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Z u sa m m e n fa ssu n g : Niklas Luhmanns konstruktivistische Systemtheorie und die neueren Ansätze einer kulturtheo
retischen Analyse wissensangeleiteter sozialer Praktiken, wie sie exemplarisch bei Pierre Bourdieu und Anthony Gid
dens präsentiert wird, vollziehen die ’interpretative Wende’ in den Sozialwissenschaften in einer jeweils konträren
Theoriearchitektur. Luhmann baut mit seiner Leitunterscheidung zwischen psychischen Systemen und sozialen Syste
men in Anlehnung an Descartes, Husserl und Dürkheim auf einer Innen-Außen-Differenz zwischen Bewußtsein und
Sozialwelt auf. Die Kulturtheorien bei Bourdieu und Giddens distanzieren sich hingegen in Anlehnung an Saussure und
den späten Wittgenstein von dieser Innen-Außen-Differenz und gehen stattdessen von der analytischen Leitdifferenz
zwischen Wissensstrukturen und Handlungspraxis aus. Rekonstruiert man Systemtheorie und Kulturtheorien in dieser
Weise, verschieben sich die Fronten gängiger Theoriekritik: Die Kulturtheorien erscheinen nicht als ’individualistisch’,
sondern umgekehrt als Vertreter eines sozialen Regelholismus. Demgegenüber besitzt Luhmanns vorgeblicher Holis
mus im Begriff des psychischen Systems eine individualistische Kehrseite und sieht sich mit der kulturtheoretischen Kri
tik konfrontiert, soziales ’Wissen’ auf Semantik zu reduzieren.
Um das Feld vergangener und gegenwärtiger So Wissenschaftstheorien der Sozialwissenschaft und
zialtheorien zu systematisieren, schlug George Methodologien zu sehen, die sich im weitesten Sin
Ritzer Mitte der 1970er Jahre ein triadisches Sche ne unter dem Dach von Ritzers ’social definition’-
ma vor, das die drei nlöglichen ’Metatheorien’ der Paradigmas wiederfinden, allerdings mit diesem
Sozialwissenschaft voneinander unterscheiden Begriff wohl kaum mehr zu erfassen sind. Viel
soll: das sich von Dürkheims Konzeption einer So mehr kann man eine weitreichende ’interpretative
zialphysik herleitende ’social facts’-Paradigma, das Wende’ in den neueren Sozialwissenschaften (Ra-
von der behavioristischen Psychologie beeinflußte binow/ Sullivan 1979; Bohman et al. 1991), eine
’social behavior’-Paradigma, schließlich das klas Entwicklung zu ’kulturtheoretischen’ oder ’kon
sisch insbesondere in Max Webers Konzept einer struktivistischen’ Denkansätzen (Chaney 1994;
Soziologie der ’Sinnzusammenhänge’ verfochtene Schmidt 1987a) diagnostizieren, die weit über den
kulturwissenschaftliche ’social definition’-Paradig- mikrosoziologischen ’interpretative approach’
ma. Ritzer zufolge existierten in der Geschichte (T. Wilson) der 1960er Jahre hinausreicht.
der Sozialwissenschaften alle drei Denkschulen Die verschiedenen Spielarten einer solchen ’sinn
durchgängig nebeneinander, allerdings begleitet orientierten’Sozialwissenschaft eint eine gemeinsa
von gelegentlichen Gewichtsverschiebungen. (Rit me Grundposition: die Annahme einer sinnhaften
zer 1975) Konstitution der sozialen Welt. Grundlegend für die
Kaum überraschend haben, seitdem Ritzer seine Arbeit der Sozialwissenschaften muß aus dieser
Theoriesystematik formulierte, die theoretischen Perspektive die Einsicht sein, daß anders als die
Gewichte sich tatsächlich verschoben und zudem Welt der Natur die Reproduktion der Sozialwelt auf
die einzelnen Theorierichtungen ihre Gestalt ge der Existenz von kollektiven, handlungs- und kom-
ändert: Das ’social facts’-Paradigma verlor sowohl munikationsanleitenden Bedeutungsmustern be
in der Version einer naturalistischen Soziologie so ruht, die bereits ganz ohne Zutun des Wissenschaft
zialer Regelmäßigkeiten als auch in der Form ei lers wirken. Diese Sinnmuster und die Interpreta
nes am ’Homo sociologicus’ orientierten Struktur tionsakte, die auf ihrer Grundlage vollzogen wer
funktionalismus an Boden. Das methodologisch den, lassen sich damit nicht als bloße - gar die eigent
individualistische ’social behavior’-Lager hat lichen ’sozialen Tatsachen’ verzerrenden - Epiphä
durch die Ausbreitung des Rational Choice Ansat nomene abtun, sondern bilden die Basis, auf der die
zes in Soziologie und Politikwissenschaft eine un soziale Welt möglich ist und auf der allein sie ver
geahnte Stärkung erfahren und sich damit von der stehbar wird. Damit stellt sich im übrigen auch die
Verhaltens- zur Handlungstheorie gewandelt. Die Wissenschaft, als Teil der Sozialwelt begriffen,
tiefgreifendste Gewichtsverschiebung ist aber Unauthenticated
zwangsläufig als eine interpretative, auf spezifi
wohl in der Expansion derjenigen Sozialtheorien, Download
schen Date | 3/27/17
Sinnschemata 9:59 AMTätigkeit dar.
aufbauende
318 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 5, Oktober 1997, S. 317-336
Konzept des psychischen Systems. Aus der Sicht sehen Perspektive ist ebenso einfach wie folgen
der Kulturtheorien muß sie sich dann der Frage reich: Die alltäglichen sozialen Praktiken3 des
stellen, ob die Innen-Außen-Differenz zwischen Menschen - kommunikativer und nicht-kommuni
psychischen und sozialen Systemen nicht einer kativer Art - werden ermöglicht und einge
Eingrenzung des - kulturtheoretisch zum Ver schränkt durch kollektive Sinnmuster, durch meist
ständnis sozialer Reproduktion zentralen - Kon implizit bleibende Wissensstrukturen,4 die in der
zepts des sozialen Wissens auf ’Semantik’ Vor sozialen Praxis eingesetzt werden und diese anlei
schub leistet (3). ten.
In die neuere kulturtheoretische Diskussion gehen
1. Die Kulturtheorien jenseits der Innen- strukturalistische und poststrukturalistische,
Außen-Differenz sprachspieltheoretische, pragmatistische und her-
meneutisch-interpretative Theorieelemente in ver
Der Begriff ’Kulturtheorie’ wird in der sozialwis schiedenartigen Spielarten ein. In exemplarischer
senschaftlichen Theoriediskussion nicht in eindeu Weise ist der kulturtheoretische Argumentations
tiger Weise verwendet. ’Kultur’ ist ein chronisch kern, in dem die strukturalistische und die inter-
vieldeutiger Begriff geblieben,2 und eine ’Kultur pretativ-verstehende Theorietradition letztlich
theorie’ im Singular gibt es nicht. Man sollte viel konvergieren, jedoch wohl in Pierre Bourdieus
mehr vorsichtiger von einer kulturtheoretischen ’Theorie der Praxis’ und in Anthony Giddens’
Perspektive sprechen, die man idealtypisch her ’Theorie der Strukturierung’ skizziert worden, die
ausfiltern kann. Eine solche hat sich in der zweiten trotz gewisser Differenzen ein gemeinsames kul
Hälfte, insbesondere im letzten Viertel des turtheoretisches Vokabular bieten. Grundlegend
20. Jahrhunderts in den Arbeiten von Autoren wie ist hier die Annahme, daß menschliches Handeln -
Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Ulrich Oever- nicht als ein Konglomerat diskreter, intentionaler
mann, Mary Douglas, Alfred Schütz, Clifford Einzelhandlungen, sondern als kontinuierliche Se
Geertz, Erving Goffman, Anthony Giddens oder quenz von Praktiken begriffen - nur vor dem Hin
Charles Taylor in mannigfachen Variationen her tergrund kollektiver Wissensbestände zu verste
ausgeschält. Der Kerngedanke der kulturtheoreti- hen ist, welche wiederum keine praxisenthobenen
Ideenwelten, sondern ein know how von Deu
2 Der Begriff Kultur wird in der sozialtheoretisch rele tungsregeln der Akteure darstellen. Diese Wis
vanten Begriffsgeschichte vor allem in vier verschiedenen sensstrukturen geben den Handelnden kaum je
Bedeutungen verwendet: 1) der normative Kulturbegriff, verbalisierte Sinnmuster an die Hand, die ihnen
der sich in der Aufklärung ausbildet (Pufendorf, Adelung, dazu verhelfen, die Welt, ihre Handlungsumwelt,
Kant) und bis in die Kulturkritik des 19. und 20. Jahrhun das eigene Ich, das Verhalten anderer Akteure und
derts reicht (M. Arnold, G. Simmel, A. Weber): hier er deren Objektivationen zu deuten. Die Sinnzu
scheint ’Kultur’ als eine zivilisatorisch oder moralisch aus schreibungen auf der Basis der impliziten Wissens
gezeichnete menschliche Lebensform; 2) der holistische
strukturen befähigen zum Handeln und schließen
Kulturbegriff, der von Herder herkommend sich in der
Kulturanthropologie und den cultural studies fortsetzt:
gleichzeitig andere Handlungsweisen als ’undenk
Kultur ist die historisch-spezifische gesamte Lebensform bar’ aus. Die Relation zwischen Wissensformatio
eines Kollektivs in Differenz zu anderen Kollektiven; 3) nen und Handeln läßt sich damit als Verhältnis von
der differenzierungstheoretische Kulturbegriff: Kultur ist Struktur und Praxis verstehen, von generativen
hier ein gesellschaftlich ausdifferenziertes Teilsystem, in
dem in institutionalisierter Form Kunst, Bildung und Wis 3 Der Begriff der ’sozialen Praktiken’ hat sich in der neue
senschaft situiert sind (vgl. Parsons’ pattern maintenance- ren kulturtheoretischen Diskussion zur Bezeichnung von
bzw. Treuhandsystem); 4) der sinn- und wissensorientierte durch implizite, kollektive Wissensstrukturen ermöglich
Kulturbegriff: in der neueren sozialtheoretischen Diskus ten Handlungsweisen eingebürgert, die von den Akteuren
sion wird Kultur als eine analytische Dimension identifi - für ihre Umwelt sichtbar - ’kompetent’ hervorgebracht
ziert, die sozialen Praktiken und ihren Produkten zugrun werden (vgl. auch Cohen 1996, kritisch dazu Tbrner 1994).
deliegt bzw. dadurch erzeugt wird, als die Dimension der Der Begriff wird in dieser Weise nicht nur bei Giddens
Bedeutungen, wie sie in den praxisanleitenden Wissensbe und Bourdieu, sondern auch bei Foucault, den Ethnome-
ständen auf Dauer gestellt werden: „ ... a new view of cul thodologen und in den cultural studies verwendet und soll
ture as shared knowledge - not as people’s customs and ar te nicht mit der Begriffsverwendung in der Tradition der
tifacts and oral traditions, but what they must know in or normativ-kritischen sog. ’Praxisphilosophie’ aus der
der to act as they do, making things they make, and inter Budapester Schule verwechselt werden.
Unauthenticated
pret their experiences in the distinctive way they do.“ 4 Zum BegriffDate
Download des impliziten Wissens
| 3/27/17 9:59 AM vgl. die Skizze von
(Quinn/ Holland 1987: 4) Michael Polanyi (1966: Kap. 1).
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zweiter Linie an den Strukturalismus (und Garfin- tionen, von Giddens als Regeln des practical con
kels Ethnomethodologie), so daß sich gegenüber sciousness eingeführt werden.6 Gleichzeitig kann
Bourdieu eine stärkere Betonung der handlungs man die kulturtheoretische Differenz zwischen
kontrollierenden Kompetenz des einzelnen Ak Praxis und Struktur als eine Differenz zwischen
teurs gegenüber den inkorporierten Regeln er dem Zeitkontingenten und dem Zeitresistenten
gibt. Prinzipiell ist das hier angenommene Modell sowie zwischen dem Kontextspezifischen und dem
von sozialen Praktiken und implizitem Regelwis Kontext übergreifenden interpretieren. Soziale
sen aber ähnlich: Handeln in der zeitlichen Se Praktiken finden zu bestimmbaren Zeitpunkten an
quenz ist unweigerlich ermöglicht und einge bestimmten Orten, damit in einem jeweils einzig
schränkt durch Strukturen, durch Regeln (und artigen Kontext statt. Die den Praktiken zugrun
Ressourcen), die gleichzeitig im Handlungsvoll deliegenden Wissensstrukturen müssen hingegen
zug reproduziert (oder gegebenenfalls verändert) als relativ zeitresistent und kontextunspezifisch ge
werden. Diese Regeln haben nicht den Charakter dacht werden: sie existieren über zeitliche und
von externen, sanktionierten Normen, sondern ei räumliche Grenzen hinweg (Giddens 1979: 59ff).
nes vorbewußt bleibenden, impliziten Regelwis Als analytisch-heuristische Differenz bezieht sich
sens, das in Form von ’Erinnerungsspuren’ des die Unterscheidung von ’Wissensregeln’ und
praktischen Bewußtseins (abzugrenzen vom dis ’Handlungssequenzen’ jedoch nicht auf operativ
kursiven Bewußtsein und vom Unbewußten) voneinander unabhängig existierende Phänome
wirkt. Das Regel wissen, das die Akteure routini- ne: Wissensstrukturen existieren immer nur inso
siert einsetzen, liefert sowohl ein methodisches weit, als sie tatsächlich in beobachtbaren Prakti
know how, das ihnen angibt, ’how to go on’ als ken wirken und sich dort ’manifestieren’. Die
auch ein System interpretativer Schemata. Die Praktiken können von den Akteuren andererseits
Wissensstrukturen lassen sich für den Sozialwis aber nur dadurch hervorgebracht werden, daß die
senschaftler je nach Fragestellung entweder als se über die entsprechenden Wissensbestände ver
Eigenschaft eines Bewußtseins oder Akteurs (so fügen. Auch die Differenz zwischen der unter
daß von der Strukturdimension abstrahiert wird) schiedlichen Zeitlichkeit und Kontextualität von
oder als überindividuelle Regelstruktur (was mit Praxis und Struktur kann nicht ontologisch, son
einer Einklammerung der Akteure verbunden ist) dern allein analytisch-heuristisch begründet sein:
begreifen. Letztendlich existieren die ’abwesen Wenn Wissensstrukturen nur in ihrer realen An
den’ Wissensstrukturen jedoch allein im realen wendung in der Handlungssequenz existieren,
Handlungsprozeß, und umgekehrt setzt die Hand muß ihre zeitliche Stabilität gegenüber dem Hand
lungsfähigkeit der Akteure wiederum die Verfü lungsstrom ebenso relativiert werden wie die prin
gung über implizite Wissensstrukturen voraus. zipielle Kontextfreiheit der Regeln. Die Wissens
(Giddens 1979,1984) bestände stellen dann nur in einem eingeschränk
Mit der Differenz zwischen ’Struktur’ und ’Pra ten Sinne einen ’Bestand’ dar, da sie im zeit- und
xis’ werden keine eigenständig existierenden kontextspezifischen Handeln potentiell modifi
Sphären voneinander geschieden, sie muß bei zierbar sind (Giddens 1979: 81ff).
Giddens und Bourdieu vielmehr als eine analy Die Besonderheit der kulturtheoretischen Per
tisch-heuristische Unterscheidung verstanden spektive wird erst dann deutlich, wenn man ihren
werden. Als eine solche bezieht sie sich einerseits an der Leitdifferenz von Wissensstrukturen/ Re
auf die Differenz zwischen beobachtbaren Regel geln und Handlungspraxis ausgerichteten Theorie
mäßigkeiten und nicht direkt beobachtbaren ’ge rahmen als ein Vokabular interpretiert, das sich
nerativen’ Regeln, gleichzeitig auf die Differenz
zwischen dem, was unter spezifischen zeitlichen 6 Hier ist nicht der Ort, auf die internen Unterschiede in
und räumlichen Bedingungen geschieht, und nerhalb des kulturtheoretischen Feldes einzugehen, die
dem, was unabhängig vom zeitlichen und räumli vor allem eine unterschiedliche Behandlung der Frage be
chen Kontext existiert. trifft, wie der Akteur mit seinen inkorporierten Wissens
Soziale Praktiken sind selber keine Regeln, son strukturen umzugehen vermag: Giddens etwa geht von
der basalen Fähigkeit des Akteurs zu einem ’reflexive mo
dern Handlungsregelmäßigkeiten, beobachtbares
nitoring of action’, einer Fähigkeit der Handlungssteue
repetitives Handeln. Regelcharakter haben hinge rung aus, die auch kontextspezifische Regelmodifikatio
gen die Wissensstrukturen: Die Regelmäßigkeit nen einschließt, während Bourdieu eine Neigung hat, in
der Handlungsformen erscheint nur erklärbar, strukturalistischer Manier die Reproduktion der Wissens
wenn man ihre Einbettung in jene Wissens-’Re strukturen ’durch den Unauthenticated
Handelnden’ hindurch anzuneh
geln’ begreift, die von Bourdieu als Habitusforma men.Download Date | 3/27/17 9:59 AM
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jenseits der philosophisch und sozialtheoretisch nimmt und die Welt damit als Korrelat dieses Be
wirkungsmächtigen Innen-Außen-Differenz von wußtseins deutet, so geht Dürkheim gewisserma
Subjekt und Objekt, von Bewußtsein und Welt, ßen von der res extensa aus, verstanden als eine ge
von Individuum und Gesellschaft bewegt. Drei sellschaftliche res extensa sozialer Tatsachen, die
Versionen einer solchen Innen-Außen-Differenz kausal auf die Subjekte und Bewußtseine einwir
sind von besonderer Relevanz und gegen alle drei ken. Die faits sociaux, die in erster Linie sanktio
richtet sich das Vokabular der kulturtheoretischen nierte Normensysteme der Gesellschaft darstellen,
Perspektive: die Subjektphilosophie bei Descartes üben ’von außen auf die Individuen Zwang aus’,
und bei Husserl sowie das Paradigma des Homo wirken damit als soziale Determinationskräfte von
sociologicus bei Dürkheim. ’außen’ nach ’innen’. Die für das Bild des Homo
sociologicus typische Voraussetzung einer Exter-
Die Initialzündung zu einem ontologischen Deu
nalität des Sozialen baut damit nur in einer ande
tungsschema, das um eine Innen-Außen-Differenz
ren Version wiederum auf der prinzipiellen Unter
zwischen dem Bewußtsein einerseits, der ’Welt’
scheidbarkeit zwischen einer subjektiven Innen
außerhalb des Bewußtseins andererseits zentriert
welt - hier: der individuellen ’Neigungen’ - und
ist, läßt sich in Descartes’ erkenntnisphilosophi
der Außenwelt - hier: der gesellschaftlichen Nor
schen ’Meditationes’ finden. Res cogitans und res
men - auf. (Dürkheim 1895)7*
extensa erscheinen hier als ontologisch differente
Entitäten, die sich eindeutig voneinander abgren So unterschiedlich und in manchen Hinsichten ge
zen lassen: das ’private’, allein der Introspektion gensätzlich die Perspektiven von Descartes, Hus
zugängliche, unteilbare Ich auf der einen Seite, die serl und Dürkheim auch sein mögen, alle drei
’ausgedehnte’ Objektewelt außerhalb des Bewußt exemplifizieren damit das Denken in der Innen-
seins, als Gegenstand der (Natur-)Wissenschaft Außen-Differenz zwischen der Innenwelt eines
auf der anderen Seite. (Descartes 1641) ’eigenen’ Ego und einer natürlich-körperlichen,
intentional konstituierten oder sozialen ’fremden’
Die Innen-Außen-Differenz zwischen Bewußtsein
Außenwelt.
und Welt, die bei Descartes noch als ontologischer
Dualismus gedacht ist, wird in Husserls Phänome Das Konzept einer Ermöglichung und Einschrän
nologie und in Dürkheims Gesellschaftstheorie kung der sozialen Praktiken durch kollektive, im
entontologisiert und in gegensätzlicher Form ver
arbeitet: In seiner Differenz zwischen ego cogito 7 Vgl. auch die Dürkheim-Interpretation von Steven Lu
und cogitatum ’subjektiviert’ Husserl die Außen kes (1973:16- 23), der zudem auf die Mehrdeutigkeiten im
welt des Bewußtseins. Diese existiert nicht als ei Durkheimschen Dualismus zwischen Gesellschaft und In
genständige Entität, sondern allein als Korrelat dividuum hinweist. Die Innen-Außen-Differenz zwischen
Individuum und Gesellschaft wird dabei besonders deut
der Bewußtseinsintentionen des Ego, das im zeitli
lich in den ’Regeln der soziologischen M ethode’ formu
chen Vollzug seiner ’cogitationes’ die Welt als kon liert, während sich Dürkheims kultursoziologisches Spät
stituiert durch einen spezifischen Sinnhorizont er werk, das auf dem Begriff der ’representations collectives’
faßt. Diese Vorstellung setzt jedoch die Differenz aufbaut, von diesem Dualismus löst. Daß Dürkheims
zwischen Innen und Außen, zwischen, so Husserl, Homo sociologicus und Saussures Strukturalismus - der
dem ’Eigenen’ des Ego und dem ’Fremden’, dem oben als Ahnherr der Kulturtheorien eingeordnet wurde -
Nicht-Ego, zwischen Noetischem und Noemati- im übrigen zwei parallele Fälle eines anti-individualisti
schem voraus. Die phänomenologische Epoche schen Denkens darstellen, das die Annahme einer emer-
zwingt dazu, - vergleichbar Descartes’ Methode genten Ebene des Sozialen eint, ist unbestritten. Der ent
des radikalen Zweifels - zunächst allein das ’reine scheidende Unterschied ist jedoch im jeweiligen Status
dieser Emergenzebene zu sehen: Im Strukturalismus han
Bewußtseinsleben’ vorauszusetzen, um dann die
delt es sich hier primär um eine kognitive Ordnung, die
Außenwelt des Bewußtseins als Phänomen, wel sich dem Individuum einschreibt und dieses dadurch erst
ches von dem Bewußtsein als solches erfaßt wird, konstituiert. Im Konzept des Homo sociologicus geht es
von diesem different setzen zu müssen. (Husserl hingegen primär um eine moralisch-normative Ordnung,
1931) der sich die Individuen - verstanden als neo-kantische ho
mines duplices zwischen allgemeinen Pflichten und sub
Genau umgekehrt verfährt Dürkheim in seiner jektiven Neigungen - gegenüberstehen. Wenn im Bild des
Verarbeitung der Innen-Außen-Differenz. Hier Homo sociologicus die normative Ordnung wegfällt, blei
wird nicht die Außenwelt subjektiviert, sondern in ben immer noch die Individuen mit ihren subjektiven Nei
der Differenz zwischen Individuen und sozialen gungen übrig. Wenn im Strukturalismus die kognitive
Unauthenticated
Tatsachen die Innenwelt objektiviert. Wenn Hus Ordnung wegfiele, verschwänden auch die Akteure, es
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serl Descartes’ res cogitans zum Ausgangspunkt bliebe - nichts.
Andreas Reckwitz: Kulturtheorie, Systemtheorie 323
plizite und zugleich im einzelnen Akteur inkorpo turen „Explicitly or otherwise, such authors [das
rierten Wissensstrukturen in den Kulturtheorien heißt Vertreter der an Dürkheim angelehnten soci
ist nun von vornherein so gebaut, daß weder wie in al facts-Soziologie] have tended to see in structural
der Subjektphilosophie ’das Bewußtsein’ noch wie constraints a source of causation more or less equi
beim Homo sociologicus ’die sozialen Tatsachen’ valent to the operation of impersonal causal forces
außerhalb des Bewußtseins und damit auch keine in nature.. .The structural properties of social sys
quasi-natürliche Differenz zwischen beiden als ge tems, in other words, are like the walls of a room
geben vorausgesetzt werden können. Wissens from which an individual cannot escape but inside
strukturen werden einerseits als Regeln, die Sinn which he or she is able to move around at whim.“
zuschreibungen anleiten, beschrieben, als überin (Giddens 1984: 174; 1979: 49- 53).
dividuelle, in diesem Sinne soziale Entitäten, die
den jeweiligen ’subjektiven’ Motiven und Hand Die Innen-Außen-Differenz muß aus der Perspek
lungen immer schon vorausgehen und sich auch tive der Kulturtheorien entweder in eine subjekti-
unabhängig vom einzelnen Subjekt analysieren vistische Soziologie oder in das Bild des Homo so
lassen. Gleichzeitig können sie aber nur wirksam ciologicus oder in eine Kombination beider füh
werden, indem sie von den Akteuren, die sie in ihr ren. In allen Fällen separiert sie eine Sphäre des
Handeln einfließen lassen, inkorporiert, implizit Subjektiven und Psychischen von einer Sphäre des
gewußt und im Handeln angewandt werden. Wis Sozialen: entweder muß dann der individuelle,
sensgeleitete Praktiken lassen sich für die Kultur dem Sozialen äußere Charakter der Subjekte be
theorien nur jenseits einer Differenz von privatem hauptet werden oder aber der eigenständige,
Bewußtsein und externer sozialer Welt begreifen; emergente Charakter des Sozialen jenseits und au
die Wissensregeln seien sozial, überindividuell und ßerhalb des Bewußtseins der Subjekte - letztlich
doch gleichzeitig ’im Akteur’ vorhanden. zwei Positionen, die nur die Kehrseite der jeweils
anderen darstellen. Die kulturtheoretische Kon
Pierre Bourdieu und Anthony Giddens argumen zeption wissensangeleiteter Praktiken geht hinge
tieren beide in ihren jeweiligen Fassungen einer gen immer schon davon aus, daß das, was schein
’Kulturtheorie’ gegen das sozialtheoretische Den bar subjektive Besitzstände des einzelnen Bewußt
ken in Innen-Außen-Differenzen. Ihre Argumen seins sind, tatsächlich in übergreifende Regel
tation wendet sich dabei einerseits gegen Versuche strukturen eingebettet ist, während umgekehrt die
einer phänomenologischen Soziologie,8 anderer scheinbar eigenständigen, subjektunabhängigen
seits und vor allem gegen das Bild des Homo soci sozialen Tatsachen nur bestehen, wenn sie in Form
ologicus: Beide kritisieren an letzterem, daß hier von Wissensstrukturen das reale Handeln der Ak
’das Soziale’ als eine den Subjekten äußerliche teure in deren ’Bewußtsein’ (wenn auch ’vorbe
Sphäre dargestellt wird, der nur deshalb in einem wußt’) anleiten.9
zweiten Schritt ’kausaler’ Einfluß zugeschrieben
werden kann, da sie von Anfang an dem Innern
des Individuums gegenüber als different gedacht 2. Die Innen-Außen-Differenz der
ist. Bei Bourdieu wird die Kritik am Homo socio- Systemtheorie
logicus-Modell in eine Kritik am normativistisch-
legalistischen Denken in der Soziologie gekleidet, Die Ausgangsunterscheidung von Luhmanns kon
welches Handeln als Produkt externer, expliziter struktivistischer Systemtheorie ist nicht die Diffe
Normen statt inkorporierter, impliziter Habitus renz zwischen Wissensstruktur und Handlungspra
formationen deutet (1972: 203- 227). Für Giddens xis, sondern die zwischen System und Umwelt,
handelt es sich in dieser ’strukturtheoretischen So zwischen einem sich selbst von seiner Umwelt dif
ziologie’ um eine Variante eines präjudizierten
Dualismus zwischen Akteuren und sozialen Struk- 9 Zygmunt Bauman formuliert in ähnlicher Richtung:
Kultur „transcend(s) the opposition between the subject
8 Eine systematische kritische Auseinandersetzung mit ive and the objective.... It is, simultaneously, the objective
Husserls Bewußtseinsphilosophie vor dem Hintergrund foundation of the subjectively meaningful experience and
einer von Wittgenstein (allerdings kaum von Strukturalis the subjective ’appropriation’ of the otherwise inhumanly
mus) beeinflußten Sozialtheorie findet sich bekanntlich alien w orld.... It resists stubbornly all attempts to associ
bei Habermas (1971). Zur Interpretation von Wittgen ate it unilaterally with either one or the second pole of the
stein und von Saussure als zwei Versuche, die bewußt experimental frame. The concept of culture is subjectively
seinstheoretische Innen-Außen-Differenz zu überwinden objectified; it is an effort to understand how an individual
Unauthenticated
vgl. auch Harland (1987: 123ff) und Rubinstein (1981: action can possess a supra-individual validity (in: Bauman
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1973:116f).
95ff).
324 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 5, Oktober 1997, S. 317-336
ferent setzenden System - das erst durch die Diffe ist somit die Voraussetzung der Existenz von Ope
rentsetzung seine Identität erlangt - und eben die rationen, von Ketten ereignishafter Elemente glei
ser Umwelt.101*Dieses Schema der sich selbst von chen Typs, die sich ’autopoietisch’ aus sich selber
einander different setzenden Systeme läßt sich auf produzieren. Sofern in diesen Operationen Sinn
verschiedenartige Systemtypen anwenden, beson prozessiert wird, handelt es sich gleichzeitig um
ders folgenreich wird die System-Umwelt-Unter- ’Beobachtungen’, Beobachtungen der Umwelt
scheidung jedoch in der Differenz zwischen den oder des eigenen Systems, die in der Form von Be
beiden verschiedenartigen Typen von Sinnsyste zeichnungen auf der Grundlage sinnhafter Unter
men, den psychischen und den sozialen Systemen. scheidungen verlaufen. In Luhmanns ’operativem
Konstruktivismus’ bildet sich damit das, was man
Warum soll man nach Luhmann dem Imperativ ein ’System’ nennen kann, dadurch, daß Beobach
’draw a distinction’ nun aber genau so und nicht tungsoperationen sich von fremden Operationen
anders folgen und zwischen sozialen und psychi und Beobachtungen selber unterscheiden und sich
schen Systemen unterscheiden? Solange man Sy durch diese Unterscheidung als eigene Beobach
stemtheorie betreibt, stellt sich diese Differenz - tungsoperationen zu identifizieren vermögen.
ebenso wie die zwischen einzelnen psychischen
und zwischen einzelnen sozialen Systemen - nicht Ein psychisches System ist daher ein psychisches
als eine ’analytische’, ’lediglich’ heuristisch moti System, nicht weil der wissenschaftliche Beobach
vierte Theorieentscheidung dar, sondern ist ’durch ter es auf diese Weise identifiziert, sondern weil es
den Gegenstand selber aufgezwungen’. Die Frage, sich selber als Kette von Gedanken von ’allem an
ob ein System vorliegt oder nicht, fällt, so Luh deren’, das heißt von fremden, unzugänglich er
mann, nicht in den Ermessensspielraum des wis scheinenden Ketten von Gedanken - also anderen
senschaftlichen Beobachters, sondern ist in der be psychischen Systemen (’ich im Unterschied zu den
obachteten ’Realität’ bereits immer schon beant anderen’) - sowie von ihnen ’äußeren’ Kommuni
wortet:11 Die operativen Beobachtungen der sinn kationen - die im Unterschied zu den privaten Ge
haften Realität - die die Sozialwissenschaft nun danken öffentlich stattfinden (’mein Denken im
ihrerseits beobachtet - setzen sich nämlich selber Unterschied zum Reden’) - unterscheidet und da
bereits von anderen Operationen und Beobach mit eine eigene ’Identität’ als ’Bewußtsein’ erlangt.
tungen different und legen damit fest, wo die eige Analoges gilt für ein soziales System: Ein soziales
nen und wo die fremden Operationen und Beob System ist ein soziales System, indem sich eine
achtungen verlaufen, bestimmen mithin, was zum Kette von Kommunikationen selber von allem an
eigenen System gehört und was zur Umwelt dieses deren außer ihr unterscheidet - von Kommunika
Systems (Luhmann 1988: 38; 1990: 65; 1992b: 28). tionen anderen Typs, denen andere Erwartungs
strukturen und Semantiken zugrundeliegen, und
Entscheidend für die systemtheoretische Voraus erst recht von den ’unzugänglichen’ privaten Ge
setzung einer Differenz von System und Umwelt danken innerhalb der Bewußtseine - und sich da
mit als soziales System zu identifizieren weiß. Psy
10 A uf diesen Prozeß des systemischen Sich-von-der- chische Systeme/ Bewußtseine und soziale Syste
Umwelt-Differentsetzens, der erst die eigene Identität er me/ Kommunikationen konstituieren sich jeweils
möglicht, wird verwiesen, wenn Luhmann von der ’Diffe dadurch als ein ’Selbst’, daß sie sich von allem
renz zwischen Identität und Differenz’ der neueren, beob Fremden, Äußeren different setzen. Luhmann ver
achtungstheoretischen Systemtheorie spricht (1984: 26). wendet dabei selber den Begriff der Tnnen-
Freilich baut diese Differenz weiterhin auf der ’älteren’
Außen-Differenz’ (1996: 33): Das System identifi
System-Umwelt-Differenz auf. Wagner/ Zipprian (1992)
weisen daher zurecht darauf hin, daß letztlich bei Luh
ziert sich selbst als ein Innen dadurch, daß es sich
mann immer eine Identität vorausgesetzt bleiben muß: von einem Außen sinnhaft unterscheidet.
die der beobachtenden Operation selber. Luhmanns auf der Differenz zwischen System und
11 „Das Belieben des Beobachters liegt in der Wahl des Umwelt beruhender Konstruktivismus erweist
Systems, von dem er ausgeht, nicht aber in der Frage, was sich damit - vielleicht überraschenderweise - in ei
er als System behandeln kann.“ (Luhmann 1990: 65). G e ner neuartigen Form als ’teilnehmerorientierte’
legentlich klingt Luhmanns Begründung für die Wahl des
Soziologie. Im Gegensatz etwa zur Systemtheorie
systemtheoretischen Unterscheidungsschemas dabei er
staunlich ’realistisch’: „...m uß man bei einer theoreti
Parsons’, die ihre strikt ’analytischen’ Unterschei
schen Erklärung, die sich auf die wirklichen Verhältnisse dungen zwischen verschiedenen Systemtypen al
einläßt, Bewußtseinssysteme und kommunikative Syste lein dem wissenschaftlichen Beobachter schuldet,
Unauthenticated
me (soziale Systeme) streng unterscheiden.“ (1988: 39, will Luhmann die Differenz zwischen psychischen
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Hervorhebung A.R.) und sozialen Systemen (sowie zwischen einzelnen
Andreas Reckwitz: Kulturtheorie, Systemtheorie 325
Verdopplung - und bezieht vor allem den Kernge mantik identisch. Wenn soziale Systeme nichts an
danken der Selbstproduktion von Innen-Außen- deres sind als Kommunikationen, so müssen die
Differenzen allein auf das Bewußtsein. Luhmann stabilisierten Unterscheidungsschemata, so muß
überträgt ihn auch auf soziale Systeme, auf Kom das soziale Wissen eine sprachliche Form besitzen
munikationen, beläßt ihn aber mit Blick auf Be (zumindest soweit Kommunikation sprachlich ist)
wußtseine, auf psychische Systeme unverändert. und somit als ’Semantik’ auftreten, womit keines
Die Systemtheorie „verwendet, wie die Bewußt falls allein die ’gepflegte Semantik’ der Schrift
seinsphilosophie, das Konzept der Geschlossen sprache gemeint ist, sondern jegliche kommunika
heit der selbstreferentiellen Reproduktion des Sy tionsstrukturierende Semantik. (1990: 107f,
stems.“ (1986b: 171) „Für den Fall von Bewußt Kap. 1-3)14*
seinsleistungen könnte man Husserls Analysen Wie sich die eigenständigen Beobachtungen der
wiederholen... Für den Fall von Kommunikatio psychischen Systeme beschreiben lassen, ist für
nen müßte man eine Parallelkonstruktion finden, eine Theorie sozialer Systeme umgekehrt nur ein
die auch hier das nachweist, was, und es so nach marginales Problem, vielmehr für Luhmann pri
weist, wie es im Falle des Bewußtseins funktio mär die Aufgabe der Psychologie. Er legt lediglich
niert.“ (1996: 50). fest, daß psychische Systeme sich als Operationsty
Luhmanns Innen-Außen-Differenz zwischen psy pus ’Gedanken’ identifizieren lassen, die, sobald
chischen und sozialen Systemen hat nun entschei sie ihrerseits (fremd- oder selbst-) beobachtet wer
dende Konsequenzen für seine Konzeptualisie- den, die Form von ’Vorstellungen’ annehmen. Die
rung von Sinnmustern. Grundsätzlich ist das Me Unterscheidungen und Bezeichnungen der psychi
dium ’Sinn’ den sozialen und psychischen Syste schen Systeme erlauben auch diesen - ähnlich den
men gemeinsam: Wenn sich Sinn als ein „Prozes sozialen Systemen -, kognitive ’Erwartungen’ an
sieren nach Maßgabe von Differenzen“ (1984: ihre Umwelt auszubilden, die sich insbesondere an
101) verstehen läßt, so stellen sich Kommunikatio bestimmtes ’Verhalten’ innerhalb von sozialen Sy
nen wie Gedanken als sinnhafte Beobachtungen, stemen richten, Erwartungen, die sich dann zu
als Sinnsysteme dar. Aber das kann für das opera- kontrafaktisch stabilisierten ’Ansprüchen’ ver
tionalistische Denken gerade nicht bedeuten, daß dichten. (1984: Kap. 7; 1987b)
Sinn gewissermaßen ’grenzüberschreitend’ beide Luhmann stellt fest, daß das einzelne psychische
Systemtypen als eine gemeinsame Struktur über System - und im übertragenen Sinne auch das ein
wölbt. Die Innen-Außen-Differenz zwingt viel zelne soziale System - sich jeweils durch ’Indivi
mehr zu einer Bifurkation von zwei irreduziblen dualität’ auszeichnen. Mit dieser Beschreibung
Typen von Sinnstrukturen, die die jeweiligen Be schließt er an die von ihm selber in anderem Kon
obachtungsoperationen anleiten: Auf der einen text rekonstruierte typisch moderne Semantik des
Seite existieren jene Unterscheidungsschemata, Individuums und der Individualität positiv an
die den Beobachtungen eines psychischen Systems (Luhmann 1987c; 1989: 149- 258). ’Individualität’
zugrundeliegen, auf der anderen Seite jene, die die als semantisches Konzept, das sich ursprünglich in
Beobachtungen eines sozialen Systems anleiten. den ästhetischen, philosophischen und politischen
Nur diejenigen Sinnstrukturen, die den Kommuni Debatten um Originalität, Bewußtsein und Indivi
kationen, den sozialen Systemen, zugrundeliegen, dualismus im 18. und 19. Jahrhundert ausgebildet
belegt Luhmann dabei ausdrücklich mit dem Be hat, läßt sich in dem Grundsatz zusammenfassen:
griff des ’Wissens’ (1990:133), während er sich für „Das Individuum ist die Welt im besonderen Ich“
psychische Systeme mit dem allgemeineren Begriff (1989: 207) „...Individualität ist, um eine glückli
der ’Erwartungen’, vor allem in Form von ’An che Formulierung von Georg Simmel zu zitieren,
sprüchen’ behilft. die Normung des Ich durch das Ich.“ (1989: 213) -
Was ist nun ’Wissen’ als die Sinnstruktur von sozia und genau diese Aussage läßt sich im Kern nun auf
len Operationen? Sobald in einem sozialen System die psychischen Systeme allgemein übertragen.
Sinn ’kondensiert’, mithin auf Dauer gestellt und
’konfirmiert’ wird, das heißt, in verschiedensten
14 Der Wissensbegriff wird dabei von Luhmann in ähnli
Situationen anwendbar ist, sobald sich damit rela
cher Weise wie von Giddens temporalisiert: Strengge
tiv stabile Unterscheidungsschemata ausgebildet nommen kann es keine überzeitlichen Wissensbestände
haben, kann man vom ’Wissen’ eines sozialen Sy geben, real ist vielmehr lediglich das Wissen, das in der
stems sprechen: „Nichts anderes ist gemeint, wenn operativen Sequenz bzw. in der Sequenz sozialer Prakti
wir gelegentlich von Semantik sprechen“ (1990: ken angewandt wirdUnauthenticated
(Luhmann 1990: 128ff; Giddens
107). Wissen als soziale Sinnstruktur ist mit Se Download Date | 3/27/17 9:59 AM
1979:198ff).
Andreas Reckwitz: Kulturtheorie, Systemtheorie 327
Wenn für Luhmann psychische Systeme ’individu Kopplungen sind somit nichts anders als - allein
ell’ sind, es zur Zeit von ihnen - wie er gerne be durch einen externen Beobachter feststellbare
tont - ’sechs Milliarden verschiedene gibt’, so heißt (1990: 530 - hier muß Luhmann seine Teilnehmer
dies nichts anderes, als daß jedes Bewußtsein ge perspektive verlassen) - regelmäßige Irritations
mäß seinem eigenen, individuellen Beobachtungs verhältnisse zwischen verschiedenen Operations
schema operiert: „Daher sieht für jedes psychische sequenzen, Irritation bedeutet für Luhmann Kon
System die Welt anders aus.“ (1991: 145). Wenn frontation eines Systems mit Ereignissen aus sei
man diese Einsicht nicht nur auf psychische, son ner Systemumwelt, und zwar eine Konfrontation
dern auch auf soziale Systeme bezieht, kann Luh nach Maßgabe der Unterscheidungsschemata des
mann seine Theorie berechtigterweise als einen eigenen Systembildschirms (1990: 38ff, 163ff).16
’radikal individualistischen’ Ansatz beschreiben: Das Konzept der strukturellen Kopplung bestätigt
„die Theorie autopoietischer, sich-selbst- damit die prinzipielle Bifurkation zwischen den
ausdifferenzierender Systeme (ist) eine radikal in Operationen des Psychischen und denen des So
dividualistische Theorie ..., weil sie ihre Indivi zialen.
duen ... durch jeweils eigene, selbstkonstituierte Betrachtet man Luhmanns konstruktivistische Sy
Umweltperspektiven, also durch jeweils anders stemtheorie vor dem Hintergrund der Kontrastfo
konstruierte Welteinschnitte kennzeichnet.“ lie der ’Kulturtheorien’, so kommt man zu folgen
(1994: 165). dem Schluß: Während die Kulturtheorien jenseits
Die Bifurkation zwischen den psychischen und der Innen-Außen-Differenz zwischen Bewußtsein
den sozialen Systeme auf der Ebene ihrer Opera und (sozialer) Welt formuliert werden, vielmehr
tionen, Beobachtungen und Schemata der Beob auf der analytischen Unterscheidung von Regeln
achtung bedeutet auch für die Systemtheorie nun und Handeln aufbauen und damit handlungsanlei-
bekanntlich nicht, daß beide beziehungslos neben tende Wissensstrukturen als sozial emergent und
einander existierten. Freilich muß das Verhältnis subjektiv wirksam gleichermaßen annehmen, baut
der Systeme zueinander so konzeptualisiert wer Luhmann umgekehrt mit expliziter Berufung auf
den, daß die operative Differenz zwischen beob Husserl auf dieser Innen-Außen-Differenz in der
achtenden Systemen und ihrer Umwelt erhalten flexibilisierten Form einer Theorie autopoietisch-
bleibt. Dies soll der Begriff der ’strukturellen selbstreferentieller Systeme auf. Die Sphäre des
Kopplung’ leisten. Strukturelle Kopplungen kön Psychischen und die Sphäre des Sozialen verlaufen
nen für Luhmann im Rahmen einer Theorie ope in diesem Theorierahmen voneinander separiert
rativ geschlossener Systeme keine Kausalitätsbe und stellen hier als psychische Systeme und als so
ziehung bezeichnen. Die Annahme von intersyste ziale Systeme operational getrennte Sinnsequen
mischen Ursache-Wirkungs-Beziehungen würde zen dar.
die Systeme als Trivialmaschinen mißverstehen, Luhmanns Bifurkation zwischen sozialen und psy
die ein Input mit einem Output beantworten. chischen Systemen läßt sich theoriehistorisch als
Wenn jedes operative Sinnsystem, ob psychisch eine innovative Kombination der leitenden Innen-
oder sozial, nur entlang der eigenen Differenz Außen-Differenzen von Husserl und von Dürk
schemata zu beobachten vermag, so kann es un heim lesen. Von Husserl entlehnt Luhmann den
möglich von außen determiniert, sondern allein Gedanken der sinnhaften Selbstproduktion von
durch Ereignisse in seiner Umwelt ’irritiert’ wer Innen-Außen-Differenzen, von Differenzen zwi-
den. Irritiert werden soziale Systeme nun regelmä
ßig durch Ereignisse der psychischen Systeme so 16 Vom Begriff der strukturellen Kopplung zu unterschei
wie möglicherweise durch bestimmte andere sozia den ist der neuerdings von Luhmann gelegentlich für in
le Systeme in ihrer Umwelt, psychische Systeme tersystemische Beziehungen verwendete Begriff des ’Ma
wiederum erfahren regelmäßige Irritationen durch terialitätskontinuums’ (1990:30,39). Während der Begriff
Ereignisse der Kommunikationen sozialer Syste ’strukturelle Kopplung’ ’lediglich’ Irritationsverhältnisse
me.15 ’Irritationen’ können per definitionem im bezeichnen kann, soll der Begriff ’Materialitätskonti
mer nur auf der Grundlage der eigenen systemi nuum’ offenbar auf ’tieferliegende’ gegenseitige Konstitu
schen Beobachtungsschemata wirken. Strukturelle tionsbeziehungen verweisen (die früher der Begriff der
Interpenetration mitabgedeckt hatte, vgl. 1984: Kap.
Kap. 6), darauf, daß System X auf die Existenz eines Sy
15 Luhmann weist in diesem Zusammenhang im übrigen stems Y ’angewiesen’ ist. Diesen Zusammenhang in einer
darauf hin, daß ’Sprache’ das wichtigste Medium der operationstheoretisch fundierten Theorie präzise auszu
Unauthenticated
drücken, scheint jedoch beträchtliche Schwierigkeiten zu
strukturellen Kopplung zwischen sozialen und psychi
schen Sinnsystemen ist (1990: 47ff).
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bereiten.
328 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 5, Oktober 1997, S. 317-336
sehen ’eigenen’ und ’fremden* Operationen. Hus der relevanten Sinnsysteme zu lösen: Den gegen
serl formuliert jedoch eine derartige Differenz all über der Phänomenologie unverändert gedachten
gemein zwischen Bewußtsein und ’Welt’ und nicht Bewußtseinen wird ein ähnlich gebauter Typus
im speziellen eine Differenz zwischen Bewußtsein ’Kommunikationssysteme’ gegenübergestellt, der
und Sozialwelt. Damit wird vorausgesetzt, daß das schon per definitionem aus einem genuin sozialen,
Selbst, das seine Identität durch Differentsetzung den Bewußtseinen theoretisch analog gebauten
zur ’Außenwelt’ gewinnt, immer nur das Bewußt Operationstyp besteht. Wenn das Bewußtsein als
sein und nicht die ’Welt’ außerhalb des Bewußt autopoietisch-selbstreferentielles System beschrie
seins sein kann. Daß sich umgekehrt die Welt von ben wird und weiterhin beschrieben werden soll
den Bewußtseinen different setzen könnte, wäre (aus dem dann das Soziale konsequenterweise
undenkbar. nicht abgeleitet werden kann) und trotzdem die
Für Luhmanns Innen-Außen-Differenz ist nun aber Vorstellung einer emergenten Ebene des Sozialen
gerade die Differenz zwischen Bewußtsein und So zu verteidigen ist, dann bleibt als theoriearchitek
zialwelt zentral - und diese kann er von Dürkheim tonisch konsequente Lösung, das Soziale wie das
übernehmen. Dürkheims theoriekonstitutive Bewußtsein als eigenständigen Typus einer auto-
Innen-Außen-Differenz ist die zwischen Indivi poietisch-selbstreferentiellen Operation zu den
duum und Gesellschaft, zwischen Individuen und ken. Mit der Innen-Außen-Differenz zwischen
sozialen Tatsachen. Für Luhmann ist wie für Dürk Psychischem und Sozialem scheint es Luhmann
heim die Sozialwelt gegenüber der Innenwelt der damit möglich, ’to have the cake and to eat it’: Be
Individuen ’extern’. Umgekehrt sind dann auch die wußtseine nach Art der Bewußtseinsphilosophie
Individuen gegenüber der Sozialwelt extern. Damit zu verstehen - und gleichzeitig begrifflich über
wird für Dürkheim wie für Luhmann jener Wechsel eine genuine Sphäre des Sozialen zu verfügen.
der Systemreferenz vollzogen, der für die Soziologie
entscheidend ist: das Innen braucht nicht mehr
zwangsläufig das Bewußtsein, sondern kann auch 3. Verschobene Fronten:
die soziale Welt sein. Freilich bleibt die Innen-Au Kulturtheoretischer Holismus,
ßen-Differenz bei Dürkheim dem Gedanken einer systemtheoretischer Individualismus und
vorkonstruktivistischen System-Umwelt-Differenz die Frage des Wissensbegriffs
verhaftet, die die selbstreferentielle Wende noch
nicht vollzogen hat, vielmehr System und Umwelt Es ist deutlich geworden, daß trotz ihrer grund
als gegebene Entitäten mit Input-Output-Bezie- sätzlich gemeinsamen Einsicht in die sinnhafte
hungen statt als sich sinnhaft selbstproduzierende Konstitution der Wirklichkeit Luhmanns System
Operationen konzeptualisiert. theorie und die Kulturtheorien völlig verschiede
Das Ergebnis von Luhmanns Kombination von nen Aufbauprinzipien gehorchen: Im Kern von
Husserls Differenz zwischen Bewußtsein und Welt Luhmanns Ansatz steht die Innen-Außen-Diffe
und Dürkheims Differenz zwischen Individuum renz zwischen Sozialem und Psychischem. Die
und Gesellschaft ist eine gegenüber Husserl flexi Kulturtheorien von Bourdieu und Giddens stehen,
bilisierte Form der Innen-Außen-Differenz. Was dem Strukturalismus und Wittgenstein folgend,
das ’Innen’ ist, das sich von einem ’Außen’ diffe diesem Denken in Innen-Außen-Differenzen fern.
rent setzt, erweist sich nun als variabel: die Sy Luhmann beschreibt deshalb in Form der Innen-
stemreferenz kann sich auf das psychische System Außen-Differenz - die sich auch auf die Bezie
genausogut wie auf das soziale System beziehen. hung zwischen mehreren sozialen oder mehreren
Die bewußtseinsphilosophische Sackgasse, in die psychischen Systemen untereinander beziehen
Husserl geraten war und die ihm die Konzeptuali- läßt -, weil seine Theorie operationstheoretisch
sierung des Sozialen verunmöglichte (Schütz 1957; ausgerichtet ist: So soll sich ’wie natürlich’ die Dif
Habermas 1971), wird von Luhmann mithin ferenz zwischen psychischen Operationen/ Gedan
gleichfalls erkannt, aber radikal anders aufgelöst ken und sozialen Operationen/ Kommunikationen
als in den Kulturtheorien und ihren philosophi ergeben, die sich bereits selber in ihrer Beobach
schen Vorläufern bei Saussure und Wittgenstein. tung voneinander different setzen. Die Praxistheo
Während letztere sich jenseits des Denkmusters rien übernehmen demgegenüber nicht die Unter
der Innen-Außen-Differenz zwischen Bewußtsein scheidungen, mit denen sich ’Bewußtseine’ oder
und Außenwelt situieren, schließt Luhmann aus ’Kommunikationen’ selber voneinander differie
Unauthenticated
drücklich an diese Differenz an - und versucht das ren, sondern markieren eine analytische Differenz
Problem gewissermaßen durch eine ’Verdopplung’ zwischen Download Date | 3/27/17
Struktur 9:59 AM
und Praxis.
Andreas Reckwitz: Kulturtheorie, Systemtheorie 329
ten Subjekte definieren lasse, so daß hier niemals re des Sozialen - nur dann ist man erfolgreich. Da
eine emergente Ebene des Sozialen erreicht werde die Handlungstheorien den zweiten Weg erkenn
und letztlich immer eine Spielart des Methodologi bar nicht gehen, müssen sie umgekehrt für Luh
schen Individualismus übrigbleibe. (Luhmann mann offenbar den ersten Weg, den der klassi
1986b; 1990: 68- 72; 1995a: 153- 162) schen Bewußtseinsphilosophie beschreiten, Be
Es wird nun deutlich, wie dieser Einwand eigent wußtsein und Außenwelt operational unterschei
lich zu verstehen ist und daß er sich auf die Kultur den und sich damit in die bekannten subjektphilo
theorien kaum beziehen läßt. Luhmanns Kritik an sophischen Probleme verstricken.
den Handlungstheorien setzt die Gültigkeit der Dieser Einwand mag für bestimmte Typen der
Innen-Außen-Differenz zwischen Bewußtsein und Handlungstheorie zutreffen.20 Luhmann nimmt je
sozialer Welt immer schon voraus. Für Luhmann doch für alle ’handlungstheoretischen’ Ansätze
müssen die Handlungstheorien in ihrem Begriff und damit auch für jene, die von Wittgenstein und
des Sozialen dann offenbar in der gleichen Weise vom Strukturalismus ausgehen, eine Innen-
scheitern, wie Husserls Bewußtseinsphilosophie in Außen-Differenz von Bewußtsein und Sozialwelt
der Konzeptualisierung der Sozialität im Begriff an, die diese nicht als gültiges Differenzschema an
der ’Intersubjektivität’ und der ’Monadengemein erkennen. Da die Kulturtheorien nicht operatio-
schaft’ - nach gängigem und auch nach Luhmanns nalistisch denken, setzen sie keine operative Diffe
eigenem Urteil (Schütz 1957; Luhmann 1994) - renz zwischen ’inneren’ Gedanken und ’äußeren’
scheiterte. Die Systemtheorie geht selber von der Kommunikation voraus. Damit stellt sich aber
Innen-Außen-Gedankenfigur der Subjektphiloso auch nicht die Alternative, das Soziale entweder
phie aus (gibt dieser freilich mit dem Begriff des im einzelnen Bewußtsein oder mit Luhmann au
außerpsychischen sozialen Systems eine Wen ßerhalb des Bewußtseins in den sozialen Systemen
dung) - und kann vor dem Hintergrund dieses zu suchen. Wenn die Kulturtheorien von Bourdieu
innen-außen-theoretischen Deutungsschemas of und Giddens auf jener Dezentrierung des Subjekts
fenbar nicht anders, als in die Handlungstheorien und der Sozialisierung des Bewußtseins aufbauen,
hineinzulesen, ebenfalls an die Subjektphilosophie wie sie von Wittgenstein und Saussure vollzogen
anzuschließen. Für Luhmann muß es sich bei den wurden, gehen sie damit vielmehr von einer Vor
Handlungstheorien um Versionen der Bewußt stellung des Sozialen aus, die unabhängig von ei
seinstheorie traditioneller Form handeln, in der ner Innen-Außen-Differenz besteht. Das Soziale
die Systemreferenz auf psychische Systeme festge erscheint hier nicht als eine spezifische Operation,
legt ist und soziale Systeme als eigenständige Ope sondern als eine praxisermöglichende Struktur:
rationsebene noch nicht erkannt werden. das Soziale sei in den sinnhaften Regeln fundiert,
Um auf der immer schon vorausgesetzten Grund die die Akteure in Form von Wissensstrukturen in
lage der Innen-Außen-Differenz ’das Soziale’ zu ihren sozialen Praktiken anleiten. Die Sozialwelt
erfassen, scheint es für Luhmann immer nur zwei sei in Form von Wissensregeln gewissermaßen in
Möglichkeiten zu geben: Entweder man sucht das den Akteuren ’inkorporiert’, und die Akteure -
Soziale klassisch bewußtseinstheoretisch, so wie weit entfernt davon, als klassische Subjekte begrif
Husserl es in der fünften der Cartesianischen Me fen zu werden - vermögen umgekehrt nur auf der
ditationen vorführte, in einer Gemeinschaft der Grundlage dieses sozialisierten Wissens zu agie
operational unabhängigen Bewußtseine - und ren. Damit werden in den Kulturtheorien die Be
scheitert damit.19 Oder aber man sucht es außer wußtseine nicht als gegebene, nur der eigenen In
halb der Bewußtseine in einer eigenständige Sphä- trospektion zugängliche, ’privatsprachliche’ Enti
täten beschrieben, sondern erscheinen im Gegen
19 Um die Existenz des Sozialen, hier definiert als ’Inter teil durch ihre Einbettung in kollektive Wissens
subjektivität’, zu begründen, bleibt Husserl auf der strukturen, die die jeweiligen Lebensformen bil
Grundlage der phänomenologischen Epoche nichts ande den, eigentümlich ’dezentriert’.
res übrig, als Intersubjektivität in der Fremderfahrung des Die Kulturtheorien stehen damit in ihrer Vorstel
einzelnen Subjekts zu fundieren: Ego erfährt Alter Ego lung des Sozialen als praxisanleitenden Wissens-
als jemanden, der die Welt in gleicher Weise erfährt als er
selber. D ie Einstimmigkeit der Bewußtseinsoperationen,
der Monadengemeinschaft kann dann für die Bewußt 20 Das beste Beispiel für eine tatsächlich an Husserls B e
seinsphilosophie jedoch immer nur ein intentionales Pro wußtseinsphilosophie anknüpfende Handlungstheorie -
dukt des einzelnen Bewußtseins sein - und niemals als ein und die sich damit ergebenden Probleme - ist der frühe
tatsächlich bewußtseinstranszendierendes Phänomen ge Unauthenticated
Alfred Schütz in seiner Arbeit ’Der sinnhafte Aufbau der
dacht werden (Husserl 1931: 91-155). Download
sozialen Welt’.Date | 3/27/17 9:59 AM
Andreas Reckwitz: Kulturtheorie, Systemtheorie 331
Strukturen auch den klassischen, intentionalisti- ’individualistische’, die nicht nur im übertragenen,
schen Handlungstheorien entgegen, die das Sozia sondern im wörtlichen Sinne bewußtseinsphiloso
le dem ’sozialen Handeln’ zurechnen, mithin von phische Kehrseite des Konzepts des sozialen Sy
der sozialen Orientierung des subjektiven Sinns stems offensichtlich, die sich hinter dem Konzept
des Handelnden abhängig machen.21 Wenn für die des psychischen Systems verbirgt.23*Exakt wie in
Kulturtheorien hingegen nicht die Art der Hand der Husserl’schen Phänomenologie will Luhmann
lungsintention für die Sozialität des Handelns ver das psychische System als inneres Bewußtseinsle
antwortlich ist - was tatsächlich auf jene von Luh- ben verstanden wissen, das auf der Grundlage sei
mann kritisierte Subjektivierung des Sozialen hin nes eigenen, aus keinem Äußeren ableitbaren
ausläuft -, sondern jedem Handeln ein kollektives Sinnhorizontes operiert. Konsequenter als dies in
Regelwissen zugrundeliegt, betrifft dies nicht al Husserls Cartesianischen Meditationen geschieht,
lein die Fälle ’sozialen’, am Handeln anderer soll das Bewußtsein zudem nicht in eine ’Mona
orientierten Handelns, sondern auch etwa instru- dengemeinschaft’ der Bewußtseine eingeordnet,
mentell-objektorientierte und motorische Hand sondern tatsächlich als eine autopoietisch sich
lungsweisen.22 Tatsächlich beruht die Konzeption selbst reproduzierende, im modernen Sinne ’indi
wissensangeleiteter Praktiken damit nicht auf ei viduelle’ Beobachtungsperspektive respektiert
nem individualistischen Denken, welches soziale werden. Damit vertritt Luhmann gerade keinen al
Eigenschaften auf individuelle Eigenschaften les umfassenden sozialen Holismus - wie er etwa
rückführen wollte, sondern auf dem eines sozialen von Parsons formuliert wird, wenn er von einer In
Holismus, das von der impliziten Regelabhängig ternalisierung der sozialen Werte und Normen in
keit der Akteure und ihres Handelns ausgeht. die Akteure ausgeht -, sondern parallel zu seiner
Interpretiert man Luhmanns Ansatz als Version Theorie sozialer Systeme eine Theorie des autono
einer Innen-Außen-Differenz, so wird jedoch um men, autopoietischen Bewußtseins. Nimmt man
gekehrt deutlich, daß ein gängiges Vorurteil ge die Bifurkation zwischen psychischen und sozialen
genüber der Systemtheorie sich ebenso wenig auf Systemen ernst und versteht beide als irreduzible
rechterhalten läßt: der Vorwurf des sich aus dem Typen von Beobachtungsoperationen, stellt sich
’Holismus’ der Systemtheorie ergebenden ’Anti- Luhmanns Ansatz damit plakativ gesprochen zur
Individualismus’. Tatsächlich steht Luhmanns Be Hälfte als ’holistisch’, zur Hälfte als ’individuali
griff eines sozialen Systems als einer sich selbst re stisch’ heraus: Soziale Systeme lassen sich ’holi
produzierenden Operation, in diesem Sinne einer stisch’ als irreduzible soziale Kommunikationen
emergenten Ebene des Sozialen in strikter Geg begreifen, psychische Systeme ’individualistisch’
nerschaft zu jedem ’Methodologischen Individua als irreduzible individuelle Gedankensequenzen.
lismus’. Wenn man jedoch deutlich macht, daß Es ist letztlich eine Frage der Perspektive, eine
Luhmanns Ansatz auf der Bifurkation von sozia Frage der Systemreferenz, ob man von den sozia
len und psychischen Systemen beruht, so wird die len Operationen oder den Gedanken ausgeht. Kei
ner der beiden Operationen erscheint für Luh
21 Diese Position ist bekanntlich von Max Weber in den mann durch die jeweils andere präformiert oder
’Soziologischen Grundbegriffen’ vertreten worden (1922: determiniert (höchstens irritieren sie einander) -
llf).
22 Damit ist ein interessanter Punkt berührt, der hier 23 In einem übertragenen Sinne kann Luhmann nicht nur
nicht genauer verfolgt werden kann: die Folgen der Luh- sein Konzept des psychischen Systems, sondern sein ge
mann’sehen Entscheidung, nicht Handeln, sondern Kom samtes Systemkonzept als ’individualistisch’ bezeichnen:
munikation als basale ’Operation’ zu wählen. Dies er die operative Schließung jedes Systems ermögliche dessen
scheint Luhmann notwendig, da nur Kommunikation als Einzigartigkeit und damit Individualität (vgl. 1994: 165).
Operation verspricht, schon per definitionem ’sozial’ zu Man muß hier aber sorgfältig zwischen drei verschiedenen
sein, während Handeln, insbesondere in den Fällen instru- Bedeutungen des Terminus ’Individualismus’ unterschei
mentell-objektorientierten Handelns (Luhmanns Beispiel den: 1) Mit dem gängigen Begriff des ’Methodologischen
hier: Zähneputzen; 1992c: Vorlesung 4) auch nicht sozial Individualismus’ wird eine allgemeine Reduktion von So
sein könne. Für die Kulturtheorien stellt sich diese Frage zialem auf Individuelles bezeichnet - eine Position der so
jedoch nicht in dieser Weise: wenn das Soziale des Han wohl die System- als auch die Kulturtheorien entgegenste
delns nicht in dem subjektiven Handlungssinn, sondern in hen. 2) In Luhmanns eigener Begriffsverwendung wird
den kollektiv wirkenden Wissensregeln zu suchen ist, die ’Individualismus’ zur Charaktierisierung des Systemkon
dieses Handeln anleiten, dann ist instrumenteiles Handeln zepts des operativen Konstruktivismus benutzt. 3) Wir
genauso sozial fundiert wie Kommunikationshandeln: wollen hier mit dem Begriff des Individualismus hingegen
Unauthenticated
auch Zähneputzen ist eine kulturspezifische soziale Prak auf eine Fassung des Konzepts des Bewußtseins verwei
Download Date | 3/27/17 9:59 AM
tik. sen, die in der Tradition der Subjektphilosophie steht.
332 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 5, Oktober 1997, S. 317-336
dies gilt auch für die psychischen Systeme und für die Bedeutung von Wörtern, Sätzen und ihre Ver
ihre ’Individualität’. wendung, als auch nicht-semantisches Wissen.
Aus der Sicht einer an Wittgenstein und Saussure Nicht-semantisches Wissen läßt sich wohl am be
geschulten Kulturtheorie werden Fragen damit sten unter Gilbert Ryles Oberbegriff des knowing
nicht an den vermeintlich subjektfeindlichen Ho how (im Gegensatz zum knowing that) zusammen
lismus von Luhmanns Systemtheorie zu richten fassen: Knowing how-Wissen umfaßt, Ryle fol
sein, jedoch umgekehrt an deren ’individualisti gend, ’Handlungskriterien’, Dispositionen’ und
sche’ Elemente. Nicht eine ’Marginalisierung’ des ’Regeln’, die „the ability ... to do certain sorts of
Individuums ist das Merkmal der Systemtheorie, things“ (28) begründen (Ryle 1949: 13- 60, 112-
sondern die Anlehnung des Konzepts des psychi 147) und die damit Ähnliches wie das bezeichnen,
schen Systems an die Bewußtseinsphilosophie, da was Schütz unter dem Oberbegriff des ’Routine
mit letztendlich die A-priori-Individualisierung wissens’ als Fertigkeiten, Gebrauchs- und Rezept
des Subjekts als eines autopoietisch-selbstreferen- wissen umschreibt (Schütz/ Luckmann: 1975). Ent
tiellen Bewußtseins. Wenn man philosophiehisto scheidend für die Kulturtheorien ist, daß auch die
risch argumentieren wollte, könnte man auf die in ses knowing how, das in semantischem Wissen
der neueren Philosophiegeschichte angeführten nicht aufgeht - die Fähigkeit Schach zu spielen, zu
kritischen Argumente gegen die Bewußtseinsphi schreiben, sich gegenseitig mit Höflichkeit zu be
losophie, formuliert von Peirce und Saussure bis gegnen etc. -, ein kollektives Wissen darstellt, wel
Heidegger und Wittgenstein und dessen Nachfol ches soziale Reproduktion ermöglicht.25
ger, zurückgreifen und diese Kritik auf Luhmanns Wo sind diese Phänomene in Luhmanns Theorie
Begriff des psychischen Systems anwenden.24 Pro gebäude zu finden? Es hat den Anschein, daß die
bleme, die sich aus Luhmanns Bifurkation zwi Differenz zwischen sozialen und psychischen Sy
schen Psychischem und Sozialem für sozialwissen stemen Luhmann zu einer Fassung des Wissensbe
schaftliche Analysen ergeben können, kann man griffs zwingt, die das kollektive knowing how-Wis
jedoch auch konkret festzumachen versuchen, sen zu einer Art ausgeschlossenem Dritten macht,
wenn man die Systemtheorie vor dem Hintergrund das sich weder der einen noch der anderen Seite,
des Analyserahmens der Kulturtheorien betrach weder den Sinnmustern des sozialen noch denen
tet. Ein einzelnes, aber exemplarisches Problem des psychischen Systems zurechnen läßt. Wie dar
soll hier herausgegriffen werden: der Wissensbe gestellt, ist auch für Luhmann der Begriff des ’Wis
griff. Die Innen-Außen-Differenz zwischen psy sens’ zentral, erhält aber eine andere Stoßrichtung
chischen und sozialen Systemen bei Luhmann als der Wissensbegriff der Kulturtheorien. Soziales
führt offenbar zu einer Engführung des Begriffs Wissen, das heißt nicht-subjektives Wissen ist für
des sozialen Wissens auf semantisches Wissen und Luhmann eindeutig den sozialen Systemen zuzu
einer Zurechnung von nicht-semantischem, kno rechnen, nicht den psychischen Systemen. Da so
wing how-förmigem Wissen auf psychische Syste ziale Systeme aber in Form von Kommunikatio
me, das damit nicht mehr als soziales, kollektives nen operieren, muß soziales Wissen kommunika
Wissen behandelt werden kann. tionsstrukturierendes Wissen sein und wird von
Für die Kulturtheorien und die an sie anschließen Luhmann daher konsequent als Semantik identifi
den Analysen bildet kollektives Wissen als „shared ziert (1990: 107). Die Identifikation von sozialem
knowledge“ ein Feld von all dem, „what (people) Wissen bzw. der Struktur von Kommunikation mit
must know in order to act as they do, making Semantik ist nicht zufällig, sondern ergibt sich
things they make, and interpret their experiences zwingend aus dem Theoriedesign: Wenn Kommu
in the distinctive way they do.“ (Quinn/ Holland nikation in aller Regel sprachliche Kommunika
1987: 4) Diese Wissensstrukturen umfassen so
wohl semantisches Wissen, das heißt Wissen um 25 Die hier verwendete Unterscheidung zwischen seman
tischem und nicht-semantischem Wissen scheint auf den
ersten Blick mit Polanyis Differenz zwischen implizitem
24 Luhmann selber erwähnt nur an einer Stelle die mögli und explizitem Wissen verwandt zu sein. Letztlich scheint
che Angreifbarkeit eines bewußtseinstheoretischen Kon eine Gleichsetzung dieser beiden Unterscheidungen je
zepts des psychischen Systems, wenn er vielsagend formu doch nicht sinnvoll: Während nicht-semantisches knowing
liert: „Ob und wie man damit [mit einer Theorie autopoie- how-Wissen tatsächlich im wesentlichen ’implizit’ bleibt,
tischer psychischer Systeme] aus bekannten Schwierigkei gilt im Umkehrschluß nicht die Explizitheit des semanti
ten einer Philosophie des selbstreferentiellen Bewußt schen Wissen. Im Gegenteil ist auch dieses - so wie Searle
Unauthenticated
seins (etwa Fichtescher Prägung) herauskommt, muß ei es etwa in seiner
Download Theorie
Date der 9:59
| 3/27/17 ’Präsuppositionen’
AM darstellt
ner späteren Prüfung überlassen bleiben.“ (1984: 355). - zum großen Teil ’implizit’.
Andreas Reckwitz: Kulturtheorie, Systemtheorie 333
tion ist, dann muß auch die Sinnstruktur, die diese autopoietisch-selbstreferentiellen Verständnisses
sprachliche Kommunikation anleitet, eine sprach des Bewußtseins die Gedankenfigur eines gemein
liche, damit eine semantische Sinnstruktur sein. samen, sozialen Wissens der psychischen Systeme
einzubauen, müssen nach Luhmanns Urteil genau
Der Ort von nicht-semantischem Wissen scheint so scheitern, wie Husserls Versuch, in seine Be
dann nur konsequent: Es bleiben die einzelnen wußtseinsphilosophie doch noch gewissermaßen
psychischen Systeme. Luhmann bringt die Unter nachträglich die Figur einer Intersubjektivität und
scheidung zwischen dem (semantischen) Wissen „Monadengemeinschaft“ einzufügen. Damit er
von Sozialsystemen und dem ’Wissen’ psychischer gibt sich jedoch folgendes Bild: Soziales Wissen ist
Systeme mit Polanyis Differenz zwischen explizi semantisches Wissen und der Gegenstand soziolo
tem und implizitem Wissen in Zusammenhang und gischer Wissensanalyse. Nicht-semantisches ’Wis
stellt fest: „Ein Beobachter kann das System ... sen’ nach Art des kulturtheoretischen knowing
mit Hilfe der Unterscheidung explizit/ implizit be how kann dann umgekehrt nur in den psychischen
obachten und beschreiben. Er kann in das, was als Systemen einen Platz finden - muß dann jedoch als
Wissen geschieht, zusätzlich die strukturellen individuelles Wissen der ’sechs Milliarden ver
Kopplungen hineinsehen“ (1990: 42). Aus der Per schiedenen’ Bewußtseine gedacht werden und
spektive der sozialen Systeme heißt dies dann: wäre damit für die Soziologie wohl verloren.
gleichzeitig zu dem in der Kommunikation verar
beiteten semantischen Wissen existieren in der Nun kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ein
Umwelt der - dann ’angekoppelten’ - psychischen Teil des sozial relevanten Wissens einer Gesell
Systemen jeweils andere Wissensbestände. (1990: schaft in der Form von Semantik auftritt, daß die
41-44) Es gibt also auch für Luhmann Wissen au Analyse der semantischen Bestände für eine Ana
ßerhalb der sozialen Systeme und ihrer Semantik lyse der Kultur und des Wissens einer Gesellschaft
(wobei hier der Wissensbegriff vermieden wird): von beträchtlicher Relevanz ist. Jedoch haben kul
Wenn soziales Wissen semantisches Wissen ist, turtheoretisch motivierte Analysen regelmäßig
dann scheint die Schlußfolgerung berechtigt, daß darauf hingewiesen, daß man dieses Wissen um die
bei Luhmann nicht-semantisches Wissen, das Ry Verwendung von Wörtern und Sätzen als die ’Spit
les knowing-how ähnelt, den einzelnen psychi ze des Eisberges’ betrachten muß, daß die Repro
schen Systemen zuzurechnen ist. Beispielsweise duktion der sozialen Welt ohne die Existenz und
„kann das Bewußtsein im Fortschreiten von Ge permanente Anwendung knowing how-förmiger -
danken zu Gedanken sich auf bestimmtes Können und dabei ebensosehr kollektiver - Wissensbe
verlassen..., ohne darüber bewußt entscheiden zu stände kaum begreifbar wäre. Wenn Bourdieu die
müssen.“ (1990: 43)26 Abgesehen davon, daß es verschiedenen Ausformungen des ’praktischen
Schwierigkeiten machen würde, diese Vorstellung Sinns’ untersucht, die scheinbar zwanglos die je
mit dem Konzept des knowing how vollends zu weiligen Vorlieben und Abneigungen im Konsum
identifizieren - dieser Begriff bezieht sich bei Ryle unterschiedlicher sozialer Klassen hervorbringen,
schließlich gerade nicht auf Bewußtseinsprozesse, wenn Goffman die Interaktionsregeln herausar
sondern auf aktivierte Handlungskriterien und beitet, die wirken, damit jedes Ich sein Gesicht vor
Dispositionen - muß man nun aber an dieser Stelle den anderen wahren kann, wenn Schütz und Luck-
die Einsicht wiederaufgreifen, daß psychische Sy mann die universalen Schemata zur Konstitution
steme für Luhmann jeweils individuelle Systeme des sozialen Raums und der sozialen Zeit be
bilden, die nur dem eigenen Ich zugänglich sind: schreiben, wenn schließlich Garfinkei die Fertig
Jedes dieser Bewußtseine stellt eine eigenständige keiten rekonstruiert, die nötig sind, damit eine
Operationssequenz dar, jedes verfügt über seine Person ’geschlechtsadäquates’ Verhalten hervor
eigenen Beobachtungsschemata, deren Ausbil zubringen vermag, so liegen in allen Fällen Ana
dung durch Umweltereignisse höchstens ’irritiert’ lysen von sozialem knowing how-Wissen vor, von
werden kann. Das ’nicht mitkommunizierte’ ’Wis Sinnmustern, die kollektiv wirksam sind, ohne mit
sen’ der psychischen Systeme muß für Luhmann semantischem Wissen identisch zu sein (Bourdieu
also zwangsläufig individuelles, bewußtseinsspezi 1979; Goffman 1971; Schütz/ Luckmann 1975:63-
fisches Wissen sein. Alle Versuche, im Rahmen des 87; Garfinkei 1967:116-185). Kollektives knowing
how-Wissen liefert dabei mehr als bloß ein mehr
26 Allerdings scheint Luhmanns Darstellung an dieser oder minder interessantes Untersuchungsobjekt:
Stelle es nahezulegen, daß dieses knowing how wiederum aus der Sicht der Kulturtheorien wäre soziale Re
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als eine strukturelle Kopplung von psychischen und orga produktion, wäre die Repetitivität der mensch
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nischen Systemen zu begreifen ist. lichen Praktiken, die letztlich der sozialen Welt
334 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 5, Oktober 1997, S. 317-336
ihre relative Geordnetheit verleiht, ohne sie nicht lung nicht modifiziert, sondern nur bestätigt wer
denkbar. den.
Die Innen-Außen-Differenz zwischen sozialen Es scheint, daß die Bifurkation von Bewußtsein und
und psychischen Systemen zwingt Luhmann je Kommunikation Luhmann zu einer ’Intellektuali
doch zu einer eindeutigen Zurechnung von Wissen sierung’ des Begriffs sozialen Wissens führt. Die
auf Kommunikation und damit zu einer Identifi Kulturtheorien folgen in ihrem Verständnis von
zierung von Wissen und Semantik. Zwar wird bei Wissen jener Umdeklinierung des Wissensbegriffs
ihm, wie dargestellt, eine Hilfskonstruktion ge vom knowing that auf ein knowing how, wie sie Ryle
nannt: die strukturelle Kopplung zwischen Kom in seiner Kritik der Subjektphilosophie im Kielwas
munikation und Bewußtsein, „...die strukturelle ser Wittgensteins angemahnt hatte. Für Luhmann
Kopplung dieser sequentiellen [kommunikativen] bleiben die Strukturen des sozialen Wissens, wenn
Ereignisse mit Bewußtseinszuständen, die nicht sie schon keine Gedankeninhalte mehr sind, hinge
mitkommuniziert werden.“ (1990: 43) Der Begriff gen allein semantische Bestände der Kommunika
der strukturellen Kopplung soll mithin das wieder tionssysteme. Die Ausgangsdifferenz von Innen
zusammenbinden, was vorher als operational ge und Außen, zwischen Sozialwelt und Bewußtsein
trennt voraussetzt worden war: die sozialen Syste scheint zu dieser Festlegung zu zwingen.
me und die psychischen Systeme, damit das se
Wenn man, Luhmann folgend, „Kultur“ in einem
mantische Wissen und das aus Sicht der Sozialsy
ganz allgemeinen Sinn als „eine Perspektive für
steme ’implizite Wissen’ der einzelnen psychischen
die Beobachtung von Beobachtern“ (1995a: 54)
Systeme. Der Begriff der strukturellen Kopplung
auffaßt, dann liefern alle Typen sinnverstehender
wirft jedoch in diesem Zusammenhang offensicht
Sozialwissenschaft im weitesten Sinne ’Kulturana
lich zwei Probleme auf:
lysen’: Sowohl die konstruktivistische Systemtheo
Wenn man der Selbstlimitation des autopoieti- rie als auch jene Theorien wissensangeleiteter so
schen Theoriedesigns folgt, kann der Begriff zialer Praktiken, die wir als Kulturtheorien um
’strukturelle Kopplung’ keine Abhängigkeits- oder schrieben haben, bieten Rekonstruktionen sozia
Generierungsbeziehung, sondern nichts anderes ler Sinnmuster und Sinnprozesse und damit ’Beob
als ein Irritationsverhältnis zwischen Kommunika achtungen von Beobachtungen’. Die Frage ist
tion und Bewußtseinen behaupten. Für ein solches dann, von welchen - notwendigerweise kontingen
Irritationsverhältnis gilt jedoch, wie bereits festge ten - begrifflichen Unterscheidungen sich eine sol
stellt, daß ein System sich nur nach Maßgabe der che sinnorientierte Sozialtheorie leiten lassen soll
eigenen Sinnschemata von einem fremden System te. Das Muster einer Innen-Außen-Unterschei
irritieren lassen kann. Das heißt aber, daß seman dung zwischen Sozialwelt und Bewußtsein liefert
tisch angeleitete Kommunikationen sich nur dann eine, im modernen Denken durchaus traditionsrei
vom knowing how-Wissen einzelner psychischer che Option. Die Sabotierung dieser Innen-Außen-
Systeme irritieren lassen können, wenn das, was Differenz stellt eine andere, zumindest im Denken
dort implizit vorhanden ist, in irgendeiner Weise in des 20. Jahrhunderts nicht minder traditionsreiche
die Kommunikation des sozialen Systems über dar. Allein die gegenseitige Beobachtung beider
setzt wird - dann aber kein knowing how mehr Theorievokabulare vermag wohl die notwendigen
darstellt. Eine direkte Ermöglichung bzw. Ein immanenten Limitationen der beiden Unterschei
schränkung von sozialen Praktiken auch durch dungssysteme aufzudecken.
nicht-semantisches Wissen, wie in den Kulturtheo
rien gedacht, erscheint damit nicht möglich. Vor
allem aber ändert auch der Begriff der strukturel Literatur
len Kopplung nichts an der Vorannahme, daß die
ses nicht-semantische im Unterschied zum seman Bauman, Zygmunt, 1973: Culture as praxis, London/ New
tischen Wissen einzelnen psychischen und damit York: Routledge
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auch jenes ’Wissens’, das dort zugerechnet wird, d’une th^orie de la pratique, precede de trois etudes
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kann durch den Begriff der strukturellen Kopp d’ethnologie kabyle): Suhrkamp
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