "Die helle Kammer"
(1980) zwei seither viel zitierte Kategorien eingeführt, um die Faszination begreiflich zu
machen, die eine Bildbetrachtung begleiten kann
diese Kategorien sind hilfreich, um genauer zu fassen, was 'stock photos' von vielen anderen
Fotografien unterscheidet

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Barthes spricht von 'studium' und 'punctum', wobei ersteres "die Hingabe an eine Sache, (...)
eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit" meint1
alle Bilder, die über etwas informieren, ja die über eine dokumentarische Qualität verfügen,
geben dieser Hingabe Stoff, erschöpfen sich aber, sobald man sie einmal genau angeschaut
hat
manche Bilder jedoch überraschen den Betrachter mit einer Zugabe, jenem 'punctum' – das
auch nur individuell empfunden wird oder das für jeden in etwas anderem bestehen kann
meist ist es ein Detail, das, wie Barthes beschreibt, "wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang
hervorschießt, um mich zu durchbohren" – es ist "jenes Zufällige (...), das mich besticht"2
dies kann eine Geste, die Faktur eines Kleidungsstücks oder ein unerklärliches und
unpassendes Nebeneinander von Gegenständen sein – in jedem Fall etwas, was man
jemandem, der ein Bild kontrolliert herstellt, nicht zutrauen würde
=> das 'punctum' belegt, daß das Foto jede bildnerische Intention noch übersteigt, und es
weckt damit die Hoffnung, mehr auf dem Bild entdecken zu können, als der Fotograf selbst
gesehen hat
dann schlägt das Interesse – die Haltung des 'studium' – auch sogleich in hellwache
Faszination um, die für den Betrachter nicht selten sogar in einem Geistesblitz mündet:
plötzlich eröffnet sich ihm aufgrund eines solchen Details eine ganze Lebenswelt, oder er
gelangt zu einer Theorie über ein Phänomen oder Kapitel der Kulturgeschichte
es ist dann, als liege in jenem 'punctum' der Schlüssel nicht nur zur Lektüre des einen Bilds,
sondern zum Verständnis größerer soziologischer oder historischer Zusammenhänge
=> es besitzt, wie Barthes ausführt, "expansive Kraft" und weist über sich hinaus, ist damit –
so nochmals Barthes – "proustisch" –, also eine Art von Hologramm, bei dem im kleinsten
Teil eine Ganzheit enthalten ist, ja wo ein Detail einen ganzen Strang an Erinnerung und
Lebenserfahrung wachruft3
Bilder, die mit einem 'punctum' überraschen, wird man, gerade weil sie so viel aus der
eigenen Erinnerung freilegen (weil sie 'proustisch' sind), fast nicht mehr vergessen können,
während Bilder, bei denen es beim 'studium' bleibt und die Barthes als "einförmig"
charakterisiert, kaum länger im Gedächtnis bleiben – sie interessieren, aber führen zu keiner
intimen Beziehung
das Besondere der 'stock photography' dürfte nun darin bestehen, daß ihre Bilder nicht einmal
einem durchschnittlichen Interesse entgegenkommen und jegliche Neugier enttäuschen
garantiert ohne 'punctum', das die Merkfähigkeit zum Nachteil der Agentur erhöhte, sind diese
Fotos also noch nicht einmal einförmig; an ihrer Oberfläche verendet jegliches 'studium' im
Nu
tatsächlich ermüdet das Blättern im Katalog mit 'stock photos' ziemlich schnell, weil es von
keinerlei Erkenntnisgewinn begleitet ist
wer einen entsprechenden Katalog anschaut, wird schon nach einigen Minuten simultan das
Gefühl eines Zuviel und eines Zuwenig erleben: zu viele bunte Farben und dynamische
Formen, ja zu viel Licht, zugleich aber zu wenig Spannung, um Langeweile zurückhalten zu
können [Dia links] [Dia rechts]
und wer denselben Katalog etwas später nochmals anschaut, wird den Eindruck haben, alles
zum ersten Mal zu sehen, weil sich die Bilder wirklich so schlecht merken lassen
=> alles erscheint wieder wie neu
allerdings: der Eindruck von Neuheit wird gerade dadurch ermöglicht, daß die Fotos
überhaupt nichts Neues zeigen und in ihrer Tautologie sofort vergessen werden

1
Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt/Main 1985, S. 35.
2
Ebd., S. 35f.
3
Ebd., S. 55.

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ihnen gegenüber verhält man sich wie ein Tier, das aufgrund eines Reizes immer wieder nach
etwas schnappt, was gar nicht freßbar ist, und das von einem Moment zum nächsten vergißt,
schon hundertmal nach demselben geschnappt zu haben
anders formuliert: während Bilder, die über ein 'punctum' verfügen, im besten Fall, da sie so
viel Erinnerung freisetzen können, unerschöpflich sind, was ja oft auch von den Bildern der
Kunst behauptet wurde, sind die Bilder, die lediglich ein 'studium' befriedigen, relativ rasch
ausgeschöpft – die Bilder hingegen, die nicht einmal einer gewissen Neugier etwas bieten,
sind einfach nur erschöpfend
angesichts der hier vorgenommenen Klassifizierung von 'stock photos' als öder denn nur
einförmig stellt sich aber die Frage: warum sind diese Bilder dennoch begehrte Waren? –
warum werden sie produziert und reproduziert, wenn sie keinen Informationswert besitzen
und bei genauerer Betrachtung sogar eher verärgern als Spaß machen?
andererseits: wer kommt überhaupt auf die Idee, diese Bilder genauer anzuschauen?
höchstens ein Kunst- oder Kulturwissenschaftler, der unter einer 'deformation professionelle'
leidet, die darin besteht, alle Arten von Bildern zu analysieren und nicht 'einfach so' passieren
zu lassen
abgedruckt in einem Lifestyle-Magazin, einer Arbeitsamtbroschüre oder einer Tageszeitung,
werden diese Bilder hingegen kaum einmal genauer gemustert, sondern genügen als Oasen
inmitten von Bleiwüsten, als Appezizer zur Lektüre eines Artikels, als ein Stimmungselement
– ähnlich einer Topfpflanze in einem Büro
daß sie irgendwie flott wirken, bunt, fröhlich, gut gelaunt sind, reicht hin, um mit Schwung
weiterzublättern
=> die Funktion der 'stock photography' ist der von Musik in einem Kaufhaus vergleichbar –
sogenannter Muzak –, die ja nicht dazu da ist, daß die Kunden aufmerksam darauf hören,
sondern damit die Atmosphäre stimmt und alle gerne einkaufen
würde man am Ausgang eines Kaufhauses eine Umfrage danach starten, welche Musik gerade
zu hören war, wäre die Verlegenheit wohl ähnlich groß wie bei jemandem, dem man 'stock
photos' mit der Bemerkung vorlegt, die hätte er oder sie alle schon mehrfach gesehen
in den Wirtschaftswissenschaften unterscheidet man bekanntlich Konsum- und
Investitionsgüter voneinander
diese Unterscheidung läßt sich auf Bilder – als einer speziellen Form von Gütern – übertragen
dann wären die Meisterwerke der Kunst oder auch alle Bilder, die ein 'punctum' haben,
Investitionsgüter, da ihre Betrachtung einen Erkenntnisgewinn oder Bildungseffekt hat, man
also dauerhaft von ihnen profitiert: die Zeit, die man auf sie verwendet, lohnt sich
selbst die von Barthes als einförmig beschriebenen Fotos könnten noch zu den
Investitionsgütern gezählt werden, da sie zumindest ein bißchen Information vermitteln, mit
der sich bei anderer Gelegenheit vielleicht etwas anfangen läßt
die in den letzten Vorlesungen besprochenen Bildtypen ließen sich – zumindest ihrer
Intention nach – auch alle als Investitionsgüter beschreiben
Mondrian oder Vasarely wollten die Menschen verändern und glücklicher machen, ihnen also
etwas Nachhaltiges geben
Mondrian oder ein anderer Avantgardist war sogar (wie erwähnt) davon überzeugt, daß es
sich um unüberholbare und damit unerschöpfliche Bilder handeln würde – um Bilder, die für
den Betrachter bzw. Konsumenten Zinsen ohne Ende abwerfen
hingegen sind die Bilder der 'stock photography' reine Konsumgüter, verbrauchen sich wie ein
Stück Brot oder eine Tube Sonnencreme
sich verbrauchen – das heißt in diesem Fall: ihre Funktion als nette Anmutung erfüllen und
gleich danach vergessen werden, ja gar nicht erst eigens als Bilder beachtet und auf- oder
ernstgenommen, sondern lediglich als Begleitprogramm registriert werden
wie ein Konsumgüterhersteller ein ökonomisches Interesse daran hat, daß sich seine Produkte
rasch verbrauchen, um durch neue ersetzt zu werden, legt es auch eine Bildagentur darauf an,

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möglichst schnell wieder Fotos abzusetzen – und am besten dieselben, die schon einmal –
oder mehrmals – abgesetzt wurden
=> hier geht es nicht darum, daß der Kunde/Betrachter möglichst lange etwas davon hat,
sondern daß die Agentur möglichst lange daran Geld verdient – das Bild ist eine Investition
für sie
man erkennt hier den gegenüber der Kunst (und zumal der Avantgarde) genau
entgegengesetzten Ansatz – es geht um den maximalen Profit für den Produzenten – nicht um
die maximale Wirkung auf den Rezipienten
=> die Nachfrageorientierung ist nur scheinbar eine Orientierung am Rezipienten, in
Wirklichkeit geht es nicht um ihn, sein Bewußtsein oder Denken – nicht sein Kopf oder Herz,
sondern sein Geldbeutel soll erreicht werden
ein Bill Gates oder ein Mark Getty will keinen Neuen Menschen mit Hilfe von Bildern
schaffen, will nicht einmal eine bestimmte Ideologie vermitteln, will die Rezipienten nicht
bilden, informieren, voranbringen, sondern sieht in Bildern einfach nur eine Ware, mit der
sich gut Geld machen läßt
der Anspruch auf Globalität ergibt sich nicht aus einem grenzenlosen Sendungsbewußtsein,
sondern aus einer grenzenlosen Profitgier
in dieser Form dürfte das innerhalb der Geschichte der Bilder ohne Beispiel sein
vor allem ist es völlig ungewöhnlich, daß Bilder eigens so designed werden, daß sie sich
möglichst nicht einprägen, um häufiger verkauft werden zu können
dieser Umstand macht auch besonders gut deutlich, daß es nicht darum geht, die Menschen
mit den Fotos zu prägen
in der Geschichte der Bilder spielte es nämlich immer wieder eine große Rolle, daß Bilder das
Gedächtnis unterstützen, weil sie sich selbst gut merken lassen (besser als z. B. ein Text)
Bilder lediglich als Konsumgüter anzulegen – als etwas ohne Folgen –, das war schon deshalb
kaum einmal denkbar, als das Produzieren von Bildern immer zu aufwendig war, um damit
nicht auch ein weiterreichendes Ziel zu verfolgen
allerdings treibt auch eine Agentur wie Corbis einen nicht unerheblichen Aufwand bei den
Settings, mit dem Briefing der Fotografen etc., damit die gewünschten Bilder entstehen
doch nun muß sich das Bildermachen für den Produzenten ökonomisch rentieren – andere
Dimensionen oder Kriterien spielen hingegen keine Rolle
wer die Kataloge mit aktueller 'stock photography' durchblättert, wird aber eventuell dennoch
den Eindruck gewinnen, ganz egal und folgenlos sei nicht, was darauf zu sehen ist, ja eine
bestimmte Weltauffassung und gar Ideologie werde dadurch ebenso transportiert wie durch
andere Bilder (siehe z. B. die politically correct angeordneten Personengruppen)
dies geschehe sogar nur um so subtiler und hinterhältiger, da sich der Bildkonsument zwar
nicht an einzelne Bilder erinnern könne, aber unmerklich doch davon geprägt werde
so mag die pauschale Fröhlichkeit der Menschen auf den 'stock photos' auffallen – Schmerz,
Trauer, Gewalt, Wut, Aggression ist fast vollständig ausgeklammert, es wird viel gelacht und
gestrahlt, alle sind gesund – den Senioren geht es pauschal gut, massiert werden nur schöne,
junge Körper [Dia links] [Dia rechts]
=> es ist eine rundum 'gute' Welt, die in Szene gesetzt wird – alles ist sauber, oft geradezu
clean, ja das Böse scheint nicht zu existieren
insofern erinnert das Bildprogramm auch an das des Sozialistischen Realismus, bei dessen
Bildern ja dieselbe Einschränkung auf Harmonie und Idylle zu bemerken war [Dia links:
Serafima Rjangina, Höher und höher (1934)]
=> sollte ein Bill Gates tatsächlich auch auf kollektives Glück aus sein – und damit doch mehr
wollen mit den Bildern als Geld?
im Vergleich läßt sich auf diese Frage genauer eingehen

8
die Bilder des Sozialistischen Realismus zeichnen sich dadurch aus, daß sie – anders als 'stock
photos' – vollständig sind, d. h. eine klare, eindeutige Aussage haben – und keiner
Implementierung in einen Kontext bedürfen
im besten Fall hat jedes Bildsujet eine Bedeutung, ist nicht nur ein mehr oder weniger
genaues Abbild einer Sache, sondern zugleich mit einer symbolischen Implikation gemalt
die Berge, die Hochspannungsmasten, der Zug etc. – alles läßt sich als Bild für eine Idee
interpretieren
bei den Personen ist damit auch unstrittig, was genau sie tun – und welche Auffassung vom
Menschen sie repräsentieren
bei einem 'stock photo' hingegen ist keineswegs klar, womit die Akteure beschäftigt sind –
lediglich mag der Betrachter einige Assoziationen haben – in diesem Fall: sie flirten (doch
warum stehen sie dann einander frontal gegenüber?) – sie freuen sich über einen
Geschäftsabschluß (doch müßten dann nicht die Hände eine 'aktivere' Rolle spielen?) – sie
sehen sich nach längerer Pause wieder (auch dann verwundert die gewisse Diskrepanz
zwischen freudigem Lächeln und körpersprachlich ausgedrückter Distanzierung)
auch gibt es nichts auf dem Bild, was eine eindeutige symbolische Funktion besitzt
die Rolltreppe mag zwar auch für Erfolg und Aufstieg stehen (wobei unklar ist, ob die beiden
Personen darauf stehen oder darunter) – doch würde sie erst durch eine entsprechende
Kontextualisierung des Fotos zu 'sprechen' beginnen und diesen Symbolcharakter annehmen
=> ein 'stock photo' ist nur latent symbolisch, hat also auch keine klare Aussage, sondern
höchstens einen potentiellen Aussagecharakter
doch ist das Feld der Assoziationen begrenzt – man wird sich das Foto nicht vorstellen
können, um eine schlechte Nachricht aus der Business-Welt zu illustrieren
=> in jedem Fall strahlt es Optimismus aus, so als gebe es auf der Welt keine Widerstände,
keine größeren Probleme – alles ist easy, entspannt
ist das nicht verlogen? – eine einseitige Selbstinszenierung des Kapitalismus?
tatsächlich läßt sich jedoch auch diese pauschal-angenehme Grundatmosphäre aus
Nachfragegründen erklären
um Katastrophen, Unfälle, Schock-Meldungen, spektakuläre Crashs auf den Straßen oder
Börsen zu illustrieren, kann eine Zeitung oder Zeitschrift nicht auf 'stock photos' rekurrieren –
dann ließe sich der thrill nicht vermitteln
man denke nur: begleitend zum Bericht über einen Flugzeugabsturz würde ein Vorrats-Bild
zum Thema 'Flugzeugabsturz' gezeigt – die Leser kämen sich betrogen vor, wollen sie doch
unbedingt ein Bild von dieser einen Katastrophe sehen
überall, wo es um Schaulust geht, genügen keine allgemeinen Bilder, sondern diese müssen so
konkret, so datierbar wie möglich sein – im besten Fall zeigen sie den genauen Ort, die
Individuen, die in die Katastrophe verwickelt sind, die Details, die das Ereignis von anderen
unterscheidbar macht
=> 'stock photos' zu Schock- und Katastrophenthemen wären nicht absetzbar – hier bedarf es
authentischen Bildmaterials
=> 'stock photos' decken die Themenbereiche ab, bei denen es um allgemeine, austauschbare,
d. h. nicht um existenzielle Situationen, um keine Ausnahmezustände geht
doch müßten die Alltagssituationen, denen die 'stock photography' überwiegend gewidmet ist,
nicht neutraler ins Bild gesetzt werden? – wer lächelt schon immer? – schaut immer fröhlich
und entspannt, auch wenn es um Arbeit und Business geht?
hier dürfte das Kalkül darin bestehen, daß die Kunden lieber Bilder anschauen – und
entsprechend kaufen –, die eine positive Ausstrahlung haben – die eine animierende,
aufmunternde Qualität besitzen, ja gute Laune machen
insofern besteht doch eine Parallele zu den Bildern des Sozialistischen Realismus: auch diese
sollten ja motivierend wirken, zu mehr Engagement veranlassen, als Aussicht auf eine bessere
Zukunft Mut machen

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doch wird auch nochmals der Unterschied deutlich:
die Bilder des Sozialistischen Realismus leisteten einen Beitrag bei der Durchsetzung der
Ideen des Kommunismus – mit ihnen war der Glaube an eine bessere Gesellschaftsform
verknüpft – die Fröhlichkeit der abgebildeten Menschen sollte ein kollektives Glück auf den
Weg bringen
dagegen zeigen die Stock-Fotos fröhliche Menschen und angenehme Situationen, um den
Betrachtern ein bißchen Spaß zu bereiten – um in einen Zeitgeist zu passen, der durch die
Losung 'fit for fun' geprägt ist, ja der am liebsten Event mit Wellness kombiniert, einem
Jugendkult frönt und am liebsten Genuß ohne Folgen sucht
es ist zugleich eine Werbeästhetik, zumal ja auch die Werbung auf kollektive Sehnsüchte
spekuliert [Dia links: Pjotr Kontschalowskij, Morgen der Pioniere (1939)] [Dia rechts]
selbst formal gibt es immer wieder Ähnlichkeiten zwischen den Bildmustern des
Sozialistischen Realismus und denen eines zutiefst kapitalistischen Realismus à la Corbis
bis in die Farbigkeit hinein dringt der Wunsch nach Harmonie und Fröhlichkeit – wie z. B. ein
Blick auf die grüngrünen Wiesen zeigt
wie schon in Hinsicht auf den Sozialistischen Realismus besprochen: die Bilder kollektiven
Glücks sollten an allgemeinmenschliche Sehnsüchte appellieren, sollen uralte und zeitlose
Menschheitsträume in Szene setzen
dies dürften auch die Designer der 'stock photos' wissen – und damit dürfte auch der
harmonische Grundton der Fotos mit dem Wunsch nach globaler Absetzbarkeit zu erklären
sein
ein Lächeln ist gleichsam die internationalste Geste, mit der man nirgendwo aneckt oder
Unmut weckt, ja die überall verständlich ist und Verbindung schafft
wie ein Lächeln Türen öffnen und Mißtrauen aus dem Weg räumen kann, soll es auch für die
Fotos, die lächelnde Menschen zeigen, keine Grenzen der Verbreitung geben
und wie der Kommunismus Bilder des Glücks einsetzte, um sich vielleicht eines Tages
weltweit verbreiten zu können, arbeitet die kapitalistische Bildwirtschaft damit, um weltweit
Geld verdienen zu können
=> es bestätigt sich: einmal sollen die Köpfe und Herzen der Menschen erreicht werden, im
anderen Fall die Geldbeutel
=> die formale Ähnlichkeit zwischen Bildern etwa des Sozialistischen Realismus und der
'stock photography' ist nur äußerlich – ihr entsprechen keine inhaltlichen oder intentionalen
Parallelen
genauso könnte man die Ästhetik der 'stock photography' mit der Ästhetik der Zeugen
Jehowas oder anderer Sekten mit interkulturellem Anspruch bzw. mit missionarischem Eifer
vergleichen – doch auch hier ist dasselbe nicht dasselbe
es sind allein die Bilder von Corbis etc., die eine interkulturell verständliche Ästhetik nur
deshalb suchen, um ein Maximum an Profit zu erwerben – und die es nicht tun, um ein
Sendungsbedürfnis zu entfalten
dennoch: auch hier muß der Kitschverdacht geäußert werden
wie schon in den beiden letzten Vorlesungen steht dieser Verdacht am Ende
was sich für den Sozialistischen Realismus feststellen ließ – und was bei Vasarely bemerkt
wurde – nämlich daß die Einseitigkeit des Fröhlichen, Bunten, Optimistischen etwas
Klischeehaftes an sich hat und lediglich das Abbild von naiven Träumen bietet, das läßt sich
genauso für die Bildwelt der 'stock photography' behaupten
so scheint es beinahe, als sei der Kitsch das eigentlich Globale bzw. Globalisierbare, ja als
würden die meisten Versuche, interkulturell wirksame Bilder zu machen, früher oder später –
freiwillig oder unfreiwillig – bei Mustern landen, die dem Repertoire des Kitsches
entstammen

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daß es auch noch andere Bildtypen mit globalem Anspruch gibt, ja daß auch Bilder um die
Welt gehen können, die alles andere als kitschig sind, soll beim nächsten Mal besprochen
werden
dann geht es um die Bilder, die ein Komplement zur 'stock photography' bilden – die Bilder
der Gewalt, von Katastrophen oder Ausnahmezuständen

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