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B20396F

Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3.2016

Schlaf
FORSCHUNGSPOLITIK ROBOTIK ATMOSPHÄRENCHEMIE ETHNOLOGIE
Ein Update Mikroboote Heiße Luft Ein Meer von
für Open Access kommen in Fahrt im Orient Verbindungen
Dossier – Die Zukunft der Energieversorgung
Erfahren Sie hier, wie wir die Abkehr von fossilen
Energieträgern bis 2100 erreichen können.

siemens.de/pof-zukunft-der-energieversorgung
ORTE DER FORSCHUNG
Foto: MPI für Evolutionsbiologie

Das Labor im großen See


Sonne, Wasser, blauer Himmel und im Hintergrund ein Schloss – viele Menschen verbinden mit den Plöner Seen
unbeschwerte Urlaubstage im Norden Deutschlands. Auch die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Evolutions-
biologie haben den Blick für die Schönheit der Landschaft sicher nicht verloren, doch ihr Interesse gilt vor allem einem
der Seebewohner und seinen Genen. Der Dreistachelige Stichling (Gasterosteus aculeatus) fühlt sich besonders wohl im
Uferbereich des Großen Plöner Sees. Und genau dort, mitten im natürlichen Brutrevier des kleinen Fisches, stehen die
Freiwasserlabore des Instituts.
In sechs großen Käfigen können die Stichlinge – im Labor gezüchtet und im Frühjahr eingesetzt – unter natürlichen
Bedingungen Reviere erobern, Nester bauen und sich fortpflanzen. Wobei sie auch den dort vorkommenden Parasiten
ausgesetzt sind. Das Besondere an den Fischlein: Die spezifische, individuelle Kombination der Immungene jedes
einzelnen Tieres ist bekannt. So können die Forscher beobachten, welche Stichlinge im stetigen Wettlauf mit den
verschiedenen Parasiten am widerstandsfähigsten sind und – da während der gesamten Brutsaison für jedes Ei mithilfe
molekulargenetischer Methoden Vater und Mutter bestimmt werden – wie viele Nachkommen welcher Fisch hat.
Die resistentesten Fische geben ihre Immunkompetenz an ihre vielen Nachkommen weiter. Dabei bevorzugen
Stichlingsweibchen offenbar Paarungspartner, deren Immungene ihre eigene Ausstattung am besten ergänzen – und
die zudem durch ihre gesunde Prachtfärbung zeigen, dass sie über die gegen die aktuell vorherrschenden Parasiten
benötigten Genvarianten verfügen. Die Partnerwahl der Mutter hat also einen direkten Vorteil für die Nachkommen.
Welches Männchen für eine Paarung infrage kommt, erkennen die Weibchen neben der Prachtfärbung am
Geruch des potenziellen Partners. Denn der Geruch wird – wie übrigens auch bei uns Menschen – durch die Zusammen-
setzung der Immungene bestimmt.

3 | 16 MaxPlanckForschung 3
Inhalt

18 10
Befreit: In Zeiten von Open Access

SCHLAF
müssen die Verlage ihre Geschäfts-
modelle umstellen.

18 Schlummern zwischen Himmel und Erde PERSPEKTIVEN


Fregattvögel dösen problemlos in der Luft, ohne abzustürzen. Und
06 Unter freiem Himmel
während ihrer tagelangen Flüge über dem offenen Ozean kommen sie
insgesamt mit extrem wenig Schlaf aus. Ein Team um Niels Rattenborg 06 Die Sinne des Lebens
vom Max-Planck-Institut für Ornithologie hat erstmals nachge­wiesen, 07 „Eigentlich hätten wir gern
dass Vögel im Schlafmodus fliegen können. weitergemacht!”
08 Tierversuche verstehen
26 Metronome, die den Tag regieren
08 Angestiftet

Titel: arosoft / istockphoto; Fotos diese Seite: Denise Vernillo (gr. Bild), Dorothea Pluta
Ludwig II. regierte nachts und schlief am Tag. Litt der bayerische
09 Doppelter Karrierestart
Märchenkönig unter einer Störung, die seinen Schlaf-Wach-Rhythmus
durcheinanderbrachte? Darüber kann auch Gregor Eichele nur spekulie- 09 Ins Netz gegangen
ren. Aber er und sein Team am Max-Planck-Institut für biophysikalische
Chemie haben viele neue Erkenntnisse über die natürlichen Taktgeber
unseres Körpers gewonnen. ZUR SACHE

32 Wenn das Gehirn auf Stand-by schaltet 10 Ein Update für Open Access
Die Welt des Publizierens hat sich
Ist man unausgeschlafen, sieht die Welt oft ziemlich trist aus. Wenn mit dem Siegeszug des Internets
die Müdigkeit lange anhält, kann die trübe Stimmung krankhaft dramatisch verändert. Es ist an
und zu einer Depression werden. Umgekehrt gehen Depressionen der Zeit, dass die Verlage ihre Ge-
häufig mit massiven Schlafstörungen einher. Axel Steiger und schäftsmodelle überdenken.
seine Kollegen untersuchen am Max-Planck-Institut für Psychiatrie
den Zusammenhang zwischen Schlafstörungen und Depression.
FOKUS
18 Schlummern zwischen Himmel
und Erde
26 Metronome, die den Tag regieren
ZUM TITEL Schlaf ist ein Grundbedürfnis und etwa für das Lernen und Erinnern uner-
lässlich. Innere Uhren im Körper steuern den Tag-Nacht-Rhythmus und beein­f lussen
32 Wenn das Gehirn auf Stand-by schaltet
dabei das Verlangen nach Ruhe – bei Menschen ebenso wie bei vielen Tieren.

4 MaxPlanckForschung 3 | 16
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Ausgabe
023 // Sommer
2016

TECHMAX
Moleküle
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bringt Birgitta unverdauliche
antwortet sie: Zielbauer zum Ballaststoffe
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SEITE 1

31.08.16 12:21

46 54 62
Begeistert: Für Joe Hennawi ist Bewegt: Forscher manövrieren Bedrängt: Im Nahen Osten machen
die Kosmologie der spannendste Mikroschwimmer wie diesen durch Hitze und Trockenheit den Menschen
Wissenschaftszweig überhaupt. biologische Flüssigkeiten. immer mehr zu schaffen.

SPEKTRUM PHYSIK & ASTRONOMIE KULTUR & GESELLSCHAFT


40 E rdähnlicher Planet bei 46 Der Archäologe des Universums 70 Ein Meer von Verbindungen
Proxima Centauri Zur Person: Joe Hennawi Lange waren Schiffe die schnellsten
Fotos: Thomas Hartmann, Debora Schamel/MPI für Intelligente Systeme, Molly John /CC-BY-NC-ND 2.0

40 Massenpanik im Computer Verkehrsmittel, und sie konnten


41 Wörter sind kein Zufall Menschen und Güter in großer Zahl
MATERIAL & TECHNIK transportieren. So wurden Meere
41 Lockstoffe im Fliegenkot
zum Kontakt- und Handelsraum für
41 Widerstandskraft hat ihren Preis 54 Mikroboote kommen in Fahrt unterschiedliche Nationen, und
42 Hologramme mit Schall Medikamente mit einem Mikro- oder über das Wasser hinweg haben sich
42 Gut und Böse im Gehirn gar Nanofrachter direkt zu einem vielfältige Netzwerke entwickelt.
Krankheitsherd zu transportieren,
43 Kohlmeisen auf dem Land
könnte die Behandlung so mancher
sind fitter
Krankheit erleichtern. Forscher RUBRIKEN
43 Spiralen helfen bei der entwickeln winzige Roboter, die das
Planetengeburt eines Tages ermöglichen sollen. 03 Orte der Forschung
44 Warmes Mittelmeer lässt Sahel 16 Post aus dem Nordatlantik
ergrünen Auf Kurs bei Wind und Wellen
44 Ein Quantenprozessor für UMWELT & KLIMA 78 Rückblende
einzelne Photonen Kohle – flüssig gemacht
62 Heiße Luft im Orient
45 Mikroroboter mit Magnetantrieb 80 Neu erschienen
Der Nahe Osten und Nordafrika
45 Schlupfloch für Tumore werden von bewaffneten Konflikten 80 Lothar Krappmann, Christian Petry,
45 Klischees über Nationen steuern und politischen Krisen erschüttert. Worauf Kinder und Jugendliche ein
unser Handeln Doch selbst wenn diese gelöst Recht haben
würden, dürften viele Menschen 81 Elizabeth Kolbert,
dort bald gezwungen sein, ihre Das sechste Sterben
Heimat zu verlassen: Wissenschaftler 82 Julian Baggini, Ich denke, also will ich
prognostizieren einen drastischen 83 Standorte
Klimawandel und zunehmende 83 Impressum
Luftverschmutzung.

3 | 16 MaxPlanckForschung 5
PERSPEKTIVEN

Unter freiem Himmel


„Bilder aus der Wissenschaft“ jetzt auch in Bremen

an den Max-Planck-Instituten. Insge-


samt umfasst sie 50 Motive, die regel-
mäßig aktualisiert und um neue er-
gänzt werden. In ihrer Gesamtheit
sind die Bilder jederzeit online zu se-
hen sowie in wechselnden Zusammen-
stellungen an verschiedenen Orten
weltweit. Auch in Deutschland erfreu-
en sich die „Bilder aus der Wissen-
schaft“ nach wie vor großer Beliebt-
heit. Jedes Jahr zieht die Ausstellung in
München im Rahmen der „Langen
Nacht der Museen“ an nur einem
Abend weit mehr als anderthalbtau-
send Besucher an. Neuester Zuwachs:
eine Schau unter freiem Himmel. Hoch
im Norden der Republik begrüßen seit
Juli zehn Bilder auf dem Vorplatz des
Science Centers „Universum Bremen“
Vor dem „Universum Bremen“, dem Wissenschaftsmuseum der Hansestadt, bekommen die Besucher. Wem die Bilder gefallen,
Besucher ein Bild von der Forschung der Max-Planck-Institute. der kann sich per QR-Code gleich an
Ort und Stelle in die Online-Ausstel-
Keine Frage – kaum etwas ist besser ge- Wissenschaft“. Mit überraschenden, lung auf der Homepage der Max-Planck-
eignet, um Aufmerksamkeit zu erregen, ästhetischen Aufnahmen im Großfor- Gesellschaft einklinken.
als spektakuläre Bilder. Genau dies mat bietet sie einen außergewöhnli-
nutzt die Ausstellung „Bilder aus der chen, leichten Zugang zur Forschung www.bilder.mpg.de

Die Sinne des Lebens

Fotos: Universum® Bremen (oben); Bassler (unten links); MaxCine (unten rechts)
Martin Wikelski und Bonnie Bassler erhalten
Max-Planck-Forschungspreis

Die Frage, wie Organismen ihre Umwelt wahrnehmen können,


steht dieses Jahr im Mittelpunkt des Max-Planck-Forschungs-
preises. Dabei studieren die beiden Preisträger Lebewesen, wie
sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Während Martin Wi-
Bonnie Bassler und Martin Wikelski untersuchen, wie ver-
kelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie, die
schiedene Lebewesen die Umwelt wahrnehmen.
Sinnesleistungen von Tieren in ihrer natürlichen Umgebung be-
obachtet, arbeitet Bonnie L. Bassler von der Universität Prince-
ton und dem Howard Hughes Medical Institute mit Bakterien. nen, wie Tiere sich auf ihren mitunter Tausende Kilometer lan-
Die US-Amerikanerin hatte einen entscheidenden Anteil an der gen Reisen orientieren und an ihr Ziel finden. Mit dem satelli-
Entdeckung, dass selbst diese kleinsten Lebewesen über Signal- tengestützten Beobachtungssystem Icarus ist er ein Pionier auf
stoffe miteinander kommunizieren und dann als Kollektiv han- dem Gebiet der Wildtier-Telemetrie. Der mit 750 000 Euro do-
deln. Martin Wikelski geht der Frage nach, wie verschiedene tierte Max-Planck-Forschungspreis wird vom Bundesfor-
Wirbeltiere ihre Umwelt wahrnehmen und sich in ihr zurecht- schungsministerium finanziert und von der Alexander von
finden. Er hat vor allem wertvolle Erkenntnisse darüber gewon- Humboldt-Stiftung und der Max-Planck-Gesellschaft vergeben.

6 MaxPlanckForschung 3 | 16
PERSPEKTIVEN

„Eigentlich hätten wir gern weitergemacht!“


Holger Sierks vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung zum Ende der Rosetta-Mission

Am 30. September landete die Raumsonde


Rosetta auf der Oberfläche des Kometen
67P/Churyumov-Gerasimenko. Damit en-
dete eines der spannendsten Projekte der
europäischen Raumfahrt. Holger Sierks
vom Max-Planck-Institut für Sonnensys-
temforschung in Göttingen leitete das Kon-
sortium des Kamerasystems Osiris, dem
Wissenschaft und Öffentlichkeit spektaku- Detlef Weigel
läre Aufnahmen vom Kern des Schweif­
sterns verdanken.

Herr Sierks, die Kometenmission Rosetta ist


zu Ende gegangen. Schwingt da nicht auch
ein wenig Wehmut mit?
Holger Sierks: Die Mission hat rund 30 Jah-
re gedauert: angefangen mit einer Fin-
dungsphase auf wissenschaftlicher Ebene,
dann der Planungs- und Bauphase und
„Das Ende war für alle Beteiligten sehr emotional“: Holger Sierks, Wissenschaftler
schließlich der Flugzeit zum Zielkometen.
am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung.
Die letzten zweieinhalb Jahre hat Rosetta
den Kometen dann in unmittelbarer Nähe
begleitet. Das Ende war für alle Beteiligten mit sehr geringer Geschwindigkeit aufein- Strukturen. Was die Osiris-Aufnahmen be-
sehr emotional. Die wenigsten Kollegen andergetroffen. Spannend finde ich auch trifft, haben wir zunächst drei Jahre Zeit,
sind noch aus der Pionierphase dabei; ich die zylindrischen Einbrüche, bei denen wir um ein umfassendes Archiv zu erstellen.
selbst bin vor 20 Jahren dazugestoßen. Ro- von der Oberfläche aus beinahe 200 Meter Dieses Vorgehen ist ein Novum. Normaler-
setta ist also ein gutes Beispiel für eine in die innere Struktur des Kometen blicken weise sind diese Arbeiten mit der Abgabe
generationenübergreifende Arbeit in der – und das bei einem Kometenkern mit ei- der Daten nach zwölf Monaten abgeschlos-
Weltraumforschung. Die Raumsonde funk- nem Radius von nur 1000 oder 2000 Me- sen. Wir werden die Bilder kalibrieren, Mo-
tionierte bis zum Schluss wunderbar. Ei- tern. Auch wenn das Material dort durch saike und Geländemodelle erstellen und
gentlich hätten wir gern weitergemacht! die Sonneneinstrahlung sicher etwas pro- die Produkte dann der Öffentlichkeit und
zessiert ist, schauen wir in die Tiefe des Ko- der Wissenschaft zugänglich machen.
Wäre das denn möglich gewesen? meten und damit vielleicht in seine 4,5 Mil-
Die Alternative wäre gewesen, die Sonde liarden Jahre alte Geschichte. Und die In- Ihr Fazit zum Ende der Mission?
nochmals in einen Winterschlaf zu verset- nenwände dieser Einbrüche sind nicht Rosetta hat es 2014 auf die Titelseite der
zen und sie bei erneuter Annäherung des glatt und homogen. Sie besitzen auf einer Zeitschrift Science mit dem Label „Break-
Kometen an die Sonne zu reaktivieren. Al- Zwei- bis Dreimeterskala sehr scharf defi- through of the Year“ gebracht. Ich glaube,
lerdings hätte dann der Treibstoff nicht nierte Strukturen, die Apfelsinen in einer die Mission ist tatsächlich als Durchbruch
dazu ausgereicht, um mit dem Kometen Apfelsinenkiste ähneln. in der Kometenforschung einzuordnen.
wieder in Sonnennähe zu kommen und
den nächsten Aktivitätszyklus zu sehen. Es gibt also eine Menge Daten auszuwerten. Was wird nach Rosetta der nächste Schritt
Wie lange werden Sie und Ihre Kollegen in der Kometenforschung sein?
Was ist für Sie der interessanteste Aspekt damit beschäftigt sein? Ich denke, die wissenschaftliche Gemein-
der Mission? Es existieren heute noch Zusammenarbei- schaft ist sich einig darüber, dass wir als
Am meisten berührt mich die Diskussion ten von der Giotto-Mission, die vor 30 Jah- Nächstes Kometenmaterial hierherholen
um den Ursprung des Kometen. Wir erhof- ren am Halleyschen Kometen vorbeigeflo- und in den irdischen Labors untersuchen
fen uns Erkenntnisse darüber, wie es in den gen ist. Ich gehe davon aus, dass wir auch müssen – insbesondere die organischen
ersten Millionen Jahren im Sonnensystem für Rosetta 20, 30 Jahre brauchen werden. Bestandteile. Wir überlegen schon heute,
ausgesehen hat. Vermutlich ist der Kome- Damit meine ich nicht nur die Analyse der wie wir eine solche Rückholaktion ausle-
Foto: Roland Keller

tenkern, den wir heute sehen, aus zwei Osiris-Bilddaten, sondern auch die über- gen würden.  Interview: Felicitas Mokler
kleineren entstanden. In der Gasphase der greifende Analyse der Spektrometerdaten,
Akkretionsscheibe um die junge Sonne der thermischen und Millimeter- sowie Dossier zum Thema:
wurden diese Kerne abgebremst und sind Submillimeterdaten der oberflächennahen www.mpg.de/rosetta

3 | 16 MaxPlanckForschung 7
PERSPEKTIVEN

Tierversuche verstehen
Allianz der Wissenschaftsorganisationen startet Informationsinitiative

Das Thema Tierversuche schürt häufig form, die Nachrichten und Hinter-
starke Emotionen. Doch gerade in vie- grundtexte, Filme, Infografiken und
len Bereichen der Grundlagenfor- eine Bilddatenbank bereitstellt sowie
schung sind Untersuchungen an Tie- die Möglichkeit zur Diskussion bie-
ren unverzichtbar. Nur mit ihrer Hilfe tet. Journalisten können Kontakt zu
lassen sich komplexe Vorgänge im Experten knüpfen, Schüler und Leh-
Organismus nachvollziehen. Sie sind rer finden dort Informationen für
Ausgangspunkt für neue wissenschaft- den Unterricht. Ziel ist, die Debatte
liche Erkenntnisse und treiben den über Notwendigkeit, Nutzen und
Fortschritt in der Medizin voran. Vor Alternativen tierexperimenteller
diesem Hintergrund hat die Allianz Forschung zu versachlichen. Auch
der Wissenschaftsorganisationen, der in den sozialen Medien ist die Ini-
auch die Max-Planck-Gesellschaft an- tiative aktiv. Ab Ende dieses Jahres
gehört, die Initiative „Tierversuche will sich „Tierversuche verstehen“
verstehen“ ins Leben gerufen. Öffent- zudem bei öffentlichen Veranstal-
lichkeit und Medien sollen umfassend, tungen präsentieren und der Dis-
aktuell und faktenbasiert über Tierver- kussion stellen.
suche informiert werden. Wichtigster
Baustein ist dabei eine Internetplatt- www.tierversuche-verstehen.de

Angestiftet
Max-Planck-Förderstiftung
feiert Jubiläum

Seit zehn Jahren unterstützt die

Danke.
Max-Planck-Förderstiftung als
unabhängige Institution die Ar-
beit von Max-Planck-Wissen-
schaftlern. Aus den Erträgen des
Stiftungskapitals wurden seit-
her rund 30 Projekte mit mehr
10 Jahre Freiräume für Ideen als 45 Millionen Euro gefördert,
10 Jahre herausragendes Engagement so zum Beispiel der zweite Flug
von Sunrise, dem größten flie-
10 Jahre Max-Planck-Förderstiftung genden Sonnenteleskop, oder
die Initiative zum Zentrum für
Seit zehn Jahren werden unsere Pioniere des Wissens Systembiologie in Dresden. Die
durch die Max-Planck-Förderstiftung unterstützt und ermutigt, zusätzlichen privaten Gelder bie-
wissenschaftliches Neuland zu betreten. ten einen schnellen und flexib-
Wir danken allen Stiftern und Spendern, insbesondere den len Spielraum dort, wo öffentli-
Gründungsstiftern Stefan von Holtzbrinck und Reinhard Pöllath. che Mittel nicht zur Verfügung
stehen. Ein weiterer Förder-
schwerpunkt besteht darin, die
Arbeitsbedingungen für exzel-
lente Forscher zu sichern, be-
Foto: TVVde

sonders um sie für ein Max-


Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft www.maxplanckfoerderstiftung.de
Planck-Institut zu gewinnen oder
dort zu halten.

8 MaxPlanckForschung 3 | 16
PERSPEKTIVEN

Doppelter Karrierestart
Max-Planck-Gesellschaft und TU München berufen gemeinsam junge Spitzenwissenschaftler

Die Möglichkeit, eigene Forschungskonzepte umzusetzen,


Zugang zu hervorragender Laborausstattung, interdiszipli-
närer Austausch mit erfahrenen Kollegen: Diese Merkmale
charakterisieren das neue Kooperationsmodell der Max-
Planck-Gesellschaft (MPG) und der Technischen Universi-
tät München (TUM). Das Konzept: Junge Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler, die aus einem internationalen
Bewerberpool für die Leitung einer Max-Planck-Forschungs-
gruppe ausgewählt wurden, erhalten von der TUM zusätz-
lich einen Ruf auf eine befristete Tenure-Track-Professur. Da-
mit bekommen die jungen Wissenschaftler eine verlässliche
Perspektive für ihre weitere Karriereentwicklung. Eine Eva-
luation nach sechs Jahren entscheidet, ob sie dauerhaft an
der TUM forschen und lehren – zunächst als Associate Pro-
fessor mit W3-Besoldung, verbunden mit der Option auf
den weiteren Aufstieg zum Full Professor. Laut Max-Planck-
Präsident Martin Stratmann ist das Angebot weltweit ein-
zigartig: „Die neue Kooperation ist ein echter Gewinn für
den Wissenschaftsstandort Deutschland im Wettbewerb um
exzellente Nachwuchswissenschaftler aus aller Welt.“ Im Gemeinsames Ziel: Wolfgang Herrmann, Präsident der TU München,
Oktober haben beide Institutionen erstmals sieben Nach- und Max-Planck-Präsident Martin Stratmann (rechts) wollen mithilfe der
Kooperation die besten jungen Talente gewinnen.
wuchstalente gemeinsam berufen, zum Teil von so renom-
mierten Institutionen wie der Universität Berkeley.

Ins Netz gegangen

Korallen im Zeitraffer Der Rede wert Chancengleichheit im Fokus


Korallen gehören zu den farbenpräch- Erzählen, erklären, diskutieren, überre- Begabung, Kreativität und Leidenschaft
tigsten Meeresbewohnern. Die Nessel- den, unterrichten – was Menschen mit – darauf setzt die Max-Planck-Gesell-
tiere leben nicht nur in lichtdurchflute- Sprache bewerkstelligen, geht weit über schaft. Sie fördert Mitarbeiterinnen und
ten tropischen Gewässern. Einige von den Austausch von Informationen hin- Mitarbeiter unabhängig von Geschlecht,
ihnen kommen auch in der Tiefsee mehr aus. Ohne Sprache gäbe es weder Han- Nationalität, Religion, Behinderung, Al-
als 2000 Meter unter dem Meeresspie- del noch Politik, weder Religion noch ter, kultureller Herkunft und sexueller
gel vor. Ein vierminütiges Video aus Wissenschaft, weder Rechte noch Ge- Identität: In der Vielfalt liegt die Basis für
mehr als 25 000 Makroaufnahmen zeigt dichte. Doch das Phänomen Sprache erfolgreiche Forschung. Um die auch
die flirrende Schönheit der Korallen. Die birgt viele Rätsel: Worauf ist diese ein- weiterhin zu stärken, bietet die Max-
Aufnahmen dazu entstanden am Great zigartige menschliche Fähigkeit zurück- Planck-Gesellschaft Hilfestellungen an,
Barrier Reef vor der Küste Australiens zuführen? Wie lernen Kinder sprechen? die auf ihrer Karriere-Webseite gebündelt
und dokumentieren eines der größten Und welche Ausprägungen hat die Spra- dargestellt sind. Wichtige Säulen sind die
Naturwunder unserer Erde. Durch die che in verschiedenen Teilen der Welt ent- Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und
globale Klimaerwärmung, die Ozeanver- wickelt? Ein neues Dossier mit Inter- Beruf, die Förderung von Wissenschaft-
Foto: Axel Griesch/MPG

sauerung, aber auch durch Tourismus views, Videos und Podcasts gibt einen lerinnen, um eine größere Zahl von ihnen
und den geplanten Ausbau eines Kohle- Überblick über wichtige Forschungsfra- in Führungspositionen zu bringen, sowie
hafens ist das sensible Ökosystem ext- gen innerhalb der Max-Planck-Institute. Mentoring und Karriereentwicklung.
rem gefährdet. www.mpg.de/sprache www.mpg.de/chancengleichheit
vimeo.com/156942975

3 | 16 MaxPlanckForschung 9
ZUR SACHE_Forschungspolitik

Ein Update für


Open Access
Die Welt des Publizierens hat sich mit dem Siegeszug des Internets dramatisch verändert.
Doch die Verlage setzen weiter auf Rezepte aus Zeiten des Buchdrucks. Unser Autor
plädiert daher für die notwendige Umstellung des Geschäftsmodells wissenschaftlicher
Zeitschriften – und liefert eine Skizze des Weges, der dafür zu gehen ist.

TEXT RALF SCHIMMER

S
eit deutlich mehr als zehn Jahren wird die Ohne die Möglichkeiten des Internets ist wissen­
Forderung nach einem freien Zugang zu den schaftliches Arbeiten heute nicht mehr vorstellbar.
Ergebnissen wissenschaftlichen Arbeitens Auch die Publikationsbedingungen sind flächen­
erhoben. Open Access ist das Sinnbild einer deckend über alle Disziplinen hinweg konsequent auf
Wissenschaftspraxis, die als Kontrast und einen digitalen Produktionsprozess hin ausgerichtet
Verheißung gegenüber den herrschenden Bedingun­ worden. Das beginnt bei der Erstellung von Manu­
gen entworfen wird. Trotzdem sind aktuell nur etwa skripten, setzt sich bei der Einreichung und dem Be­
15 Prozent der Fachartikel eines Jahres über den gutachtungsprozess fort und führt in fast allen Fällen
freien Zugang verfügbar. Viele Befürworter des Open am Ende zu einer Veröffentlichung in elektronischer
Form, unabhängig von der Frage, ob es auch noch
eine parallele Druckausgabe gibt. Doch im entschei­
denden Moment – dem Augenblick der Verteilung ei­
ner fertigen Publikation – wird die digitale Verwer­
Aktuell sind nur 15 Prozent der tungskette auf verhängnisvolle Weise durchbrochen.
Fachartikel eines Jahres über den Statt die dem Internet innewohnenden Möglich­
keiten maximaler Verbreitung in Echtzeit konse­
freien Zugang verfügbar quent auszuschöpfen, unterwirft man die mit viel
Mühe erzeugte und qualitätsgesicherte Publikation
einer Verknappung, die aus heutiger Sicht nur als
Access fragen sich deshalb, ob nicht ein Umdenken künstlich zu bezeichnen ist. Mit einem beachtlich
in der eigenen strategischen Ausrichtung einsetzen, hohen technischen und juristischen Aufwand wer­
Open Access quasi ein Update erhalten muss, mit den die Inhalte hinter eine Bezahlschranke gestellt
dem ein konkreteres Ziel in den Blick kommt: die und dem ungehinderten Zugriff entzogen. Verant­
Umstellung des noch immer auf Abonnements basie­ wortlich für diese Verknappung sind die bemerkens­
renden Geschäftsmodells der großen Verlage. wert ungebrochenen Konventionen des Subskriptions­

10 MaxPlanckForschung 3 | 16
ZUR SACHE_Forschungspolitik
Grafik: Dorothea Pluta

3 | 16 MaxPlanckForschung 11
ZUR SACHE_Forschungspolitik

wesens – also die zwischen Verlagen und Bibliothe­ Wenden wir uns der Frage zu, wie die Open-Access-
ken seit Jahrzehnten eingespielte Verfahrenslogik, Bewegung zu dieser Erkenntnis gefunden hat. An sich
wonach Zugang zu den Inhalten einer wissenschaft­ sind der freie – im Sinne von ungehinderte – Zugriff
lichen Zeitschrift nur derjenige erhält, dessen Biblio­ auf die Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitens und
thek ein Abonnement erwirbt. damit der Abbau aller diesem Ziel entgegenstehen­
Dieses Austauschverhältnis, das von Bibliotheken den Barrieren das zentrale Anliegen sämtlicher Open-
und Verlagen gleichermaßen gestützt wird, ist vom Access-Deklarationen. Als Initiatorin der Berliner Er-
Modernisierungsdruck der Digitalisierung bisher er­ klärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem
staunlich unberührt geblieben. Kaum eine andere Wissen von 2003 und (Mit-)Ausrichterin von inzwi­
Sphäre in der Wissenschaftskommunikation konnte schen insgesamt zwölf „Berlin-Konferenzen“ stand
sich bisher so sehr dem Wandel verschließen – was die Max-Planck-Gesellschaft immer im Zentrum der
umso mehr erstaunt, wenn man bedenkt, wie zent­ Debatte und ist weltweit anerkannt als eine der trei­
ral Publikationen für die Wissenschaft sind und wel­ benden Kräfte.
che Gelder damit umgesetzt werden. Zusammen mit einer stetig wachsenden Zahl an
Das Konzept wissenschaftlicher Zeitschriften ist Wissenschaftseinrichtungen in vielen Ländern enga­
350 Jahre alt und stammt aus einer Zeit, als die Bün­ giert sich die Max-Planck-Gesellschaft in Projekten,
delung wissenschaftlicher Arbeiten und vor allem Verbänden oder Pilotvorhaben, um das Prinzip des
ihre Distribution die großen Herausforderungen wa­ Open Access weiter voranzubringen. Nach mehr als
ren. Ohne ihre physische Auslieferung war an wissen­ einer Dekade internationaler Aufbauarbeit ist Open
Access im wissenschaftspolitischen Diskurs auf der
ganzen Welt fest verankert. Nicht von ungefähr hat
sich der erst im Jahr 2012 ins Leben gerufene Global
Auch auf nationaler Ebene Research Council gleich diesem Thema zugewandt
und binnen eines Jahres eine entsprechende Resolu­
werden die gesteckten Ziele tion ausgearbeitet.
Auch auf nationaler Ebene, vor allem in einigen
immer ambitionierter europäischen Ländern, werden die gesteckten Ziele
durch Selbstverpflichtungen immer ambitionierter.
Erst kürzlich wurden diese Entwicklungen im Rah­
schaftliche Arbeiten nicht heranzukommen. Diese men der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft im
Herausforderung hat eine gesamte Epoche wissen­ ersten Halbjahr 2016 auf europäischer Ebene aufge­
schaftlicher Kommunikation bis an die Schwelle des griffen und im April auf einer Konferenz als Amster-
21. Jahrhunderts geprägt. dam Call for Action on Open Science verabschiedet.
Und obwohl unter den heutigen Internetbedin­ In einem recht markanten Kontrast zur allgegen­
gungen diese Herausforderung nicht mehr vorhan­ wärtigen Verankerung von Open Access als wissen­
den ist, besteht das auf Zeitschriftenabonnements schaftspolitischer Zielsetzung steht die einigermaßen
beruhende Distributions- und Finanzierungsmodell ernüchternde Tatsache, dass trotz aller Unterstüt­
wissenschaftlicher Kommunikation samt seinen in­ zung nur 15 Prozent der Fachbeiträge per Open Ac­
härenten Verknappungseffekten weiter fort. Jetzt cess erscheinen. Und was vielleicht noch mehr zählt:
setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass das Dieser Anteil, der aktuell um etwa einen Prozent­
Subskriptionswesen als solches die größte und wir­ punkt pro Jahr zunimmt, übt aus sich selbst heraus
kungsmächtigste Barriere auf dem Weg zu Open Ac­ keinen wirklichen Transformationsdruck auf das
cess ist und an dieser Stelle der Hebel angesetzt wer­ Subskriptionswesen aus.
den muss, wenn der Durchbruch in größerem Stil ge­ Eine wirkungsvolle Delegitimierung der herr­
lingen soll. schenden Distributions- und Finanzierungsbedin­

12 MaxPlanckForschung 3 | 16
gungen ist bisher nicht festzustellen. Genauso wenig Um Open Access zum Standard in der wissenschaft­
lässt der Kostendruck nach, unter dem die Bibliothe­ lichen Kommunikation zu machen, muss der Korpus
ken durch die jährlichen Preissteigerungen leiden, die an Fachzeitschriften, die aktuell noch nach dem Sub­
ihnen ein monopolartiges Zeitschriftenwesen Jahr für skriptionsmodell vertrieben werden und hinter einer
Jahr abverlangt. Trotz der vielen Errungenschaften Bezahlschranke der freien Nutzung entzogen sind,
des Open Access bleibt das herrschende Subskripti­ möglichst flächendeckend auf eine Open-Access-Ge­
onswesen, mit dem wissenschaftliche Zeitschriften schäftsgrundlage umgestellt werden. Die Transfor­
vertrieben werden, weiterhin bestehen. Die Umsatz­ mation der bestehenden Zeitschriften ist also das
rendite der großen kommerziellen Verlage steigt un­
gebrochen an und liegt bei Margen zwischen 30 und
40 Prozent. Mit wissenschaftlicher Information lässt
sich also nach wie vor weit mehr Geld verdienen als Trotz der vielen Errungenschaften
in der Automobil- oder Erdölindustrie. Ähnlich pro­
fitabel sind nur Google oder Apple. bleibt das herrschende
Auch deshalb setzt sich bei Open-Access-Befür­
wortern immer mehr die Erkenntnis durch, dass all
Subskriptionswesen bestehen
die Maßnahmen der vergangenen zehn Jahre – die
Verabschiedung von Auflagen und Mandaten, der
Aufbau von institutionellen Repositorien als Instru­ nächste und mutmaßlich endgültige Ziel der Open-
menten des „grünen Wegs“ der Zweitveröffentlichung, Access-Debatte. Das bedeutet, dass die Zahlungsströ­
die unzähligen Handreichungen und anderen Doku­ me, die jetzt noch an der Finanzierung von Zeit­
mente einer breit angelegten Strategie – zwar richtig schriftenabonnements und damit auf den lesenden
und wichtig waren, dass es jedoch zugleich der neu­ Zugriff ausgerichtet sind, umgestellt werden auf die
en Fokussierung bedarf, um Open Access doch noch unmittelbare Vergütung von Publikationsdienstleis­
in der Fläche durchzusetzen. tungen der Verlage.
Man könnte es so formulieren, dass die Maßnah­ Den Weg, wie Open-Access-konforme Geschäfts­
men der vergangenen zehn Jahre vielleicht zu stark modelle organisiert und ausgestaltet werden können,
darauf ausgerichtet waren, die Praxis der Wissen­ haben Pionierverlage wie BioMed Central und PLOS
schaft an eine bestimmte Vorstellung von Open Ac­ seit mehr als zehn Jahren gewiesen. Deren Geschäfts­
cess anzupassen: Die Wissenschaftler mussten sich modell, das auf Publikationsgebühren, sogenannten
auf Open Access zubewegen; es galt, ihr Verhalten in Article Processing Charges (APCs) beruht, sind viele
eine bestimmte Richtung zu lenken. Vielleicht ist es weitere Verlage gefolgt – wobei festzuhalten ist, dass
an der Zeit, dieses Verhältnis umzukehren und auf die Praxis des Open-Access-Publizierens auch noch
eine andere Form von Bewegungsenergie zu setzen. andere erfolgreiche Finanzierungsmodelle kennt, die
Nicht die Forscher müssen bewusst im Sinne des keineswegs außer Acht zu lassen sind.
Open Access handeln, sondern Open Access muss Die Debatte um die Umstellung und letztendliche
überall dort verankert werden, worauf sich die Wis­ Überwindung des Subskriptionswesens wird nicht zu­
senschaftler in ihrer täglichen Arbeit beziehen. Dazu letzt von der Max-Planck-Gesellschaft maßgeblich be­
gehören auch und vor allem die gewohnten und be­ fördert. Im April 2015 legte die Max Planck Digital
kannten Zeitschriften, die für ein wahrgenommenes Library ein White Paper (http://dx.doi.org/10.17617/1.3)
Grafik: Dorothea Pluta

Qualitätsniveau und für bestimmte Karrierechancen vor, in dem die grundsätzliche Machbarkeit einer
stehen. Wenn ein Wissenschaftler sich an der Repu­ großflächigen Open-Access-Transformation auf der
tation einer Zeitschrift orientiert und dort publizie­ Basis von Publikationsdaten einerseits und den Um­
ren möchte, dann gehört nicht seine Haltung hinter­ satzzahlen wissenschaftlicher Verlage andererseits he­
fragt, sondern das Geschäftsmodell der Zeitschrift. rausgearbeitet wurde. Marktanalysen zufolge erzielen

3 | 16 MaxPlanckForschung 13
wissenschaftliche Verlage über den Verkauf von Zeit­ und dass zu einer wirkungsvollen Erneuerung des Sys­
schriftenabonnements weltweit Umsätze in einer Grö­ tems der Hebel an den Finanzströmen anzusetzen ist.
ßenordnung von 7,6 Milliarden Euro jährlich. Aktuell wird sehr viel Geld für in Anbetracht heuti­
Aus einschlägigen Publikationsdatenbanken wie ger Möglichkeiten lächerlich geringe Nutzungsmög­
dem Web of Science wird ersichtlich, dass sich die An­ lichkeiten ausgegeben. Es wird immer offenkundiger,
zahl der jährlich veröffentlichten Fachartikel in in­ dass sich mit maximal dem gleichen Geld ein sehr
ternational erscheinenden Zeitschriften auf ungefähr viel besseres System der wissenschaftlichen Kommu­
1,5 Millionen beläuft. Daraus folgt, dass unter dem nikation aufbauen und finanzieren ließe.
aktuellen Subskriptionswesen für jeden einzelnen Ar­ Was muss nun passieren, damit die gewünschte
tikel rechnerisch rund 5000 Euro bezahlt werden – Transformation auch tatsächlich herbeigeführt wird?
eine stolze Summe, die weit über die Kosten hinaus­ Den Schlüssel des Handelns halten die Einrichtungen
geht, die man bisher aus dem reinen Open-Access-
Publikationsmarkt kennt.
Die Kosten, die aus diesem Marktsegment doku­
mentiert sind, liegen für die deutschen Hochschulen
aktuell bei einem durchschnittlichen Preis von 1300
In Deutschland arbeitet vor
Euro. Selbst wenn man am Ende von etwas höheren allem die Max Planck Digital Library
Publikationszahlen und Durchschnittspreisen aus­
geht, so deutet doch alle verfügbare Evidenz darauf an Übergangsmodellen
hin, dass eine Umstellung des Geschäftsmodells wis­
senschaftlicher Zeitschriften ohne Mehrkosten im
Rahmen der jetzt schon eingesetzten Finanzmittel in der Hand, die über die eingesetzten Mittel verfü­
möglich wäre, dass also bereits jetzt genug Geld im gen und darüber entscheiden, wofür sie ihr Geld ein­
System ist. setzen – oder auch nicht. Das sind die Wissenschafts­
Seit seiner Veröffentlichung vor einem Jahr wur­ einrichtungen, in dieser Angelegenheit durch ihre
de das White Paper der Max Planck Digital Library zu Bibliotheken vertreten. Ein wesentlicher Teil der
einem zentralen Referenzdokument der weltweit ge­ Kampagne muss dementsprechend auf die Bibliothe­
führten Transformationsdebatte. Das große Interesse ken und ihre Verbandsorganisationen ausgerichtet
wurde auch sichtbar auf einer zweitägigen internati­ sein. Für die geplante Umstellung der Bezahlung von
onalen Konferenz Ende 2015, als 100 Repräsentanten Abonnements auf Publikationsdienstleistungen sind
aus 19 Ländern einer Einladung der Max-Planck-Ge­ andere Kenngrößen zu berücksichtigen und neue Pro­
sellschaft folgten, um über einen beschleunigten Weg zessabläufe zu entwickeln. Eine Bibliothek muss sich
zu Open Access zu debattieren. Die Teilnehmer stimm­ sehr viel präzisere Kenntnisse als bisher über das Pu­
ten darin überein, dass auf die Transformation im Sin­ blikationsaufkommen und die Verteilung auf die ein­
ne der hier dargelegten Überlegungen gemeinsam zelnen Verlage erschließen, um Übergangsszenarien
hingearbeitet werden solle. Die Ergebnisse der Tagung, und Kostenmodelle entwickeln zu können.
eine Absichtserklärung (Expression of Interest) und ein Nur so können die Bibliotheken in zielgerichtete
Aktionsplan, wurden im März 2016 unter dem Kam­ Transformationsmodelle mit den Verlagen eintreten.
pagnennamen Open Access 2020 veröffentlicht. Solche Übergangsansätze verbreiten sich seit gut zwei
Seither wächst die Zahl an Wissenschaftsorgani­ Jahren immer weiter und werden vor allem in Groß­
Grafik: Dorothea Pluta

sationen, die sich durch Unterzeichnung der Expres- britannien, den Niederlanden und in Österreich vo­
sion of Interest zu dieser Kampagne bekennen, stetig rangetrieben. In Deutschland ist es bisher vor allem
an. Immer mehr Einzelorganisationen und Verbände die Max Planck Digital Library, die aktiv an Über­
sehen ein, dass das Haltbarkeitsdatum des bestehen­ gangsmodellen arbeitet und sich seit Ende 2015 in ei­
den Subskriptionswesens deutlich überschritten ist nem Pilotprojekt mit dem Springer-Verlag befindet.

14 MaxPlanckForschung 3 | 16
ZUR SACHE_Forschungspolitik

Aber inzwischen ziehen weitere Einrichtungen nach,


sodass bis zum Jahresende 2016 mit neuen Abschlüs­
sen zu rechnen ist.
Für den Übergang ist ein neuartiges Vertragsmo­
dell aufgekommen, das in Fachkreisen unter dem
Stichwort Offsetting diskutiert wird und einen guten
Einstieg in eine systematische Umschichtung von Li­
zenzkosten (Abonnements) hin zu Publikationskos­
ten bietet. Der Ansatz besteht darin, die Subskripti­
onslogik aufzubrechen und auf Basis des aktuellen
Umsatzvolumens zusätzlich Open-Access-Dienstleis­
tungen einzufordern. Man bleibt also Subskriptions­
kunde, erhält weiterhin die erforderlichen Leserech­
te und setzt durch, über den Verlag per Open Access
publizieren zu können. Offsetting zielt auf einen Sys­
temwechsel und ist ein Modell des Übergangs. Ten­
denziell umgestellt werden nicht nur die Grundlogik DER AUTOR
der Verträge, sondern auch die Finanzströme und die
erforderlichen Abrechnungsprozesse im Sinne des Ralf Schimmer, Jahrgang 1962, ist Bereichsleiter
Open Access. Information und stellvertretender Leiter der Max
Durch derartige Übergangsmodelle bieten die Planck Digital Library in München. Der promovierte
Wissenschaftsorganisationen den Verlagen die Mög­ Sozialwissenschaftler verantwortet die zentrale
lichkeit zu einer geordneten Transformation. Ziel der elektronische Informationsversorgung aller Max-
Umstellung sind das Geschäftsmodell und die Bezahl­ Planck-Institute und ist seit der Berliner Erklärung
grundlage für die Dienstleistungen der Verlage. Diese von 2003 beteiligt an den Open-Access-Zielsetzungen
Verlagsdienstleistungen als solche sollen erhalten der Max-Planck-Gesellschaft. Schimmer ist Mitglied
bleiben und auch weiterhin in fairer und angemesse­ in Beiräten mehrerer Informationseinrichtungen,
ner Weise vergütet werden. Das disruptive Element von EU-Projekten und Wissenschaftsverlagen.
der Transformation soll nur auf die Finanzströme ge­ Aktuell ist er Projektleiter der Initiative Open Access
richtet sein, nicht aber auf die Austauschbeziehun­ 2020 und Mitglied im Steuerungsgremium der
gen zwischen Wissenschaft und Verlagen insgesamt. Schwerpunktinitiative Digitale Information der Alli-
In der großflächigen Transformation der Ge­ anz der deutschen Wissenschaftsorganisationen.
schäftsmodelle liegt eine Chance sowohl für die Wis­
senschaft als auch für die Verlage, die künstliche Ver­
knappung wissenschaftlicher Inhalte in einer auf ma­
ximale Distribution hin ausgerichteten Umgebung
endlich zu beenden und der heutigen Erwartungs­
haltung gerecht zu werden. In einer Zeit, in der In­
formationen in Sekunden um den Erdball getwittert
werden, mutet der heutige Modus wissenschaftlicher
Kommunikation absurd an. Wenn die Transformation
auf den geordneten Bahnen in den nächsten Jahren
Foto: MPDL

nicht gelingt, dann wird es nicht mehr lange dauern,


bis die nachwachsende Generation dem bestehenden
System einfach den Stecker ziehen wird.

3 | 16 MaxPlanckForschung 15
Post aus dem Nordatlantik

Auf Kurs bei


Wind und Wellen
Max-Planck-Wissenschaftler kooperieren mit Partnern in rund 120 Ländern
dieser Erde. Hier schreiben sie über persönliche Erlebnisse und Eindrücke.
Der Geologe Ralf Schiebel vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie
berichtet von seiner jüngsten Schiffsexpedition in den Nordatlantik, dem Leben
an Bord und großen Glücksmomenten in tosender Gischt.

Zum x-ten Mal rolle ich gegen die Wand meiner Koje und werde in die Matratze gedrückt,
tiefer als vorher. Das Schiff hebt sich diesmal lange, hält, und ab geht’s nach unten, wo der
Bug mit einem dumpfen Knall in die nächste Welle eintaucht. Ein Blick auf die Uhr: 3:24.
Gute Zeit, um aufzustehen. Gleich sind wir auf Station, das heißt: Einsatz. Über Nacht ha-
ben die Seismiker die günstigste Position für Sedimentkerne am Mittelatlantischen Rücken
gesucht. Nun wollen wir mit Bohrgeräten diese Klimazeugen aus einer Wassertiefe von bis
zu 4000 Metern bergen.
Wir sind in den letzten Tagen unserer vierwöchigen Expedition mit dem deutschen Forschungs-
schiff Maria S. Merian im Nordatlantik unterwegs. Begonnen hat die Reise im regnerischen,
kühlen Reykjavik. Ziel sind die milden Azoren knapp 3000 Kilometer südlich. Auf Kampagne
sind wir in diesem Herbst, um die Tiefenwasserzirkulation der jüngeren geologischen Geschich-
Grafik: iStockphoto

te zu studieren. An Bord sind 20 Wissenschaftler voller Tatendrang. Für viele ist es die erste
Fahrt. Ich war schon oft im Nordatlantik, leide zum Glück nicht an Seekrankheit. Windstärke
sechs und Fünf-Meter-Wellen sind hier typisch. Wir sind auch schon mit leeren Händen heim-
gekehrt – die Geräte von Bord gespült und das Schiff schwer beschädigt.

16 MaxPlanckForschung 3 | 16
RUBRIK TITEL

Ralf Schiebel , 51, untersucht die


Öko-
logie und Biogeo
chemie moderner
und
fossiler Organisme
n im globalen Stoff
-
kreislauf und deren
Wechselwirkunge
n
mit dem CO2-Syste
m. Er hat Geologie
in Kiel studiert, wa
r Postdoc an der
Universität Tübin
gen, Oberassiste
nt an
der ETH in Zürich,
hat am National
Oceanography Ce
ntre in Southamp
ton
unterrichtet und
war Institutsleite
r an
der Universität vo
n Angers in Frank
reich.
Seit 2015 beteilig
t er sich am Aufba
u der
Abteilung für Klima
geochemie am M
ax-
Planck-Institut fü
r Chemie in Main
z.

Der leitende Ingenieur, Mitglied der 24-köpfigen Besatzung, ist stolz auf sein Schiff: Brauch-
wasseranlage, Dieselelektrik, alles gut durchdacht und sauber. Heutzutage wird der Müll an
Bord getrennt, und das Schiff fährt nach den Bestimmungen des „Blauen Engels“. Anfang
der 1990er-Jahre wurde noch auf See entsorgt und mit Schiffsdiesel gedampft. Damals konn-
te man für 20 Mark die Minute mit seinen Lieben telefonieren, einmal pro Woche. Heute
gibt es E-Mail und Telefon auf der Kammer.
Einen Tag nach Auslaufen die erste Station. Bei stürmischer See gilt es, Plankton zu fischen.
Das 200 Kilogramm schwere Netz geht über die Reling. Es funktioniert. Die Mannschaft ist
eingespielt. Charlotte, Studentin aus Kiel, steht mit an der Bordwand und Doro, Doktoran-
din aus Mainz, an der Steuerung im Labor. Nach zehn Minuten taucht das Netz wieder aus
den Wellen auf, knallt gegen die Bordwand, der Wind fasst hinein. Wasser überall. Nur der
Bootsmann ist noch nicht zufrieden mit uns: „Immer eine Hand fürs Schiff und eine Hand
für dich!”, ruft er.
Im subtropischen Atlantik konzentrieren wir uns auf die Sedimentkerne als Indikatoren
der Klimaentwicklung. Messen können wir die Temperatur von vor 8000 Jahren nicht, aber
wir können sie rekonstruieren. Das Bergfest – also die Halbzeit der Ausfahrt – haben wir
bei bestem Wetter an Deck gefeiert, während wir zur nächsten Station fuhren. Mittlerweile
haben wir jegliches Zeitgefühl verloren. Unser Tag ist von den Mahlzeiten getaktet. Drei-
mal am Tag warmes Essen, Obst, Salat und frisches Brot. Das Frühstück der einen ist das
Abendessen der anderen.
Wir haben Glück. Die Proben könnten nicht besser sein, und die Stimmung ist gut. Der At-
lantik ist nun gnädig mit uns. Ich möchte trotzdem heim. Meine Frau hat mit unserem Baby
Urlaub bei den Großeltern gemacht. Jeden Tag haben wir geschrieben und telefoniert. Ob
der Kleine fremdeln wird? An einem Freitag laufen wir um 8 Uhr morgens in Ponta Delgada
Foto: privat

auf den Azoren ein. Das Schiff wird ent- und beladen, am Samstag beginnt die nächste For-
schungsreise. Wir werden dann im Flieger nach Frankfurt sitzen.

3 | 16 MaxPlanckForschung 17
Schlummern
zwischen Himmel und Erde
Beim Autofahren kann schon ein kurzer Anfall von Schläfrigkeit fatale Folgen haben.
Fregattvögel schlummern dagegen problemlos in der Luft, ohne abzustürzen.
Während ihrer tagelangen Flüge über dem offenen Ozean kommen sie insgesamt
aber mit extrem wenig Schlaf aus. Ein Team um Niels Rattenborg vom Max-Planck-
Institut für Ornithologie in Seewiesen hat erstmals nachgewiesen, dass Vögel
im Schlafmodus fliegen können.

TEXT ELKE MAIER

Foto: Niels Rattenborg


FOKUS_Schlaf

D
ie Pfuhlschnepfe zählt zu ganze Strecke ohne Zwischenlandung in segler können möglicherweise sogar
den Rekordhaltern der Vo- acht Tagen. Die Pfuhlschnepfen machen 200 Tage am Stück fliegen, ohne zu
gelwelt. Sie ist nicht so groß also keine Pausen, um ihre Muskulatur landen. Aber wie schaffen diese Tiere
wie ein Strauß, nicht so zu regenerieren oder um zu ruhen. das, so ganz ohne Schlaf?
schnell wie ein Wanderfal- So beeindruckend das auch ist – die Niels Rattenborg ist Leiter der For-
ke und auch nicht so laut wie der süd- Spitzenreiter im Dauerflug sind die schungsgruppe „Vogelschlaf“ am See-
amerikanische Fettschwalm. Stattdessen Schnepfen damit noch lang nicht: Fre- wiesener Max-Planck-Institut für Or-
hält sie den Streckenrekord im Nonstop- gattvögel bleiben über zwei Monate nithologie südlich von München. Mit
flug: Mehr als 11 000 Kilometer legt sie ununterbrochen in der Luft, und Alpen- seinem Thema befasst sich der Ameri-
von ihrem Brutplatz in Alaska bis nach Nickerchen im Nest: Zwei Fregattvogelweibchen erholen sich von ihren letzten Jagdausflügen.
Neuseeland zurück. Dabei schafft sie die Im Hintergrund sind die Zelte der Seewiesener Forscher zu sehen.

3 | 16 MaxPlanckForschung 19
Ankunft auf der Insel: Für ihren Aufenthalt fernab von der Zivilisation müssen Niels Rattenborg und seine Kollegen alles Lebensnotwendige
per Boot heranschaffen. Die Seelöwen lassen sich vom geschäftigen Treiben der Forscher nicht beirren (oben). Auch das Fregattvogelweibchen
zeigt keine Scheu, als der Biologe Bryson Voirin es in die Freiheit entlässt (unten).

20 MaxPlanckForschung 3 | 16
FOKUS_Schlaf

kaner mit dänischen Wurzeln seit gut Für diese Hypothese spricht, dass jene terquartiere ziehen, hüpfen Dachsam-
zwei Jahrzehnten. „Vögel haben mich Gehirnregionen, die tagsüber sehr ak- mern in Gefangenschaft rastlos in ihrem
schon als Kind fasziniert“, erzählt er. tiv waren, nachts besonders tief schla- Käfig herum und schlagen mit den Flü-
Dass dann noch der Schlafaspekt hin- fen. Niels Rattenborg und seine Kolle- geln. Wie Rattenborg und seine Mitar-
zukam, verdankt Rattenborg einem Fe- gen hatten dies an Tauben beobachtet, beiter herausgefunden haben, schlafen
rienjob: „Nach dem College-Abschluss denen sie David Attenboroughs Film die Vögel während dieser sogenannten
habe ich im Sommer und über Weih- über Das Leben der Vögel vorspielten, Zugunruhe nur ein Drittel so lange wie
nachten in einem Schlaflabor gearbei- wobei sie sie wach hielten. Während sonst. Erstaunlicherweise scheint der
tet. Und später war ich dort zehn Jah- der Filmvorführung wurde jeweils ein Schlafentzug die Vögel jedoch nicht zu
re lang Techniker.“ Auge mit einer Klappe bedeckt. In der beeinträchtigen: Bei Lern- und Gedächt-
Es traf sich ausgezeichnet, dass sich darauffolgenden Nacht schlief jene Ge- nisaufgaben schneiden sie unverän-
die Ornithologie und Schlaf so gut ver- hirnregion, die für das sehende Auge dert gut ab.
binden ließen. Rattenborg studierte Bio- zuständig war, tiefer als jene mit Ver-
logie, promovierte über das Schlafver- bindung zum zuvor bedeckten Auge. ERFOLGREICH IST, WER AM
halten von Stockenten und nahm eine Warum aber ist das Schlafbedürfnis LÄNGSTEN WACH BLEIBT
Wissenschaftlerstelle in Wisconsin an. quer durchs Tierreich so unterschied-
Seit 2005 forscht er in Seewiesen. Nun lich? Wie kann es sein, dass Igel und Fle- Der arktische Graubruststrandläufer
haben Rattenborg und sein Kollege dermäuse bis zu 20 Stunden pro Tag kommt mit wenig Schlaf ebenfalls bes-
Bryson Voirin den Beweis geliefert, dass schlummern, während Giraffen mit nur tens zurecht. Rattenborg hat zusammen
Vögel tatsächlich beim Fliegen schlafen. zwei Stunden auskommen? Und was ist mit einem Forscherteam aus Seewiesen
mit Zugvögeln, die keine Möglichkeit beobachtet, dass sich die Männchen
OB WURM ODER ELEFANT – zur Zwischenlandung haben, etwa weil während der dreiwöchigen Balzzeit
SCHLAFEN MUSS JEDER sie über dem offenen Ozean fliegen? kaum Ruhe gönnen. Stattdessen ste-
Schlafen sie in der Luft? Verzichten sie cken sie all ihre Energie in Scharmützel
Die Frage, warum Lebewesen schlafen zeitweise auf Schlaf? Oder schläft ihr Ge- mit anderen Männchen und in Wer-
müssen, beschäftigt schon Generatio- hirn womöglich auf Raten? bung um die Weibchen. Dass sie mit
nen von Wissenschaftlern. Ob Faden- Schon während seiner Doktorarbeit dieser Strategie gut fahren, bewiesen
würmer, Fruchtfliegen, Fische oder Ele- an Stockenten hatte Rattenborg ein fas- Vaterschaftsanalysen: Die Männchen,
fanten – ohne Schlaf kommt auf Dauer zinierendes Phänomen beobachtet: In die am wenigsten schliefen, hatten auch
keiner aus. Warum das so ist, ist bislang einer Gruppe schlafender Enten halten die meisten Nachkommen. „Die sexu-
unbekannt. Ein Erklärungsversuch ist in diejenigen, die am Rand sitzen, das nach elle Selektion fördert also bei den Grau-
Fachkreisen als „synaptische Homöo­ außen gerichtete Auge offen, und die bruststrandläufern eine kurze Schlaf-
stase-Hypothese“ bekannt. Demnach dazugehörige Gehirnhälfte bleibt wach. dauer“, sagt Rattenborg.
ist Schlaf dazu da, um den Kopf frei zu So können die Vögel einen Teil des Ge- Um herauszufinden, wie fliegende
machen: Im Wachzustand prasseln hirns ausruhen und haben gleichzeitig Vögel mit dem Schlafbedürfnis umge-
Fotos: Bryson Voirin (oben), Ryan Tisdale (unten)

zahllose Informationen auf uns ein und potenzielle Feinde im Blick. Dieser soge- hen, haben sich Niels Rattenborg und
müssen verarbeitet werden. Dazu wer- nannte unihemisphärische Schlaf, bei seine Kollegen mit dem Neurophysio-
den im Gehirn ständig neue Synapsen dem immer bloß eine Gehirnhälfte logen Alexei Vyssotski zusammen­
gebildet, bestehende Verbindungen wer- schläft, während die andere wach bleibt, getan. Vyssotski entwickelt in Zürich
den ausgebaut. „Irgendwann hätten wir ist außer von Vögeln etwa auch von Del- kleine Messgeräte, die so leicht sind,
unseren Kopf so voll, dass wir nichts finen, Robben und Seekühen bekannt. dass Vögel sie auch im Flug tragen
Neues mehr aufnehmen könnten“, sagt Andere Vogelarten, wie die nord- können. Die Geräte zeichnen Kopfhal-
Niels Rattenborg. Damit das nicht pas- amerikanische Dachsammer, brauchen tung und Flügelschlag auf und messen
siert, werden im Schlaf manche Verbin- dagegen zu bestimmten Zeiten weit we- gleichzeitig die Hirnaktivität. Dazu kle-
dungen wieder gelöscht. Das schafft niger Schlaf als sonst. Während ihre ben die Forscher Sensoren für die Span-
neue Kapazitäten. Artgenossen in freier Natur in ihre Win- nungsschwankungen, die vom Gehirn

3 | 16 MaxPlanckForschung 21
FOKUS_Schlaf

Inselidyll: Während der Freilandarbeit tauschen die Wissenschaftler ihre festen Wohnsitze
gegen ein geräumiges Zelt (linkes Bild). Vom Camp aus startet Niels Rattenborg zu einem
Streifzug über die Insel (rechts).

erzeugt werden, auf den Kopf der Tie- nicht taugen“, sagt Rattenborg. Fregatt- lichen Feinde haben, sind sie zudem
re. Im Wachzustand und in den unter- vögel sind deshalb darauf angewiesen, Menschen gegenüber nicht scheu und
schiedlichen Schlafphasen ermitteln ihre Beute aus der Luft zu fangen. Bei daher leicht einzufangen.
diese die elektrischen Aktivitäten von ihren ausgedehnten Jagdausflügen kön- Für ihre Studie wählten die For-
Millionen Nervenzellen und stellen nen sie sich auch nicht auf dem Wasser scher weibliche Tiere aus. „Weil sie
daraus charakteristische Kurven in ei- ausruhen, wie etwa Albatrosse das tun. noch größer sind als die Männchen, ist
nem Elektroenzephalogramm (EEG) Rattenborg und Voirin arbeiteten es für sie leichter, die Geräte zu tra-
dar. Die Wissenschaftler hatten damit für die Erforschung der Fregattvögel mit gen“, sagt Rattenborg. „Zudem konn-
erstmals die Möglichkeit, das Wach- Sebastian Cruz zusammen, einem See- ten wir bei den Weibchen im Gegen-
und Schlafverhalten fliegender Vögel vogelexperten aus Ecuador. Gemeinsam satz zu den störungsempfindlicheren
zu untersuchen. schlugen sie ihr Lager auf Genovesa auf, Männchen sicher sein, dass sie immer
Als Studienobjekt wählten sie den einer kleinen, unbewohnten Insel des wieder zu ihren Küken zurückkehren.“
Bindenfregattvogel (Fregata minor). Galapagos-Archipels. Dort kampierten Bei Fregattvögeln beteiligen sich ge-
Mit einem Gewicht von bis zu andert- sie direkt neben einer Fregattvogel-Ko- wöhnlich beide Partner an der Jungen­
halb Kilogramm und einer Flügel- lonie. „Wir hatten ein Küchenzelt sowie aufzucht. Während ein Elternteil auf
spannweite von mehr als zwei Metern ein Laborzelt als Arbeitsplatz, geschlafen Nahrungssuche ist, schützt der andere
ist er unter den Seevögeln einer der wurde in Hängematten unter freiem das Nest vor Artgenossen, die sich nur
größten. Das Messgerät inklusive Bat- Himmel“, erzählt Voirin. zu gern über unbeaufsichtigte Jungtie-
terien wiegt dagegen nur zwölf Gramm re hermachen.
und stellt beim Fliegen kaum eine Be- DIE WEIBCHEN SIND DIE Um die Vogelweibchen mit den mo-
lastung dar. BESSEREN PROBANDEN bilen Messgeräten auszustatten, wurden
Fregattvögel verbringen einen Groß- sie kurz betäubt und ins Laborzelt ge-
teil ihrer Zeit in der Luft und sind an die- Im Dienste der Schlafforschung ver- bracht. Rund eine halbe Stunde dauerte
sen Lebensstil perfekt angepasst. Meis- zichteten die Wissenschaftler ihrerseits es, bis die Apparate mithilfe von Spezial-
tens segeln sie ohne Flügelschlag über auf Schlaf: Zunächst machten sie tags- kleber und Klebeband an Kopf und Rü-
den Ozean und halten Ausschau nach über die Nester ausfindig und kehrten cken der Vögel befestigt waren. Zusätz-
Fliegenden Fischen und Kalmaren, die dann nachts zurück, um die Vögel zu lich zu den Geräten zur Messung von
von Delfinen oder Raubfischen an die fangen. Auf diese Weise reduzierten sie Gehirnaktivität, Kopfhaltung und Flü-
Wasseroberfläche getrieben werden. die Störungen auf ein Minimum. Da die gelschlägen brachten die Forscher auch
Im Wasser dagegen sind die Flug- Tiere ihre Nester auf Büschen in maxi- GPS-Logger an, die den Standort und die
künstler ziemlich unbeholfen. „Ihr Ge- mal zweieinhalb Meter Höhe bauen, Flughöhe festhielten. Nachdem sie sie so
fieder ist nicht wasserabweisend und blieben den Forschern zumindest ausgestattet hatten, brachten die For-
saugt sich voll. Außerdem haben sie nächtliche Kletterpartien erspart. Da scher ihre gefiederten Probanden wieder
sehr kleine Füße, die zum Schwimmen die Vögel auf Galapagos keine natür­ zurück in die Nester.

22 MaxPlanckForschung 3 | 16
Nun hieß es abwarten, bis die Fregattvö- schläge und niedrigere Schwingungs- chen, um das Schlafdefizit während des
gel zur Jagd aufbrachen. „Nachdem sie frequenzen auf. In diesem Zustand syn- Tages auszugleichen.“ Tagsüber sind die
ausgeflogen waren, haben wir die Nes- chronisieren sich die Nervenzellen und Vögel hellwach und richten ihre ganze
ter regelmäßig kontrolliert, um ihre An- sind abwechselnd gemeinsam aktiv und Aufmerksamkeit auf die Nahrungssuche.
kunft nicht zu verpassen“, sagt Voirin. inaktiv. So entstehen langsam schwin- Neben dem langsamwelligen Schlaf
Glücklicherweise lief alles nach Plan: gende Gehirnwellen. Der Tiefschlaf wird registrierten die Messgeräte hin und
Nach spätestens zehn Tagen waren die daher auch als SW-Schlaf (slow-wave wieder auch kurze Episoden von soge-
Vögel wieder zurück. Wie sich später he- sleep) bezeichnet. nanntem REM-Schlaf (rapid eye move-
rausstellte, hatten sie währenddessen bis ment). Typisch für den REM-Schlaf sind
zu 3000 Kilometer zurückgelegt. POWERNAPPING SORGT FÜR EEG-Kurven mit niedrigen Ausschlägen
Als Nächstes mussten die Wissen- NEUE ENERGIE und hohen Frequenzen, so wie sie auch
schaftler sie erneut einfangen, um an bei wachen Vögeln auftreten. REM-
die Daten zu gelangen. Am Computer Die EEGs während des Fluges zeigen ei- Schlaf findet immer in beiden Gehirn-
konnten die Forscher die Datenspeicher nen solchen langsamwelligen Schlaf. hälften statt und kommt außer bei Vö-
gleich vor Ort auslesen. Insgesamt hat- Das war der Beweis: Fregattvögel schla- geln auch bei Säugetieren einschließlich
ten sie Daten von 14 Vögeln. Fünf da- fen beim Fliegen, und das erstaunli- des Menschen vor. Bei Säugern dauern
von waren so lange unterwegs gewesen, cherweise nicht nur mit einer Gehirn- REM-Phasen bis zu einer Stunde. Wäh-
dass die Speicherkapazität der Geräte hälfte, sondern manchmal sogar mit renddessen geht die Muskelspannung
noch während des Flugs erschöpft war. beiden gleichzeitig. „Aber obwohl sie komplett verloren, und der Körper er-
Bei neun Tieren zeichneten die Appara- auch fliegen können, wenn beide Ge- schlafft. Vögel verbringen dagegen im-
te auch dann noch auf, als sie wieder hirnhälften schlafen, bleibt meistens mer nur einige Sekunden im REM-
auf ihren Nestern saßen. So konnten eine Seite wach, und zwar diejenige, die Schlaf. Zwar lässt auch bei ihnen der
die Biologen das Schlafverhalten in der mit dem in Flugrichtung blickenden Muskeltonus nach, sie können aber
Fotos: Ryan Tisdale (links), Bryson Voirin (rechts)

Luft und an Land vergleichen. Auge verbunden ist. So vermeiden die trotzdem noch stehen oder fliegen.
Zurück in Seewiesen betrachtet Rat- Vögel vermutlich Kollisionen mit Art- Welche Funktion der REM-Schlaf
tenborg die aufgezeichneten EEG-Kur- genossen, die in derselben Luftströ- hat, ist bis heute ein Rätsel. Forscher ge-
ven. „Im Wachzustand sind die Aus- mung segeln.“ hen aber davon aus, dass er für die nor-
schläge klein, dafür schwingen sie mit Meist schlummern die Tiere am frü- male Entwicklung des Gehirns wichtig
hoher Frequenz“, erklärt der Max- hen Abend, kurz nach Einbruch der Dun- ist. Dafür spricht, dass die meisten Säu-
Planck-Forscher. Das Muster rührt da- kelheit, wenn sie in ausreichender Höhe getierjungen mehr Zeit im REM-Schlaf
her, dass die Nervenzellen im Gehirn und aufsteigender Thermik fliegen. Das zubringen als erwachsene Tiere. Bei neu-
unsynchronisiert elektrische Signale schützt vor Abstürzen. „Der kurze Schlaf geborenen Babys macht er die Hälfte
abfeuern. Andere Kurven stammen aus am Abend ist wahrscheinlich so eine Art der gesamten Schlafzeit aus, bei Erwach-
dem Tiefschlaf und weisen stärkere Aus- Powernap: Er könnte gerade so ausrei- senen nur noch ein Viertel. Bei Vögeln

3 | 16 MaxPlanckForschung 23
FOKUS_Schlaf

Längengrad
-90 -88 -86 -84
5

4 Cocos Ridge

3
Breitengrad

1 -500

Meerestiefe
0 -1000

-1 -2000
0 100
Carnegie Ridge
km
-2 -3000

Fregattvögel nutzen die Thermik, während sie In einer früheren Studie hatten die See- die Wissenschaftler noch keine Ant-
auf der Suche nach Nahrung über den Ozean wiesener Forscher gezeigt, dass Tauben wort parat, warum es für uns Menschen
segeln. Das erfordert ihre volle Aufmerksam-
ein Schlafdefizit auf ähnliche Weise so gut wie unmöglich ist, das Schlafbe-
keit. Ein kurzes Schläfchen gönnen sie sich
meist nach Einbruch der Dunkelheit. Dabei kompensieren: Hielten die Wissen- dürfnis zu unterdrücken. „Auch Tauben
halten sie das in Flug­richtung schauende schaftler ihre Probanden von deren üb- werden wie der Mensch müde, die Fre-
Auge offen und die dazugehörige Gehirnhälfte lichem Mittagsschläfchen ab, so schlie- gattvögel dagegen machen einfach wei-
wach (links). GPS-Logger ermöglichen es den fen sie in der darauffolgenden Nacht ter!“ Dass Menschen und Vögel, von­
Forschern, die Flugrouten genau zu verfolgen.
Pro Tag legen die Vögel mehrere Hundert
intensiver. Im Gegensatz zu den Fre- einander unabhängig, ganz ähnliche
Kilometer zurück (rechts). gattvögeln wurden die Tauben schnell Schlafmuster entwickelt haben, lässt
müde, wenn sie nur ein paar Stunden aber hoffen, aus den Erkenntnissen der
haben Niels Rattenborg und sein Team wach gehalten wurden. „Wir mussten Vogelschlafforschung auch etwas über
ein ganz ähnliches Muster gefunden. In sie eigentlich permanent sanft daran er- den menschlichen Schlaf zu lernen.
einer Studie an jungen Schleiereulen innern, wach zu bleiben.“ Für sein Dachsammer-Projekt hat-
stellten sie fest, dass sich auch bei Eulen- te Rattenborg sogar ein Stipendium
küken der Anteil des REM-Schlafs mit GESUCHT: EIN WUNDERMITTEL vom US-Militär bekommen. Das vom
dem Älterwerden verringert. GEGEN DIE MÜDIGKEIT Geldgeber insgeheim wohl erhoffte
Bei fliegenden Fregattvögeln tritt Wundermittel, um die Soldaten gegen

Grafik: Damond Kyllo/dakyllo Designs (links), MPI für Ornithologie (rechts)


also sowohl SW- als auch REM-Schlaf Warum aber ruhen Fregattvögel in der Müdigkeit zu wappnen, kam dabei al-
auf. Um sich in der Luft zu halten, ist Luft nicht länger, wenn das doch an- lerdings nicht heraus. „Von solch einer
es offenbar nicht nötig, einen Teil des scheinend problemlos möglich ist? „Eine Substanz würden auch andere Berufs-
Gehirns wach zu halten. Trotzdem gön- frühere Studie hat gezeigt, dass sie güns- gruppen profitieren, zum Beispiel Ret-
nen sich die Vögel während des Fliegens tigen Meeresströmungen folgen, um er- tungskräfte nach einer Naturkatastro-
kaum Schlaf: Innerhalb von 24 Stunden giebige Nahrungsquellen ausfindig zu phe“, sagt Rattenborg. Wäre es nicht
schliefen sie im Schnitt gerade einmal machen“, sagt Rattenborg. „Möglicher- auch für ihn als Wissenschaftler verlo-
42 Minuten, davon im Schnitt jeweils weise bleiben sie auch nachts wach, um ckend, weniger schlafen zu müssen und
lediglich zwölf Sekunden am Stück. Der die Wasseroberfläche zu beobachten und mehr forschen zu können? „Warum
längste ununterbrochene Schlaf dauer- morgens zum Fressen gleich an der rich- nicht?“, sagt er und lacht.
te knapp sechs Minuten. An Land da- tigen Stelle zu sein.“ Das erfordert offen- In jedem Fall hat seine Forschung
gegen schlummerten die Tiere mehr als sichtlich die volle Aufmerksamkeit bei- bereits indirekt zu neuen Erkenntnis-
zwölf Stunden. Dabei waren die Schlaf- der Gehirnhälften, sonst würden die sen über den menschlichen Schlaf ge-
phasen nicht nur länger (52 Sekunden), Vögel wahrscheinlich mehr schlafen. führt. Inspiriert von seiner Forschung
sondern auch tiefer. Anscheinend ho- Wie die Fregattvögel die negativen mit den Enten haben Wissenschaftler
len die Tiere versäumten Schlaf nach, Effekte des Schlafmangels kompensie- kürzlich herausgefunden, dass Men-
so wie auch wir Menschen das tun. ren, ist bislang ein Rätsel. Auch haben schen eine Hirnhälfte teilweise wach

24 MaxPlanckForschung 3 | 16
FOKUS_Schlaf

Wachzustand Langsamwelliger Schlaf einer Gehirnhälfte Langsamwelliger Schlaf beider Gehirnhälften

L
EEG

R
EEG
25 s

Oben Fliegen mit leichtem Gepäck: Das kleine


Messgerät auf dem Kopf des Vogels zeichnet
die Gehirnaktivität auf (oben).
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Unten Die Kurven zeigen den Wach­zustand
(links) sowie den langsamwelligen Schlaf einer
l Fregattvögel können während des Fluges schlafen. Dabei schlummert gewöhnlich
(Mitte) oder beider Gehirnhälften (rechts). nur eine Hirnhälfte, manchmal aber auch beide.
l In der Luft schlafen die Vögel nur etwa 42 Minuten pro Tag. Im Schnitt ist jede
halten, wenn sie in einer ungewohn- Schlafphase gerade mal zwölf Sekunden lang.
ten Umgebung schlafen – so wie die l Ihr Gehirn kann beim Fliegen in Tief- und REM-Schlaf fallen. Während bei Säuge­
Enten, die am Rande der Gruppe sit- tieren die Muskulatur im REM-Schlaf völlig erschlafft, können Vögel selbst dann
zen, das nach außen gerichtete Auge noch in der Luft segeln.
offen halten. „Aus dem Schlafverhalten
der Fregattvögel können wir deshalb
künftig sicher auch etwas über unseren GLOSSAR
eigenen Schlaf lernen.“
REM-Schlaf: Schnell schwingende, dem Wachzustand vergleichbare Hirnaktivität. Für den
Als Nächstes möchte Rattenborg
Foto: Bryson Voirin; Grafik: MPI für Ornithologie

REM-Schlaf typisch sind schnelle Augenbewegungen und eine verringerte Muskelspannung.


Pfuhlschnepfen mit mobilen Messge- Die Weckschwelle liegt sehr hoch, beim Menschen laufen die meisten Träume in dieser
räten ausstatten und ihre Reise von Phase ab. Die meisten Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass der REM-Schlaf sehr
Alaska nach Neuseeland begleiten. spät in der Evolution entstanden ist und nur bei Säugetieren und Vögeln vorkommt. Seit
„Anders als Fregattvögel schlagen sie Kurzem gibt es Hinweise darauf, dass auch manche Reptilien in REM-Schlaf fallen könnten.

aktiv mit den Flügeln“, sagt der Max- SW-Schlaf: Der sogenannte slow-wave sleep oder langsamwellige Schlaf ist die Schlafphase
mit der höchsten Weckschwelle – daher auch der umgangssprachliche Begriff Tiefschlaf.
Planck-Forscher. Ob auch sie dabei
Typisch für den SW-Schlaf sind sogenannte Deltawellen (slow waves) mit einer Frequenz von
schlafen? Um das herauszufinden, müs- weniger als vier Schwingungen pro Sekunde. Diese Wellen breiten sich nach und nach über
sen die Forscher zunächst noch kleine- das gesamte Gehirn aus. Es befinden sich also nicht alle Gehirnareale gleichzeitig im
re und leichtere Geräte entwickeln, Tiefschlaf. Die Aktivitätswellen spielen wahrscheinlich eine Rolle bei der Verarbeitung von
denn Pfuhlschnepfen sind deutlich Informationen, die das Gehirn im Wachzustand aufgenommen hat.
kleiner als Fregattvögel. 

3 | 16 MaxPlanckForschung 25
FOKUS_Schlaf

Metronome,
die den Tag regieren
Wie unterschiedlich die innere Uhr von Menschen ticken kann, dafür ist Ludwig II. von Bayern ein
eindrucksvolles Beispiel: Historischen Quellen zufolge ging der Monarch üblicherweise nachts seinen
Regierungsgeschäften nach, den Tag dagegen verschlief er weitgehend. Ob der Märchenkönig unter
einer Störung litt, die seinen Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinandergebracht hat, darüber kann zwar
auch Gregor Eichele nur spekulieren. Zusammen mit seinem Team am Max-Planck-Institut für
biophysikalische Chemie in Göttingen hat er aber viele neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie
die natürlichen Taktgeber unseres Körpers funktionieren.

TEXT KLAUS WILHELM

D
er Schlaf-Wach-Rhythmus „Obwohl Schlaf und innere Uhr mitein- als Zeitgeber die innere Uhr immer wie-
ist untrennbar mit unserer ander zusammenhängen, sind sie grund- der auf genau 24 Stunden.
inneren Uhr verbunden“, verschieden: Während der Schlaf eine Dieses umständlich anmutende Sys-
sagt Gregor Eichele, der am Leistung des ganzen Organismus dar- tem exisitiert, weil der tägliche Wech-
Göttinger Max-Planck-In­ stellt, ist die innere Uhr eine Eigenschaft sel von Tag und Nacht nicht ausreicht,
stitut die Abteilung „Gene und Verhal- einzelner Zellen“, betont Gregor Eichele. um die Abläufe in unserem Körper im
ten“ leitet. Eichele weiß aus eigener Er- Gleichzeitig beeinflussen sich beide ge- Takt zu halten. Das wird beim Blick auf
fahrung, wie stark sich die innere Uhr genseitig. Ein Beispiel: Die Nervennetz- den Hell-Dunkel-Rhythmus unseres
auf das Wohlbefinden auswirken kann. werke und Substanzen, die den Schlaf modernen Lebens sofort klar: Wenn un-
Schließlich ist er selbst jahrelang regel- regulieren, stehen unter Kontrolle der sere physiologischen Rhythmen allein
mäßig zwischen Deutschland und den zirkadianen Uhr mir ihrem 24-Stunden- eine Reaktion auf die An- oder Abwesen-
USA hin- und hergependelt. Die zirka- Rhythmus. Diese ist somit verantwort­ heit von Licht wären, dann hätte jeder
diane Uhr ist seit Langem eine seiner lich dafür, dass wir zur richtigen Zeit verlängerte Abend mit all seinen künst-
wissenschaftlichen Leidenschaften. einschlafen können. lichen Lichtquellen katastrophale Aus-
Dass Schlaf und innere Uhr eng wirkungen auf unseren Stoffwechsel
miteinander zusammenhängen, das INNERE UHR GEHT ETWAS NACH und den Schlaf-Wach-Rhythmus. Statt-
spüren Millionen von Menschen tag- dessen signalisiert unsere innere Uhr,
täglich, wenn sie als Flugreisende in- Der Begriff „zirkadian“ leitet sich ab dass es sich hierbei um falsche äußere
nerhalb von wenigen Stunden mehre- von lateinisch circa (ungefähr) und dies Zeitsignale handelt, und hält so den Or-
re Zeit­zonen durchqueren. Eine häufi- (Tag). Er drückt aus, dass die innere Uhr ganismus zeitlich stabil.
ge Folge: Die innere Uhr gerät aus dem nur annähernd im 24-Stunden-Takt Entstanden ist die zirkadiane Uhr
Takt. Manche Menschen klagen bereits schwingt. Ein Mensch kann zum Bei- wahrscheinlich gleich zu Anbeginn der
über Schlafstörungen, wenn nur die spiel eine zirkadiane Uhr mit einem Evolution. Schon die allerersten Ein­
Foto: Irene Boettcher-Gajewski

Uhr von der Sommerzeit um eine Stun- Rhythmus von 24,7 Stunden haben. zeller in den Urmeeren profitierten mög-
de zurückgestellt wird. Selbst bei ver- Würde er über mehrere Wochen in ei- licherweise davon, wenn sie den Son-
meintlich so geringfügigen Umstellun- nem gleichbleibend beleuchteten Raum nenaufgang antizipieren und rechtzeitig
gen kann es einige Tage dauern, bis die leben, begänne er also täglich 42 Minu- in tiefere Wasserschichten abtauchen
äußere und die innere Uhr wieder syn- ten später zu schlafen als am jeweiligen konnten. So entgingen sie der damals
chron laufen und die Betroffenen wie Vortag. Erst die Umweltbedingungen – noch weitgehend ungefiltert auf die
gewohnt schlafen. an erster Stelle das Licht – kalibrieren Erde treffenden UV-Strahlung der Son-

26 MaxPlanckForschung 3 | 16
FOKUS_XXXXX
xxxxxxxx

Der Lebensrhythmus der meisten Tiere folgt einer inneren Uhr. Der Taktgeber einer Maus
beispielsweise ist von Natur aus so eingestellt, dass das Tier nachts aktiv ist und tagsüber ruht.

3 | 16 MaxPlanckForschung 27
Großhirnrinde

Suprachiasmatischer
Nukleus

Sehnervkreuzung

Hirnanhangdrüse Hypo-
thalamus

Links Gregor Eichele ist fasziniert von Uhren – insbesondere von den inneren Uhren, die
die Abläufe in unseren Zellen und Organen im Takt halten. Dabei hat er wichtige Elemente
des Räderwerks aus Molekülen aufgeklärt, das dem zirkadianen Rhythmus von Zellen
zugrunde liegt.
Oben Der suprachiasmatische Nukleus ist der oberste Taktgeber im menschlichen Gehirn.
Der rund einen Millimeter große Kern liegt oberhalb der Kreuzung der beiden Sehnerven
und erhält von diesen über die Augen Informationen zu den Lichtverhältnissen. Auch die
Hirnanhangdrüse beeinflusst mit ihren Hormonen die inneren Uhren des Körpers.

ne. In der Finsternis der Tiefsee signali- Organuhren – und der gesamte Organis- sie sich stattdessen sowohl tagsüber als
sierte die Uhr den Mikroben dann wie- mus mit dem 24-Stunden Hell-Dunkel- auch nachts ähnlich häufig. Geschla-
der, wann es Zeit zum Auftauchen war. Zyklus der Umwelt. fen haben die Tiere dagegen nicht mehr
Einmal in der Welt, haben fast alle Die wichtigste Uhr sitzt im Gehirn, als üblich.
Lebewesen das innere zirkadiane Uhr- im sogenannten suprachiasmatischen Dieser Befund legte den Schluss
werk beibehalten: Für Pflanzen ist es Nukleus. In diesem Kern sammeln sich nahe, dass der Nukleus als oberster Takt-
sinnvoll, dass sie nur tagsüber Fotosyn- beim Menschen 50 000 eng miteinan- geber seine Informationen an alle ande-
these betreiben. Bei tagaktiven Säuge- der verknüpfte Nervenzellen, die mit ren Uhren in den Zellen, Geweben und
tieren wie dem Menschen steigt die Neuronen diverser anderer Hirnregio- Organen des Körpers übermittelt und
Körpertemperatur bereits vor dem Auf- nen verschaltet sind. Über feine Nerven- diese sowohl mit dem Tageslauf als auch
wachen. Am Morgen erreicht die Aus- fasern empfängt der Kern Signale von untereinander synchronisiert. Doch
schüttung des Stresshormons Cortisol spezialisierten Sinneszellen in den Au- nach jüngsten Versuchen wankt diese
ihren Höhepunkt und kurbelt so die gen. Trifft Licht auf ein lichtempfind­ Theorie: Eicheles Team hat nämlich
körperliche und geistige Leistungsfä- liches Pigment in den Sinneszellen der Mäuse genetisch so verändert, dass das
higkeit an. Auch Stoffwechsel, Muskel- Netzhaut, bilden diese ein elektrisches wichtige Uhr-Gen BMAL1 im suprachi-
spannung, Nierenfunktion und Kon- Signal und übermitteln es an den supra­ asmatischen Nukleus inaktiv ist. Der Un-
zentrationsfähigkeit schwanken im chiasmatischen Nukleus. terschied zu den Studien an den Hams-
CC-BY-SA 3.0

Laufe eines Tages. tern: Die Verbindungen vom und zum


Jede einzelne Zelle, jedes Gewebe, HIRNKERN GIBT DEN TAKT VOR Nukleus werden nicht gekappt, sondern
jedes Organ bis hin zum Gesamtorga- bleiben bestehen. Der Theorie zufolge
nismus besitzt ein molekulares Uhr- Ohne den suprachiasmatischen Nukle- müsste in der inneren Uhrenwelt der
werk – egal ob in Leber oder Niere, Herz us verlieren beispielsweise Hamster Tiere trotzdem ein Chaos ausbrechen.
Foto: Irene Boettcher-Gajewski; Grafik:

oder Darm, Immunsystem oder Haut. ihren Tagesrhythmus. Wissenschaftler Tut es aber nicht! „Es hat sich ge-
„Wir verfügen also über einen regel- haben dies gemessen, indem sie den zeigt, dass die anderen zirkadianen
rechten Uhrenladen“, erklärt Eichele – Tieren ein Laufrad in den Käfig stellten Uhren auch ohne die Zentraluhr im
als Schweizer gewissermaßen prädesti- und die Umdrehungen des Rads als suprachiasmatischen Nukleus im Takt
niert für die Analyse solcher Instrumen- Maß für die Aktivität des Hamsters auf- bleiben“, erklärt Eichele – zumindest
te. Damit all die Uhren immer dieselbe zeichneten. Normalerweise sind Hams- unter der Bedingung, dass sich Hellig-
Zeit anzeigen, müssen sie permanent ter in erster Linie vor Sonnenauf- und keit und Dunkelheit im 24-Stunden-
untereinander synchronisiert werden, nach Sonnenuntergang aktiv. Ohne su- Takt abwechseln. Fehlt den Mäusen das
jede einzelne Zelluhr ebenso wie die prachiasmatischen Nukleus betätigten Uhr-Gen und leben sie dazu noch in

28 MaxPlanckForschung 3 | 16
FOKUS_Schlaf

permanenter Dunkelheit, entsteht da- nes, das sich ausschließlich auf den su- beeinflussen – und infolgedessen auch
gegen Unordung: Sie haben dann Pro- prachiasmatischen Nukleus verlässt“, nicht die Körperuhren. Da die Göttin-
bleme, ihre inneren Uhren im Gleich- sagt Eichele. ger Wissenschaftler nicht den komplet-
takt zu halten. Doch wie synchronisieren sich die ten Nervenkern ausschalten, sondern
Der Körper braucht also zwingend inneren Uhren ohne den zentralen nur ein einzelnes Uhr-Gen, können die
den natürlichen Hell-Dunkel-Wechsel Schrittmacher im Gehirn? Eine Mög- Lichtsignale über den Nukleus weiter
als Zeitgeber. Nahrungsaufnahme kann lichkeit ist, dass die Körperuhren Hell- die übrigen Uhren im Körper erreichen
die zirkadiane Uhr zwar auch auf ex- Dunkel-Informationen aus dem supra- und synchronisieren. Offenbar müssen
akt 24 Stunden eichen – sie führt aber chiasmatischen Nukleus erhalten, denn die Signale nicht in seinen Uhrzellen
nur zu halbwegs synchronen inneren Forscher haben belegt, dass Licht über vorverarbeitet werden.
Zeitmessern. das vegetative Nervensystem Uhr-Gene Es ist aber auch möglich, dass ande-
Offenbar ist das Uhrensystem orga- in Organen wie etwa der Leber aktivie- re wichtige Uhren im Gehirn direkt für
nisiert wie ein föderaler Staat, den die ren kann. den suprachiasmatischen Nukleus ein-
einzelnen Landesregierungen am Lau- Fehlt der Nukleus, versiegen auch springen und die Körperuhren gleich-
fen halten können, auch wenn die Bun- die Lichtsignale, die von den Augen in schalten. Eine Kandidatin dafür wäre
desregierung mal schwächelt. „Dieses den Körper wandern. So kann das Licht die Hirnanhangdrüse. Sie erhält eben-
System ist letzten Endes stabiler als ei- das vegetative Nervensystem nicht mehr falls die Lichtsignale aus den Augen. >

REGULIEREN FLIMMERHÄRCHEN IM GEHIRN UNSEREN SCHLAF?

Tief im menschlichen Gehirn verläuft ein Höhlensystem: vier Wandzellen der Ventrikel ihre Schlagrichtung und damit die
„Ventrikel“ genannte Hohlräume, die durch Kanäle miteinan- Fließrichtung der Hirnflüssigkeit ändern können. Zu be-
der verbunden sind. In ihnen fließt die Hirnflüssigkeit. Sie ent- stimmten Tageszeiten produzieren sie sogar Wirbel, die wie
hält unter anderem Neuropeptide, die beispielsweise dafür Barrieren wirken. Ob die Verteilung der Flüssigkeit und folg-
sorgen, dass wir müde werden. Der an der inneren Uhr betei- lich die schlafauslösender Neuropeptide tatsächlich einem
ligte suprachiasmatische Nukleus (siehe Text) liegt in der zirkadianen Rhythmus folgen, steht noch nicht endgültig fest.
Nähe eines solchen Ventrikels. Wissenschaftler der Max- Möglicherweise sind die Forscher mit ihrer Entdeckung ei-
Planck-Institute für biophysikalische Chemie und für Dyna- nem völlig neuen Mechanismus auf der Spur, der nicht auf der
mik und Selbstorganisation haben kürzlich herausgefunden, Aktivität von Nervenzellen beruht, sondern rein auf der Akti-
dass wimpernartige Fortsätze – sogenannte Zilien – auf den vität der Wandzellen der Hirnventrikel.
Grafik: Regina Faubel, Hartmut Sebesse / MPI für biophysikalische Chemie

3 | 16 MaxPlanckForschung 29
Die Drüse an der Unterseite des Gehirns der innere Zeitmesser in den Nebennie- Seit seiner Zeit in Göttingen erforscht
schüttet das Hormon ACTH ins Blut ren fast so bedeutend ist wie die Uhr im Oster mit seinen Kollegen, wie Schlaf,
aus, von wo aus es in die Nebennieren suprachiasmatischen Nukleus. innere Uhr und Stoffwechsel zusam-
gespült wird, wo es die Ausschüttung menhängen. Dabei haben sie beispiels-
von Cortisol, Adrenalin und Noradre- DER CHRONOTYP BESTIMMT, weise beobachtet, dass bei gestörtem
nalin auslöst. WANN MAN INS BETT GEHT Schlaf die Leber- und Fettzellen von
Diese Stresshormone sind als wich- Mäusen nicht mehr synchron ticken.
tige Zeitgeber für die inneren Uhren be- Aber nicht nur Licht, auch Schlaf beein- Ob sich auch die Rhythmik der Zellen
kannt. Eichele und sein Team haben flusst die Uhren in den Geweben und anderer Organe wie der Nieren entkop-
entdeckt, dass die Mäuse mit defektem Organen des Körpers. „Man muss dabei pelt, versuchen die Wissenschafter ge-
Uhr-Gen das Hormon Corticosteron im aber ungestört sein, darf keinen Stress rade herauszufinden.
Tagesverlauf rhythmisch ausschütten – haben und muss schlafen können, Vieles deutet zudem darauf hin, dass
und zwar fast wie bei normalen Mäu- wann man will. Also entsprechend dem ein gestörter Schlaf über die innere Uhr
sen im Gleichtakt mit den anderen Kör- persönlichen Chronotyp, der bestimmt, auch den Stoffwechsel durcheinander-
peruhren. Dieses Hormon entspricht ob man früh oder spät zu Bett gehen bringen kann. So hat Oster mit seinen
dem Cortisol beim Menschen. „Fällt und eher kurz oder eher lang schlafen Kollegen am Max-Planck-Institut den
also der suprachiasmatische Nukleus als mag“, erklärt Henrik Oster von der Uni- Schlafrhythmus und damit auch die in-
Taktgeber aus, synchronisiert womög- versität Lübeck, der bis Ende 2012 eine nere Uhr von Mäusen aus dem Takt ge-
lich Corticosteron die Körperuhren“, Forschungsgruppe am Göttinger Max- bracht: Die Forscher hielten die Tiere
folgert Eichele. Das spräche dafür, dass Planck-Institut geleitet hat. morgens vom Einschlafen ab, indem sie

Links Henrik Oster hält seine Mäuse unter genau kontrollierten Hell-Dunkel-Bedingungen. Die Käfige stehen in Schränken mit programmierbarer
Beleuchtungsdauer und -intensität. So kann er den Schlaf-Wach-Rhythmus der Tiere steuern.
Rechts oben, unten Mäuse sind sehr neugierig, ihre Neugier hält sie sogar vom Schlafen ab. Deshalb enthalten die Käfige Gegenstände, die die Tiere
noch nicht kennen und die sie ausgiebig erkunden können – eine besonders stressarme Form des Schlafentzugs.

Fotos: Henrik Oster, Christiane Koch /AG Chronophysiologie (3)

30 MaxPlanckForschung 3 | 16
FOKUS_Schlaf

Tag Zwei Rückkopplungsschleifen steuern den zirkadianen


Zytoplasma Rhythmus einer Zelle durch ein Wechselspiel aus Genaktivie-
rung und -hemmung: Die Proteine BMAL1 und CLOCK
Zellkern akt ­kurbeln jeden Morgen im Zellkern die Produktion von
e rt
ivi ivi Crypto­chrom(CRY)- und Period(PER)-Proteinen an. Diese
kt e
lagern sich im Zellplasma zusammen und wandern im
a

rt
Verlauf des Nachmittags und Abends wieder zurück in den
Zellkern, wo sie die BMAL1- und CLOCK-Proteine blockieren.
sekundäre primäre
Im Laufe der Nacht fällt die Menge an CRY und PER in der
Schleife Schleife
Zelle so weit ab, dass die Blockade von CLOCK und BMAL1 zu
REV-ERB BMAL1/CLOCK PER1-3/CRY1/2 Ende geht und gegen Morgen eine neue Runde der CRY- und
PER-Produktion beginnt. Dieser Kreislauf wird von einer
he t weiteren Rückkopplungsschleife stabilisiert. Dabei stimulie-
mmt
hemm ren BMAL1 und CLOCK die Bildung von REV-ERB-Proteinen.
Diese schalten dann im Verlauf des Tages die BMAL1- und
CLOCK-Gene immer stärker ab. Dadurch geht auch ihre
eigene Produktion wieder zurück, sodass am frühen Morgen
Nacht
BMAL1 und CLOCK erneut gebildet werden können.

den Tieren Spielzeug in die Käfige leg- Entwicklung von Übergewicht und vorgänge ausgleichen, vielleicht sogar
ten. Nach einigen Tagen zeigte sich, dass Stoffwechselerkrankungen zu sein.“ teilweise rückgängig machen kann.
die Schlafstörung die innere Uhr peri- Die Lübecker Forscher haben eben- Nicht nur deshalb glaubt Oster, dass
pherer Organe beeinflusst. Diese kön- falls beobachtet, dass Uhr-Gene auch die Stabilisierung der inneren Rhyth-
nen dann wichtige Stoffwechselgene beim Menschen nach Schlafentzug Ver- mik ein wichtiger Faktor bei der Be-
nicht mehr korrekt an- und abschalten. änderungen im Stoffwechsel hervorru- handlung von Stoffwechselerkrankun-
Ein Beispiel für eine solche Stoff- fen. Ob daraus aber wirklich Adipositas gen sein kann. Schließlich folgen all
wechselstörung ist die sogenannte hor- und Diabetes entstehen können, ist diese Erkrankungen einem starken Ta-
monsensitive Lipase. Normalerweise noch nicht belegt. Studien an Schicht- gesrhythmus und lassen sich durch
sorgt die zirkadiane Uhr dafür, dass die- arbeitern deuten allerdings darauf hin. Stress beeinflussen. Schlaf spielt dabei
ses Fettzellenenzym in der Schlafphase Die Experimente mit den Mäusen eine wichtige Rolle: „Wer ausreichend
aktiv ist. Es baut dann gespeicherte Fet- zeigen jedenfalls eindeutig, dass die rich- schläft, und dies auch zur richtigen
te ab, die der Körper braucht, um die tige Taktung von Schlaf und Nahrungs- Zeit“, meint Oster, „ist weniger anfällig
Zeit ohne Nahrung zu überbrücken. Da aufnahme viele entgleiste Stoffwechsel- für diese Erkrankungen.“ 
die Lipase bei Schlafstörungen aber
nicht mehr so aktiv ist, werden kaum
Fette in den Körper freigesetzt. „Weil
unter diesen Umständen der Blutzu- AUF DEN PUNKT GEBRACHT
ckerspiegel fällt, kommt es zu einem Schlaf und innere Uhr hängen eng miteinander zusammen: Gerät die innere
l

Energienotstand: Die Tiere bekommen Uhr aus dem Tritt, können Schlafprobleme die Folge sein. Und wer schlecht oder
unregelmäßig schläft, stört auch seine innere Uhr.
Hunger“, sagt Oster. Die Mäuse begin-
nen also zu fressen, was ihren Schlaf Zellen und Organe folgen einer eigenen inneren Uhr. Der suprachiasmatische
l

Nukleus, eine Ansammlung von Nervenzellen im Gehirn, ist ein zentraler Taktgeber
erst recht stört. So entsteht ein Teufels- für andere Uhren des Körpers. Diese funktionieren aber auch ohne ihn. Manche
kreis, in dessen Verlauf die Tiere immer von ihnen erhalten dabei direkt Hell-Dunkel-Informationen über die Augen.
mehr Gewicht zulegen. Dazu kommt, Schlafstörungen können möglicherweise Stoffwechselerkrankungen auslösen,
l

dass Hormone des Magens die Uhr der indem sie die Aktivität von Uhr-Genen durcheinanderbringen. Dadurch können
Leber verstellen, wenn die Mäuse in der Stoffwechselvorgänge in Unordnung geraten.
eigentlichen Schlafzeit fressen. Dies
führt dazu, dass der Leberstoffwechsel
Grafik: Gregor Eichele / MPI für biophysikalische Chemie

GLOSSAR
immer weiter entgleist.
Kann der Körper dieses Stoffwech- Nukleus: Ansammlung von Nervenzellen innerhalb des zentralen Nervensystems. Die Zellen
eines Nukleus haben meistens dieselben oder zumindest ähnliche Aufgaben. Die Nuklei
selchaos irgendwie kompensieren? Die
stellen neben der Anordnung in Schichten eine weitere Form dar, wie Nervenzellen im
Antwort: unter bestimmten Umstän- Gehirn angeordnet sein können. Im Wirbeltiergehirn gibt es mehrere Hundert solcher
den! Osters Team hat Mäuse beim Kerne in tiefer gelegenen Bereichen. Sie sind dort umgeben von der sogenannten weißen
Schlafen gestört und ihnen nur wäh- Sub­stanz, in der die Nervenfasern verlaufen.
rend ihrer normalen Wachphase Zu- Zirkadianer Rhythmus: Manche biologischen Vorgänge laufen in einem Rhythmus von
gang zu Nahrung gewährt. Dann aber ungefähr 24 Stunden ab. Gesteuert wird dieser Takt von Genen, die mit ihrer Aktivität
konnten sie so viel fressen, wie sie woll- Stoffwechselprozesse in Zellen und Organen bis hin zum Gesamtorganismus beeinflussen
und damit auch Verhaltensweisen kontrollieren. Die Rhythmik ist selbsterregend,
ten. „Das hat die Aktivierung der Uhr- braucht also keine äußeren Taktgeber. Externe Einflüsse können den Takt der Körper-
Gene in der Leber normalisiert“, sagt uhren jedoch neu eichen. Bei tagaktiven Organismen ist der zirkadiane Rhythmus meist
Oster. „Wann gegessen wird, scheint etwas länger als 24 Stunden, bei nachtaktiven etwas kürzer (Aschoff-Regel).
also ein ganz wichtiger Faktor bei der

3 | 16 MaxPlanckForschung 31
FOKUS_Schlaf

Hightech-Schlafmütze: Mit mehr als


100 ­Elektroden zeichnen Forscher
auf der Kopfoberfläche die elektrischen
Ströme während des Schlafs auf.
Anhand der Gehirnaktivität lässt sich
ein Schlafprofil erstellen.

32 MaxPlanckForschung 3 | 16
Wenn das Gehirn
auf Stand-by schaltet
Wer unausgeschlafen ist, für den sieht die Welt oft ziemlich trist aus. Hält die
Müdigkeit über Wochen oder gar Monate an, kann die trübe Stimmung
krank­haft und zu einer Depression werden. Umgekehrt gehen Depressionen
auch häufig mit massiven Schlafstörungen einher. Axel Steiger untersucht
mit seinem Team am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München den
Zusammenhang zwischen Schlafstörungen und Depression. Dazu misst er die
menschliche Gehirnaktivität im Schlaflabor.

TEXT CATARINA PIETSCHMANN


Foto: Denise Vernillo

3 | 16 MaxPlanckForschung 33
FOKUS_Schlaf

1 Wachzustand 2 Non-REM-Schlaf 3 REM-Schlaf


EMG
EEG
EEG-Spektrum

Delta
Theta

Beta & Gamma

0 10 20 30 40 50 60 70 0 10 20 30 40 50 60 70 0 10 20 30 40 50 60 70
Frequenz (Hertz) Frequenz (Hertz) Frequenz (Hertz)

Oben Vermessung des Mäuseschlafs: Wache Mäuse (Spalte 1) bewegen sich viel, die Muskeln sind deshalb häufiger aktiv, hier die elektrischen Signale
aus der Nackenmuskulatur (Elektromyogramm; oben). Die Nervenzellen des Gehirns feuern in unterschiedlichen Rhythmen mit einem breiten
Frequenzspektrum (Mitte und unten). Im Non-REM-Schlaf (Spalte 2) ist die Skelettmuskulatur weitgehend stillgelegt (oben). Die Gehirnaktivität
oszilliert mit hohen Amplituden, aber niedriger Frequenz (Deltawellen; Mitte und unten). Während des REM-Schlafs (Spalte 3) ist die Muskulatur völlig
inaktiv (oben), bei der Gehirnaktivität herrschen Theta-Rhythmen vor (Mitte und unten).
Rechte Seite Im Schlaflabor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie zeichnet Michael Czisch die Gehirnaktivität seiner Probanden in einem
Kernspintomografen auf. Mit dem Gerät kann der Wissenschaftler die Aktivität des schlafenden Gehirns sichtbar machen.

S
tress im Job, Beziehungspro- als Deutsche Forschungsanstalt für Psy- Aus den Wellenmustern des Elektro­
bleme oder der Umzug in eine chiatrie von Emil Kraepelin gegründet enzephalogramms (EEG) schließen die
andere Stadt können einem und 1924 in die Kaiser-Wilhelm-Gesell- Forscher zusammen mit den übrigen
Menschen buchstäblich den schaft eingegliedert. Sie vereint fünf Messungen auf die Abfolge der ver-
Schlaf rauben. Dem Robert Stationen mit insgesamt 120 Betten, schiedenen Schlafstadien, das soge-
Koch-Institut zufolge hat jeder dritte eine Tagesklinik, diverse Spezialambu- nannte Schlaf­profil oder Hypnogramm.
Bundesbürger schon einmal unter lanzen und Forschungseinrichtungen Es hat die Form einer Treppe und be-
Schlafstörungen gelitten. Meistens ver- unter einem Dach. steht aus mehreren Stufen: Der schla-
schwinden Schlafstörungen wieder von fende Mensch steigt zu Beginn der
selbst, sobald der Auslöser überstanden DÖSEN IM AUFTRAG DER Nacht zu immer tieferem Schlaf hinab.
ist. Halten sie allerdings über Wochen ­WISSENSCHAFT Dabei nimmt die Amplitude der EEG-
und Monate an, sollten die Betroffenen Wellen mit der Schlaftiefe zu. Im Wach-
einen Arzt zurate ziehen. Die Patienten können freiwillig an wis- zustand und im REM-Schlaf ist sie nied-
Schlechter Schlaf kann körperliche senschaftlichen Studien teilnehmen – rig, im Tiefschlaf, der untersten Stufe
oder psychische Ursachen haben. für Steiger, der seit 1991 die Forschungs- der Treppe, ist sie hoch.
„Schlafstörungen können Ursache und gruppe Schlaf-Endokrinologie leitet, eine Auch die neueste Variante, das High-
Folge von Depressionen sein, oder an- ideale Umgebung für seine Forschung. Density-EEG (HD-EEG), kommt am In­
ders ausgedrückt: Sie sind ein Symptom Der Mediziner untersucht mit seinem stitut bei der Untersuchung der Gehirn-
und gleichzeitig ein Risikofaktor. So er- Team unter anderem den Zusammen- aktivität zum Einsatz. Dabei bekommt
höhen sie beispielsweise das Depressions­ hang zwischen Schlafmustern und der Proband eine „Schlafmütze“ mit 118
risiko massiv“, erklärt Axel Steiger, Ober- nächtlicher Hormonausschüttung bei feinen Elektroden – üblich sind norma-
Grafik: Kumar & Kimura (2014)

arzt und Leiter der Ambulanz für Depression. Während die Probanden lerweise zehn – auf den Kopf gesetzt.
Schlaf­medizin am Max-Planck-Institut eine Nacht im Schlaflabor verbringen, Während er in dem schallisolierten
für Psychiatrie in München-Schwabing. messen die Wissenschaftler die Hirn- Raum friedlich schlummert, senden Ge-
Die traditionsreiche Klinik, deren und Muskelströme, zeichnen die Augen- hirn, Gesichtsmuskeln und Herz ständig
Schwerpunkt die Folgeerkrankungen bewegungen auf und nehmen regelmä- Daten über feine Kabel an einen Com-
von Stress wie Depressionen, Schlaf- ßig ein wenig Blut ab, um die Menge be- puter. So bekommen die Forscher Einbli-
und Angststörungen sind, wurde 1917 stimmter Hormone darin zu analysieren. cke in die Großhirnrinde und tiefer ge-

34 MaxPlanckForschung 3 | 16
legene Teile wie das limbische System, Puls steigen dann an, die Skelettmus- Direkt nach dem Einschlafen schlafen
den emotionalen Teil des Gehirns. kulatur ist jedoch völlig entspannt. die meisten Menschen etwa 90 Minu-
In den schematischen Darstellun- Vier, fünf, manchmal auch sechs oder ten lang besonders tief. Dann kommt
gen der Hypnogramme unterscheidet mehr Zyklen von Tiefschlaf und REM- die erste REM-Phase. „Depressive Men-
sich der durch schnelle Augenbewegun- Schlaf pro Nacht sind die Regel. Tief- schen fallen dagegen schneller, manch-
gen (rapid eye movement) gekennzeich- schlaf wiederum ist eine Komponente mal schon nach zehn Minuten, in den
nete und oft traumreiche REM-Schlaf des Non-REM-Schlafs. Er ist bei gesun- REM-Schlaf“, sagt Steiger. Außerdem ist
deutlich vom Non(Nicht)-REM-Schlaf. den jungen Menschen zu Beginn der die erste REM-Phase der Nacht bei Pati-
Er wird darin als Stufe unterhalb des Nacht am stärksten ausgeprägt, tritt da- enten mit Depression meist länger.
Wachzustands, aber deutlich über dem gegen am frühen Morgen nicht oder Legt man die Hormonkurven über
Tiefschlaf dargestellt. Blutdruck und kaum mehr auf. die Schlafprofile, fällt auf, dass bei de-

LERNEN IM SCHLAF

Im Schlaf kommt der Körper nur äußerlich zur Ruhe, denn den am Tag. Dies liegt an den enormen Wachstums- und Rei-
Schlaf ist ein aktiver Prozess: Der Stoffwechsel läuft auf fungsprozessen im Gehirn während dieser Zeit. Nie wieder
Hochtouren, insbesondere Wachstums- und Regenerations- lernt der Mensch so viel wie in den ersten Wochen und Mo-
prozesse, Entgiftung und Wundheilung. Auch Teile des Ge- naten seines Lebens. Drei- bis Fünfjährige kommen schon mit
hirns sind jetzt hochaktiv. Sie verarbeiten die Reize, die das zehn bis 13 Stunden aus, und den 18- bis 78-Jährigen reichen
Gehirn am Tag aufgenommen hat, trennen die wichtigen In- meist sieben bis acht Stunden. Auch der Schlaf-Wach-Rhyth-
formationen von den belanglosen und verschieben sie vom mus verändert sich. Während Erwachsene meist nur nachts
Foto: Denise Vernillo

Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis. Guter Schlaf fördert des- und in einem Stück schlummern, verteilen Neugeborene
halb die Gedächtnisbildung. mehrere Schlafperioden über den Tagesverlauf. Nach einem
Das Schlafbedürfnis nimmt im Laufe des Lebens stetig ab. Jahr schlafen die meisten Kleinkinder nachts bereits durch,
Säuglinge schlafen in den ersten drei Monaten bis zu 17 Stun- und der Tagesschlaf reduziert sich zusehends.

3 | 16 MaxPlanckForschung 35
Axel Steiger hat fast sein gesamtes Forscher- „Wir vermuten, dass dieser Rückkopp- Aber gibt es denn wirklich depressive
leben dem Schlaf gewidmet. Er ist unter lungsmechanismus bei Patienten mit Mäuse? „Ob sie sich wirklich ähnlich
anderem Leiter der Ambulanz für Schlaf-
medizin am Max-Planck-Institut für
Depression nicht richtig funktioniert, wie menschliche Patienten fühlen, wis-
Psychiatrie. Dort werden unterschiedliche wahrscheinlich weil die Cortisolrezep- sen wir natürlich nicht. Aber sie verhal-
Störungen diagnostiziert und behandelt, zum toren im Gehirn gestört sind, über die ten sich auf alle Fälle ähnlich wie de-
Beispiel nächtliche Schlaf- und Bewegungs- bei gesunden Personen die Ausschüt- pressive Patienten“, sagt Kimura. Zum
störungen, ungewöhnliche Verhaltensweisen
tung des Hormons gedrosselt wird“, er- Beispiel im „Forced Swim“-Test: Wäh-
im Schlaf (etwa Schlafwandeln) sowie
nächtliche Angstattacken und Albträume. klärt Steiger. Wenn die Depression wie- rend gesunde Mäuse losschwimmen
der abklingt, dann sinkt zunächst der und länger durchzuhalten versuchen,
pressiven Patienten weniger Wachs- Cortisolspiegel, während das Schlaf- geben „depressive“ Mäuse schneller
tumshormon ausgeschüttet wird als bei muster noch eine Weile gestört bleibt. auf. Und obwohl Mäuse generell öfter
Gesunden. Auch die Cortisolwerte un- aufwachen und kaum länger als zehn
terscheiden sich: Bei vielen Patienten WECHSELSPIEL DER HORMONE Minuten am Stück schlafen, weist das
steigen sie vor allem in der zweiten IM FOKUS DER FORSCHER REM-Schlafprofil von Mäusen mit er-
Nachthälfte viel stärker an. höhter CRH-Ausschüttung verblüffen-
Cortisol ist ein wichtiges Stresshor- Dieses Wechselspiel zwischen CRH und de Ähnlichkeit mit jenem depressiver
mon. Seine Produktion wird vom Ge- Cortisol läuft auch im Körper von Mäu- Patienten auf.
hirn durch das Corticotropin freisetzen- sen ab. Mayumi Kimura, die Leiterin der Zurück zum Menschen: Auffällig ist,
de Hormon (CRH) reguliert. Bei einer Einheit „Schlaf und Telemetrie“ am In­ dass das Schlafmuster von depressiven
Infektion etwa stimuliert CRH indirekt stitut, verwendet die kleinen Nagetiere, Patienten jenem gesunder älterer Men-
die Cortisolausschüttung in den Neben- bei denen bestimmte Gene gezielt aus­ schen ähnelt. „Manche Depression ist
nieren. Das Cortisol aktiviert dann das geschaltet oder aktiviert wurden, um de- tatsächlich wie frühes Altern“, bestätigt
Immunsystem. Dasselbe passiert bei Prü- ren genaue Funktion zu studieren. So- Steiger. Im Alter sind die Tiefschlafpha-
fungsstress oder einem hitzigen Streit. wohl über längere Zeit gestresste als sen seltener, ältere Menschen wachen
Foto: Denise Vernillo

Hat sich die Situation beruhigt, kom- auch genetisch veränderte Mäuse, die zudem nachts öfter auf und schlafen
men auch die Stresshormone wieder ins im Gehirn mehr CRH als üblich bilden, insgesamt weniger.
Lot. Das ausgeschüttete Cortisol bremst fallen beim Schlafen schneller und öfter Dass mehrheitlich Frauen depressiv
nun die CRH-Ausschüttung und damit in den REM-Modus. Das macht sie zum werden, scheint auch kein Zufall zu
seine eigene Produktion. idealen Tiermodell für Depression. sein: Hormonschwankungen während

36 MaxPlanckForschung 3 | 16
FOKUS_Schlaf

gesund depressiv
EEG EEG

25 Jahre
Wachstumshormon Wachstumshormon

Antidepressiva
Foto: Leuchter AF et al, Am J Psychiatry 2002 ;159, 122-29 et al. 2002 (links), Reproduced from Steiger A. Neuroendocrinology of sleep disorders. In: D´haenen D, den Boer JA, Westenberg H, Willner P, editors. Textbook

mit Wirkung ohne Wirkung

EEG EEG

65 Jahre

Wachstumshormon Wachstumshormon

Links Unterschiede in der „Cordance“: Nach der Behandlung mit den Antidepressiva Fluoxetin oder Venlafaxin zeigen depressive Patienten
unterschiedliche Hirnaktivität. So ist nach einer Woche die Thetawellen-Aktivität in der präfrontalen Hirnrinde geringer bei Patienten, die auf
die Wirkstoffe ansprechen (links, blau), als bei Patienten, bei denen die Substanzen keine Wirkung zeigen (rechts).
Rechts Schlafprofil und Hormonausschüttung ändern sich mit dem Alter: Während 25-Jährige nach dem Einschlafen schnell in Tiefschlaf fallen
(links oben, EEG), dauert dies bei 65-Jährigen länger. Außerdem wird bei jungen Menschen nach dem Einschlafen Wachstumshormon ausgeschüttet
(links, obere hellblaue Kurve), bei älteren dagegen nicht (ganz unten links). Bei jungen Menschen mit Depressionen (rechts oben) dauert es wie bei
älteren Menschen länger, bis sie in Tiefschlaf fallen (EEG), ihr Gehirn schüttet zudem weniger Wachstumshormon aus (rechts, obere hellblaue Kurve).

des Zyklus, der Schwangerschaft und chungen am Münchner Institut ein Zu- vor Therapiebeginn testen kann, wel-
infolge der Menopause sind mitverant- sammenhang mit unipolarer Depressi- che Wirkstoffklasse für seinen Patien-
wortlich dafür, dass Frauen während on gefunden. ten geeignet ist.
ihrer fruchtbaren Phase zwei- bis drei- Es gibt also verschiedene Gene, die
mal häufiger an Depressionen erkranken MÄUSE MIT MENSCHLICHEM das Risiko erhöhen, an einer Depressi-
als Männer. Auch in der Menopause DEPRESSIONSGEN on zu erkranken. Deshalb vermuten die
gibt es ein erhöhtes Depressionsrisiko. Forscher, dass je nach Gen auch unter-
Umgekehrt schützen die weiblichen Dass Risikogene für Depression das schiedliche Formen der Depression exis-
Geschlechtshormone gegen Psychosen: Schlafverhalten beeinflussen, konnten tieren. Die psychiatrische Klassifikation
Männer erkranken vermutlich aus die- die Forscher auch an Mäusen beobach- von Depressionen basiert bisher auf den
of Biological Psychiatry. London: Wohn Wiley and Sons, Ltd; 2002: 1229-124 (rechts)

sem Grund früher im Leben an Schizo- ten: Mayumi Kimura und ihre Kolle- jeweils auftretenden Symptomen. Unter-
phrenie als Frauen. gen zeichneten den Schlaf der Tiere schiedliche Erkrankungen können aber
Dass neben Stress, Alter und Ge- auf, die mit der menschlichen Version dieselben Symptome auslösen. „Schlaf-
schlecht auch bestimmte Gene anfällig der P2RX7-Variante ausgestattet wor- profile könnten bei einer Einteilung der
für Depressionen machen, zeigt sich bei den waren. Dabei stellten sie fest, dass Depressionstypen helfen. Den genauen
gesunden Personen mit erhöhtem Risi- die Mäuse deutliche Veränderungen in Zusammenhang zwischen Schlafmus-
ko für Depressionen. In einer früheren ihren EEG-Mustern zeigen, die denen tern und Genen bei Patienten kennen
Studie haben Forscher am Max-Planck- depressiver Patienten ähneln. Mithilfe wir aber noch nicht“, sagt Steiger.
Institut beobachtet, dass die Kinder der genetisch veränderten Mäuse will Schlaf kann jedoch nicht nur bei der
und Geschwister depressiver Patienten Kimura nun die Wirkung neuer Anti- Diagnose, sondern auch bei der Thera-
in der ersten REM-Periode vermehrt depressiva erforschen. pie eine Rolle spielen. So hat sich kurz-
schnelle Augenbewegungen aufwiesen, Die Gene beeinflussen auch, wie gut zeitiger Schlafentzug vor allem in der
obwohl sie gesund waren. „Wir haben ein Antidepressivum bei einem Patien- zweiten Nachthälfte in der Psychiatrie
außerdem herausgefunden, dass gesun- ten wirkt. Das am Institut erforschte als Segen erwiesen, denn er wirkt sehr
de Probanden auffällige Schlafmuster Gen ABCB1 gibt es in zwei Varianten, schnell antidepressiv. „Wir praktizieren
aufweisen können, wenn sie bestimmte die darüber entscheiden, wie effizient das an der Klinik mit Patientengruppen
Risikogene für Depression besitzen“, er- bestimmte Wirkstoffe die Blut-Hirn- zweimal pro Woche. Die Teilnehmer
klärt Axel Steiger. Für eines dieser Gene, Schranke überwinden. Inzwischen gibt stehen um halb drei in der Früh auf und
das P2RX7, wurde in früheren Untersu- es einen DNA-Test, mit dem der Arzt gehen in Begleitung von Studenten spa-

3 | 16 MaxPlanckForschung 37
FOKUS_Schlaf

Tommi Bauer wertet Blutproben


von Probanden und Patienten aus.
Die Hormon­werte im Blut liefern ihm
Hinweise auf die Vorgänge in unse-
rem Körper, während wir schlafen.

zieren. Dabei unterhalten sie sich oder ­ inen Hinweis erhalten, ob es wirkt“,
e der verschiedenen Depressionsformen
verbringen die Zeit bis zum Morgen mit sagt Steiger. wird es einem Therapeuten aber viel-
Gesellschaftsspielen“, schildert Steiger. Seit 30 Jahren hat es keinen neuen leicht eines Tages ermöglichen, schnel-
Am folgenden Abend dürfen sie wieder Durchbruch mehr bei der Behandlung ler das geeignete Medikament für sei-
wie gewohnt ins Bett. von Depressionen mit Medikamenten nen Patienten zu finden. Ein Schlüssel
Während einer durchwachten Nacht gegeben. Eine genaue Klassifizierung dafür liegt auch im Schlaf. 
bildet der Körper mehr stimmungsauf-
hellende Stoffe wie Serotonin und Tryp-
tophan als im Schlaf. Schlafstörungen
sind also ein zweischneidiges Schwert: AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Einerseits sind sie ein Risikofaktor für l Schlafstörungen können Ursache und Folge einer Depression sein. Auffallende
Depressionen, andererseits wirkt Schlaf- Schlafprofile können daher Hinweise auf Depressionen geben.
entzug aber antidepressiv. „Für die Pa- l Wissenschaftler wollen Schlafprofile heranziehen, um damit unterschiedliche
tienten ist es jedoch ein Lichtblick, weil Formen von Depressionen zu klassifizieren.
wir ihnen so zeigen können, dass ihr l Die Hormonausschüttung im Schlaf ist bei gesunden und depressiven Menschen
Zustand keineswegs so hoffnungslos ist, verschieden. So steigen bei einer Depression die Cortisolwerte während der
zweiten Nachthälfte stärker an – vermutlich weil die Rezeptormoleküle defekt
wie sie denken“, erklärt Steiger. „Sie
sind, die bei gesunden Personen die Bildung des Hormons drosseln.
spüren: Mein Gehirn ist nicht unwider-
ruflich defekt.“
Schlafprofile liefern also Hinweise
auf Depressionen und andere psychi- GLOSSAR
sche Erkrankungen. Steiger hofft, dass ABCB1-Gen: Das Gen ist in Zellen auf der Innenseite kleiner Blutgefäße im Gehirn aktiv.
Mediziner damit auch früh erkennen Es transportiert bestimmte Substanzen aktiv zurück ins Blut und verhindert so, dass diese
können, ob ein Patient auf ein Antide- ins Gehirn gelangen. Dazu gehören unter anderem verschiedene Antidepressiva. Die zwei
pressivum ansprechen wird. „Bislang existierenden Varianten des ABCB1-Gens erfüllen diese Aufgabe unterschiedlich effektiv.
Mithilfe eines Tests kann bestimmt werden, welche Variante ein Patient besitzt und wie
dauerte es vier bis fünf Wochen, bis wir er folglich auf ein Antidepressivum ansprechen würde.
wussten, ob der Patient auf ein Medika-
P2RX7-Gen: Das Gen enthält die Information für einen Calciumkanal in der Membran von
Foto: Denise Vernillo

ment anspricht oder nicht. Nun kön- Nerven- und Gliazellen verschiedener Hirnregionen. Es beeinflusst die Signalübertragung
nen wir bereits nach einwöchiger zwischen den Zellen und damit im Gehirn. Es gibt Hinweise, dass sowohl die unipolare als
­Therapie aus einem während des REM- auch die bipolare Depression unter anderem auf Veränderungen in diesem Gen beruhen.
Schlafs gewonnenen Parameter für
die lokale Hirnaktivität („Cordance“)

38 MaxPlanckForschung 3 | 16
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SPEKTRUM

Erdähnlicher Planet bei Proxima Centauri


Astronomen entdecken einen Himmelskörper in der habitablen Zone um den nächstgelegenen Fixstern

Mit einer Entfernung von 4,24 Lichtjahren ist Proxima Cen- tauri einmal alle 11,2 Tage in einem Abstand von sieben Mil-
tauri der nächste Stern außerhalb unseres Sonnensystems. lionen Kilometern umkreist – innerhalb eines Bereichs, in
Jetzt haben Astronomen, auch aus dem Max-Planck-Institut dem es möglicherweise die richtigen Bedingungen für die
für Astronomie, einen Planeten gefunden, der Proxima Cen- Entstehung von Leben gibt. Der Proxima Centauri b genann-
te Himmelskörper besitzt etwa 1,3 Erdmassen.
Aufgrund ständiger heftiger Ausbrüche auf sei-
ner Oberfläche und der dadurch ausgelösten
Helligkeitsschwankungen war der Mutterstern
schon vor Jahren ins Visier der Forscher gera-
ten. Die haben Proxima Centauri während 54
Nächten mit dem Instrument HARPS am
3,6-Meter-Teleskop der Europäischen Südstern-
warte (ESO) untersucht. Der Planet verriet sich,
weil er während seines Umlaufs an seinem
Stern zerrt und auf diese Weise charakteristische
Linienverschiebungen im Spektrum erzeugt.
(www.mpg.de/10696754)

Blick auf eine neue Welt: Die künstlerische Darstellung


zeigt den erdähnlichen Planeten um den mit 4,24

Fotos und Grafik: Ricardo Ramirez und James Jenkins (Department of Astronomy, Universidad de Chile) (oben), dpa-picture alliance (unten)
Licht­jahren nächstgelegenen Fixstern Proxima Centauri.

Massenpanik im Computer
Studie simuliert menschliches Verhalten bei der Evakuierung von Gebäuden

Wenn Menschen bei Anschlägen oder lichen Gebäudes. Durch zeitlichen und Gedränge und Zusammenstöße sowie
Bränden aus einem Gebäude fliehen, finanziellen Druck erzeugten sie bei den das Herdenverhalten bei Stress schnell
kommt es immer wieder zu Massenpa- Probanden Stress. Dazu kamen schlech- zunahmen. Die Forscher hoffen, dass
nik. Was dabei genau passiert, ließ sich te Beleuchtung, rot blinkende Lämp- ihre Simulationen künftig helfen, Eva-
bisher kaum untersuchen. Daher haben chen und Feuer an verschlossenen Aus- kuierungspläne zu testen und zu opti-
Wissenschaftler des Max-Planck-Insti- gangstüren. Die Auswertung zeigte, dass mieren. (www.mpg.de/10731913)
tuts für Bildungsforschung dafür nun
gemeinsam mit einem internationalen
Team ein virtuelles Szenario entwickelt.
In der Studie ließen sie 36 Probanden
parallel an Bildschirmen Avatare durch
virtuelle Räume steuern. Wie die For-
scher feststellten, entspricht das Verhal-
ten in der Simulation weitgehend dem
in der Wirklichkeit. So gingen die Teil-
nehmer wie in der Realität zu 95 Prozent
nach rechts, um einander auszuweichen.
Das Verhalten in einer Notsituation un-
tersuchten die Forscher mittels der vir-
tuellen Evakuierung eines unübersicht-

Drama in Duisburg: Tausende Loveparade-Besu-


cher drängen sich am 24. Juli 2010 vor dem Tun-
nel, in dem sich eine Massenpanik ereignet hat.

40 MaxPlanckForschung 3 | 16
SPEKTRUM

Wörter sind kein Zufall


Für viele Begriffe werden auch in nicht verwandten Sprachen bestimmte Laute bevorzugt oder vermieden

Eine Lehrmeinung der Sprachwissen- Sprachen, die es weltweit gibt. Dem-


schaft ist offenbar nicht länger zu hal- nach werden viele Bedeutungen auch
ten. Bisher gingen Linguisten davon in nicht miteinander verwandten Spra-
aus, Laute seien in Wörtern größtenteils chen besonders oft oder besonders sel-
zufällig mit Bedeutungen verknüpft. ten mit bestimmten Lauten verknüpft.
Fälle wie etwa das M, das in vielen Spra- Das gilt vor allem für Körperteile. So tre-
chen im Wort für Mutter vorkommt, sei- ten in den Wörtern für das Knie häufig
en die seltene Ausnahme. Ein internati- die Buchstaben O, U, P, K und Q auf.
onales Team, an dem Forscher der Max- Warum es solche Zusammenhänge gibt,
Planck-Institute für Mathematik in den können die Forscher nicht erklären.
Naturwissenschaften und für Mensch- Linguisten verlieren nun ein Mittel, mit
heitsgeschichte sowie der Universität dem sie Sprachverwandtschaften nach-
Leipzig beteiligt waren, widerlegt diese wiesen. Als Beleg dafür dienten ihnen
Annahme nun mit einer statistischen nämlich die gleichen Laut-Bedeutung-
Analyse in etwa zwei Dritteln der 6000 Beziehungen. (www.mpg.de/10727086)

Menschen überall auf der Welt bevorzugen für viele Begriffe manche Laute und vermeiden andere.

Lockstoffe im Fliegenkot
Widerstandskraft
Die Ausscheidungen von Essigfliegen enthalten Duftmoleküle,
die Artgenossen den Weg zu reifen Früchten weisen
hat ihren Preis
Drosophila melanogaster besitzt eine fei- strument der Essigfliegen – und mögli- Fast die Hälfte unserer Gene können
ne Nase. Der Duft reifen Obsts etwa ver- cherweise auch anderer Arten wie der Ausgangspunkt von Erkrankungen
rät der Essigfliege den Weg zu Nahrung Kirschessigfliege Drosophila suzukii. Soll- sein: Wissenschaftler kennen heute
und Paarungspartnern. Sie isst die Früch- te dieser schwer zu bekämpfende Schäd- 11 000 Gene, die in krank machenden
te nämlich nicht nur, sondern paart sich ling im Obst- und Weinbau gleicherma- Varianten im menschlichen Erbgut vor-
dort auch und legt ihre Eier ab. Eine wei- ßen von den eigenen Fäkalien angezogen kommen. Wissenschaftler des Max-
tere für die Fliege bedeutsame Geruchs- werden, könnte er damit in die Falle ge- Planck-Instituts für Evolutionsbiologie
quelle ist bisher übersehen worden: ihr lockt werden. (www.mpg.de/10733409) in Plön haben untersucht, warum sich
Kot. Ein Team des Max-Planck-Instituts solche Risikogene dauerhaft im Erbgut
für chemische Ökologie in Jena hat ent- des Menschen halten können und nicht
deckt, dass auch die Ausscheidungen der durch die Selektion beseitigt werden.
Essigfliegen Lockstoffe für ihre Artgenos- Ihre Berechnungen deuten darauf hin,
sen enthalten. Die Duftmoleküle unter- dass die fortwährende Anpassung an
Fotos: Your_Photo_Today (oben), Anna Schroll (unten)

scheiden sich zwischen Männchen und neue Krankheitserreger im Laufe unse-


Weibchen – die Tiere können dadurch rer Evolution zwar die Zahl unserer Im-
schon von Weitem erkennen, ob poten- mungene erhöht hat, wir dafür aber
zielle Partner vor Ort sind. Außerdem auch einen Preis zahlen. Diese Vielfalt
profitieren die Insekten davon, wenn erstreckt sich den Forschern zufolge
sich möglichst viele Artgenossen an dem nämlich auch auf benachbarte DNA-
Festmahl beteiligen. Denn die aus den Abschnitte und führt dazu, dass dort
Eiern schlüpfenden Fliegenlarven schei- schädliche Genvarianten bestehen blei-
nen die Nahrung leichter aufnehmen zu An dieser Heidelbeere haben sich bereits ben. Genetisch bedingte Erkrankungen
können, wenn diese durch Mikroorga- zahlreiche Essigfliegen gütlich getan. Die können also auf den Kontakt mit Krank-
Vergrößerung zeigt kleine Kothäufchen, die
nismen in den Hinterlassenschaften von die Fliegen nach dem Fressen hinterlassen
heitserregern zurückgehen, denen der
Artgenossen vorverdaut wurde. Kot ist haben. Der Duft des Kots macht das Obst Mensch im Laufe seiner Evolution be-
also ein wichtiges Kommunikationsin- für die Insekten noch verlockender. gegnet ist. (www.mpg.de/10711606)

3 | 16 MaxPlanckForschung 41
SPEKTRUM

Hologramme mit Schall


Eine neue Möglichkeit, die Wellen dreidimensional zu modellieren, könnte Anwendungen
in Technik und Medizin finden

Schall lässt sich künftig auf einfache Weise


dreidimensional formen. Denn Forscher des
Stuttgarter Max-Planck-Instituts für Intelligen-
te Systeme und der Universität Stuttgart haben
einen einfachen Weg gefunden, ein akusti-
sches Hologramm zu erzeugen. Es funktioniert
ganz ähnlich wie ein optisches Hologramm,
das Lichtwellen gegeneinander verschiebt und

Fotos und Grafik: Kai Melde / MPI für Intelligente Systeme (oben), MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften (unten)
auf diese Weise ein räumlich wirkendes Bild er-
zeugt. Bei dem akustischen Hologramm der
Stuttgarter Forscher handelt es sich um ein Re-
lief aus einem Kunststoff, durch den Schallwel-
len schneller wandern als durch die Umge-
bung. Wegen der variierenden Dicke des Ma-
terials verändert sich das Profil des Schalldrucks
auf dem Weg durch das Kunststoffrelief. Mit-
hilfe des maßgeschneiderten Schalldrucks las-
sen sich Teilchen, die zwischen einigen Mikro-
metern und wenigen Millimetern groß sein
können, zu größeren Strukturen zusammen-
schieben. Die Technik könnte zudem die Ul­tra­
schalldiagnostik in der Medizin und Material-
prüfung verfeinern. (www.mpg.de/10734140)

Schallgetriebener Wellenreiter: Mit einem Hologramm


lässt sich auf einer Wasseroberfläche eine stehende Welle
erzeugen, an der entlang ein Papierboot im Kreis surft.

Gut und Böse im Gehirn


Zwei Areale sind an Netzwerken beteiligt, die Situationen als positiv oder negativ bewerten

Manchmal werden uns Gemeinheiten mit beiden Empfindungen übernehmen wie-


einem Lächeln präsentiert – solche zwei- derum zwei Bereiche innerhalb dieser
deutigen Situationen sind für unser Ge- Netzwerke. Der sogenannte Sulcus tempo-
hirn schwer zu deuten. Schon ein einzel- ralis superior im Schläfenlappen ist für die
ner Satz kann je nach Tonfall unterschied- Interpretation positiver Ereignisse zu-
liche Bedeutung haben. Forscherinnen ständig, der Lobus parietalis inferior im
des Max-Planck-Instituts für Kognitions- Scheitellappen für negative. Die beiden
und Neurowissenschaften in Leipzig ha- Regionen scheinen sich miteinander dar-
ben herausgefunden, wie das Gehirn die- über auszutauschen, welche von ihnen
se Schwierigkeiten meistert. Demnach aktiviert oder inaktiviert wird. So legen Interpretationssache: Der Lobus parietalis
bestimmen zwei Netzwerke im Gehirn, sie vermutlich fest, ob in einer unklaren Si- inferior (IPL) im Scheitellappen bewertet
wie wir eine Situation einschätzen. Das tuation eher positive oder negative Ein- negative, der Sulcus temporalis superior (STS)
im Schläfenlappen positive Ereignisse. Beide
eine ist aktiv, wenn wir eine Szene als er- drücke überwiegen, und geben diese In- Gebiete gehören zu zwei Netzwerken aus
freulich empfinden, das andere bei nega- formation an andere Hirnbereiche weiter. Nervenzellen, die dem Gehirn helfen, seine
tiven Eindrücken. Den Wechsel zwischen (www.mpg.de/10680318) Umwelt zu beurteilen.

42 MaxPlanckForschung 3 | 16
SPEKTRUM

Kohlmeisen auf dem Land sind fitter


In städtischer Umgebung haben die Vögel weniger und kleinere Junge

Kohlmeisen sind offenbar Landeier: In


der Stadt beginnen sie zwar früher zu
brüten, die Gelege sind aber kleiner,
und die Jungtiere wiegen beim Ausflie-
gen weniger als ihre Altersgenossen
auf dem Land. Wissenschaftlern vom
Max-Planck-Institut für Ornithologie
in Seewiesen zufolge liegt es nicht an
Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Licht
oder Lärm, dass sich die Vögel auf dem
Fotos und Grafik: Ph. Sprach (oben), NASA/JPL-Caltech/WISE-Team (unten, linkes Bild), B. Saxton (NRAO/AUI/NSF); ALMA (ESO/NAOJ/NRAO), L. Perez (MPIfR) (unten, rechtes Bild)

Land leichter tun – und das, obwohl


für drei der vier Umweltfaktoren un-
terschiedliche Werte zwischen Stadt
und Land gemessen wurden. Die Stu-
die zeigt, wie schwer sich die Auswir-
kungen der Verstädterung auf natürli-
che Ökosysteme exakt messen lassen.
(www.mpg.de/10703215)

Im Fokus: Für die Untersuchung konnten


Bürger eine Patenschaft für einen Nistkasten
übernehmen und dessen Bewohner mithilfe
einer Kamera live beobachten. Die Bilder der
Kamera wurden dann direkt auf das Handy
der Paten übertragen.

Spiralen helfen bei der Planetengeburt


Auch in einer protoplanetaren Scheibe um einen Stern existieren Dichtewellen

Wissenschaftler unter Leitung von Laura Pérez vom


Max-Planck-Institut für Radioastronomie haben
Elias 2-27 beobachtet mit ALMA
eine auffällige Spiralarmstruktur in der Gas- und
Staubscheibe um den 450 Lichtjahre entfernten
jungen Stern Elias 2-27 entdeckt. Gewonnen haben
sie das Bild mit dem größten Radioteleskop der
Welt, dem aus 66 Antennen bestehenden ALMA
(Atacama Large Millimeter Array) in den chileni-
schen Anden. Die Struktur umfasst die Materie nahe
der Mittelebene der Scheibe – also jene Region, in
der neue Planeten geboren werden können. Die Spi-
ralen sind entweder Folge der Anwesenheit junger
Planeten. Oder aber sie schaffen die Bedingungen, Kuipergürtel
im Sonnensystem
unter denen neue Planeten überhaupt erst entste-
hen; denn sie können Instabilitäten erzeugen, die Sternentstehungsregion
zu Teilgebieten deutlich größerer Dichte führen im Ophiuchus
und so zur Planetengeburt. Solche Dichtewellen
kennen die Astronomen bislang von wesentlich Im Kreißsaal der Sterne: Das linke Bild ist eine Infrarotaufnahme der Rho-Ophiuchi-
größeren Objekten: Sie treten normalerweise in Spi- Region in etwa 450 Lichtjahren Entfernung. Rechts die thermische Staubstrahlung
ralgalaxien auf. (www.mpg.de/10765229) aus der protoplanetaren Scheibe, die den jungen Stern Elias 2-27 umgibt.

3 | 16 MaxPlanckForschung 43
SPEKTRUM

Warmes Mittelmeer lässt Sahel ergrünen


Der menschengemachte Klimawandel trägt dazu bei, dass feuchte mediterrane Luft
den westafrikanischen Monsun anfacht

Der Klimawandel kann auch zwiespältige


Folgen haben. So führt die Erwärmung im
Mittelmeerraum, die den dortigen Ländern
seit etwa 20 Jahren größere Hitze und Tro-
ckenheit bringt, in der Sahelzone offenbar
zu mehr Niederschlag. Wenn die Tempera-
tur im Mittelmeer stärker steigt als in ande-
ren Meeresregionen, gelangt zu Beginn des
westafrikanischen Monsuns im Juni näm-
lich mehr feuchte Luft aus dem östlichen
Mittelmeer an den Südrand der Sahara. Das
haben Forscher des Max-Planck-Instituts für
Meteorologie in Hamburg herausgefunden.
Ihrer aktuellen Studie zufolge hängt von der
Erwärmung des Mittelmeers vor allem im
Vergleich zu den tropischen Meeren auch
entscheidend ab, wie sich der Niederschlag
in der Sahelzone künftig entwickeln wird.
(www.mpg.de/10631374)

Die Sahelzone ist in den vergangenen 20 Jahren


grüner geworden, weil der westafrikanische Monsun
mehr Regen in die Region bringt.

Ein Quantenprozessor für einzelne Photonen

Foto: Daniel Triveau / CIFOR / CC-BY-NC-ND 2.0 (oben); Grafik: Stephan Welte / MPI für Quantenoptik
Mithilfe eines einzelnen Atoms zwischen zwei Spiegeln kann ein Lichtteilchen ein anderes schalten

Die Jediritter der Star Wars-Saga führen einen unmöglichen sen die Forscher also nicht nur ein Problem der Jediritter, sondern
Kampf. Das liegt nicht an der Überlegenheit des feindlichen Im- präsentieren auch einen Photonenschalter. Dieser eignet sich als
periums, sondern an der Physik. Denn mit Laserschwertern lässt Prozessor für einen künftigen Quantencomputer, der mit einzel-
sich nicht kämpfen wie mit metallenen Klingen: Lichtstrahlen nen Lichtteilchen rechnet. Einzelne Photonen sind dafür prak-
spüren sich gegenseitig nicht. Damit ein Lichtstrahl einen ande- tisch, weil sich mit ihnen Quanteninformation auch über größe-
ren wahrnimmt, braucht es bisher ein relativ großes optisches re Strecken verschicken lässt. (www.mpg.de/10636194)
Bauteil als Vermittler und sehr intensives Licht. Forscher des Max-
Planck-Instituts für Quantenoptik haben es nun geschafft, zwei
einzelne Photonen miteinander in Kontakt zu bringen. Das ge-
lang ihnen, indem sie beide Lichtteilchen mit einem einzelnen
Atom, das sie mit einem Laser zwischen zwei Spiegeln in der
Schwebe hielten, wechselwirken ließen. Dabei veränderte sich
die Schwingungsrichtung des einen Photons abhängig von der
Schwingungsrichtung des anderen. Mit ihren Experimenten lö-

Ein universelles Quantengatter: Max-Planck-Physiker lassen zwei Photonen


(rechts) miteinander wechselwirken, indem sie ein Atom in einem
Resonator als Vermittler verwenden. Der Resonator besteht aus zwei
Spiegeln, zwischen denen das Atom mit einem Laser festgehalten wird.

44 MaxPlanckForschung 3 | 16
SPEKTRUM

Mikroroboter mit Magnetantrieb


Gummistreifen, die sich in Magnetfeldern verformen lassen, könnten als
Motoren für winzige Schwimmkörper dienen

Mikroroboter könnten einmal nach dem Vorbild von Spermi-


en oder Pantoffeltierchen durch den menschlichen Körper
schwimmen und dort etwa zielgenau Medikamente ausliefern.
Forscher des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme in
Stuttgart haben für solche winzigen Schwimmkörper magneti-
sierbare Gummistreifen entwickelt, welche die Schwimmbewe-
gungen natürlicher Geißeln, Zilien oder Tentakeln nachahmen.
Die Silikonstreifen haben sie zu diesem Zweck mit magneti-
schen Partikeln versehen. Die komplexen Bewegungen der bio-
mimetischen Bewegungsapparate treiben die Wissenschaftler
mit einem Magnetfeld an, für dessen ausgeklügelte Steuerung
sie eigens ein Computerprogramm geschrieben haben. Mikro­
roboter auf diese Weise gewissermaßen indirekt anzutreiben ist
effektiver, als sie mit magnetischen Partikeln zu versehen und
mit einem Magnetfeld direkt durch eine Flüssigkeit zu bewegen.
Bauteile, die sich mit einem Magnetfeld gezielt verformen las-
sen, könnten auch in der Mikroverfahrenstechnik Anwendung
Magnetische Geißeln und Tentakeln: Mit winzigen magnetisier­
finden, bei der chemische und physikalische Prozesse in sehr baren Silikonstreifen lassen sich Roboter durch ein äußeres
kleinem Maßstab ausgeführt werden. (www.mpg.de/10754143) Magnetfeld wie Quallen, Bakterien oder Spermien fortbewegen.

Klischees über Nationen


Schlupfloch für Tumore steuern unser Handeln
Krebszellen ruinieren Gefäßwände, damit sie den
­Blutkreislauf verlassen und Metastasen bilden können Welchen Einfluss Klischees auf die internationale Zusam-
menarbeit haben, vernachlässigten ökonomische Theo-
rien bisher. Um das herauszufinden, ließen Wissenschaft-
Metastasen sind die häufigste Todesursache bei Krebserkrankun- ler des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Ge-
gen. Solche Tochtergeschwulste entstehen, indem sich einzel- meinschaftsgütern mehr als 1200 Menschen aus sechs
ne Zellen vom Tumor ablösen und vom Blutstrom in entfernte Nationen online gegeneinander antreten. Dabei stellten
Körperregionen transportiert werden. Um ins umliegende Ge- sie die Probanden vor das sogenannte Gefangenen-Di-
webe zu gelangen, müssen sie die Wand kleinerer Blutgefäße lemma: Zwei Spieler, die sich nicht absprechen können,
überwinden. Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Herz- müssen sich für egoistisches oder kooperatives Verhal-
und Lungenforschung in Bad Nauheim haben entdeckt, dass ten entscheiden. Wer den Partner egoistisch einschätzt,
die Tumorzellen gezielt einzelne Zellen in der Gefäßwand ab­ verhält sich meist selbst egoistisch. Wer kooperatives
töten. Diese geben dabei selbst das Signal für ihren eigenen Tod: Verhalten erwartet, kooperiert eher. Die Spieler kannten
Sie besitzen auf ihrer Oberfläche ein Rezeptormolekül mit dem voneinander nur die Nationalität. Zusätzlich erfragten
Namen „Death Receptor 6“ (DR6). Der Kontakt mit einer Tu- die Wissenschaftler die gegenseitigen Einschätzungen.
morzelle aktiviert den Rezeptor und tötet die Gefäßwandzelle. Tatsächlich ließen sich die Teilnehmer stark von Vorurtei-
Die Krebszelle verschafft sich so Raum, den Blutstrom zu ver- len leiten. US-Amerikaner etwa erwarteten eine hohe
lassen. Die Forscher konnten die Metastasen bei krebskranken Kooperationsbereitschaft von Japanern, aber eine gerin-
Mäusen reduzieren, indem sie DR6 durch einen Hemmstoff blo- ge von Israelis und agierten entsprechend. Israelis wie-
ckierten. Bevor eine Blockade von DR6 aber bei Krebspatienten derum hielten Amerikaner für kooperativ und kooperier-
Grafik: Phil Loubere

eingesetzt werden kann, muss geklärt werden, ob sich die Beob- ten selbst. Japaner beurteilten dagegen andere Nationen
achtungen auf den Menschen übertragen lassen und ob eine eher pessimistisch, weswegen sie sich meist egoistisch
solche Behandlung zu unerwünschten Nebenwirkungen führen verhielten. So handelten die Spieler oft nach Stereotypen,
kann. (www.mpg.de/10679240) die sich als falsch erwiesen. (www.mpg.de/10737550)

3 | 16 MaxPlanckForschung 45
PHYSIK & ASTRONOMIE_Zur Person

Der Archäologe
des Universums
Er liebt Basketball und Literatur, seine wahre Leidenschaft aber ist die Kosmologie.
Mit Teleskopen und Computern erforscht Joe Hennawi am Heidelberger Max-Planck-
Institut für Astronomie – in einer Gruppe namens Enigma – die größten Strukturen
des Weltalls. Dabei geht es um nicht weniger als die Enthüllung des kosmischen Netzes.

TEXT THOMAS BÜHRKE

S
o manche Astrophysikerkar- schen ab, die vor dem Fenster im Son- Milchstraße gehört. Andererseits bildet
riere beginnt mit dem Kauf nenlicht glitzern. Astrophysik macht das Gas zwischen den Sternsystemen
eines Fernrohrs in jugendli- wohl durstig. Joe Hennawi beschäftigt ein gigantisches Netz, und dessen
chen Jahren. Nachts bestaunt sich mit dem strukturellen Aufbau des Struktur gibt Auskunft über die Ent-
der angehende Forscher die Universums und hat es oft mit großen wicklung des Universums seit dem Ur-
Ringe des Saturn und die Berge auf dem Datenmengen zu tun, deren Auswer- knall. Es sind die großen Fragen der
Mond. Nicht so Joe Hennawi: Er kam tung effiziente Computeralgorithmen Kosmologie, mit denen sich Hennawi
eher über glückliche Zufälle zur Astro- erfordert. „Big Data ist in unserem Me- beschäftigt. Dabei hat alles eher be-
physik, hätte ebenso gut Schriftsteller tier ein großes Thema geworden“, sagt scheiden und klein begonnen.
oder Basketballprofi werden können. er und ergänzt: „Ein Drittel meiner Seine Eltern sind aus Ägypten in
Heute leitet er am Max-Planck-Institut Zeit widme ich der Theorie, zwei Drit- die USA ausgewandert. Als Christen –
für Astronomie eine Forschergruppe tel der Beobachtung an möglichst gro- ihr Name bedeutet „Familie des Johan-
mit dem geheimnisvollen Namen Enig- ßen Teleskopen.“ nes“ – hatten sie es in der Heimat nicht
ma, hat vor sechs Jahren mit dem Sofja Der Name Enigma seiner etwa 15 leicht. „Es gab aber auch wirtschaftli-
Kovalevskaja-Preis der Alexander von junge Leute umfassenden Gruppe steht che Gründe für die Emigration“, sagt
Humboldt-Stiftung eine der höchst­ für Exploring the Nature of the Inter- Hennawi, der im Jahr 1976 im kalifor-
dotierten deutschen Wissenschaftsaus- and Circum-galactic Media. Auch wenn nischen Salinas nahe Monterey zur
zeichnungen erhalten und in jüngster sich das Akronym nicht auf den ersten Welt kommt. Beide Eltern haben einen
Vergangenheit mit einigen Entdeckun- Blick erschließt, so ist doch die For- Wirtschaftsabschluss, später eröffnet
gen für Aufsehen gesorgt. Doch der schungsrichtung klar: Es geht um Gas, der Vater einen eigenen Laden, in dem
Foto: Thomas Hartmann

Reihe nach. das die Galaxien umgibt und sich zwi- auch Joe viel Zeit verbringt.
Sein Büro in dem Institut auf dem schen den riesigen Sternsystemen ver- Auf der Highschool bekommt der
Heidelberger Königstuhl verrät nichts teilt. Das hat einerseits einen entschei- Junge gute Noten, für die Physikkurse
Besonderes, sieht man einmal von den denden Einfluss auf die Entwicklung interessiert er sich allerdings nicht. „Ich
geschätzt hundert leeren Wasserfla- der Galaxien, zu denen auch unsere habe mich eher für Sport begeistert“, er-

46 MaxPlanckForschung 3 | 16
„Kosmologie wird mein Gebiet
bleiben“, sagt Joe Hennawi,
Forschungsgruppenleiter am
Max-Planck-Institut für
Astronomie in Heidelberg.

3 | 16 MaxPlanckForschung 47
» Immer wieder denkt er ans Aufhören, unternimmt eine Reise nach Ägypten, um seinen
Wurzeln nachzuspüren. Aber letztlich beißt er sich durch und macht seinen Master.

innert er sich. Anschließend bewirbt er ginn Ernüchterung: „Ich hatte eine Ausgestattet mit einem Stipendium
sich nicht an einer Universität, sondern Grundvorlesung für Elektromagnetis- wechselt er an die ebenso namhafte
geht in Salinas auf ein Junior College, mus belegt, und am Ende der ersten Universität von Princeton. Dort hat Al-
das einen guten Ruf hat. Auch hier be- Stunde war ich total frustriert: Ich dach- bert Einstein bis zu seinem Lebensende
legt Joe anfangs alle möglichen Kurse, te, ich kann gar nichts.“ Immer wieder gewirkt, dort arbeitet eine starke Kos-
spielt weiter mit Leidenschaft Basket- denkt er ans Aufhören, unternimmt eine mologiegruppe. Joe Hennawis Doktor-
ball, erwägt sogar eine Profikarriere. Reise nach Ägypten, um seinen Wurzeln vater David Spergel beschäftigt sich un-
Die Wende bringt schließlich der nachzuspüren. Aber letztlich beißt er ter anderem mit Beobachtungsdaten
Physiklehrer. „Der war super gut und hat sich durch und macht seinen Master. eines Weltraumtele­skops namens Wil-
mich begeistert, wir sind noch heute kinson Microwave Anisotropy Probe,
befreundet.“ Joe verabschiedet sich vom DAS ÄLTESTE ZEUGNIS AUS mit dem die kosmische Hintergrund-
Traum eines Basketballstars und ent- DER FRÜHZEIT DES WELTALLS strahlung untersucht worden war. Die-
schließt sich, Physik zu studieren. Und se Strahlung gilt als das älteste Zeugnis
die Eltern? „Die fanden das nicht so In Stanford lernt er auch Einsteins all- des frühen Universums – und sie bein-
gut, sie hätten lieber einen praktische- gemeine Relativitätstheorie kennen, haltet eine Fülle von Informationen
ren Beruf für mich gesehen, am liebs- die für ihn im Folgenden immer wie- über den Beginn der Welt: Kosmologie
ten als Ingenieur“, sagt Hennawi. Seine der von besonderer Bedeutung sein pur und an vorderster Front.
Schwester schlägt diesen Weg ein und ar- wird. So arbeitet er kurzzeitig am Pro- Joe Hennawi setzt sich mit der The-
beitet heute als Ingenieurin. Doch Joe jekt Ligo mit – an jenem Detektor also, orie der Hintergrundstrahlung ausein-
Foto: Thomas Hartmann

bleibt bei seinem Entschluss. mit dem im September 2015 die spekta- ander, wobei erneut der allgemeinen
Wegen seiner guten Noten bekommt kuläre Entdeckung einer Gravitations- Relativitätstheorie eine recht bedeuten-
er einen Studienplatz an der renommier- welle gelang. „Vielleicht hätte ich bes- de Rolle zukommt. Die Hintergrund-
ten Stanford-Universität – eine riesige ser dabei bleiben sollen“, sagt Joe strahlung ist etwa 380 000 Jahre nach
Chance für ihn. Allerdings gleich zu Be- Hennawi schmunzelnd. dem Urknall entstanden, und sie erfüllt

48 MaxPlanckForschung 3 | 16
PHYSIK & ASTRONOMIE_Zur Person

tjahre
n Lich
illione
100 M

2,5 Millionen
Lichtjahre
6 Millionen Lichtjahre
Linke Seite Das All im Computer: Joe Hennawi
beschäftigt sich mit den großen Strukturen
im Universum – auch am Laptop in einer
ruhigen Ecke des Instituts.
Rechts Querschnitt durch die Vergangenheit:
In den Spektren von 24 lichtschwachen
Galaxien hat das Team um Joe Hennawi die
Wasserstofflinien des kosmischen Netzes
identifiziert und daraus eine dreidimensionale
Karte rekonstruiert, die einen kleinen
Teil des Weltalls im Alter von nur knapp drei 10,6 Milliarden Lichtjahre Entfernung von der Erde
Milliarden Jahren zeigt. Je heller der Farbton,
desto höher die Dichte des Wasserstoffgases.

den gesamten Himmel. Sie ist also na­ sich etwas wehmütig. Das Teleskop gebung zieht es Gas an, das sich zu­
hezu 14 Milliarden Jahre lang im Uni­ steht in New Mexico und lässt sich nächst in einer großen Scheibe um den
versum unterwegs, ehe sie in die Tele­ ferngesteuert bedienen. Das hat sich ge­ Zentralkörper ansammelt und nach
skope der Astronomen gelangt. Auf ändert, heute reist Joe Hennawi zu den und nach in ihn hineinstürzt – ähnlich
diesem langen Weg hat sie einiges er­ größten Observatorien der Erde auf Ha­ wie Wasser gurgelnd in einem Abfluss
lebt. So durchquerte sie unter anderem waii und in Chile. verschwindet. Bei diesem Vorgang er­
Gaswolken, die sich entweder in den hitzt sich das Gas bis auf mehrere Mil­
Galaxien oder zwischen ihnen befan­ STRUDELNDES GAS ERHITZT SICH lionen Grad und strahlt enorm hell:
den, und sie wurde durch die Schwer­ AUF MEHRERE MILLIONEN GRAD Ein Quasar sendet mehr als tausend­
kraft von ihrer geraden Ausbreitungs­ mal mehr Licht aus als der gesamte
richtung abgelenkt. Obwohl das Teleskop in New Mexico Rest der Galaxie mit seinen bis zu Hun­
Diese kosmische Hintergrundstrah­ nur Mittelklasse ist, stößt er dort auf derten von Milliarden Sternen.
lung kommt also auf der Erde geringfü­ Himmelskörper, die ihn bis heute be­ Diese Erklärung gilt heute als gesi­
gig verzerrt an, so als würde man sie schäftigen: Quasare. Bei ihrer Entde­ chert. Und da sich nach derzeitigem
durch eine Milchglasscheibe betrachten. ckung in den 1950er-Jahren nannte Wissen in nahezu jeder Galaxie ein
Das ist einerseits ärgerlich, weil dadurch man sie quasistellare Objekte, weil sie zentrales, supermassereiches schwarzes
auch die Informationen aus dem frühen wie Sterne punktförmig erscheinen. Al­ Loch befindet, müsste eigentlich auch
Grafik: Casey Stark (UC Berkeley) and Khee-Gan Lee (MPIA)

Universum entstellt sind. Andererseits lerdings wiesen viele andere Merkmale jede Galaxie gleichzeitig ein Quasar sein.
bietet sich so eine einzigartige Möglich­ darauf hin, dass es sich nicht um Sterne Das ist aber bei Weitem nicht der Fall,
keit, etwas über die Galaxien und die handeln konnte. Im Jahr 1963 löste der im Gegenteil: Quasare sind eher selten.
zwischen ihnen befindliche intergalak­ Astronom Maarten Schmidt das Rätsel: Der Grund: Die Quasaraktivität dauert
tische Materie zu erfahren. Genau das Es handelte sich um die am weitesten nur rund zehn Millionen Jahre lang an.
wird Hennawis Forschungsgebiet. entfernten und leuchtkräftigsten da­ Gemessen an einem typischen Gala­
Gegen Ende seiner Doktorandenzeit mals bekannten Himmelskörper. xienalter von mehr als zehn Milliarden
bekommt er erstmals die Gelegenheit, Bald tauchte auch eine Theorie auf, Jahren ist das ein sehr kleiner Zeitraum.
selbst astronomische Beobachtungen wie die gigantischen Strahlungsmen­ Es ist also ein unwahrscheinlicher Zu­
vorzunehmen. „Allerdings habe ich die gen entstehen: Demnach ist ein Qua­ fall, wenn Astronomen eine Galaxie ge­
nicht auf einem hohen Berg am Tele­ sar das Zentrum einer jungen Galaxie, rade in ihrer Quasarphase sehen.
skop, sondern im Keller unseres Insti­ in der sich ein supermassereiches Mit Quasaren beschäftigt sich Joe
tutsgebäudes ausgeführt“, erinnert er schwarzes Loch befindet. Aus der Um­ Hennawi dann auch an der Universität

3 | 16 MaxPlanckForschung 49
PHYSIK & ASTRONOMIE_Zur Person

Oben Über den Wolken: Joe Hennawi arbeitet von Berkeley in Kalifornien, wo er von
mit Daten der weltweit größten Fernrohre – 2004 bis 2009 als Hubble Fellow und
wie sie etwa auf dem Mauna Kea auf Hawaii
dann als National Science Foundation
stehen. Im Innern der zwei weißen Kuppeln
(im Bild auf dieser Seite) verbergen sich die Fellow unterstützt wird. „Dort habe ich
beiden Keck-Teleskope mit Spiegeln von jeweils gelernt, mit großen Datenmengen um-
zehn Meter Durchmesser. zugehen“, erinnert sich der Forscher.
Unten Aufnahmen mit Seltenheitswert: Links Das ist in der heutigen Astrophysik so
ein Ausschnitt des kosmischen Netzwerks wichtig geworden, weil es viele Beob-
(türkisfarben) mit einer Ausdehnung von rund achtungsprojekte gibt, bei denen Tele-
zwei Millionen Lichtjahren, das in der direkten skope Nacht für Nacht große Himmels­
Umgebung des Quasars UM 287 beobachtet
wurde. Das Gas leuchtet dank desselben
areale aufnehmen und dabei sehr viele,
Effekts, dem auch Leuchtstoffröhren ihr Licht sehr lichtschwache Galaxien und ande-
verdanken. Etwas kleiner, nämlich etwa eine re Objekte aufspüren.
Million Lichtjahre, ist der Nebel, in den die Eine solche Himmelsdurchmuste-
vier Quasare (Pfeile) auf dem rechten Foto ein-
rung, der Sloan Digital Sky Survey (SDSS),
gebettet sind. Das Quartett ist eine Rarität,
sein Licht benötigte zehn Milliarden Jahre, um läuft seit dem Jahr 2000 im Apache Point
zu uns zu gelangen. Observatory in New Mexico. Mit einem
eigens dafür gebauten Teleskop wurden
auf einem Drittel der gesamten Him-
Fotos: privat (oben), Arrigoni-Battaia / MPIA (unten, 2)

melssphäre Milliarden von Objekten


durch mehrere Farbfilter abgebildet und
mehr als drei Millionen Spektren aufge-
nommen. Das Ergebnis ist die bislang
detaillierteste dreidimensionale Karte
des Universums. Das Max-Planck-Insti-
tut für Astronomie ist seit Beginn des
Projekts am SDSS beteiligt. Und auch Joe
Hennawi nutzt diesen Datenschatz für
seine Forschung.
Nach fünf Jahren in Berkeley wech-
selt er 2009 ans Heidelberger Max-
Planck-Institut für Astronomie. Zu-

50 MaxPlanckForschung 3 | 16
» Die kosmologischen Modelle sagen vorher, dass das Universum von einer
blasenartigen Struktur durchzogen ist, ähnlich wie ein Schweizer Käse.

nächst ist ihm die Stadt noch zu klein, Vor knapp drei Jahren entdeckt sein Allerdings ist das Gas selbst in den Kno-
weswegen er im umtriebigeren Frank- Team zusammen mit Kollegen der Uni- ten so dünn verteilt, dass es sich bisher
furt wohnt und täglich pendelt. Sehr versität von Santa Cruz einen Quasar, nicht direkt abbilden ließ. In diesem
wichtig ist es ihm von Anfang an, die der von einem ungewöhnlichen Nebel Fall wirkt der Quasar wie ein Schein-
deutsche Sprache zu lernen. Er nimmt umgeben ist. Ungewöhnlich an ihm ist werfer, der das umliegende Gas zum
einen zweijährigen Sprachkurs wahr, unter anderem die Ausdehnung von Leuchten anregt und so einen Teil des
den die Humboldt-Gesellschaft ihren etwa zwei Millionen Lichtjahren. Da- Netzes sichtbar macht. Diese Entde-
Preisträgern anbietet. Schließlich liest mit kann es sich nicht um die Galaxie ckung wählt die Redaktion der Zeit-
Hennawi sogar anspruchsvolle Litera- handeln, in deren Zentrum der Quasar schrift P hysics W orld , die vom briti-
tur, von Frisch über Hesse bis Kafka. sitzt. „Es ist uns damit gelungen, einen schen Institute of Physics herausgegeben
„Grass ist mir aber auf Deutsch zu Teil des kosmischen Netzes aufzuneh- wird, in die „Top Ten Breakthroughs“
schwierig“, sagt er. Und: „Wenn ich kein men“, erklärt Joe Hennawi (MaxPlanck- des Jahres 2014.
Astrophysiker geworden wäre, dann Forschung 1/2014, Seite 41).
hätte ich gerne den Weg eines Schrift- Die kosmologischen Modelle sagen DAS QUASARLICHT WAR ZEHN
stellers eingeschlagen.“ vorher, dass das Universum von einer MILLIARDEN JAHRE UNTERWEGS
Schon ein Jahr nach seiner Ankunft blasenartigen Struktur durchzogen ist,
am Max-Planck-Institut bekommt er den ähnlich wie ein Schweizer Käse. In den Im vergangenen Jahr landen Hennawi
Sofja Kovalevskaja-Preis der Humboldt- Wänden befinden sich Wasserstoffgas und Kollegen einen weiteren Coup: Sie
Stiftung. Das damit verbundene Förder- und Dunkle Materie. Galaxien wie stoßen auf ein Quasarquartett, das
geld von fast 1,5 Millionen Euro nutzt er, unsere Milchstraße und auch die Qua- ebenfalls von einem Wasserstoffnebel
um seine Forschergruppe zu erweitern. sare sitzen vor allem in den Kreu- umgeben ist (M ax P lanck F orschung
Und die wissenschaftlichen Erfolge las- zungspunkten und langen Filamenten 2/2015, Seite 44). Um die Aufregung
sen auch nicht lange auf sich warten. dieses Netzes. darüber zu verstehen, muss man sich

3 | 16 MaxPlanckForschung 51
PHYSIK & ASTRONOMIE_Zur Person

Forschung im Dialog: Mit seiner Kollegin Anna-Christina Eilers diskutiert Joe Hennawi die neuesten Ergebnisse. An seinem Fachgebiet
fasziniert ihn, dass es sauber und klar durch die Formeln der allgemeinen Relativitätstheorie definiert ist.

klarmachen, dass heute zwar rund eine dieser Quasare zehn Milliarden Jahre zes durchquert. Jedes Mal verschluckt
halbe Million Quasare bekannt, diese im All unterwegs war, bevor es uns er- dabei das Wasserstoffgas einen kleinen
aber am Himmel weiträumig verteilt reichte. Die Forscher sehen hier also das Teil des Lichts. Zerlegt man das Quasar-
sind. Zwei Quasare in unmittelbarer Universum so, wie es vor mehr als zehn licht in seine spektralen Anteile, so
Nachbarschaft zu finden, ist sehr sel- Milliarden Jahren aussah, weniger als taucht die Wasserstoffabsorption bei
ten. Derzeit sind nur hundert Quasar- vier Milliarden Jahre nach dem Urknall. einer ganz speziellen Wellenlänge als
paare und ein einziges Quasartripel be- Die Astrophysiker betreiben gewisser- dunkle Linie im Spektrum auf.
kannt. „Die Wahrscheinlichkeit für maßen kosmische Archäologie. Die beständige Ausdehnung des
eine zufällige Zusammenballung von Weltalls bewirkt nun, dass diese Was-
vier Quasaren auf so engem Raum liegt NORMALE GALAXIEN DIENEN serstofflinie zu immer größeren Wel-
bei eins zu zehn Millionen“, erklärt FORSCHERN ALS SCHEINWERFER lenlängen verschoben wird, je weiter
Hennawi, der das Quartett aus diesem die Wolke von uns entfernt ist. Hat das
Grund „Jackpot-Nebel“ nennt. Reiner Es gibt noch eine weitere Methode, um Quasarlicht auf dem Weg zu uns zehn
Zufall ist diese Gruppierung aber wohl das über Milliarden von Lichtjahren solche Wolken durchquert, so findet
nicht, denn diese Raumregion enthält hinweg verzweigte kosmische Gewebe man auch zehn Absorptionslinien bei
auch mehrere Hundert Mal so viele zu ergründen. Sie ähnelt entfernt der verschiedenen Wellenlängen; und aus
Galaxien, wie die Forscher erwarten. Computertomografie, bei der das Inne- deren Positionen im Spektrum kann
Auch diese Entdeckung erfährt be- re des menschlichen Körpers aus unter- man die Entfernung der Wolke ermit-
sondere Aufmerksamkeit: Das US-Ma- schiedlichen Richtungen mit Röntgen- teln. Auf diese Weise ist es möglich,
gazin Astronomy setzt es auf Rang vier strahlen durchleuchtet wird. die räumliche Verteilung des kosmi-
Foto: Thomas Hartmann

der Top-Five-Entdeckungen – knapp Dabei machen es sich die Astrono- schen Netzes und die Gasdichte darin
hinter dem Vorbeiflug der Sonde Hori- men zunutze, dass das Licht zum Bei- zu ergründen.
zon am Zwergplaneten Pluto. Besonders spiel eines weit entfernten Quasars auf Da Quasare aber bis auf die wenigen
spannend werden diese Beobachtun- seinem Weg zu uns mehrmals die Wän- Ausnahmen der Mehrfachsysteme weit
gen, wenn man bedenkt, dass das Licht de und Filamente des kosmischen Net- über den Himmel verteilt sind, können

52 MaxPlanckForschung 3 | 16
die Forscher das Netz nur punktuell un- Wie geht es wohl weiter, nach so vielen quantenmechanische Eigenschaften in
tersuchen. Anders sähe es aus, wenn Erfolgen? „Kosmologie wird mein Ge- Betracht gezogen“, meint der Heidel-
man als „kosmische Scheinwerfer“ biet bleiben“, sagt Joe Hennawi. „Sie berger Max-Planck-Forscher. „Auch die
nicht Quasare, sondern die viel häufi- ist sauber und klar durch die Formeln Rolle der Neutrinos bei der Strukturbil-
geren normalen Galaxien verwenden der Relativitätstheorie definiert, birgt dung im Universum interessiert mich.“
würde. Das erschien lange Zeit unmög- aber noch viele Rätsel.“ Dunkle Mate- Die ganz großen Fragen also. Für Bas-
lich, weil diese in großer Entfernung zu rie könnte ein solches Zukunftsthema ketball bleibt da natürlich nicht viel
lichtschwach sind. Umso größer ist die sein: „Bislang hat man kaum deren Zeit übrig.
Überraschung, als Hennawis Postdoc
Khee-Gan Lee ein solches Projekt an-  
geht – und Erfolg hat.
Mit einem Zehn-Meter-Spiegeltele­
GLOSSAR
skop namens Keck I auf Hawaii nimmt
das Team Spektren von 24 lichtschwa- Kosmische Hintergrundstrahlung: Sie wird auch als „Drei-Kelvin-Strahlung“ bezeichnet
und im Mikrowellenbereich beobachtet. Sie entstand etwa 380 000 Jahre nach dem
chen Galaxien auf und identifiziert da-
Urknall, als das Universum durchsichtig wurde, sich Protonen und Elektronen verbanden
rin die Wasserstofflinien des kosmi- und die Lichtteilchen (Photonen) von nun an ungehindert durch den Raum fliegen konn-
schen Netzes. „Auf diese Weise haben ten. Die Hintergrundstrahlung trägt die Signatur aus der Epoche ihrer Entstehung in sich
wir erstmals eine dreidimensionale Kar- und ist daher ein wertvolles Instrument, um Struktur und physikalische Eigenschaften
te von einem kleinen Teil des Univer- des ganz jungen Weltalls zu studieren.

sums rekonstruiert, die bis in eine Zeit Wilkinson Microwave Anisotropy Probe: Der US-amerikanische Satellit, abgekürzt
WMAP, wurde im Jahr 2001 gestartet und lieferte bis 2010 Daten. Seine Aufgabe war es,
zurückreicht, als das Weltall nicht ein-
die Unregelmäßigkeiten in der kosmischen Hintergrundstrahlung zu kartieren. Aus den
mal drei Milliarden Jahre alt war“, er- Messungen leiteten Forscher die Zusammensetzung des Universums ab: 4,6 Prozent
klärt Joe Hennawi. Dieses Projekt wird konventionelle Materie, 23 Prozent Dunkle Materie und 72 Prozent Dunkle Energie. Diese
fortgesetzt. Mittlerweile haben die Wis- Werte wurden von dem Nachfolgesatelliten Planck geringfügig korrigiert.
senschaftler die Methode bereits auf
hundert Galaxien erweitert.

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MATERIAL & TECHNIK_Robotik

Mikroboote
kommen in Fahrt
So manche medizinische Behandlung wäre effizienter, wenn
Medikamente mit einem winzigen Roboter direkt zum
Krankheitsherd transportiert werden könnten. Peer Fischer und
seine Mit­arbeiter am Stuttgarter Max-Planck-Institut für
Intelligente Systeme entwickeln Mikro- und Nanoschwimmer,
die dies eines Tages ermöglichen sollen.

TEXT KARL HÜBNER

E
s ist ein einfaches DIN-A4-Blatt, durch Flüssigkeiten bewegen können
das neben der Labortür hängt: und von vielen bereits als winzige Ro-
„Bitte nicht sauber machen.“ boter bezeichnet werden.
Das Reinigungspersonal dürfte
sich freuen. Und die Nutzer des KEIN LIMIT, MASCHINEN BELIEBIG
Labors sind viel entspannter, denn sie KLEIN ZU MACHEN
wissen: Wenn niemand Gegenstände
herumräumt und über die Tische Wenn Fischer die Arbeit seines rund
wischt, kann auch nichts Wichtiges ab- 20-köpfigen Teams und der externen
handenkommen. So ist das, wenn sich akademischen Partner beschreibt, greift
Forscher mit Gegenständen beschäfti- er gern auf eine fast 60 Jahre alte Visi-
gen, die mit dem bloßen Auge gar nicht on von Richard P. Feynman zurück.
zu erkennen sind. Daher schützt die Ar- Am 29. Dezember 1959 hielt der US-
beitsgruppe „Mikro-, Nano- und Mole- amerikanische Physiker einen Vortrag
kulare Systeme“ am Max-Planck-Insti- mit dem Titel: There’s Plenty of Room at
tut für Intelligente Systeme in Stuttgart the Bottom – Es gibt viel Spielraum nach
zumindest eines ihrer Labore auf die ge- unten. Feynman meinte damit, dass es
nannte Weise. eigentlich kein Limit gebe, um Moto-
Geleitet wird die Gruppe von Peer ren, Maschinen und andere Dinge be-
Fischer, der auch Professor an der Uni- liebig klein zu konstruieren. Wenn man
versität Stuttgart ist. Seine Forschung so will, gab er damit den Startschuss für
hat in den vergangenen Jahren einen die Nanotechnik, lange bevor es diesen
kleinen Fuhrpark an Miniaturvehikeln Begriff überhaupt gab.
hervorgebracht – Strukturen aus dem Und Feynman hatte sehr konkrete
Mikro- oder sogar Nanokosmos, die sich Vorstellungen: „Obwohl es zunächst
auf die eine oder andere Weise gezielt nach einer recht verrückten Idee klingt,

Es geht nur ums Prinzip: Die Bewegungsapparate etwa von Bakterien lassen sich für künstliche Mikro- und
Nano­schwimmer nicht eins zu eins kopieren. Das zeigen Stuttgarter Forscher mit Modellen, in denen
sie Batterien, Motoren und Platinen unterbringen. Weil dafür in winzigen Robotern kein Platz ist, setzen
sie biologische Antriebe wie bei einer magnetisch angetriebenen Nanoschraube (ganz rechts) anders um.

54 MaxPlanckForschung 3 | 16
500 nm
Foto: Wolfram Scheible

3 | 16 MaxPlanckForschung 55
Eine Produktionsstätte für Nanoroboter: Die Max-Planck-Forscher Conny Miksch, John Gibbs und Andrew Mark (von links) überprüfen die
Vakuumanlage, in der komplexe Nanostrukturen Schicht für Schicht auf einen Silicium-Wafer aufgedampft werden.

wäre es meiner Meinung nach für die steck. In einen Zusammenhang mit der hat. Hohe Reibung bei wenig Trägheit
Chirurgie interessant, wenn man den Phantastischen Reise will Fischer seine – das heißt nichts anderes, als dass ein
Chirurgen sozusagen schlucken könn- Arbeit dennoch nur ungern gebracht Vehikel ohne Antrieb sofort zum Ste-
te. Man setzt ihn in die Blutbahn, er sehen. Zu viel in dem Film sei wissen- hen kommt. Ein menschlicher Schwim-
geht ins Herz hinein, sieht sich dort schaftlich „äußerst fragwürdig“. So mer gleitet nach einem Schwimmzug
um, erkennt, welche Herzklappe die etwa „die aktive und kontrollierte Be- dank seiner Trägheit noch eine Zeit lang
fehlerhafte ist, nimmt ein kleines Mes- wegung“ des Mini-U-Boots durch die weiter durch das Wasser. Ein Bakterium
ser und schneidet sie heraus.“ Dies Blutbahn. Und auch über eine Spitzen- aber, dessen Antrieb aussetzt, bewege
inspirierte auch Filmemacher. 1966 geschwindigkeit von 15 Knoten, das sich gerade noch einen zehntel Nano-
schickte Hollywood in Die phantasti- entspricht 30 Kilometern pro Stunde, meter weiter, so Peer Fischer. Denn wenn
sche Reise ein winziges U-Boot mit ei- kann Fischer nur schmunzeln: Solch ein Bakterium in Wasser schwimmt, ist
nem miniaturisierten Notfallteam an ein Tempo ist für ein miniaturisiertes das ungefähr so, als müssten wir uns
Bord durch die Adern eines Menschen, Tauchfahrzeug ziemlich unrealistisch. durch Teer schieben.
um in dessen Gehirn ein Blutgerinnsel Und doch haben Einzeller offenbar
zu entfernen. EINE LA-OLA-WELLE AUF DEM Techniken entwickelt, um sich in diver-
Auch die Miniaturvehikel von Peer WIMPERNTIERCHEN sen Flüssigkeiten aktiv zu bewegen. Vie-
Fischers Arbeitsgruppe sollen sich im le Bakterien haben eine rotierende Gei-
besten Falle eines Tages durch Gewebe, In Hollywood musste man sich eben ßel, die sie vorantreibt. Ein Spermium
Schleimhäute, die Blut-Hirn-Schranke wenig Gedanken um physikalische De- wiederum führt mit dem Schwanz eine
oder den Glaskörper des Auges bewe- tails in der Mikrowelt machen. Zum Art Peitschenschlag aus, mit dem es sich
Foto: Wolfram Scheible

gen. Sie werden dann zwar kaum ver- Beispiel um den Umstand, dass kleine von der Umgebung gleichsam abstößt.
kleinerte Chirurgen an Bord haben, Teilchen eine hohe Reibung erfahren, Eine weitere Technik beherrschen
dafür aber vielleicht pharmazeutische während ihre „Trägheit relativ unbe- Wimperntierchen. Diese Einzeller sind
Wirkstoffmoleküle, genetische Bauplä- deutend wird“, wie es schon Richard von zahllosen Härchen übersät, die sie in
ne oder fernsteuerbares Operationsbe- Feynman in seinem Vortrag formuliert einer ausgeklügelten Choreografie bewe-

56 MaxPlanckForschung 3 | 16
MATERIAL & TECHNIK_Robotik

» Im Moment geht es Fischers Gruppe vor allem darum,


Antriebsprinzipien zu finden und zu testen.

gen. Zeitlich aufeinander abgestimmt, wandern wulstige Ringe über das Ge- a b
machen die Härchen Bewegungen, die fährt. Ähnlich wie bei der Peristaltik ei-
denen unserer Arme beim Brustschwim- nes Regenwurms. Und so, wie dieser da-
men ähneln. Alle Härchen zusammen bei die Erde hinter sich schiebt, drückt
vollführen etwas wie eine La-Ola-Welle, der pulsierende Zylinder die umgeben-
1 cm 50 µm
die über den Körper des Wimperntier- de Wasser-Glycerin-Mischung an sich
chens läuft und diesen vorantreibt. vorbei und bewegt sich darin fort. Tem- c
Ausgerechnet dieser komplizierte po: rund ein Zentimeter pro Stunde.
Mechanismus inspirierte Peer Fischer Da ist das natürliche Wimperntier-
und seine Mitarbeiter zum Antrieb für chen zwar noch um ein Vielfaches
einen Mikroschwimmer. Eine direkte schneller. Das liege aber auch daran,
künstliche Kopie, so viel war schnell dass es pro Sekunde einfach sehr viel
klar, würde dabei nicht möglich sein. mehr Wellen über seine Oberfläche
„Es gibt schließlich keine elektronische schickt. Auf jeden Fall ist es den For-
Steuerung und auch keine Batterie, die schern gelungen, das Fortbewegungs- d
klein genug wäre, um Gebilde in der prinzip auf ihren Mikroschwimmer zu
Größe einzelner Härchen anzutrei- übertragen. Mehr noch: Dank ihres
ben“, erklärt Fischer. „Was wir daher Spezialspiegels können sie das Licht-
tun, ist: Wir versuchen die Essenz des profil beliebig variieren und damit auch
Prinzips zu verstehen, zu vereinfachen die Bewegungsrichtung ihres zylindri-
und dann mit den uns möglichen Mit- schen U-Boot-Körpers ändern. So lie-
teln anzuwenden.“ ßen sie ihn unter anderem die Umrisse Die Natur als Vorlage: Durch die Peristaltik
In den Stuttgarter Labors wurde so eines Quadrats abschwimmen. erzeugt ein Regenwurm (a) ebenso wie ein
aus der biologischen Vorlage, dem be- Wimperntierchen (b), das Härchen auf seiner
Oberfläche koordiniert bewegt, eine Welle
haarten Einzeller, ein etwa einen Milli- EINE MIKROMUSCHEL KÄME IM auf seiner Oberfläche (c). Dieses Prinzip
meter langer Zylinder aus einem be- WASSER NICHT VOM FLECK setzen die Stuttgarter Forscher um, indem
sonderen Material – einem sogenannten sie grüne Lichtstreifen über einen Kunst-
Flüssigkristall-Elastomer: einem Kunst- „Das war das erste Mal überhaupt, dass stoffzylinder laufen lassen, der sich an den
beleuchteten Stellen ausdehnt (d).
stoff, der sowohl Merkmale einer Flüs- ein künstlicher Mikroschwimmer in
sigkeit als auch eines Kristalls aufweist. der Lage war, Körperverformungen für
„Dabei handelt es sich um eine Art mo- seinen Antrieb zu nutzen, ohne dass
lekularen Muskel, in dem sich einzelne von außen mechanische oder magne- wegen könnten. Noch liegt das in wei-
Grafik: Peer Fischer / Nature Materials 15, 647–653 (2016)

Abschnitte ausdehnen, sobald sie mit tische Kräfte einwirken mussten“, sagt ter Ferne. Im Moment geht es Fischers
Licht einer bestimmten Wellenlänge Peer Fischer. Der winzige Schwimmro- Gruppe vor allem darum, Antriebsprin-
bestrahlt werden“, erklärt Fischer. boter musste nur mit Licht bestrahlt zipien zu finden und zu testen.
Konkret heißt das: Wo die Stuttgar- werden. „Um solche Konstrukte aus An einer Antriebsform arbeiteten
ter Forscher grünes Licht auf die Ober- licht­aktiven Flüssigkristall-Elastome- die Forscher sogar, obwohl viele sie ei-
fläche strahlen, weitet sich der Zylinder. ren auch in einem Organismus einzu- gentlich für unmöglich hielten: jene
Verschwindet das Licht, so ziehen sich setzen, werden sie vielleicht eines Ta- der Jakobsmuschel. Diese schwimmt
diese Bereiche wieder zusammen. Mit- ges einmal an die Enden von Glas­fasern durchs Wasser, indem sie ihre beiden
hilfe eines komplexen Spiegelsystems gesetzt“, erzählt Fischer. Dann viel- Schalenhälften gleichförmig auf- und
führen die Stuttgarter Forscher daher in leicht weniger als künstliche Mikro- zuklappt. Nun sind Jakobsmuscheln ei-
ihren Versuchen ein Gitter hauchdün- schwimmer, sondern als künstliche nige Zentimeter groß, und in dieser Di-
ner grüner Lichtstreifen über den win- Muskeln, die am Ende eines Endo­skops mension funktioniert das tadellos. Je
zigen Zylinder. Mit den Lichtstreifen zum Beispiel weiche Roboterarme be- kleiner eine solche Muschel aber würde,

3 | 16 MaxPlanckForschung 57
MATERIAL & TECHNIK_Robotik

» Antriebstechniken für kleinste künstliche Schwimmer zu finden


ist eine Herausforderung für die Stuttgarter Forscher. Eine andere ist es,
die Mikroschwimmer auf möglichst einfache Art herzustellen.

desto mehr fiele die Reibung ins Ge- das Netzwerk aufbricht. Verharrt er da-
wicht. Das Wasser käme ihr immer zä- gegen, werden die Bindungen zwischen
her vor. Das gleichförmige Öffnen und den Molekülen sofort wieder geknüpft.
Schließen der Schalen höbe sich dann Das Scallop-Theorem lässt sich in sol-
unter dem Strich einfach auf – und eine chen Flüssigkeiten daher unterlaufen.
Mikromuschel käme im Wasser über- Das demonstrierte Fischers Team
haupt nicht vom Fleck. Diesen Zusam- erstmals 2014: Die Forscher konstruier-
menhang formulierte Edward Purcell in ten einen etwa 0,3 Millimeter großen
einer Regel, die – nach dem englischen muschelartigen Körper, in dem die zwei
Namen für die Jakobsmuschel – Scal- Schalen über ein Gelenk miteinander
lop-Theorem heißt. verbunden sind. An die Schalen hefte-
ten sie Mikromagnete. Setzten die Wis-
ANDERS ALS WASSER: senschaftler die Mikromuschel nun ei-
BIOLOGISCHE FLÜSSIGKEITEN nem äußeren Magnetfeld aus, klappten
die Schalen zu. Schalteten sie das Mag-
Diese Regel gilt nicht nur für das Auf- netfeld wieder ab, so öffnete eine Art
und Zuklappen zweier Muschelschalen, Rückstellmechanismus im Gelenk die
sondern ganz allgemein für spiegelsym- künstliche Muschel wieder.
metrische Bewegungen in extrem zäher „Entscheidend ist, dass wir die Scha-
Umgebung. Im Mikrokosmos der Natur len sehr viel schneller öffnen, als wir sie
finden sich daher ausschließlich asym- schließen“, erklärt Fischer. „Dieser zeit-
metrische Antriebstechniken – die ro- lich asymmetrische Bewegungszyklus

Grafik: Alejandro Posada/ MPI für Intelligente Systeme, Foto: Tian Qiu/ MPI für Intelligente Systeme
tierende Bakteriengeißel etwa oder die führt dazu, dass die umgebende Flüssig-
Bewegungen der Härchen auf einem keit beim Öffnen dünnflüssiger ist als
Wimperntierchen. während des langsamen Schließvor-
Trotzdem hatte sich Fischers Grup- gangs.“ Daher legt die Muschel beim
pe vorgenommen, Mikroschwimmer Öffnen der Schale eine größere Strecke
durch eine spiegelsymmetrische Moto- zurück als beim Schließen. Unter dem
Nach dem Vorbild der Jakobsmuschel:
rik anzutreiben, weil die entsprechen- Strich kommt sie also voran – aber nur
Das Team um Peer Fischer hat einen Mikro­ den Bewegungsapparate meist auf ein- in Flüssigkeiten, die sich wie etwa Ge-
schwimmer konstruiert, dessen beide facheren Mechanismen beruhen und lenkflüssigkeit verhalten.
Hälften durch ein Gelenk miteinander sich mit weniger Aufwand herstellen Antriebsprinzipien zu finden, die
verbunden und mit Magneten versehen
lassen. Eine Chance für einen symmet- kleinste künstliche Schwimmer nach
sind (oben). Indem die Forscher die beiden
Hälften in einem Magnetfeld auf- und risch arbeitenden Antrieb sahen die vorne bringen, ist die eine Herausforde-
zuklappen (unten), bewegen sie die Mikro­ Forscher, weil sich manche biologi- rung für die Stuttgarter Forscher. Eine
muschel durch biologische Flüssigkeiten. schen Flüssigkeiten anders verhalten als andere ist es, Mikroschwimmer wie die
etwa Wasser. „In Gelenkflüssigkeit zum winzige magnetgetriebene Muschel auf
Beispiel oder im Glaskörper des Auges möglichst einfache Art herzustellen.
ordnen sich Moleküle der Hyaluronsäu- Deren Schalen sollten einerseits mög-
re zu netzwerkartigen Strukturen an, lichst dünn sein, müssen andererseits
und genau das sorgt dafür, dass sich die aber auch robust genug sein, um das
Viskosität verändern kann“, erklärt Peer ständige Auf- und Zuklappen in einer
Fischer. Sobald sich ein Mikroschwim- vergleichsweise zähen Umgebung aus-
mer in diesen gelartigen Strukturen be- zuhalten. Als Material wählten die For-
wegt, nimmt die Viskosität ab, weil er scher für die Mikromuschel schließlich

58 MaxPlanckForschung 3 | 16
Staub stört: Im Reinraumlabor stellen die Forscher mithilfe der Fotolithografie Mikrostrukturen wie etwa eine Mikromuschel her.
Dabei müssen sie selbst kleinste Verunreinigungen aus der Luft vermeiden.

ein solides Siloxan-Polymer, aus dem


ein 3D-Drucker die winzige Struktur NANOBAUTEILE NACH MASS
aufbaute, einschließlich des Gelenks,
das gerade einmal 60 Mikrometer dünn Es ist nicht gerade trivial, im Bereich von Nanometern hochpräzise Bauteile wie
war. Das entspricht in etwa dem Durch- eine korkenzieherähnliche Nanoschraube zu fertigen. Die Stuttgarter Max-
messer eines menschlichen Haares. Planck-Forscher bauen solche Nanostrukturen Schicht für Schicht auf: Zunächst
Auch wenn es schon viel Präzision überziehen sie einen Silicium-Wafer mit einem dichten Raster von nur acht Na-
erforderte, die filigrane Muschelkopie nometer großen Goldpunkten. Den Wafer positionieren sie in einer Vakuumkam-
herzustellen, ungleich schwieriger war mer, in der sie die gewünschten Materialien verdampfen. Die Substanzen flie-
es, das bisher kleinste Vehikel der Stutt- gen nun zu dem Wafer, den die Forscher so positionieren, dass die Teilchen nicht
garter Flotte zu fertigen. Dabei handelt die Wafer-Oberfläche, sondern nur die Golderhebungen treffen können und sich
es sich um ein 400 Nanometer langes dort abscheiden. (Ganz so wie eine schräg stehende Abendsonne in den Bergen
Schräubchen aus Quarzglas und etwas nur noch die Bergrücken und -gipfel anstrahlt, nicht aber die Talsohlen.) Auf die-
Nickel. Der korkenzieherartig gewunde- se Weise wachsen feine, sauber voneinander getrennte Strukturen.
ne Strang ist gerade einmal 70 Nanome- Indem die Forscher den Wafer während des Abscheidevorgangs in verschie-
ter dick – und damit fast 1000 Mal dün- dene Richtungen drehen – sie müssen nur darauf achten, dass die verdampften
ner als ein menschliches Haar. Die Substanzen nicht auf die Wafer-Oberfläche gelangen –, können sie auch kom-
diffizile Produktion gelang den For- plexe Geometrien erzeugen. So entsteht die korkenzieherähnliche Nanoschrau-
schern schließlich nur dank eines Ver- be, indem sie den Wafer kontinuierlich drehen. Wenn sie den Wafer abrupt kip-
fahrens, das sie selbst entwickelt hatten pen, knickt die aufgedampfte Struktur ab, sodass Zickzackformen möglich
(siehe Kasten rechts). werden. Da die Strukturen Atomlage für Atomlage wachsen, können die Stutt-
Foto: Wolfram Scheible

Dass die Stuttgarter Forscher über- garter Forscher den Prozess jederzeit unterbrechen und mit einem anderen Ma-
haupt an Vehikeln tüfteln, die kleiner als terial fortsetzen. Auf diese Weise gelingt es ihnen beispielsweise, magnetisches
jedes Bakterium sind, hat einen einfa- Nickel in eine Nanostruktur einzubauen, die ansonsten aus Siliciumdioxid oder
chen Grund: Sie suchen ein Schwimm­ Titandioxid besteht.
gerät, das klein genug ist, um durch das

3 | 16 MaxPlanckForschung 59
MATERIAL & TECHNIK_Robotik

» Zum ersten Mal ist es gelungen, einen Mikroschwimmer durch


ein zähes biologisches Medium zu manövrieren.

Wasser und Hyaluronsäure, schalteten sauren Milieu des Magens lokal in die
das Magnetfeld ein und – freuten sich. Höhe treibt. Dabei bricht das gelartige
Im Mikroskop konnten sie verfolgen, Netzwerk der Moleküle in der Magen-
wie souverän sich das Schräubchen sei- schleimhaut auf, und die Bakterien
nen Weg bahnte. Dass dies wirklich an können hindurchschwimmen.
der Winzigkeit des Vehikels lag, bewies Diesen Effekt ahmte Fischers Team
der Vergleich mit einer Schraube im nach und konstruierte dafür eine Glas-
Mikrometermaßstab. Diese saß schon schraube – ähnlich der schon erwähn-
nach wenigen Umdrehungen unver- ten Nanoschraube, nur größer. Das Ge-
kennbar fest. winde beschichteten die Forscher mit
Urease. Auch dieser Schwimmer enthielt
EIN U-BOOT MIT EINGEBAUTEM etwas Nickel, um ihn per Magnetfeld
SCHLEIMLÖSER rotieren lassen zu können. Diesen en-
zymbeschichteten Mikroroboter testete
Durch die Maschen zu schlüpfen, ist das Team schließlich in einem Milieu
200 nm eine Möglichkeit, ein eng geknüpftes aus Schweinemagenschleimhaut – und
Molekülnetzwerk zu durchdringen. Die konnte ihn in der Tat hindurchfahren.
Stuttgarter hatten aber noch eine weite- Auch dies eine Premiere: „Zum ersten
Ein Öffner für die Magenschleimhaut: Die re Idee, wie das gelingen könnte. Ist es Mal ist es damit gelungen, einen Mikro­
korkenzieherförmige Mikroschraube aus
möglich, die gelartige Struktur einfach schwimmer durch ein zähes biologi-
Quarzglas beschichten die Stuttgarter Forscher
mit Enzymen, mit deren Hilfe die Schleimhaut chemisch aufzulösen, sie also quasi zu sches Medium zu manövrieren“, sagt
lokal verflüssigt wird. So kann das Vehikel verflüssigen? Das könnte zum Beispiel Peer Fischer sichtlich erfreut.
durch das gelartige Netzwerk schwimmen. interessant sein, um mit einem schwim- Das Beispiel der Urease zeigt, dass
menden Vehikel Medikamente durch auch der Griff in die chemische Trick-
die Schleimhaut des Magens, des Darms kiste Möglichkeiten für die Bewegung
dreidimensionale Hyaluronsäure-Netz- oder der Lunge direkt zu Krankheitsher- von Mikroschwimmern eröffnet. Da-
werk zu schwimmen, ohne dass dieses den zu transportieren. von wollen die Stuttgarter in Zukunft
aufgebrochen werden muss. „So ein Um ein winziges U-Boot mit einge- noch häufiger Gebrauch machen. So
Schwimmer muss natürlich kleiner sein bautem Schleimlöser zu entwerfen, half möchten sie Minivehikel entwickeln,
als die molekulare Maschenweite dieser den Forschern einmal mehr ein Blick in die ihren Vortrieb autonom erzeugen.
Netzwerke, und die liegt bei wenigen die Natur. Den entscheidenden Wink Bei allen bisherigen Projekten mussten
Hundert Nanometern“, so Fischer. lieferte nämlich ein Bakterium namens die Forscher noch von außen einwir-
Für ihr schraubenförmiges Design Helicobacter pylori. Wer davon schon ken, um die U-Boote in Bewegung zu
bedienten sich die Forscher einmal einmal gehört hat, verbindet damit si- versetzen, sei es mit Magnetfeldern oder
Foto: Debora Schamel/MPI für Intelligente Systeme

mehr einer Vorlage aus der Natur, näm- cher nichts Gutes. Denn seit etwa 25 mit Licht. „Wenn wir unsere Nanoro-
lich der Bakteriengeißel. Diese funktio- Jahren ist bekannt, dass H. pylori in der boter mit einem chemischen Brenn-
niert so ähnlich wie ein Korkenzieher, menschlichen Magenwand Entzündun- stoff ausrüsten könnten, dann hätten
nur dass sich die Mikroben damit durch gen und Geschwüre hervorrufen kann. sie den Motor sozusagen mit an Bord“,
Flüssigkeiten statt durch Kork bohren. Es gelingt ihm also, sich einen Weg sagt Peer Fischer.
Genau das kann auch die Stuttgarter durch die Magenschleimhaut zu bah- Einen ersten Ansatz gibt es dafür be-
Nanoschraube. Für die notwendige Ro- nen, und zwar indem es ein Enzym na- reits. Und zwar in Form einer Mikro­
tation sorgt wiederum ein von außen mens Urease absondert. Dieses zerlegt kugel, die zwei Gesichter trägt. Auf der
angelegtes Magnetfeld, das auf das Ni- den in der Magenflüssigkeit vorkom- einen Hälfte ist die Oberfläche mit ei-
ckel in der Schraube wirkt. menden Harnstoff. Dabei wird Ammo- nem Katalysator bestückt, auf der ande-
Ihren Nanoschwimmer setzten die niak freigesetzt – eine basische Sub­ ren nicht. In einer Flüssigkeit mit einer
Forscher in eine Modellflüssigkeit aus stanz, die den pH-Wert im ansonsten Substanz, bei welcher der Katalysator

60 MaxPlanckForschung 3 | 16
Am Steuer der Nanoproduktion: Indem die Forscher einen Silicium-Wafer in der Vakuumanlage kippen und drehen, wenn sie Material
aufdampfen, erzeugen sie Nanostrukturen in Form von Schrauben oder Zickzacklinien. Peer Fischer hält den Manipulator, mit dem
sich der Wafer justieren lässt.

eine chemische Reaktion auslöst, treibt


dieser janusköpfige Partikel sich selbst
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
an. Denn in der Umgebung der Kugel-
hälfte mit dem Katalysator verändert l Mikro- und Nanoroboter, die sich durch den Körper manövrieren lassen und
Wirkstoffe zu Krankheitsherden bringen, könnten medizinische Therapien
die chemische Reaktion die Konzentra-
effizienter machen.
tionen der daran beteiligten Substan-
Stuttgarter Max-Planck-Forscher entwerfen Antriebe für solche winzigen
zen. Im Vergleich zur Umgebung der
l

Vehikel und entwickeln Methoden, um sie herzustellen.


anderen Kugelhälfte ergibt sich also ein
l Dabei ahmen sie Mechanismen aus der Natur nach – etwa die konzertierte
Konzentrationsunterschied. Bewe­gung der Härchen eines Wimperntierchens oder die schleimlösende
„Wie bei der Osmose will das System Wirkung von Helicobacter pylori – und setzen sie mit den technisch möglichen
diesen Konzentrationsunterschied aus- Mitteln um.
gleichen“, erläutert Peer Fischer. Das
heißt, die Substanzen bewegen sich an
der Mikrokugel entlang, erzeugen dabei GLOSSAR
eine Kraft und schieben das Kügelchen
Flüssigkristall-Elastomer: Ein Kunststoff, der sich elastisch verformen lässt und dabei
parallel zum Konzentrationsgefälle vor- die Struktur eines Flüssigkristalls aufweist. Flüssigkristalle sind zwar flüssig, ihre
wärts. Fischer und seine Mitarbeiter wür- Moleküle bilden jedoch keine ungeordnete Struktur wie Flüssigkeiten, sondern ordnen
den dieses Prinzip nun gerne auf biolo- sich zumindest in einer Dimension mit einer bevorzugten Orientierung an, was sie
gische Umgebungen übertragen und Kristallen ähneln lässt.

den bislang metallischen Katalysator pH-Wert: Ein Maß dafür, wie sauer oder basisch eine Flüssigkeit ist. In saurem Milieu
ist der pH-Wert niedrig, in basischem hoch.
durch geeignete Enzyme ersetzen. Am
Ende könnte dann eine Art biologisches Scallop-Theorem: Dieser Regel zufolge lassen sich sehr kleine Schwimmkörper in
den meisten Flüssigkeiten wie etwa in Wasser nicht durch symmetrische Bewegungen
Chemotaxi mit eigenem Antrieb ste-
Foto: Alejandro Posada

antreiben. Sie können sich also nicht wie zum Beispiel eine Jakobsmuschel (englisch
hen. Und wenn solch ein Gefährt künf- scallop) fortbewegen. Denn bei Nano- und Mikroschwimmern ist der Effekt der
tig einmal in den Stuttgarter Labors un- Reibung viel größer als die Wirkung der Trägheit, sodass symmetrische Bewegungen
terwegs ist, wird das Reinigungspersonal den Schwimmer genauso weit vor- wie zurückbewegen. Allerdings lässt sich diese
Regel in gelartigen biologischen Flüssigkeiten unterlaufen.
mitunter wieder draußen bleiben müs-
sen. Sicher ist sicher.

3 | 16 MaxPlanckForschung 61
Heiße Luft im Orient
Der Nahe Osten und Nordafrika werden derzeit von bewaffneten Konflikten und
politischen Krisen erschüttert. Doch selbst wenn diese gelöst würden, dürften
viele Menschen dort bald gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen. Jos Lelieveld,
Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, und seine Mitarbeiter
prognostizieren der Region einen drastischen Klimawandel und eine zunehmende
Verschmutzung der Luft etwa durch Feinstaub.

TEXT PETER HERGERSBERG

H
itze und Trockenheit: Fa- Dann erzählte sie wütend davon, wie „Klimatische Faktoren sind im Syrien-
ten sieht darin auch einen die Regierung ihre Bitten um Hilfe ig- Konflikt vermutlich nicht die wich-
Grund, warum es in Syrien noriert habe. Ihrer Familie blieb wie tigsten Aspekte“, sagt Jos Lelieveld, Di-
zu Demonstrationen kam, unzähligen anderen Landwirten nichts rektor am Max-Planck-Institut für
die rasch zum Bürgerkrieg anderes übrig, als in eine Stadt zu zie- Chemie in Mainz. „Aber die jahrelange
eskalierten. Die syrische Bäuerin schil- hen und dort Arbeit zu suchen. Rund Dürre und die Ernteausfälle haben
derte der New York Times 2013, was in eine Million Menschen verließen wäh- auch zum Unmut der Menschen beige-
den Jahren vor den Protesten gesche- rend der Dürre ihre Heimat. Vor allem tragen, der zu dem schrecklichen Bür-
hen war: Auf ihrem Ackerland hätten junge Männer, die studieren oder hei- gerkrieg führte.“ US-amerikanische Kli-
sie und ihr Mann Getreide und Gemü- raten wollten, seien davon hart getrof- maforscher kamen im Fachmagazin
se angebaut und dank der Regenfälle fen worden. Auch die Dürre und die PNAS zum gleichen Schluss – bei aller
immer gute Ernten eingeholt. „Doch Arbeitslosigkeit hätten die Menschen Vorsicht, mit der die Ursachen von
dann kam es plötzlich zu der Dürre“, folglich zur Revolution getrieben: „Als Bürgerkriegen analysiert werden müss-
sagte Faten, die nicht mit ihrem vollen dann die ersten ‚Allahu akbar‘-Rufe er- ten. So wurde der Krieg in Syrien, ob-
Namen zitiert werden wollte. „Das tönten, haben wir uns alle der Revolu- wohl er vor allem politische, ethnische
Land wurde zu einer Wüste.“ tion angeschlossen – sofort.“ und religiöse Ursachen hat, zum Me-

62 MaxPlanckForschung 3 | 16
UMWELT & KLIMA_Hitzeextreme

Ein Grund zu gehen: Zunehmende


Hitze und Sandstürme könnten
Menschen in vielen Regionen des
Nahen Ostens und Nordafrikas
zwingen, ihre Heimat zu verlassen.

netekel für das Unheil, welches der Kli- Lelieveld. Und das ist erst der Anfang. dort steigen werden. Diese Vorhersagen
mawandel gerade in Ländern des Na- Erschreckend deutlich machte das be- untermauerten und erweiterten sie
hen Ostens und des nördlichen Afrika reits eine Studie, die der Mainzer kürzlich für die gesamte Region, die
nach sich ziehen kann. Wenn die Erd­ Max-Planck-Forscher im Jahr 2013 ge- sich gut mit dem etwas angestaubten
erwärmung dem Leben der Menschen meinsam mit Forschern des Zypern-In- Begriff des Orients umreißen lässt. Sie
die Grundlage entzieht, sind bewaffne- stituts in Nikosia, wo er auch eine Pro- simulierten, welche Temperaturen dort
te Konflikte, Flucht und Vertreibung fessur innehat, veröffentlichte. für die Zeiträume von 2046 bis 2065
beinahe unausweichlich. und von 2081 bis 2100 zu erwarten
Die Anzeichen, dass es so kommen 26 KLIMAMODELLE LIEFERTEN sind, und zwar einmal für die Sommer-
wird, mehren sich. Denn in den letz- DIESELBEN ERGEBNISSE monate Juni, Juli und August und ein-
ten Jahren wurden im Nahen Osten re- mal für die Monate Dezember, Januar
Foto: mauritius images

gelmäßig Hitzerekorde gebrochen. „Im Darin berechneten die Forscher mit ei- und Februar.
Irak hat man in diesem Sommer alle nem regionalen Klimamodell für 18 Alle 26 Klimamodelle, mit denen
Beschäftigten des öffentlichen Diens- Städte des östlichen Mittelmeerraums die Forscher rechneten und auf deren
tes nach Hause geschickt, weil es ein- und des Nahen Ostens – von Athen bis Vorhersagen auch der Bericht des Welt-
fach zu heiß zum Arbeiten war“, sagt Riad –, wie die Extremtemperaturen klimarates beruht, lieferten dabei die-

3 | 16 MaxPlanckForschung 63
UMWELT & KLIMA_Hitzeextreme

Links Jos Lelieveld möchte mit seiner For­


schung die wissenschaftliche Basis legen,
um den Klimawandel noch einzudämmen
oder zumindest seine Folgen abzumildern.
Rechts Im Nahen Osten und in Nordafrika
gibt es wie etwa in Kuwait (oben) heute
schon Sandstürme und heiße Tage. Bis zur
Mitte des Jahrhunderts werden die durch­
schnittlichen Temperaturen im Winter
um etwa 2,5 Grad Celsius (unten links) und im
Sommer um etwa fünf Grad Celsius steigen
(unten rechts), wenn die weltweiten Treib­
hausgasemissionen weiter zunehmen wie
bisher. In den punktierten Gebieten stimmen
die Modellrechnungen fast vollständig
überein; die Kreuzschraffur steht für eine
weit­gehende Übereinstimmung.

selbe Erkenntnis: Weiten Teilen des Na- Was das bedeutet, kommt im nüchter- Außerdem werden sich Hitzewellen
hen Ostens und Nordafrikas steht eine nen Wert der durchschnittlichen Er- häufen. Wenn die Menschheit ihre
extrem heiße Zukunft bevor. Demnach wärmung kaum zum Ausdruck. Um das Kohlendioxidemissionen nicht dros-
wirkt sich der Klimawandel von Marok- Jahr 2000 erreichte die Temperatur selt, dann werden Perioden extremer
ko bis Iran und von der Türkei bis nach tagsüber an manchen Tagen immerhin Hitze zehnmal so häufig auftreten wie
Saudi-Arabien ebenso wie im Süden Eu- schon 43 Grad, fiel nachts aber immer zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Diese
ropas am stärksten in den ohnehin sehr unter 30 Grad. Diese Temperaturen mu- Phasen werden außerdem auch deut-
heißen Sommermonaten Juni, Juli und ten geradezu mild an im Vergleich zu lich länger andauern. „Die Menschen
August aus. Darin unterscheidet sich dem, was kommen wird. Denn die Tem- im Nahen Osten und im nördlichen
diese Region von vielen anderen Teilen peraturen werden an besonders heißen Afrika müssen dann gegen Ende des
der Welt, in denen sich die Erderwär- Tagen schon in der Mitte des Jahrhun- 21. Jahrhunderts mit etwa 200 unge-
mung im Winter am deutlichsten be- derts tagsüber auf etwa 47 Grad steigen wöhnlich heißen Tagen pro Jahr rech-
merkbar macht. und nachts nicht unter 30 Grad sinken. nen“, erklärt Panos Hadjinicolaou, ein
In einigen Gegenden werden die Klimaforscher des Zypern-Instituts.
durchschnittlichen Sommertemperatu- 200 UNGEWÖHNLICH HEISSE Und selbst wenn von 2040 an welt-
ren bis zum Ende des Jahrhunderts den TAGE PRO JAHR weit weniger Treibhaus­gase freigesetzt
Rechnungen zufolge um etwa vier Grad werden, werden Hitzewellen um die
Celsius steigen – selbst wenn sich die Schafft es die Menschheit, die Kohlen- Mitte dieses Jahrhunderts den ganzen
globale Durchschnittstemperatur, wie dioxidemissionen in der zweiten Hälf- Sommer über anhalten.
es sich die Staatengemeinschaft auf den te des Jahrhunderts zu senken, werden In den Jahren zwischen 1986 und
jüngsten Weltklimagipfeln zum Ziel ge- die Extremtemperaturen ab 2050 etwa 2005 haben extrem heiße Temperatu-
setzt hat, lediglich um zwei Grad er- auf diesem Niveau verharren. Wenn die ren die Menschen noch nicht länger
höht. Setzt die Menschheit Treibhaus- Menschen jedoch weiter ungebremst als ungefähr zwei Wochen am Stück
Foto: Thomas Hartmann

gase weiter wie bisher frei, dann wird Treib­hausgase in die Atmosphäre bla- gequält. Allerdings belegen meteorolo-
die Durchschnittstemperatur zwischen sen, wird es gegen Ende des Jahrhun- gische Daten, dass sich die Anzahl der
2081 und 2100 sogar um mehr als sechs derts an den schlimmsten Tagen mit- extrem heißen Tage in den vergange-
Grad höher liegen als um die zurücklie- tags sogar bis zu 50 Grad heiß sein und nen Jahrzehnten bereits mehr als ver-
gende Jahrtausendwende. auch nachts noch über 34 Grad. doppelt hat.

64 MaxPlanckForschung 3 | 16
Winter Mitte des Jahrhunderts Sommer Mitte des Jahrhunderts
den US-Forscher in einigen Gebieten
40N
Tageshöchsttemperaturen von über 50
Grad Celsius erreicht. Und das ist nicht
20N
nur eine Prognose für die ferne Zu-
kunft. So wurde etwa in Kuwait bereits
im Sommer 2016 eine Rekordtempera-
0 tur von 54 Grad gemessen.
0 30E 60E 0 30E 60E
Jos Lelieveld ist sich deshalb sicher:
„Der Klimawandel wird die Lebensum-
Erwärmung (°C) stände im Nahen Osten und in Nord-
Foto: Molly John /CC-BY-NC-ND 2.0; Grafik: Climatic Change / MPI für Chemie

2,5 3 3,5 4 4,5 5 5,5 6


afrika weiter deutlich verschlechtern.
Nun sind Prognosen immer mit Unge- nicht mehr auszuhalten sind, ist nicht Lang andauernde Hitzewellen und
wissheiten verbunden. Bei den Vorher- nur eine Sache des persönlichen Emp- Sandstürme können einige Gebiete un-
sagen, die das Forscherteam für den Na- findens, sondern auch der Physik. Wenn bewohnbar machen, was sicher zum
hen Osten und Nordafrika getroffen die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit Migrationsdruck beitragen wird.“
hat, sind die Unsicherheiten jedoch nämlich zu stark ansteigen, kann der Durch die zunehmende Hitze und
sehr klein. Denn die Forscher testeten Mensch seinen Körper allein mit der Trockenheit werden heftige Winde künf-
die Zuverlässigkeit der Modellrechnun- Verdunstungskühlung seines Schweißes tig mehr Staub aufwirbeln. Und das setzt
gen, indem sie für den Nahen Osten nicht mehr auf 37 Grad temperieren. Menschen nicht nur dann einer steigen-
und für Nordafrika den Temperaturver- Wie zwei Forscher der Loyola Mary- den Lebensgefahr aus, wenn sie in einen
lauf auch für die Zeit von 1986 bis 2005 mount University in Los Angeles und Sand- und Staubsturm hineingeraten.
simulierten. Diesen reproduzierten die des MIT in Cambridge kürzlich ausge- Die Stürme sind auch der wichtigste
Modelle ziemlich genau. rechnet haben, wird dies gegen Ende Grund, warum die Konzentrationen an
Auch die Entwicklung, dass Men- des Jahrhunderts am Persischen Golf Feinstaub in Saudi-Arabien, Irak und Sy-
schen bei extremen Temperaturen ihre immer häufiger der Fall sein. Denn in rien bereits in den vergangenen Jahren
Heimat verlassen müssen, ist natürlich der Nähe des Wassers ist die Luftfeuch- stark gestiegen sind: zwischen 2000 und
nicht mit absoluter Sicherheit vorher- tigkeit hoch, und zudem werden dort 2015 um 70 Prozent. Dies hat ein For-
zusagen. Doch ab wann Temperaturen auch nach den Berechnungen der bei- scherteam, an dem neben Wissenschaft-

3 | 16 MaxPlanckForschung 65
UMWELT & KLIMA_Hitzeextreme

Zeichen der Krise: Während die Stickstoffdioxid-Emissionen von 2005 bis 2010 fast im ganzen Nahen Osten stiegen (links), sind sie
zwischen 2010 und 2014 in vielen Regionen gesunken (rechts). Die Farben stehen für die Änderungen der Konzentration an Stickstoff­
dioxid während des betrachteten Zeitraums – gelb und rot bedeuten eine Erhöhung, blau eine Erniedrigung der Konzentration.

lern des Mainzer Max-Planck-Instituts Jordanien, Ägypten, Israel, dem Libanon stieg die Stickoxidbelastung an den Or-
wieder Forscher des Zypern-Instituts, und Saudi-Arabien. „Auf diese Weise ten stark, an denen die Vertriebenen
aber auch der saudi-arabischen König- wachsen in diesen Ländern auch das Zuflucht suchten. „Es ist sehr tragisch,
Abdullah-Universität beteiligt waren, Wissen und das Bewusstsein dafür, wie dass die beobachteten Negativtrends
anhand von Satellitendaten nachgewie- gravierend die Veränderungen und ihre der Stickoxidemissionen zum Teil mit
sen. Feinstaub ist einer der garstigsten Folgen sind“, sagt Lelieveld. humanitären Katastrophen einherge-
Luftschadstoffe, weil er Atemwegs- und hen“, sagt Jos Lelieveld. Nur in weni-
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie WENIGER STICKOXIDE, WO gen Ausnahmen wie etwa in Israel und
Lungenkrebs verursacht. MENSCHEN FLIEHEN MUSSTEN am Persischen Golf führten strengere
Die Zone vom südlichen und östli- Umweltgesetze zu einer Reduktion der
chen Mittelmeer bis hin zur Golfregion So werteten die Mitarbeiter des Main- Stickoxide in der Luft.
wird durch Hitze, Trockenheit und eine zer Max-Planck-Instituts gemeinsam Jos Lelieveld möchte mit seiner Ar-
Luft, die das Atmen zur Gesundheitsge- mit einem Forscher der König-Abdul- beit dazu beitragen, dass auch andere
fahr macht, zu einem Brennpunkt des lah-Universität Satellitendaten aus, um Regierungen mit Umweltpolitik auf
Klimawandels. Das treibt Jos Lelieveld herauszufinden, wie sich die Stickoxid- die langfristigen Bedrohungen durch
um. „Ich möchte mit meiner Forschung konzentrationen im Nahen Osten zwi- Luftverschmutzung und Klimawandel
die wissenschaftliche Basis für wichtige schen 2005 und 2014 entwickelten. Bis reagieren können. Er denkt dabei an
Entscheidungen legen“, sagt der Max- zum Jahr 2010 nahmen die Stickoxid- eine Zukunft, in der die akuten Krisen
Planck-Direktor. Nur wenn die Wissen- emissionen demnach fast überall in der und Konflikte ein Ende gefunden ha-
schaftler die Veränderungen gründlich Region zu. ben: „Natürlich stehen in einigen Län-
belegt und verstanden haben, können Dass die Konzentrationen danach in dern der Region andere Probleme im
sie die Informationen liefern, damit Po- vielen Gebieten sanken, war aber nur Moment höher auf der Tagesordnung.“
litiker den Klimawandel noch eindäm- selten ein gutes Zeichen. Das geschah Hoffentlich bleibt das nicht mehr lan-
men oder seine Folgen zumindest ab- nämlich vor allem dort, wo bewaffnete ge so – auch damit es dann noch Mög-
mildern können. Konflikte und politische Krisen das lichkeiten gibt, der sengenden Hitze
Mit seiner nebenamtlichen Position Wirtschaftsleben abwürgten und Men- und einer krank machenden Luft et-
am Zypern-Institut hat Jos Lelieveld ein schen fliehen mussten. Im Gegenzug was entgegenzusetzen.
Standbein in einer Gegend, in der die
Erd­erwärmung eine ganz heiße Angele-
Grafik: Science Advances 2015 / MPI für Chemie

genheit ist. „Zypern gehört zwar zur Eu-


ropäischen Union, ist dem Nahen Osten AUF DEN PUNKT GEBRACHT
aber viel näher als Europa“, sagt der Wis- l Der Klimawandel bewirkt im Nahen Osten und in Nordafrika bereits heute
senschaftler. Den Standort nutzte Lelie- längere Hitzeperioden und höhere Extremtemperaturen. Diese Effekte werden
veld in den vergangenen Jahren, um mit sich bis zur Mitte des Jahrhunderts verstärken.
seinen Kollegen in Nikosia immer wie- l Durch den Klimawandel steigen auch die Ozonwerte und die Feinstaub­-
der Untersuchungen zum Klimawandel ­­konzen­trationen.
und zur Luftbelastung in der Region an- l Extreme Hitzewellen und zunehmende Luftbelastung könnten dazu führen,
zuschieben. Dabei kooperieren die For- dass Menschen in vielen Gegenden des Nahen Ostens und Nordafrikas nicht
scher regelmäßig mit Kollegen aus an- mehr leben können.
deren betroffenen Ländern: etwa aus

66 MaxPlanckForschung 3 | 16
„ Die Politik muss
in Anpassung investieren“
Walter Kälin ist emeritierter Professor für Warum?
öffentliches Recht der Universität Bern. Er Diese Menschen sind nicht Flüchtlinge im
engagiert sich in Fragen der Menschenrech­ Rechtssinn, weil es am Element der Verfol­
te vor allem im Zusammenhang mit Migra­ gung und Gefährdung durch menschliche
tion und Flucht. Unter anderem wirkte er Gewalt fehlt. Zudem ist es ein Begriff, den
als Repräsentant des UN-Generalsekretärs auch viele Betroffene ablehnen. Ich habe
für Menschenrechte intern Vertriebener kürzlich an Konsultationen auf der Pazifik­
und als Vertreter der Präsidentschaft der insel Kiribati teilgenommen. Dort hat uns
Nansen-Initiative zu grenzüberschreiten­ eine Vertreterin einer Nichtregierungsor­
der Katastrophenflucht. Wir sprachen mit ganisation sehr deutlich gesagt: „Wir wol­
ihm über den Einfluss von Klimaverände­ len nicht Flüchtlinge werden! Flüchtlinge
rungen auf Migration und die Möglichkei­ sind ausgegrenzt und auf humanitäre Hil­
ten, Menschen vor Klimaflucht zu bewahren. fe angewiesen. Auch wenn wir unsere In­
seln verlassen müssen, wollen wir wählen
Herr Professor Kälin, welche Rolle können, wann und wohin wir gehen.“
spielen Klima­v eränderungen heute als Statt von Klimaflüchtlingen sprechen wir Walter Kälin
Migrationsgrund? von Disaster Displaced Persons …
Walter Kälin: Wir wissen, dass seit dem
Jahr 2008 jährlich etwa 22 Millionen Men­ … von Personen, die durch Katastrophen che nicht direkt zu dauerhafter Migration.
schen wegen plötzlicher Wetterereignisse vertrieben werden. Worin genau liegt der Entscheidend ist, wie vulnerabel, also wie
wie Stürmen oder Überschwemmungen Unterschied in der Begrifflichkeit? verletzlich, Menschen gegenüber Klima­
zumindest vorübergehend fliehen muss­ Der Begriff der Katastrophe berücksichtigt veränderungen sind und wie gut sie sich
ten. Wir wissen aber nicht, wie viele davon den Faktor Mensch. Denn eine Naturkata­ daran anpassen können. In den reichen
im Ausland Zuflucht suchen. Auch die Zahl strophe ist definiert als ein Ereignis mit Golfstaaten, in denen sich das Leben schon
jener, die wegen schleichender Umwelt­ Schäden, die von einem Staat oder der Be­ heute größtenteils in gekühlten Räumen
veränderungen wie Dürren oder Anstei­ völkerung nicht mehr bewältigt werden abspielt, werden sich die Menschen auf
gen des Meeresspiegels zu uns kommen, können. Flucht in solchen Situationen ist Hitzewellen viel eher einstellen können
ist nicht bekannt. Denn keiner wird eine immer multikausal und hängt damit auch als eine arme Bevölkerung in entlegenen
Dürre als Asylgrund angeben, weil das gel­ von menschlichen Faktoren ab. Regionen, wo Hitze und Trockenheit zu
tende Recht nur Kriegsflüchtlingen und Gesundheitsschäden und Problemen in
politisch Verfolgten Schutz gewährt. Was bedeutet das für die Frage, ob der der Landwirtschaft führen. Je vulnerabler
Klimawandel und extreme Hitzewellen in Menschen sind, desto eher werden sie
Müssen wir in den kommenden Jahrzehnten Nordafrika und im Nahen Osten dort zu weggehen.
mit deutlich mehr Klimaflüchtlingen aus mehr Migration führen?
Nordafrika und dem Nahen Osten rechnen, Die Zahl der Katastrophenvertriebenen Arme Menschen werden von Klimaverände-
weil es dort zu heiß wird? wird zwar sicherlich zunehmen, vor allem rungen also zur Migration gezwungen?
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass wenn wir nichts tun, genaue Prognosen Auch hier muss man differenzieren. Um
Foto: privat

der Begriff Klimaflüchtling in den Sozial- sind aber schwierig. Denn die Gründe für wegzugehen, braucht es auch gewisse
und Rechtswissenschaften inzwischen Wanderungsbewegungen sind sehr viel­ Mittel, die gerade den Ärmsten der Armen
kaum noch verwendet wird. fältig. Klimaveränderungen führen als sol­ fehlen. Sie bleiben zurück. >

3 | 16 MaxPlanckForschung 67
Magere Jahre: Zwischen 2007 und
2010 herrschte in Syrien eine Dürre,
die das Leben der Landwirte extrem
erschwerte. Etwa eine Million von
ihnen gaben ihre Betriebe schließlich
auf und zogen in Städte.

Was können die Länder etwa in Nordafrika Aber all das ist doch nur bis zu einem hen. Das können Monate oder Jahre sein.
oder im Nahen Osten und die Weltgemein- gewissen Grad möglich. Dafür müssen entsprechende Programme
schaft tun, um die Menschen vor den Folgen Das ist sicher richtig. Daher muss auch Mi­ aufgelegt werden. Auch für Menschen, die
des Klimawandels zu schützen? gration eine Anpassungsmaßnahme sein. ihre Heimat dauerhaft verlassen müssen.
Wenn Menschen desto eher migrieren, je Wir brauchen legale Migrationsmöglich­
vulnerabler sie sind, gibt uns das auch die keiten. Längerfristig wird Menschen von Ist es sinnvoll, für diese Menschen ähnliche
Chance zur Intervention. Wir können die tief liegenden Pazifikinseln als Folge der globale Regelungen zu schaffen, wie sie
Vulnerabilität verringern und die Anpas­ ansteigenden Meeresspiegel nur die per­ die Genfer Flüchtlingskonvention für
sungsfähigkeit der Menschen verbessern. manente Auswanderung oder Umsiedlung Menschen getroffen hat, die vor bewaffneten
Ich appelliere an die Politik, in Anpassung bleiben. Bereits heute erteilt etwa Austra­ Konflikten fliehen?
zu investieren. Da kann viel gemacht werden. lien solchen Menschen temporäre Arbeits­ Ich halte eine globale Konvention für nicht
bewilligungen, damit ihre Familien mit realistisch. Es ist auch schwierig, Regelun­
Was genau? dem verdienten Geld besser mit den Fol­ gen zu finden, die gleichzeitig für den Pa­
Für stark steigende Hitze gibt es noch kei­ gen des Klimawandels umgehen können. zifik und Nordafrika sinnvoll sind. 50 Staa­
ne ausgefeilten Pläne, aber es ist denkbar, Die Migration kann also auch in zirkulärer ten haben aber schon Regelungen, nach
die Häuser so zu verändern, dass es in ih­ Form stattfinden … denen sie Menschen nach großen Kata­
nen kühl bleibt. Und die Sonnenenergie, strophen in ihrer Nachbarschaft aufneh­
die es in den betroffenen Regionen reich­ Das heißt? men können. Es wäre wichtig, diese Re­
Foto: mauritius images

lich gibt, ließe sich für die Klimatisierung Von zirkulärer Migration spricht man, gelungen zu harmonisieren, um überregi­
nutzen. Mit veränderten Bewässerungs­ wenn Menschen für eine begrenzte Zeit mi­ onale Maßnahmen ergreifen zu können.
methoden und trockenresistenteren Pflan­ grieren, um den Folgen einer Naturkata­ Längerfristig kann man darauf aufbauen.
zen könnte sich die Landwirtschaft auch strophe wie etwa eines Sturms, einer Über­
auf zunehmende Dürren einstellen. schwemmung oder einer Dürre zu entge­ Interview: Peter Hergersberg

68 MaxPlanckForschung 3 | 16
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Mauritius

Ein Meer von


Verbindungen
Schiffe waren lange Zeit die schnellsten Verkehrsmittel, und sie konnten Menschen und
Güter in großer Zahl transportieren. So wurden Meere zu einem Kontakt- und Handelsraum
für unterschiedliche Nationen. Hafenstädte dienen noch heute als Knotenpunkte und
bilden Schmelztiegel verschiedener Kulturen. Am Beispiel des Indischen Ozeans erforschen
Burkhard Schnepel und sein Team am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung,
wie sich über das Wasser hinweg vielfältige Netzwerke entwickelt haben.

70 MaxPlanckForschung 3 | 16
KULTUR & GESELLSCHAFT_Vernetzung

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TEXT TINA HEIDBORN

W
asser auf rund 70 Mil­ Aufgrund der regelmäßigen Monsun­
lionen Quadratkilo­ winde – nach dem Muster Südwest-Mon­
metern, annähernd sun im Sommer, Nordost-Monsun im
15 Prozent der Erd­ Winter – war der Indische Ozean schon
oberfläche: Der Indi­ im Zeitalter der Segelschifffahrt gut navi­
sche Ozean verbindet im Süden das afri­ gierbar. Man kann ihn, historisch und
kanische Kap der Guten Hoffnung und ethnologisch betrachtet, als einen in der
Perth an der australischen Westküste mit Geschichte geschaffenen Kontakt- und
dem pakistanischen Karatschi und Kal­ Handelsraum auffassen, als „maritime
kutta, Indien, im Norden.Dazwischen Seidenstraße“. Als die Europäer ab dem
Inseln und Inselgruppen in der Weite 16. Jahrhundert verstärkt dort aufkreuz­
des drittgrößten Ozeans der Welt. Es ist ten, waren diese Handelsmöglichkeiten
nicht gerade ein kleines Untersuchungs­ ein Hauptfaktor: ein Meer voller Rou­
Grafik: designergold nach einer Vorlage von Science Photo Library/NASA

gebiet, das sich Burkhard Schnepel vor­ ten, die sich zwischen Afrika und Asien
genommen hat. Schnepel ist Professor erstrecken. Burkhard Schnepel hat be­
für Ethnologie an der Martin-Luther- reits über beide Kontinente gearbeitet.
Universität Halle-Wittenberg und Fel­ So hat er seine Doktorarbeit an der Uni­
low am Max-Planck-Institut für ethno­ versität Oxford über das Volk der Schil­
logische Forschung, wo er die Arbeits­ luk im Südsudan geschrieben, bevor er
gruppe „Connectivity in Motion: Port sich in seinen nächsten Feldforschun­
Cities of the Indian Ocean“ leitet. gen und Projekten Ostindien zuwand­
Burkhard Schnepel interessiert am te. Und jetzt also der übergreifende An­
Indischen Ozean vor allem das, was das satz der „Indian Ocean Studies“. Der
Wasser möglich macht: „Seit 3000 Jah­ Ozean gibt den Untersuchungsrahmen
ren befahren Menschen diesen Raum“, vor, doch um den Bewegungen auf ihm
sagt er. „Er hat nicht nur eine riesige nachzugehen, müssen sich die Wissen­
Fläche, sondern auch eine lange Ge­ schaftler auf einzelne Punkte konzent­
schichte.“ Der Indische Ozean ist für rieren und die Details ins Auge fassen:
den Ethnologen und seine Projektmit­ Kleine Inseln und Hafenstädte sind ein
arbeiter ein Begegnungsraum. Schwerpunkt in dem Projekt. >

3 | 16 MaxPlanckForschung 71
Der Ethnologe Burkhard Schnepel (ganz rechts)
erforscht die Insel Mauritius als Hub, also als
Knotenpunkt: Hier sammelt sich Wissen ver-
schiedener Kulturen etwa über die Wirkung von
Kräutern (links). Zuwanderer schufen eigene
Traditionen wie den Tanz- und Musikstil Sega
(rechts). Heute ist die Ebène Cybercity südlich
der Hauptstadt Port Louis eine Schnitt­stelle für
schnelle Glasfaserkabel (rechte Seite, Mitte).

Burkhard Schnepel beschäftigt sich mit an, noch später eroberten die Briten die offiziellen Anlässen – Französisch und
einer Insel, die im Westen vor allem als Insel. Mit der Zeit wuchs die Bedeutung Englisch. Hauptverständigungssprache
Urlaubsziel wahrgenommen wird: Mau­ von Mauritius als Umschlagplatz: Es der Mauritier untereinander jedoch ist
ritius. Für seine Feldforschungen be­ war Zwischenstation für Textilien und Morisyen, eine ganz eigene Kreolspra­
sucht der Wissenschaftler den Inselstaat Gewürze aus Indien und für Porzellan che, die sich auf Basis des Französi­
seit Jahren regelmäßig, genauer gesagt: aus China ebenso wie für Sklaven und schen und der anderen hier miteinan­
die Hauptinsel Mauritius und deren Elfenbein aus Afrika, wichtig für die je­ der in Kontakt getretenen Sprachen
Haupt- und Hafenstadt Port Louis. Ent­ weiligen Ostindien-Kompanien der eu­ entwickelt hat. Bis heute ist die Viel­
scheidend ist dabei für ihn der Aspekt ropäischen Kolonisatoren. Die Schiffe sprachigkeit eine Art Standortvorteil
des wichtigen Knotenpunkts – „Hub“ ist transportierten jedoch nicht nur Men­ des Eilands.
die dafür übliche, aus dem Englischen schen und Waren über den Indischen Nach Burkhard Schnepels Überzeu­
entlehnte Bezeichnung. Ozean. „Sie brachten auch Ideen mit, gung zeichnen sich Hubs außerdem
Was aber macht eine Insel zu einem Sprachen, kulturelle und religiö­se Ein­ durch eine hohe Energie aus, sie verän­
Hub? Ein wichtiger Faktor ist die Lage: flüsse und bestimmte Vorstellungen“, dern die Dinge, die sie weiterleiten,
Angefangen hat Mauritius als eine un­ sagt Burkhard Schnepel. transformieren sie und werten sie auf.
bewohnte, aber für Seefahrer nützliche Der Ethnologe Schnepel kann dafür
Insel im Nichts des Indischen Ozeans, ZUCKERROHR WURDE EINST AUF historische und aktuelle Beispiele ge­
auf der Strecke zwischen Ostafrika im DIE INSEL GESCHMUGGELT ben: Bis Ende der 1960er-Jahre war das
Westen und Indien im Osten. Auch Hauptexportgut der Insel Zucker. Doch
wenn die Insel auf Karten arabischer Und das ist ein weiterer Grund, warum Zuckerrohrpflanzen kamen ursprüng­
Seefahrer schon ab dem 10. Jahrhun­ sich Mauritius zu einem Hub entwickel­ lich auf Mauritius gar nicht vor – sie
dert verzeichnet gewesen sein soll, wa­ te: In den letzten knapp 300 Jahren waren von Südasien auf die Insel ge­
ren die ersten Europäer, die Mauritius kamen Menschen aus den verschie­ schmuggelt worden. Nur aus diesem
„entdeckten“, zu Anfang des 16. Jahr­ densten Kulturen auf die Insel. Sie be­ Grund konnte Mauritius überhaupt an­
hunderts die Portugiesen. Hier konn­ gründeten eine ungewöhnlich große fangen, Zucker auszuführen. Hinzu
ten sie frische Nahrung an Bord ihrer Vielfalt auf engem Raum, Ethnologen kommt: Hier wurden die ertragreichs­
Schiffe nehmen und Wasser auffüllen, wie Politiker bezeichnen dies gern als ten Sorten kultiviert und damit trans­
Foto: Bernd Jonkmanns/laif

der Besatzung ein bisschen Erholung unity in diversity: Bis heute existieren formiert, bevor sie die Insel wieder ver­
gönnen und die Ausrüstung wieder auf verschiedene Religionen und Kulturen ließen. Seit ihrer Unabhängigkeit im
Vordermann bringen. mehr oder weniger eigenständig neben­ März 1968 hat die Insel einen beacht­
Erst die Niederländer ließen sich einander. Sprachen und Dialekte aus lichen wirtschaftlichen Wandel durch­
130 Jahre später als Kolonialherren nie­ Nord- und Südindien oder China sind laufen. Die traditionelle Auffassung,
der, später siedelten sich die Franzosen auf der Insel ebenso zu hören wie – bei die Gesellschaft auf Mauritius sei durch

72 MaxPlanckForschung 3 | 16
KULTUR & GESELLSCHAFT_Vernetzung

die seit Jahrhunderten betriebenen Zu­ wohnern mit chinesischen Wurzeln, letzten Jahren geschaffen, die Profilie­
ckerrohrplantagenwirtschaft definiert, die ungefähr drei Prozent der Bevölke­ rung als „International Financial Ser­
teilt der Hallenser Ethnologe nicht. rung stellen. vice Hub“ seit Anfang der 1990er Jahre
„Mittlerweile versteht sich Mauritius Amerikanische und europäische sogar rund 15 000 neue Jobs. Vor allem
selbst als ein Hub und vermarktet sich Hersteller finden auf der Insel also gute Inder nutzen den wichtigen Bankensek­
auch so. Nicht mehr nur im maritimen Bedingungen und auch das notwendi­ tor des Landes für ihre Transaktionen
Sektoren, sondern davon ausgehend ge Know-how vor, um hier auf hohem und Geschäfte mit Afrika. Aber auch für
auch in anderen Bereichen“, sagt er. Niveau Textilien weiterverarbeiten zu europäische und amerikanische Firmen
Ein wichtiger Faktor des insularen lassen. So wird aus den importierten ist die Insel ein guter Ausgangspunkt
Fotos: Cornelia Schnepel, Jean Francois Koenig/CC-BY-SA-2.5, Cornelia Schnepel (von links nach rechts)

Wirtschaftslebens ist mittlerweile die Stoffen Luxuskleidung namhafter inter­ für Geschäfte in beide Hauptrichtun­
Textilverarbeitung: Stoffe aus Indien nationaler Marken – gefertigt aus­ gen über das Meer. „Sicher gibt es Miss­
und Bangladesch werden hierher im­ schließlich für den Export in den Wes­ stände, aber Mauritius ist seit der Unab­
portiert. Förderlich ist dabei, dass zwei ten. Die einheimischen Arbeitskräfte hängigkeit eine Demokratie mit freier
Drittel der Mauritier indischstämmig können sich die Textilien und Acces­ Presse und politischen Kontrollmecha­
sind. Hilfreich ist auch, dass die Regie­ soires, die sie produzieren und ver­ nismen“, erläutert der Ethnologe Burk­
rung ganz gezielt gute Rahmenbedin­ edeln, jedenfalls nicht leisten. Es sind hard Schnepel. So hat sich Mauritius
gungen für die Weiterverarbeitung ge­ oftmals indo-mauritische Frauen und auch im 21. Jahrhundert als temporä­
schaffen hat – eine steuerlich extrem Kreolinnen, also Nachfahrinnen afrika­ rer Ankerplatz und Umschlaghafen für
begünstigte Exporthandelszone. Das nischer Sklaven, aus den ärmsten Be­ globale Geschäfte behauptet.
Geld für den Aufbau der Textilfabriken völkerungsschichten.
stammt überwiegend von reich gewor­ Auf seine traditionellen Stärken – HAFENSTÄDTE ENTSTANDEN AUS
denen französischen bzw. französisch­ gute Verflechtung und Kommunikation DER VERNETZUNG
stämmigen Zuckerbaronen – Franko- in viele verschiedene Richtungen – setzt
Mauritier stellen rund zwei Prozent der Mauritius auch im sich schnell wandeln­ Von Mauritius 5500 Kilometer weiter
Bevölkerung. Dazu kommen Investitio­ den Zeitalter der Digitalisierung. „Dort, Richtung Nordosten über die riesige
nen von außerhalb – wieder einmal wo jetzt die neue sogenannte Ebène Cy­ Wasserfläche nach Südostasien: immer
übers Meer. In den 1970er-Jahren bercity steht, waren im Jahr 2000 noch noch derselbe Ozean, jedoch eine an­
suchten Hongkong-Chinesen einen si­ Zuckerrohrplantagen“, erzählt Schne­ dere Region, in die sich seit dem Herbst
cheren Hafen für ihr Geld abseits der pel. Heute führen einige der schnellsten 2014 Mareike Pampus vertieft. Sie pro­
Kronkolonie, da für 1997 deren Unab­ Glasfaserkabel zu der kleinen Insel im moviert bei Burkhard Schnepel im
hängigkeit bevorstand. Auf Mauritius Indischen Ozean. Der Bereich „Interna­ Rahmen des Forschungsprojekts „Con­
halfen ihnen die traditionellen Verbin­ tional Communication Technology“ nectivity in Motion“. Aber ist es tat­
dungen zu Sino-Mauritiern – also Ein­ hat rund 12 000 Arbeitsplätze in den sächlich möglich, den riesigen Raum

3 | 16 MaxPlanckForschung 73
KULTUR & GESELLSCHAFT_Vernetzung

des Indischen Ozeans als eine Einheit Vernetzungen entstanden sind“, sagt Die Insel Penang liegt am nördlichen
zu betrachten und unter dieser Prämis- sie. „Das Neue an unserem Ansatz ist, Ende der Straße von Malakka, damals
se zu erforschen? dass wir sie nicht so stark als Ausgangs- wie heute eine der meistbefahrenen
„Man kann sich natürlich fragen, punkt für Verbindungen sehen – das Wasserstraßen der Welt. Bereits zu an-
ob es nicht sinnvoller wäre, die einzel- schon auch –, aber vor allem als Ergeb- tiken Zeiten verband diese maritime
nen maritimen Regionen gesondert zu nis von Vernetzungen.“ Route China und Indien. Im 16. Jahr-
betrachten, denn rund um den Ozean hundert kamen als erste Europäer die
kommen sehr viele unterschiedliche FÜNF MUSKATNÜSSE WAREN EIN Portugiesen, wenig später Holländer,
Sprachen, Kulturen, Staaten vor“, GANZES HAUS WERT Franzosen und Briten, um sich eben-
räumt der Ethnologe Burkhard Schne- falls in dieses gewachsene Austauschge-
pel ein. Es gebe sogar Wissenschaftler, Die Briten verstanden den Indischen flecht hineinzubegeben und die Ver-
die aus diesem Grund davon abraten, Ozean als mare liberum, als freies Meer, breitungs- und Transportwege für die
von dem einen Indischen Ozean zu das allen Zugang bietet und grade nicht kostbaren Güter Südostasiens weiter
sprechen. Doch wer den Blick auf die aufgeteilt sein sollte in abgesteckte Zu- nach Westen auszudehnen. In das be-
Verknüpfungen und Verbindungen gehörigkeiten der Anrainer. Um sich in reits vorhandene Netzwerk fügten sie
richtet, wen das Meer als eine von diesem auf Offenheit beruhenden wirt- neue, eigene Anknüpfungspunkte ein –

Fotos: Mareike Pampus, mauritius images, Mareike Pampus (von links)


Menschen geschaffene Kontaktzone schaftlichen Wettkampf gut zu positio- beispielsweise George Town.
interessiert, der muss vom Meer aufs nieren, sicherten sie sich im Osten des Andere folgten: „Das Vorbild George
Land blicken. Vom Ozean aus auf un- Indischen Ozeans strategisch wichtige Town lässt sich bis nach Singapur und
terschiedliche Küsten- und Kulturräu- Handelsplätze: Zum Beispiel siedelte sogar bis an die Küste Australiens ver-
me, an denen man anlanden kann. Es sich Ende des 18. Jahrhunderts an der folgen“, erklärt Doktorandin Mareike
geht Burkhard Schnepel in seinem For- nordöstlichen Spitze der Insel Penang Pampus. Rund 600 Kilometer von Geor-
schungsansatz auch darum, in dieser die britische Ostindien-Kompanie an: ge Town entfernt legte einige Jahrzehn-
„maritimen“ Dimension einen neuen in Person des Kaufmanns und Seefah- te später, Anfang des 19. Jahrhunderts,
Blickwinkel auf die angrenzenden Land- rers Francis Light. Er gründete dort mit ebenfalls ein Angestellter der britischen
flächen zu eröffnen. George Town zunächst weniger eine Ostindien-Kompanie eine weitere wich-
Mareike Pampus hat ihren persön- Stadt als vielmehr einen Freihafen mit tige Hafenstadt an: Singapur. Stadt-
lichen Anknüpfungspunkt gefunden: angeschlossener kleiner Siedlung, um gründer Thomas Stamford Raffles war
Sie arbeitet über die Hafenstadt George hier am äußerst lukrativen Gewürzhan- zuvor Generalgouverneur von George
Town auf der Insel Penang, heute ein del teilzuhaben. „Für fünf Muskatnüs- Town gewesen. Eine ähnliche histori-
Teil des Staates Malaysia. „In unserem se konnte man sich zur damaligen Zeit sche Linie lässt sich von George Town
Projekt sind Hafenstädte deshalb wich- ein Haus in London kaufen“, erzählt bis nach Australien ziehen: Der Sohn
tig, weil sie oft durch Austausch und Mareike Pampus. des George-Town-Gründers Francis

74 MaxPlanckForschung 3 | 16
George Town auf der malaysischen Insel
Penang ist ein Schmelztiegel der
Religionen: In der als „Street of Harmony“
bekannten Straße finden sich auf wenigen
Hundert Metern unter anderem eine
Moschee, ein Hindutempel und eine
christliche Kirche (linke Seite, von links).
Zusätzlich wird gelegentlich eine Statue
der von Taoisten und Buddhisten verehrten
Göttin der Barmherzigkeit, Kuan Yin, auf-
gestellt, um Spenden zu sammeln (rechts).

Light, William Light, der die ersten kommen Nachkommen mit Männern, halb der Bevölkerung George Towns,
sechs Jahre seines Lebens in George die als Handelsleute aus fremden Regi­ mit einer eigenen kulturellen Identi­
Town verbrachte, gründete mit Ade­ onen hinzuziehen. tät und Kreolsprache.
laide eine weitere Hafenstadt am Indi­ Ein Sonderfall in George Town sind Wer bin ich? Wer waren meine Vor­
schen Ozean. „So bewegt sich die Vor­ die „Baba-Nyonya“, im Englischen ist fahren, woher und wie sind sie hierher­
stellung von einer Stadt über das Meer“, die Bezeichnung „Straits Chinese“ ge­ gekommen? Wie sehe ich mich selbst
sagt Mareike Pampus. bräuchlich. Diese besondere Gruppe und meine kulturelle Prägung? Diesen
Natürlich waren es nicht die Briten geht auf eine Umstrukturierung der bri­ und ähnlichen Fragen geht Mareike
im Alleingang: In George Town siedel­ tischen Kolonialverwaltung zurück: Im Pampus bei ihren Forschungsaufenthal­
ten sich mit den europäischen Koloni­ Jahre 1826 fassten die Briten ihre drei ten in George Town nach, nun zum
alherren vor allem Chinesen an; noch Kolonialbesitzungen an der Wasserstra­ zweiten Mal für sechs Monate. Sie ver­
heute sind 80 Prozent der Einwohner ße von Malakka – George Town, Malak­ sucht, mit den Einheimischen ins Ge­
von George Town chinesischstämmig. ka und Singapur – zu den „Siedlungen spräch zu kommen, führt lange Inter­
Aber sie kamen meistens nicht direkt entlang der Wasserstraße“ zusammen, views, manchmal mehrfach mit densel­
aus China, sondern hatten vorher zum den „Straits Settlements“. ben Personen. Es geht weniger um
Beispiel in dem unweit gelegenen Han­ Abfrage als vielmehr um das Erzählen­
delszentrum Malakka oder aber in In­ KULTURELLE VIELFALT GILT ALS lassen individueller Geschichten. Ziel ist
donesien gelebt, ganz ähnlich wie die UNESCO-WELTERBE ein genauer Blick auf die ganz spezielle
hinzuziehenden Inder. Auch George Situation, auf die Menschen in einer Ha­
Town ist wie so viele andere Kontakt­ Chinesen, die in diesen Straits Settle­ fenstadt im Indischen Ozean mit ihrem
orte am Indischen Ozean vielfältig in ments geboren waren und sich mit kulturellen und historischen Erbe.
Sprache, Kultur und Religion. Auch hier dieser Herkunft sehr stark identifizier­ Die Auseinandersetzung mit den
findet sich wieder unity in diversity, die ten, hatten oft eine britische Schulbil­ vielgestaltigen Wurzeln und Verbin­
sich sprachlich bis heute hält und sich dung durchlaufen und waren britisch dungen erlebt im Raum des Indischen
sogar in speziellen Begrifflichkeiten ab­ sozialisiert. Das prädestinierte sie da­ Ozeans gerade einen Aufschwung.
bildet: Beispielsweise gehören zu den für, als Geschäftsleute besonders er­ George Town ist 2008 ebenso wie Ma­
Bewohnern George Towns „Jawi Per­- folgreich mit den Engländern der Ost­ lakka in die Weltkulturerbe-Liste der
a­nakan“ mit südindisch-malaiischen indien-Kompanie zu kooperieren. „Auch UNESCO aufgenommen worden als he­
Foto: mauritius images

Vorfahren. Das Wort für „Kind“ (anak) wenn sie aussahen wie Chinesen, wa­ rausragendes Zeugnis der mehr als 500
steckt in dieser Bezeichnung. Ein über ren sie doch in hohem Maße westlich Jahre alten Handels- und Kulturver­
Jahrhunderte nachvollziehbares Hei­ geprägt“, erzählt die Ethnologin Ma­ flechtungen, die sich entlang der Was­
ratsmuster lässt sich ethnologisch so reike Pampus. Noch heute sind die Ba­ serstraße von Malakka entwickelt ha­
beschreiben: Einheimische Frauen be­ ba-Nyonya eine eigene Gruppe inner­ ben. Die vielfältigen Einflüsse aus Asien

3 | 16 MaxPlanckForschung 75
KULTUR & GESELLSCHAFT_Vernetzung

Junge
Wiss
Für ihre Promotion führt Mareike Pampus (großes Bild, links) im malaysischen George Town Gespräche mit Einwohnern unterschiedlicher
Herkunft, um deren jeweilige kulturelle Prägung zu erforschen. Eine wichtige Gruppierung sind die „Baba-Nyonya“, Nachkommen chinesischer
Einwanderer, die ihre eigenen Traditionen pflegen (kleines Bild).
a r
g Rese
Youn

und Europa hätten zu einem einzig­ landestypisch gilt: Sega tipik oder Sega Deutschland und Europa ist es höchste
artigen multikulturellen Erbe in diesen typique. Dieser traditionellere Sega ist Zeit, die Region des Indischen Ozeans
Städten beigetragen, so die Begründung vor Kurzem von der UNESCO zum Teil genauer in den Blick zu nehmen“, be­
der UNESCO. Reiseführer von George des immateriellen Weltkulturerbes er­ fand der deutsche Außenminister Frank-
Town beschreiben buddhistische Tem­ klärt worden – eine Tradition, die der Walter Steinmeier im Juni 2015 auf ei­
pel neben hinduistischen Schreinen, Austausch zwischen und das Zusam­ ner von ihm organisierten Konferenz in
Kirchen neben Moscheen. menleben von Menschen im Indischen Berlin. Das Tagungsthema lautete: „The
Auf Mauritius ist Burkhard Schnepel
gerade bei einem Forschungsaufenthalt
Ozean hervorgebracht haben.
Auch wenn der drittgrößte Ozean
Indian Ocean – A Maritime Region on
the Rise”. Gute Zeiten also für den Eth­ Geo
im Frühling einem inseltypischen Mu­
sikstil und Tanz nachgegangen: dem
der Welt überwiegend auf der Südhalb­
kugel liegt und, von Deutschland aus ge­
nologen Burkhard Schnepel und sein
Team am Max-Planck-Institut in Halle,
Erd
Sega. Tourismus-Anbieter bewerben ihn
gern als Ausdruck des heiteren Lebens­
sehen, weit weg ist – Burkhard Schnepel
hat den Eindruck, dass die Region auch
um die riesige Region im Aufwind ge­
nauer in den Blick zu nehmen und ihr
nu
gefühls auf Mauritius. Ursprünglich auf hierzulande verstärkt ins Bewusstsein Forschungsgebiet, die „Indian Ocean e
Them
die Insel gebracht haben ihn afrikani­ rückt. Zumindest die deutsche Politik Studies“, in der deutschen Wissen­ Cock
t
e
Back
sche Sklaven, die im 18. Jahrhundert zeigt ein zunehmendes Interesse. „Für schaftslandschaft zu verankern. 
Auß
auf den Zuckerrohrplantagen schufte­ Klin

ten. Wurde er früher nur heimlich und


hauptsächlich von kreolischen Mauri­
tiern gesungen und getanzt, identifizie­
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
ren sich heute alle Insulaner, also auch
die Franko-, Sino-, und Indo-Mauritier, l Betrachtet man den Indischen Ozean als Einheit, lassen sich sogenannte Hubs
identifizieren: Orte, die als Knotenpunkte unterschiedliche Anrainer und deren
übergreifend mit ihm. Mehr als 20 ver­ Kulturen verbinden.
schiedene Ausprägungen haben sich
Fotos: Mareike Pampus (2)

l Kennzeichnend für einen Hub sind die Lage – etwa an einem Kreuzungspunkt
entwickelt, die Burkhard Schnepel eth­ wichtiger Schifffahrtsrouten –, eine große Vielfalt an Sprachen und Kulturen sowie
nologisch erforscht: moderne ebenso die Eigenschaft, Waren vor dem Weiterleiten zu transformieren und aufzuwerten.
wie traditionelle Varianten, die auch in l Die Hallenser Wissenschaftler erforschen als Beispiele unter anderem die Insel
der Schule unterrichtet werden, Misch­ Mauritius und die malaysische Hafenstadt George Town.
formen wie Seggae (aus Sega und Reg­
gae) oder auch jene Variante, die als

76 MaxPlanckForschung 3 | 16
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RÜCKBLENDE_Chemie

Kohle – flüssig gemacht


Im Jahr 1925 entdeckten Franz Fischer und Hans Tropsch am Kaiser-Wilhelm-Institut für
Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, wie man Kohle in Benzin verwandelt. Heute erlebt
die Fischer-Tropsch-Synthese eine Renaissance, denn sie veredelt längst nicht nur Kohle.
Auch Erdgas, Biomasse und sogar Hausmüll lassen sich damit zur Treibstofferzeugung nutzen.

TEXT ELKE MAIER

Schwindendes Erdöl macht erfinde- dampf und Sauerstoff erhitzen, um


risch. Mittlerweile schaffen es Chemi- alle Kohlenstoffverbindungen zu kna-
ker, die unterschiedlichsten kohlen- cken und ein Gemisch aus Kohlenmo-
stoffhaltigen Rohstoffe in hochwerti- noxid und Wasserstoff zu erzeugen –
ge Flüssigkraftstoffe zu verwandeln. das sogenannte Synthesegas. Im
Manche Fluggesellschaften experi- zweiten Schritt sollte dieses Gas über
mentieren sogar mit Kerosin aus einen Katalysator geleitet werden.
Haushaltsabfällen. Die Methode, mit An dessen Oberfläche würden sich
der die Umwandlung gelingt, ist da- die Moleküle zu komplexen Kohlen-
bei weder ein Werk der Alchemie, wasserstoffen zusammenfinden.
noch ist sie neu. Sie wurde vor mehr Wie so oft steckte aber auch hier
als 90 Jahren am Kaiser-Wilhelm-In­ der Teufel im Detail – genauer: im Ka-
stitut für Kohlenforschung in Mül- talysator. Dessen Aufgabe war es, die
heim an der Ruhr entwickelt. ansonsten viel zu träge ablaufende
Packten die Kohle in den Tank: Franz Fischer (links)
Das Mülheimer Institut öffnete und Hans Tropsch. Reaktion anzukurbeln und außer-
am 27. Juli 1914 seine Pforten. Erklär- dem dafür zu sorgen, dass die ge-
tes Ziel war die „Vermehrung des inneren Wertes der Kohle“. Erster wünschten Endprodukte herauskamen. Die Fahndung nach einem
Direktor wurde Franz Fischer – ein Mann, der als „erfinderischer geeigneten Material glich der sprichwörtlichen Suche nach der
Kopf “ und „sehr gewandter Experimentator“ galt. Fischer hatte Nadel im Heuhaufen.
Chemie studiert und nach nur vier Semestern mit 22 Jahren pro- Anfang der 1920er-Jahre wurden die Experimente zur Gassyn-
moviert. Als er den Posten in Mülheim annahm, war er 36 Jahre alt these ausgebaut. Mit von der Partie war Hans Tropsch, laut einem
und hatte in der Forschung bereits eine steile Karriere hinter sich. Kollegen ein „überdurchschnittlich tüchtiger“ Chemiker und „Meis-
Anfangs ging es am Institut vor allem darum, die deutsche ter im Gebrauch des Rechenschiebers bei schwierigen Ausrech-
Kriegswirtschaft zu unterstützen, etwa durch die Gewinnung von nungen“. Er war von Franz Fischer angeworben und mit der Lei-
Treibstoffen für Automobile, Panzer und Flugzeuge. Erdöl war Man- tung der Abteilung „Gaskatalysen“ betraut worden.
gelware, Kohle gab es dagegen reichlich. Sie musste nur verflüssigt In speziellen Hochdruckapparaturen nahmen die Wissen-
werden. Chemisch gesehen, waren dazu folgende Schritte notwen- schaftler zahllose Reihenuntersuchungen vor. Dabei drehten sie
dig: Zunächst mussten die Verbindungen zwischen den Kohlenwas- an mehreren Rädchen gleichzeitig und variierten nicht nur den Ka-
serstoffmolekülen aufgebrochen werden, die der Kohle ihre Festig- talysator, sondern auch Temperatur und Druck. Denn alles zusam-
keit verleihen. Anschließend galt es, daraus die Kohlenwasserstoff- men bestimmte, was bei der Reaktion herauskam.
ketten des flüssigen Kraftstoffs zusammenzusetzen. Monate später zeigte sich ein erster Lichtblick. In den Appara-
Der deutsche Chemiker Friedrich Bergius hatte bereits im Jahr turen fanden die Forscher Reaktionsgemische, die unter anderem
1913 einen Weg gefunden, der ihm 1931 sogar den Nobelpreis be- Alkohole, Aldehyde und Ketone enthielten. Die Chemiker bezeich-
scherte. Das Bergius-Verfahren hat allerdings gravierende Nach- neten die Mixtur einfachheitshalber als „Synthol“. Als Katalysator
Fotos: MPI für Kohlenforschung

teile: Zum einen kann es nur geologisch junge Kohlensorten, etwa dienten diesmal Eisenfeilspäne, welche die Forscher mit Kalium-
Braunkohlen, verflüssigen, nicht aber die geologisch älteren, ener- oder Rubidiumhydroxid imprägniert hatten.
giereicheren Steinkohlen. Zum anderen funktioniert die Methode Institutsmitarbeiter Carl Zerbe machte mit dem mühsam und
nur unter enormem Druck, was für technische Probleme sorgt. nur in winzigen Mengen gewonnenen Motorbetriebsstoff erste
Franz Fischer schwebte daher eine „Synthese von Ölen aus Fahrversuche auf einem 4-PS-NSU-Motorrad, Modell 1922. „Synthol
Gasen“ vor. In der Theorie klang alles ganz einfach: In einem zwei- war allerdings noch kein hochwertiger Kraftstoff “, erklärt Mat-
stufigen Prozess wollte er zunächst Kohlenstaub mit Wasser- thias Haenel, emeritierter Professor am Mülheimer Institut. „Es

78 MaxPlanckForschung 3 | 16
RÜCKBLENDE_Lockstoffe

enthielt noch viele sauerstoffhaltige Verbindungen, die zu Korro-


sion am Motor führen.“
Die Suche ging also weiter und stellte die Geduld der Forscher
auf die Probe. Einige Katalysatoren verloren schon nach kurzer Zeit
ihre Aktivität, andere lieferten als Endprodukt nur Wasser. Man-
che Katalysatorfüllung mussten die Chemiker wegen der massiven
Kohlenstoffabscheidung mit Hammer und Meißel wieder aus den
Rohren klopfen. Siegeszug des Synthesebenzins: Vor der Ruhrchemie AG in
Oberhausen-Holten warten Waggons mit Fischer-Tropsch-Kraftstoffen
Eine Wende bahnte sich schließlich Anfang des Jahres 1925 an.
auf die Abfahrt.
In Mülheim traf ein Magazin mit dem Artikel eines gewissen Geor-
ges Patart ein. Der bekannte Fachkollege aus Frankreich beschrieb
darin, wie sich mithilfe eines Zinkoxidkatalysators Methanol – eine ihren Pendants auf Erdölbasis konnten die synthetischen Kraft-
einfache Verbindung mit einem Kohlenstoffatom – synthetisieren stoffe aus Kohle nicht mithalten. Die Anlagen wurden demontiert.
lässt. Sofort machten sich die Mülheimer Wissenschaftler daran, Erst die Ölkrise in den 1970er-Jahren verhalf dem Verfahren in
das Versuchsprotokoll nachzukochen. Und gleich im ersten Anlauf Deutschland zu einem kurzen Revival.
waren sie erfolgreich. Die Forscher staunten über die „glatte, ein- Franz Fischer und Hans Tropsch erlebten die wechselvolle Zu-
heitliche Bildung von Methanol an dem nahezu unverändert blei- kunft ihrer Erfindung nicht mehr. Fischer zog im Ruhestand nach
benden weißen Zinkoxid“. München, wo er im Bombenkrieg zweimal seinen gesamten Be-
sitz verlor. Er litt an Unterernährung und starb als 70-Jähriger im

»
Geo, Ausgabe 3/1983 Hungerjahr 1947. Tropsch ging nach seiner Mülheimer Zeit zu-
nächst nach Prag und später nach Chicago. Krankheitsbedingt
Etwa vom Jahre 2020 an – also in nur 40 Jahren – wird die
kehrte er 1935 nach Deutschland zurück, wo er kurz darauf mit nur
Kohle die Hauptrolle übernehmen und dem Erdöl nur noch
45 Jahren starb.
eine Chargenrolle zufallen.
Die Entwicklung der beiden Chemiker machte nach dem Krieg
zunächst in Südafrika Furore. Wegen seiner Apartheidspolitik war
Von da an hielten sie sich an den Patart’schen Katalysator. Ließen das Land mit Sanktionen belegt und von Erdöllieferungen ausge-
sich damit auch langkettige Kohlenwasserstoffe herstellen? Die schlossen. Dafür gab es dort Kohle en masse. Die Regierung setz-
Forscher experimentierten mit Zinkoxid unter Zugabe weiterer te daher auf das Fischer-Tropsch-Verfahren und gründete im Jahr
Stoffe, die sie für geeignet hielten. Dass sie damit richtiglagen, 1950 einen Konzern, der mittlerweile als South African Synthetic
zeigte sich am 25. Mai 1925: An jenem Tag gelang es erstmals, bei Oil Limited (Sasol) firmiert. Noch heute liefert das Unternehmen
Normaldruck höhere Kohlenwasserstoffe zu synthetisieren. Als rund ein Drittel der am Kap verkauften Kraftstoffe. Zusätzlich ver-
Stein der Weisen entpuppte sich ein Gemisch aus Eisen- und Zink- arbeitet es heute neben Kohle auch Erdgas.
oxid. Noch besser eignen sich allerdings Eisen- und Kobaltkataly- Mittlerweile erlebt die Methode jedoch auch in anderen Län-
satoren, wie sich später zeigen sollte. Am 20. Juli 1925 meldeten dern eine Renaissance. „Der große Vorteil ist, dass sich prinzipiell
Franz Fischer und Hans Tropsch ihre Methode zum Patent an. jedes kohlenstoffhaltige Ausgangsmaterial dafür eignet, also auch
Die erste Industrieanlage, die nach dem Mülheimer Verfahren Erdgas, Biomasse und sogar Hausmüll“, sagt Ferdi Schüth, Direk-
arbeitete, ging Mitte der 1930er-Jahre in Oberhausen in Betrieb. An- tor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. „Das Verfahren
fang der 1940er-Jahre stellten neun deutsche Produktionsstätten liefert außerdem sehr reine, schwefelfreie Kraftstoffe.“
jährlich insgesamt rund 600 000 Tonnen flüssige Kohlenwasser- Das macht man sich etwa in Katar zunutze, wo Ende 2011 Shell
Foto: LVR-Industriemuseum, Sammlung Ruhrchemie, rch 3712

stoffe her. Die Primärprodukte der Fischer-Tropsch-Synthese dien- Pearl GTL in Betrieb ging, die weltgrößte Gas-to-Liquids (GtL)-An-
ten dabei längst nicht nur der Treibstoffgewinnung. Man konnte lage. Sie verwandelt billiges Erdgas in hochwertige Flüssigtreib-
sie etwa auch zu Schmierfetten, Seife oder Waschmittel weiterver- stoffe. Die Jahresproduktion liegt bei rund 5,6 Millionen Tonnen –
arbeiten. Sogar künstliche Butter ließ sich daraus zaubern. mehr als neunmal so viel, wie Anfang der 1940er-Jahre in ganz
Erfinder des synthetischen Speisefetts war der Chemiker Arthur Deutschland produziert wurde. Der synthetische Dieselkraftstoff
Imhausen. Im Zweiten Weltkrieg wurde auf dem Afrikafeldzug und aus der Wüste ist auch an Tankstellen hierzulande zu haben.
in den U-Booten fast nur Imhausens Fett gegessen. Es war be- In Deutschland wird sich der Bau von Fischer-Tropsch-Anlagen
kömmlich, wurde nicht ranzig und soll gar nicht übel geschmeckt dagegen erst dann wieder lohnen, wenn der Ölpreis steigt: „Bei 40
haben. Experten bestätigten, dass der tägliche Genuss von bis zu Dollar pro Barrel ist die Produktion momentan unrentabel“, sagt
100 Gramm „harmlos ist und keinerlei Reizerscheinungen oder Schüth. Doch auch wenn sich bisher immer wieder neue Quellen
Störungen hervorruft“. So wurde die Kreation als erstes syntheti- auftun – irgendwann werden die Erdölvorräte zur Neige gehen.
sches Nahrungsmittel für die menschliche Ernährung freigegeben. Dann könnte die Mülheimer Methode auch bei uns wiederbelebt
Nach dem Krieg waren die Fischer-Tropsch-Produkte und da- werden. Ob auch Imhausens Brotaufstrich zu neuen Ehren kommt,
mit auch die künstliche Butter jedoch bald wieder vom Tisch. Mit ist allerdings fraglich.

3 | 16 MaxPlanckForschung 79
Neu erschienen

Demokratie muss Schule machen

Lothar Krappmann, Christian Petry (Hrsg.), Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben,
Kinderrechte, Demokratie und Schule: ein Manifest
304 Seiten, Debus Pädagogik Verlag, Schwalbach 2016, 29,90 Euro

Nach der Kinderrechtskonvention der Ver- Lerngruppen zusammengefasst werden, Aufgaben zu bearbeiten sind, wo man
einten Nationen, die in Deutschland seit Fähigkeiten für eine Zukunft entwickeln, praktisch ansetzen kann und wie Partner-
1992 geltendes Recht ist, stehen jedem deren Gestalt noch ungewiss ist. Zugleich schaften in die Gesellschaft hinein für die
Kind die „Vorbereitung auf ein verantwor- müssten sie lernen, Teil unserer demokra- Entwicklung einer kindergerechten Schu-
tungsbewusstes Leben“ und die „Förde- tischen Gesellschaft zu werden. le von Nutzen sind.
rung seiner Entwicklung in größtmögli- Lothar Krappmann genügt es nicht, So sieht Wolfgang Edelstein, wie Krapp-
chem Umfang“ zu. Kaum einer dürfte die- wenn Schülerinnen und Schüler allein tra- mann Emeritus des Max-Planck-Instituts
sen grundsätzlichen Maximen widerspre- dierte Sachinformationen übermittelt be- für Bildungsforschung, das „rigide Gerüst
chen. Aber kaum einer begreift sie so kommen und ihr Recht sich auf den Schutz eines kleinschrittigen Stundenplans mit
konkret als Aufforderung für eine Reform vor vielerlei Gefahren beschränkt. Wie Segmenten von jeweils 45 Minuten“ als
unserer Schulen wie der Soziologe Lothar man ein guter Mitmensch und engagierter prinzipielles Hindernis für soziale Lern-
Krappmann, der bis 2001 am Max-Planck- Bürger sein kann, darf aus seiner Sicht prozesse. Vor allem aber prangert er die
Institut für Bildungsforschung tätig war. nicht allein in Nebenfächern wie Politische frühe Selektion nach der 4. Grundschul-
Nun hat er, zusammen mit dem Lehrer und Bildung und Religion behandelt, sondern klasse als Verletzung des Kindeswohls an.
Geschäftsführer der Stiftungs- und Förder- muss – ergänzend zur Familie – im sozialen Der Psychologe Hacı-Halil Uslucan von der
gemeinschaft Modellprojekte, Christian Raum Schule erfahren werden. Kinder Universität Duisburg-Essen plädiert dafür,
Petry, ein Buch herausgebracht, welches bräuchten dort generell eine „Kultur des das Kapital der Mehrsprachigkeit nicht zu
er selbst als „Manifest“ bezeichnet, Kin- Aufwachsens“, die von Anerkennung, Ge- verschenken und auch Schülern mit (noch)
derrechte und Demokratie in der Schule hör, Meinungsfreiheit und Mitverantwor- schlechten Deutschkenntnissen verantwor-
wirklich zu verankern. tung geprägt ist. tungsvolle Aufgaben zu übertragen – um
In einem 40-seitigen Plädoyer – dem Vor allem bei wichtigen Entscheidun- die Grundschule endlich als Übungsfeld ge-
eigentlichen Manifest – belegt Krappmann gen dürfe die Meinung der Kinder nicht lingender Integration für Kinder mit einer
anfangs sehr temperamentvoll, dass die übergangen werden: „Schulinnenpolitisch“ Zuwanderungsgeschichte zu nutzen.
Kinderrechtskonvention als Richt­schnur sollten Klassenräte und Schülerparlamen- In einem sehr inspirierenden Vorwort
für Reformen der Institution Schule durch- te gestärkt werden, „schulaußenpolitisch“ arbeitet zuvor Gesine Schwan heraus, dass
aus praxistauglich ist. „Dass Kinder eine bedürfe es einer Öffnung der Schulen ge- Kinderrechte alles andere als harmlos sind.
ihren Grundrechten und ihrer Lebenspla- genüber dem Gemeinwesen. Selbstver- In ihren Augen beinhalten sie vor allem ein
nung und -gestaltung angemessene Leis- ständlich müssten Heranwachsende vieles Recht auf Nonkonformismus, auf eigen-
tung von der Schule einfordern können, noch lernen, deshalb haben sie auch ein ständiges Denken und damit auf eine Er-
geht bereits daraus hervor, dass sie alle Recht darauf, dass Erwachsene sie an ih- ziehung, die aus Kindern mehr als „markt-
ohne Ausnahme der Schulpflicht unter- rem Erfahrungsvorsprung teilhaben lassen. konforme Subjekte“ macht. So gesehen sind
worfen sind“, so Krappmann. Im größeren Teil des Buchs zeigen nam- Kinderrechte geradezu subversiv: Es steht
Heranwachsende müssten dort von Er- hafte Bildungsexperten, engagierte Leh- Kindern und Jugendlichen zu, in der Schu-
wachsenen, mit denen sie eine Beziehung rer, Wissenschaftler und Stiftungsmitar- le das Rüstzeug für die Gestaltung dessen
gegenseitigen Respekts verbindet, und im beiter zunächst, was in vielen Schulen heu- zu bekommen, was die antiken Philoso-
Team mit Gleichaltrigen, mit denen sie te im Argen liegt. In den folgenden Kapi- phen als gutes Leben bezeichneten.
nicht allein aus Praktikabilitätsgründen in teln erläutern sie, welche pädagogischen  Adelheid Müller-Lissner

80 MaxPlanckForschung 3 | 16
Der Affe mit dem Wahnsinnsgen

Elizabeth Kolbert, Das sechste Sterben, Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt
312 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 24,95 Euro

Die Essenz des Weißwangen-Kleidervogels Kreidezeit vor etwa 65 Millionen Jahren en. Doch auch gleich vor ihrer eigenen
passt in ein kleines Plastikröhrchen. Die den Dinosauriern den Garaus machte. Viel Haustür in der Nähe der US-Stadt Albany
letzten Zellen, die von dieser wohl im Jahr verheerender war das Artensterben am wird Kolbert fündig: In einer Höhle stößt
2004 ausgestorbenen Art noch existieren, Ende des Perms vor rund 250 Millionen Jah- sie gemeinsam mit Wildbiologen auf Tau-
lagern bei minus 195 Grad Celsius im „Fro- ren, bei dem beinahe alles vielzellige Leben sende von Fledermauskadavern. Diese
zen Zoo“ nördlich von San Diego. Von den ausgelöscht worden wäre. Ursache war weisen Spuren des Weißnasen-Syndroms
meisten anderen der rund tausend Spezies, wahrscheinlich ein Klimawandel. Kolbert auf, einer tödlichen Krankheit, die eben-
die dort ebenfalls konserviert sind, gibt es erzählt auch von dem französischen Natur- falls von einem eingeschleppten Pilz ver-
zurzeit noch lebende Vertreter – mögli- forscher Georges Cuvier, der Mitte des 18. ursacht wird.
cherweise aber nicht mehr lange. Jahrhunderts anhand von Fossilien als Ers- Nicht zuletzt stattet Kolbert auch dem
In jüngster Zeit ist die Aussterberate ter überhaupt erkannte, dass Arten aus- Max-Planck-Institut für evolutionäre An-
von Pflanzen und Tieren sprunghaft ange- sterben können und dass es eine Welt gab, thropologie in Leipzig einen Besuch ab.
stiegen. Experten schließen daraus, dass „die der unseren vorherging“. Zwar vermutet sie dort keinen Hotspot
wir uns bereits mitten in einem Massen- Im zweiten Teil des Buchs wendet sich des Artensterbens, doch hat Institutsdi-
aussterben befinden – dem sechsten in der Elizabeth Kolbert dem aktuellen Gesche- rektor Svante Pääbo vielleicht eine Er­
Geschichte unseres Planeten. Doch anders hen zu. Dazu reist sie zu den Schauplätzen klärung dafür parat, was Homo sapiens so
als bei den fünf großen Sterben der des Artensterbens und begleitet Forscher ungemein erfolgreich und expansions-
Vergangenheit ist der derzeitige Arten- bei der Freilandarbeit. Zunächst geht es freudig macht. Möglicherweise, so Pääbo,
schwund nicht die Folge von Naturereig- nach Panama, wo Zoologen dem rätselhaf- sei es nur „irgendeine ungewöhnliche Mu-
nissen wie Eiszeiten, Vulkanausbrüchen ten Amphibiensterben auf der Spur sind. tation“, die es erlaubt hat, dass Menschen
oder Meteoriteneinschlägen. Diesmal ist Der kleine, goldgelbe Stummelfußfrosch das gesamte Ökosystem der Erde auf den
er menschengemacht. gilt dort als Glücksbringer, und sein Konter- Kopf stellen. Mittels Genomanalyse ist der
Von der derzeitigen Zerstörung der Bio- fei war schon auf Lotterielosen zu finden. Paläogenetiker dem „Wahnsinnsgen“ auf
sphäre und der Rolle, die der Mensch dabei Dabei hat das kleine Tier selbst ein der Spur.
spielt, handelt das Buch der Wissenschafts- schlech­tes Los gezogen: Es überlebt nur Über das Thema Artensterben ist viel
journalistin Elizabeth Kolbert. Die Autorin noch in den desinfizierten Terrarien eines geschrieben worden, trotzdem stellen sich
schrieb früher für die New York Times, seit Artenschutzzentrums, in der Natur ist es beim Lesen von Kolberts Buch keine Ermü-
1999 arbeitet sie für das Magazin The New vor Kurzem ausgestorben. Schuld ist der dungserscheinungen ein. Mit ihrer Mi-
Yorker. Das Sechste Sterben wurde im ver- pathogene Chytridpilz, welcher sich im schung aus Reportage, Erzählung und
gangenen Jahr mit dem Pulitzerpreis in der Schlepptau des Menschen rund um den sachlicher Hintergrundinformation schafft
Kategorie Sachbuch ausgezeichnet. Globus ausgebreitet hat und Amphibien es die Autorin, das Thema fesselnd zu ver-
Den ersten Teil ihres Werks widmet zu der am stärksten bedrohten Wirbeltier- packen und gleichzeitig eine Fülle von In-
Kolbert vor allem den großen Aussterbe­ gruppe der Welt macht. formation zu vermitteln. Sie schreibt nüch-
ereignissen der Vergangenheit und der Ge- Auf der Suche nach Hinweisen für das tern, klar und verständlich, teils mit tro-
schichte ihrer Erforschung. Den größten sechste Sterben und seine Ursachen un- ckenem Humor und ohne zu belehren –
Kahlschlag in der Lebewelt verursachte da- ternimmt die Autorin weite Reisen – nach was das Buch umso eindringlicher macht.
bei nicht der Meteorit, der gegen Ende der Island und Italien, nach Peru und Australi-  Elke Maier

3 | 16 MaxPlanckForschung 81
Neu erschienen

Vom freien Willen

Julian Baggini, Ich denke, also will ich, Eine Philosophie des freien Willens
272 Seiten, dtv, München 2016, 20 Euro

Einer der größten und schönsten Streits hung zu neuronalen Ereignissen, der Ge- nur, dass wir in freien politischen Struktu-
zwischen verschiedenen Wissenschafts- netik und den Umwelteinflüssen steht. ren unseren freien Willen frei ausüben
disziplinen ist seit vielen Jahren jener um Der freie Wille äußere sich vor allem als können; auch fördert politische Freiheit
die menschliche Willensfreiheit. Stark ver- „freie Wahl“ im Sinne einer bewussten erst die Fähigkeit zum kritischen Denken.
einfacht sehen die zwei oppositionellen Wahl oder einer Wahl, „die jederzeit hätte In diesem Punkt ist Bagginis Studie
Lager so aus: Das eine geht davon aus, dass auch anders ausfallen können“. Frei sein wirklich innovativ und relevant. Auch sein
der Mensch durchaus freie Entscheidun- heiße außerdem, „dass unsere Entschei- Insistieren darauf, dass wir den Menschen
gen treffen kann, oftmals aufgrund eines dungen, Handlungen, Überzeugungen und als komplexes Wesen sehen, das eben nicht
komplexen Zusammenspiels von Reflexio- Werte unsere eigenen sind“. Es sei aber ge- abgekoppelt durch sein Gehirn, seine kör-
nen, Moral und manchmal auch dem Meta­ rade „nicht das Vermögen [...], sein Leben perlichen Prozesse oder seinen Geist ge-
physischen. Vertreter des anderen Lagers und seine Entscheidungen von einem ab- steuert wird, ist ein durchaus attraktiver
finden, wir Menschen sind von Grund auf soluten Nullpunkt aus ständig neu zu set- Debattenbeitrag. Sein genereller Versuch
determiniert, weil jede unserer Handlun- zen“. Als ein Beispiel bringt Baggini den hingegen, auf eine Art Überwindung bei-
gen physische Ursachen in Gehirn und Kör- Heiratsantrag: In der Entscheidung für der Diskussionspole – Determinismus und
per hat. oder gegen den Antrag seien wir aufgrund absolute Willensfreiheit – hinzuwirken, er-
In die äußerst leidenschaftlich ge- unserer komplexen Wertvorstellungen und scheint insgesamt eher schwammig.
führte Diskussion rund um die Willens- individuellen Prägungen nicht völlig frei, Klar ist Bagginis Wissenschaftskritik.
freiheit schaltet sich nun der britische aber wir würden sie im Normalfall frei von So lässt er sich unter anderem über die Me-
Philosoph Julian Baggini mit seinem ak- Zwang treffen. thodik und das Forschungsinteresse der
tuellen Buch Ich denke, also will ich ein. Für Julian Baggini will darüber hinaus zei- Neurowissenschaftler/innen aus: „Wenn
den Autor geht es beim freien Willen zu- gen, dass eine „absolute Verantwortlich- Sie nach neuronalen Ursachen von Hand-
nächst nicht um etwas Absolutes. Statt- keit“ und der aktuelle Begriff der Freiheit, lungen suchen, dann werden Sie auch
dessen präsentiert er den freien Willen „die immer und überall die Wahl haben“ nichts anderes finden als neuronale Ursa-
als graduell. Das hängt auch damit zu- wolle, nicht erstrebenswert sind. Die „re- chen.“ Aber auch an der eigenen Disziplin,
sammen, dass Baggini davon ausgeht, ale Freiheit“ sei wertvoll genug – und kön- insbesondere an der analytischen Philoso-
dass das Konzept eines freien Willens ne überhaupt nur in Verbindung mit poli- phie, hat Baggini einiges auszusetzen. Vor
durchaus mit den Ergebnissen der Natur- tischer Freiheit Entfaltung erfahren. Bag- allem ruft er grundsätzlich zu einer größe-
wissenschaften vereinbar ist. Denn auch gini beleuchtet damit einen wichtigen ren geistigen Beweglichkeit in der Debat-
für ihn als Philosophen sei klar, dass die Aspekt, der in der Debatte um die Willens- te über (Willens-)Freiheit auf.
Willensfreiheit natürlich in einer Bezie- freiheit bislang eher nachrangig ist: Nicht Anne-Kathrin Weber

Weitere Empfehlungen
D Fred Pearce, Die neuen Wilden, Wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten, 320 Seiten, Oekom Verlag,
München 2016, 22,95 Euro
D Marc-Denis Weitze, Wolfgang M. Heckl, Wissenschaftskommunikation, Schlüsselideen, Akteure, Fallbeispiele, 308 Seiten,
Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2016, 14,99 Euro

82 MaxPlanckForschung 3 | 16
SCHLESWIG-
HOLSTEIN Rostock

Standorte Plön
MECKLENBURG-
Greifswald

VORPOMMERN
Hamburg

Institut / Forschungsstelle
Teilinstitut / Außenstelle Bremen BRANDENBURG
Sonstige Forschungseinrichtungen
Assoziierte Forschungseinrichtungen NIEDERSACHSEN
Berlin
Niederlande Hannover Potsdam
Nimwegen
Italien Magdeburg
Rom Münster
SACHSEN-ANHALT
Florenz NORDRHEIN-WESTFALEN
USA Dortmund
Halle
Jupiter, Florida Mülheim Göttingen
Brasilien Leipzig
Düsseldorf
Manaus Köln SACHSEN
Luxemburg Jena Dresden
Bonn
Luxemburg Marburg THÜRINGEN
Bad Münstereifel HESSEN

RHEINLAND- Bad Nauheim


PFALZ
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SAARLAND Kaiserslautern
Erlangen
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vereinsrechtlicher Sitz: Berlin. Voßstraße 9 Das Heft erscheint in deutscher und englischer Sprache (MaxPlanck-
ISSN 1616-4172 81543 München Research) jeweils mit vier Ausgaben pro Jahr; die Auf­­lage dieser Ausgabe
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