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Neue Chance für den Nahen Osten

In Washington beginnen die ersten direkten Friedensgespräche zwischen Israelis und Palästinensern seit
20 Monaten. Die Aussichten sind nicht so schlecht wie beim letzten Mal.

Auf der sichersten Seite sind im Nahen Osten immer die Pessimisten. Warum soll ausgerechnet diesmal eine
Friedenskonferenz zum Erfolg führen? Seit mehr als 60 Jahren kämpfen Israelis und Palästinenser um ihre
Staatlichkeit und das ihnen zustehende Territorium – und das ist nur die jüngste Variante des Nahostkonflikts.
Vor dem Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 hatten zionistische Einwanderer und Araber
jahrzehntelang um die Kontrolle des Gebiets, ihren Einfluss auf die britische Mandatsmacht und die Pläne für die
Zeit nach deren Abzug konkurriert. Nach 1947 haben sie mehrere Kriege um Palästina geführt. Und allein seit
1979 sind acht größere Verhandlungen um eine Kompromisslösung, die beiden Völkern einen dauerhaft
lebensfähigen Staat garantiert, gescheitert. Da scheint gut beraten, wer auch jetzt keine großen Erwartungen
hegt.

Dennoch wagt Barack Obama einen neuen Anlauf. Das Risiko geht ein US-Präsidenten nur ein, wenn er
entweder bereits am Ende seiner zweiten Amtszeit ist: Bill Clinton 2000 in Camp David und George W. Bush
2007 in Annapolis. Oder wenn er keinen schnellen Misserfolg fürchten muss, der ihn in der Öffentlichkeit als
schwach erscheinen lässt. Obama nutzt noch vor der Hälfte seiner ersten Amtszeit das Gewicht seiner Funktion.
Er empfängt am Mittwoch Palästinas Präsident Mahmud Abbas und Israels Premier Benjamin Netanjahu samt
deren Delegationen zunächst zu bilateralen Gesprächen im Weißen Haus und gibt anschließend ein Dinner.
Diese ersten direkten Gespräche auf Spitzenebene zwischen Israelis und Palästinensern seit 20 Monaten bilden
den Auftakt für einen Verhandlungsprozess, der innerhalb eines Jahres zum Friedensvertrag führen soll. Am
Donnerstag folgen die Sachgespräche der Delegationen im US-Außenministerium unter Leitung Hillary
Clintons. Abends reisen sie ab, sollen sich aber in den folgenden Wochen im Nahen Osten regelmäßig treffen.

Rundheraus optimistisch möchte sich freilich auch jetzt niemand äußern. Am Dienstag schossen Unbekannte an
einer Straßenkreuzung bei Hebron aus einem Versteck auf ein Auto mit israelischen Siedlern und töteten zwei
Männer und zwei Frauen. Eine der Frauen war hochschwanger. Die radikalislamische Hamas bekannte sich zu
dem Anschlag. Ein Mitglied der palästinensischen Sicherheitskräfte sagte, die Hamas, die die Macht im Gaza-
Streifen hat und vom Iran unterstützt wird, wolle die Aufnahme der Friedensgespräche verhindern.

Trotz der neuerlichen Gewalt geben Insider Hinweise, warum die Erfolgschancen der Gespräche diesmal besser
seien als seit vielen Jahren. Dazu gehören taktische wie strategische Überlegungen.

Erstens folgt bereits nach gut drei Wochen ein Test der Ernsthaftigkeit. Am 26. September läuft Israels
Moratorium für den Siedlungsbau aus. Netanjahu steht unter Druck, es zu verlängern. Aber ebenso Abbas,
Gegenleistungen zu erbringen, die die Verlängerung rechtfertigen. Keiner von beiden möchte als der Schuldige
für einen frühen Abbruch der Gespräche dastehen. Manche Beobachter sagen sogar, aus Rücksicht auf Obama
und die Kongresswahl bestehe dieser erhöhte Druck zu konstruktivem Verhalten bis in den November hinein.
Wer da als Störer auftrete, werde sich auf lange Zeit den Zorn des Weißen Hauses zuziehen.

Zweitens sind die geostrategischen Bedingungen günstig. Irak belastet das Ansehen der USA im arabischen
Raum nicht mehr so stark wie in den sieben Jahren seit dem Einmarsch 2003. Obama verkündete am
Dienstagabend den vollzogenen Abzug aller US- Kampftruppen. Generell ist Israel für die arabischen
Staatenlenker nicht mehr der bedrohlichste Feind. Den Platz hat der Iran eingenommen. Teheran bleibt zwar der
gefährlichste Saboteur der Friedensgespräche. Denn deren Erfolg würde Irans Einfluss auf die Region
schwächen. Die internationale Isolierung Teherans macht aber Fortschritte, wenn auch nur langsam.

Drittens liegen die Bausteine des Friedensabkommens seit langem auf dem Tisch. Beide Staaten erkennen sich
gegenseitig in festgelegten Grenzen an. Jerusalem wird geteilt und dient beiden als Hauptstadt. Die Grenzen von
1967 werden durch Gebietsaustausch so verändert, dass beide Territorien ökonomisch und
verteidigungstechnisch lebensfähig sind. Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge wird so
uminterpretiert, dass Israels Identität als jüdischer Staat nicht gefährdet wird. Dafür gibt es einen finanziellen
Ausgleich.

Viertens, die handelnden Personen. Obama füllt die Rolle des neutralen Vermittlers glaubwürdiger als seine
Vorgänger. Abbas ist ein Pragmatiker, kein ewiger Revolutionär wie Arafat, der den Friedensschluss am Ende
ablehnte. Netanjahu ist zwar ein harter Rechter. Aber deshalb kann er in Israel die Kompromisse durchsetzen,
die einem Linken als staatsgefährdende Schwäche ausgelegt würden.

Der Fall Thilo Sarrazin

Die SPD will ihn loswerden. Die Bundesbank ringt noch mit sich. Beides kann ein langer Prozess werden.
Wie ist die Ausgangslage?

Sein Buch ist auf dem Markt. Aber Thilo Sarrazins eigener Marktwert sinkt. Zumindest SPD und Bundesbank
versuchen den Problemfall Sarrazin loszuwerden.

Gibt es in der SPD eine Mehrheit für einen Ausschluss von Thilo Sarrazin?

Der Entschluss, Sarrazin aus der SPD zu werfen, hat in der Parteiführung breite Unterstützung. Einstimmig hatte
der Bundesvorstand am Montag ein Ordnungsverfahren mit dem Ziel, Sarrazin die SPD-Mitgliedschaft
abzuerkennen, gefasst. Trotzdem ist nicht jeder von diesem Schritt überzeugt. Der Bundestagsabgeordnete und
Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, stellt sich beispielsweise gegen einen
Parteiausschluss. „Ich bin gegen ein solches Ausschlussverfahren, weil man keinen Märtyrer aus Sarrazin
machen darf“, warnte Kahrs. „Das Buch disqualifiziert sich selbst.“ Er forderte den Bundestag zu einer breiten
Diskussion über den Stand der Integration auf. Insbesondere über die Fehler und Versäumnisse im
Bildungsbereich müsse gesprochen werden.

Wie einfach ist ein Ausschluss?

Für einen Ausschluss hat das Parteiengesetz hohe Hürden aufgestellt. Jede Parteigliederung kann ein
Parteiordnungsverfahren gegen ein Mitglied beantragen. Formell ist der Antrag in der Geschäftsstelle des Kreis-
oder Unterbezirks abzugeben. Mit Eingang dieses Schreibens befasst sich die Kreisschiedskommission damit.
Verfahren können laut Paragraf 35 des SPD-Statuts gegen Mitglieder eingeleitet werden, die gegen Grundsätze
oder die Ordnung einer Partei erheblich verstoßen haben und dadurch schwerer Schaden für die Partei entstanden
ist. Diesen Schaden sieht der SPD-Bundesvorstand durch die Äußerungen von Sarrazin gegeben. Am 6.
September tagt der Berliner SPD-Landesvorstand, der den Beschluss des Bundesvorstands mittragen wird. Die
beiden Gremien werden Mitte bis Ende kommender Woche ein gemeinsames Parteiordnungsverfahren
beantragen.

Wer ist dann dafür zuständig?

Für das Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin ist die Kreisschiedskommission seines Berliner Wohnortes
Charlottenburg-Wilmersdorf zuständig. Die Schiedskommissionen auf Kreis-, Landes- und Bundesebene
bestehen jeweils aus dem Vorsitzenden, zwei Stellvertretern und vier beratenden Beisitzern. Die Mitglieder
werden von Parteitagen gewählt und sind unabhängig. Mit Eingang des Antrags hat die Schiedskommission ein
halbes Jahr Zeit für eine oder mehrere mündliche Anhörungen. Danach fällt sie ihre Entscheidung. Sollte die
Kreisschiedskommission einen Ausschluss Sarrazins beschließen, könnte er in Berufung gehen. Dann befasst
sich die Landesschiedskommission damit. Beide Parteien können danach die dritte Instanz einschalten: die
Bundesschiedskommission der SPD.

Die Kreisschiedskommission Charlottenburg-Wilmersdorf wird sich schon zum zweiten Mal mit Sarrazin
beschäftigen. Im Oktober 2009 gab es bereits ein Parteiordnungsverfahren gegen ihn mit dem Ziel eines
Parteiausschlusses. Ausgangspunkt war ein Interview mit der Zeitung „Lettre International“, in dem er sich zur
Lebensweise und Rolle türkischer und arabischer Migranten abfällig äußerte. Die Kreisschiedskommission
entschied sich gegen einen Ausschluss, die SPD-Genossen zogen vor das Landesschiedsgericht. Dort scheiterten
sie im März in zweiter Instanz. Allerdings wurde Sarrazin verwarnt. Der Verzicht auf ein
Parteiordnungsverfahren sei „kein Freifahrtschein für alle künftigen Provokationen“. Sarrazin solle sich bewusst
werden, dass er sich „vom humanen und emanzipatorischen Menschenbild“ der SPD entfernt habe. Seine
Äußerungen seien „auf Dauer geeignet, parteischädigend zu sein“, konstatierte das Parteigericht. So etwas müsse
von einem SPD-Mitglied unterlassen werden, das auch in Zukunft diese Partei als politische Heimat ansehe.

Warum wurde Sarrazin für den Posten als Bundesbank-Vorstand ausgewählt?


Die Länder Berlin und Brandenburg hatten das gemeinsame Vorschlagsrecht. Im Februar 2009 beschlossen sie,
Sarrazin für den Vorstand der Bundesbank ab Mai 2009 zu nominieren. Der Personalie stimmte dann der
Bundesrat zu. „Ich lasse ihn ungern ziehen“, sagte damals der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD).
Heute sagt Senatssprecher Richard Meng: „Es war ein Abschied von der Politik. Niemand hätte sich vorstellen
können, dass Sarrazin sich so entwickelt und sogar Zeit hat, um Bücher zu schreiben.“ Seine fachliche
Qualifikation sei dagegen unumstritten. Der Potsdamer Regierungssprecher Thomas Braune sagt: „Die politische
Verantwortung für die jetzige Situation trägt ausschließlich Herr Sarrazin.“

Wie könnte die Bundesbank Sarrazin rauswerfen?

Einfach würde das nicht. Der Verhaltenskodex für Vorstandsmitglieder der Bundesbank lässt viel Freiheit.
„Schriftstellerische Tätigkeiten“ sind „allgemein genehmigt“, ebenso Vorträge, die nicht mit dem
Bundesbankposten zu tun haben. Allerdings gibt es eine Reihe weicher Vorgaben, die auf den Fall Sarrazin
anzuwenden sein könnten. So seien Situationen zu vermeiden, „die zu persönlichen Interessenkonflikten führen
könnten“, und das Amt sei „unabhängig, unparteiisch und uneigennützig“ auszuüben. Die Vorstände „verhalten
sich jederzeit in einer Weise, die das Ansehen der Bundesbank und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
Bundesbank aufrechterhält und fördert“.

In dem vierseitigen Papier taucht auch eine besondere Instanz für Zweifelsfälle auf: die des Beauftragten für
Corporate Governance, wie die Erfüllung von Regeln und Gesetzen im Wirtschaftsjargon genannt wird. Es
handelt sich um den Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler Uwe Schneider, der an der TU Darmstadt lehrt.
Sollte er einen Verstoß feststellen, könnte der Vorstand die Abberufung beantragen – beim Bundespräsidenten.
Wenn Christian Wulff dem Antrag zustimmt, müsste die Bundesregierung die Entlassungsurkunde
gegenzeichnen. Es wäre ein beispielloser Vorgang, der wohl die Gerichte beschäftigen würde.

Was dem Land dient

Nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Vereidigung von Rekruten bei der Bundeswehr. - Foto: ddp

Nur für Nostalgiker: Die Wehrpflicht hat sich schon seit zwei Jahrzehnten überlebt. Die Krisen von heute
erfordern eine andere Armee.

Wenn Institutionen verschwinden, macht sich Wehmut breit – selbst bei denen, die keineswegs zu den
Anhängern dieser Institution gehörten, als die noch in Saft und Kraft stand. Mit einem Mal wird alles, was man
in der Vergangenheit geschätzt und für politisch bewahrenswert hielt, mit der im Verschwinden begriffenen
Institution verbunden.

So ist das jetzt auch mit der Wehrpflicht. Der Staatsbürger in Uniform wird in der Retrospektive mythisiert, das
heißt, ihm werden Fähigkeiten und Wirkungen zugeschrieben, die er bei Licht betrachtet nie hatte. So ist davon
die Rede, die Wehrpflichtarmee sei die spezifisch demokratische Form der Herstellung von
Verteidigungsfähigkeit, so, als ob es sie im Kaiserreich und in der Nazi-Herrschaft nicht gegeben und
Großbritannien, der älteste demokratisch regierte Staat im nordatlantischen Raum, nicht die längste Zeit eine
Berufsarmee gehabt hätte. Die Mythisierung der Wehrpflicht ist auch die Folge dessen, dass es kaum noch
rationale Gründe für die Beibehaltung dieser Institution gibt. Zumal die Franzosen, von denen die Wehrpflicht
einst erfunden wurde, sich bereits vor einem Jahrzehnt von ihr verabschiedet haben.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn auch in Deutschland dieses Thema früher und energischer auf die
politische Agenda gesetzt worden wäre. Aber dazu hatte die mit der deutschen Einigung beschäftigte politische
Klasse nicht auch noch die Kraft. Infolge leerer Kassen und fehlender Wehrgerechtigkeit hat sich das Thema nun
gleichsam von selbst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Für schlampigen Umgang mit zentralen
politischen Herausforderungen muss fast immer ein hoher Preis bezahlt werden: Nun verabschieden wir uns von
der Wehrpflicht, ohne je eine gründliche Debatte über ihren Nutzen und Nachteil geführt zu haben. Die erwähnte
Wehmut ist ein Indikator dafür, wie wichtig diese Debatte für die politische Kultur der Demokratie gewesen
wäre.

Auch wenn sich die meisten Stadtrepubliken der Antike und des späten Mittelalters auf eine Milizverfassung
gegründet haben, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Wehrpflicht hatte, ist diese im strengen Sinn doch erst ein
Produkt der Französischen Revolution. In höchster Bedrängnis durch die Interventionsarmeen der konservativen
Mächte Europas rief sie die Bürger zu den Waffen, um die revolutionären Errungenschaften mit Leib und Leben
zu verteidigen. Mit gutem Grund misstrauten die Revolutionäre den unzuverlässigen Berufssoldaten des Ancien
Régime, die häufig mit den Feinden der neuen Ordnung konspirierten. Was kaum einer für möglich gehalten
hätte: Die undisziplinierten, aber hoch motivierten Soldaten der Revolution schlugen die gedrillten
Militärmaschinen der Interventionsmächte zurück. Und es dauerte nicht lange, da gingen sie zum Angriff über
und eroberten unter ihrem Anführer Napoleon fast ganz Europa.

Von nun an galt: Wer auf dem europäischen Kontinent politisch mitreden wollte, musste über eine
Wehrpflichtarmee verfügen, die seinen Worten und Ansprüchen militärische Nachhaltigkeit verlieh. Niemand
hatte das besser begriffen als die preußischen Reformer, die einige Errungenschaften der Französischen
Revolution per Gesetz und Dekret einführten. So brachten sie das kurz zuvor politisch und militärisch schwer
gedemütigte Land wieder auf Augenhöhe mit den europäischen Großmächten. Die Wiedergeburt Preußens ist
der Kern des Wehrpflichtmythos in Deutschland. Jedes Mal, wenn es um die Verteidigung oder
Wiedereinführung der Wehrpflicht ging, berief man sich deshalb auf die preußischen Reformen. Mitte der
1950er Jahre bemühten sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR bei der Aufstellung von
Wehrpflichtarmeen Scharnhorst und Gneisenau, um der im Zweiten Weltkrieg desavouierten
Zwangsrekrutierung junger Männer Legitimität und ein wenig Glanz zu verleihen. In der DDR war der Glanz
etwas größer, in der Bundesrepublik durch das verfassungsmäßig garantierte Recht auf
Kriegsdienstverweigerung die Legitimität. Im Übrigen ist die in der DDR praktizierte Form der Wehrpflicht ein
schlagendes Gegenargument zu der Behauptung, der Bürger in Uniform sei die typische Wehrverfassung der
Demokratie.

Mit der Durchsetzung der Wehrpflicht im 19. Jahrhundert in Frankreich und in den deutschen Ländern kam es
auch zu einer inneren Militarisierung der Gesellschaft, in deren Verlauf militärischer Geist und militärisches
Gehabe immer tiefer in die zivilen Strukturen eindrang. Diese Kolonisierung von innen her ist in historischen
Studien eindrucksvoll belegt. Das Militär prägte einen Typ von Männlichkeit, der nicht auf einen Berufsstand
beschränkt blieb, sondern sich mittels Wehrpflicht in der gesamten Gesellschaft ausbreitete. Das
Geschlechtermodell, an dem sich die Genderstudien in den letzten Jahrzehnten abgearbeitet haben, ist nicht
zuletzt das Ergebnis der Wehrpflichtarmeen als Prägeform für den Habitus junger Männer. Dieser Männlichkeit
korrespondierte ein Typ von Weiblichkeit, der an heldenhafte Beschützer stabile Erwartungen richtete. So
entstand in Europa ein Ensemble heroischer Gesellschaften, die schwerlich friedlich koexistieren konnten. Ihr
Zusammenprall erfolgte im Sommer 1914. Es war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Heroische Gemeinschaften hat es seit der Ausformung größerer Sozialverbände immer gegeben. Aber diese
waren nur ein kleiner Teil der Gesellschaft und klar von ihr getrennt. Das änderte sich mit der Allgemeinen
Wehrpflicht. Und wenngleich den Söhnen aus bürgerlichen Familien in Frankreich die Entsendung eines
Stellvertreters erlaubt war und Preußens Bürgersöhnen mit dem Institut des Einjährig-Freiwilligen der lange
Militärdienst und das Kasernenleben erspart blieb, griff der militärische Geist doch auch auf sie über, zumal
Karrieren schon bald dadurch befördert wurden, dass man gedient hatte. Durch die Wehrpflicht wurde das
Militär zur „Schule der Nation“, zunächst im Sinne von Sozialdisziplinierung und Mentalitätsprägung, bald aber
auch dadurch, dass die Bauernsöhne als Soldaten die große, weite Welt kennenlernten – innerhalb der nationalen
Grenzen, in der Ära des Kolonialismus aber auch darüber hinaus. Sie verdankten dem Militär Kenntnisse und
Fähigkeiten, die ihnen in begrenztem Maße einen bescheidenen sozialen Aufstieg ermöglichten.

Von all dem kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein. Die Nation bedarf der militärischen
Schule nicht mehr, die soziale Mobilisierung erfolgt über andere Kanäle, und auch die äußere Sicherheit ist nicht
mehr von Massenheeren abhängig. Die internationale Lage, aber auch die innergesellschaftlichen Verhältnisse
haben sich dramatisch verändert. Der Wehrdienst ist für eine Gesellschaft, die aufgrund ihrer demografischen
Lage die Menschen länger im Arbeitsleben halten muss, zu einer Last geworden. Wertvolle Ressourcen werden
vergeudet, und ein Gewinn an Sicherheit und politischem Prestige ist mit Massenarmeen schon lange nicht mehr
zu erzielen.Im Gegenteil: Zur Bereitstellung von Krisenreaktionskräften trägt der Wehrdienst nichts bei, er
bindet Kräfte, die andernfalls sinnvoller eingesetzt werden könnten. Eine Bundeswehr, die zwar eine
Viertelmillion Soldaten aufweist, aber beim Auslandseinsatz von 10 000 Mann an ihre Kapazitätsgrenzen gerät,
ist unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht überzeugend. Und dass in Anbetracht des
wirtschaftlichen und politischen Zusammenwachsens von Europa Hauptverteidigungskräfte in großem Umfang
vonnöten seien, kann politisch schon lange nicht mehr vermittelt werden. Seit zwei Jahrzehnten ist die
Wehrpflicht in Deutschland eine Institution von Nostalgikern. Irgendwann kommt auch die melancholischste
Nostalgie an ihr Ende.

Energiekonzept ist noch viel zu regeln


Eine Studie und viele Interpretationen: Der Streit um Akw-Laufzeiten geht weiter. Wer will was?

Rainer Brüderle (FDP) und Norbert Röttgen (CDU) stehen vor einer Wand von Fernsehkameras und
Fotoapparaten. Der Wirtschaftsminister und der Umweltminister wollen das Gutachten vorstellen, das die Basis
für das Energiekonzept sein soll, welches die Regierung am 28. September beschließen will. Röttgen lächelt, als
er davon spricht, die Minister setzten „leicht unterschiedliche Akzente“. Doch die meisten Journalisten haben
nach der knapp halbstündigen Präsentation das Gefühl, dass die beiden ganz unterschiedliche Gutachten
vorliegen haben. „Das Gutachten eröffnet seriösen Handlungsspielraum“, hieß es in Regierungskreisen. In einer
Schlussfolgerung zumindest sind sie sich einig: Es ist technisch und wirtschaftlich möglich, die Klimaziele
einzuhalten und die erneuerbaren Energien massiv auszubauen, ohne dass die Strompreise dramatisch steigen.

Was liest Brüderle aus dem Gutachten?

Für den Wirtschaftsminister geht aus dem Gutachten eindeutig hervor, dass der volkswirtschaftliche Nutzen am
höchsten wäre, wenn die Laufzeiten für die Atomkraftwerke um 12 bis 20 Jahre verlängert würden. Aber nur,
wenn die geringstmöglichen Nachrüstkosten unterstellt werden, die Brüderle für die Szenarien I A bis IV A (vier
12, 20 oder 28 Jahre Laufzeitverlängerung) vorgegeben hat. Legt man die Szenarien I B bis IV B zugrunde, die
mit Röttgens Vorgaben für die Nachrüstung rechnen, kommt dabei eine kurze Laufzeitverlängerung von nicht
mehr als 12 Jahren heraus. Brüderle hat keine Stellung dazu genommen, warum er einen „gebäudetechnischen
Schutz vor Terrorangriffen mit Verkehrsflugzeugen“ (Röttgen) für nicht notwendig hält. Brüderle hält den
Umstieg auf eine erneuerbare Energieversorgung bis 2050 jedenfalls für möglich. Dazu sei allerdings der
Ausbau der Stromnetze notwendig. Es müssten Stromspeicher entwickelt und errichtet werden. Das ganze koste
Zeit und Geld, sagte er. Auch die erneuerbaren Energien müssten auf dem Weg dahin „selbst
Systemverantwortung übernehmen“. Übersetzt heißt das, dass Brüderle den Einspeisevorrang der erneuerbaren
Energien ins Netz in Frage stellt. Das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln (EWI), einer der drei
Gutachter neben dem Prognos-Institut und der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (GWS), hat
Brüderle schon im Frühjahr ein Gutachten vorgelegt, in dem es vorschlug, dass Windparks vom Netz genommen
werden sollten, wenn gerade zu viel Strom produziert wird. Derzeit müssen Windkraftbetreiber dafür entschädigt
werden, wenn ein Netzbetreiber sie von den Leitungen abklemmt. Für die Förderung der Gebäudesanierung und
den Ausbau der Windparks im Meer brauche es jedenfalls mehr Geld, sagt Brüderle. Die Aufgabe beschrieb er
so: „Das ist kein Sommerspaziergang im Siebengebirge, eher schon die Eigernordwand.

Was liest Röttgen aus dem Gutachten?

Dem Umweltminister ist wichtig festzuhalten, dass die Laufzeitverlängerungen allenfalls marginale
Auswirkungen auf den Strompreis und auch auf den Ausstoß von Treibhausgasen haben. Das Gutachten sei
lediglich eine Kostenbetrachtung aber keine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Abschätzung, betonte er. Im
übrigen seien die Exportchancen, die Wertschöpfung, die Marktanteile erneuerbarer Energien, und die Kosten
des Klimawandels die Fragen, „die ich für wesentlich halte“. Diese Fragen haben Röttgen und Brüderle bei der
Auftragsvergabe allerdings nicht gestellt. Röttgen wies darauf hin, dass die Gutachter bei der für die
Atomenergie günstigsten Annahme – 28 Jahre Laufzeitverlängerung bei marginalen Nachrüstkosten – im Jahr
2050 einen um 1,8 Cent pro Kilowattstunde günstigeren Strompreis annehmen als im Referenzszenario ohne
Laufzeitverlängerung. Allein zwischen 2008 und 2010 habe der Strompreis an der Leipziger Börse EEX aber
zwischen drei und acht Cent geschwankt. „Das ist kein relevanter Unterschied“, sagte er. Und so sieht Röttgen
das auch beim Kohlendioxid-Ausstoß. Ob die Laufzeiten um vier oder zwölf Jahre verlängert würden, bringe
lediglich im Jahr 2030 einen marginalen Unterschied von 41,7 Prozent zu 42,9 Prozent CO2-Minderung aus der
Energieerzeugung. Nach der Entscheidung über das Energiekonzept will Röttgen übrigens mit Brüderle im
Siebengebirge wandern gehen. Schließlich liegt es in seinem Wahlkreis.

Was bedeutet das alles für das Energiekonzept der Regierung?

Das Gutachten hilft der Regierung bei ihren Entscheidungen kaum. Bis zum 28. September muss die Regierung
sich darauf einigen, um wie viel die Strommenge für die Atomkraftwerke erhöht werden soll. Ist die
Referenzgröße wie im Jahr 2000 die Annahme, dass ein Atomkraftwerk 95 Prozent der Zeit mit voller Kraft am
Netz ist? Dann würden die Atomkraftwerke bei einer Laufzeitverlängerung von zehn Jahren eher 15 laufen, weil
sie immer öfter vom Netz sind oder mit geringerer Kapazität laufen. Und wie hoch soll das Sicherheitsniveau der
Anlagen sein? Ebenso ungeklärt ist die Frage, wie lang die Laufzeitverlängerung ausfallen darf, damit das
Gesetz ohne Zustimmung des Bundesrats auch vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Bestand hat.
Und dann ist da noch die Gewinnabschöpfung, über die seit Wochen gestritten wird. Abgesehen davon muss die
Regierung die Frage beantworten, wie sie die Sanierungsquote im Altbau von einem Prozent jährlich auf zwei
Prozent jährlich erhöhen will, wenn gleichzeitig das Gebäudesanierungsprogramm von 2011 an gedrittelt wird,
wie das der Haushaltsentwurf vorsieht.

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