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© Thekla Ehling

Gesa Marten wird 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studiert Theater-, Film-
und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Philosophie in München und Köln. In
den Jahren 1986 bis 1993 produziert sie eigene dokumentarische und experimentelle
Videoarbeiten, die auf zahlreichen internationalen Videofestivals gezeigt werden.
Seit 1991 ist Gesa Marten freiberufl ich als Editorin und Dramaturgin tätig. Zu ihren
zahlreichen Arbeiten gehören vor allem Dokumentarfi lme, u.a. Abnehmen in Essen,
Doku-Serie, R: C. L. Rettinger und Claudia Richarz (1999 – Nominierung für den
Deutschen Fernsehpreis 2000 / Bester Schnitt); It‘s a She-thing, R: Susanne Ofteringer
(2000); Die Krokodile der Familie Wandaogo, R: Britta Wandaogo (2002 – Nominierung
für den Deutschen Kamerapreis 2004 / Bester Schnitt Dokumentarfi lm); Was lebst
du?, R: Bettina Braun (2004 – Film+ Schnitt-Preis Dokumentarfi lm 2005); Geschwister
Vogelbach, R: Luzia Schmid (2005 – Nominierung für den Deutschen Kamerapreis
2006 / Bester Schnitt Dokumentarfi lm); Lost in Liberia, R: Luzia Schmid (2007 –
Nominierung für den Film+ Schnitt Preis Dokumentarfi lm 2008); Fräulein Stinnes
fährt um die Welt, R: Erica von Moeller (2008, Dokumentarspielfi lm); pereSTROIKA
– umBAU einer Wohnung, R: Christiane Büchner (2008, Dokumentarfi lm) oder Low
Lights, R: Ignas Miškinis (2009, Spielfi lm).
Seit 1996 unterrichtet Gesa Marten Filmschnitt und Dramaturgie an verschiedenen
Hochschulen. Sie ist Mitgründerin des Frauen-Dokumentarfi lm-Netzwerks LaDOC
sowie Mitglied im Bundesverband Filmschnitt BFS und in der Europäischen
Filmakademie EFA. Gesa Marten lebt in Köln.

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Kleines ABC der Dokumentarfilmmontage

Von Gesa Marten

A – Anfang – Den Anfang schneide ich selten zu Beginn meiner Arbeit an einem
Dokumentarfilm. Zuerst suche ich nach seinem Aufbau, seiner Struktur. Diese
Suche findet durch Sichten und Durchforsten, im Kennenlernen des gedrehten
Materials statt: Was an erzählerischen Elementen ist im Material vorhanden, und
was lässt sich darüber hinaus durch Montage als Bausteine für die Erzählung her-
stellen? Meine anfängliche Arbeit an einem neuen Projekt besteht insofern nicht
im Schneiden, sondern im Nachdenken über den Bau der Geschichte.

B – Bogen – Einen Film möchte ich wie einen Bogen spannen und nicht wie eine
Kette reihen. Klassischerweise spannt sich ein erzählerischer Bogen durch das
Ziel eines Helden und durch die Hindernisse auf dem Weg zu seinem Ziel. Der
Bogen braucht einen Anfang (Zielsetzung), eine Mitte (hindernisreicher Weg in
Richtung Ziel) und ein Ende (Ziel erreicht oder verfehlt). Die dramatische Span-
nung erwächst aus der Frage, ob der Held es schafft oder nicht schafft.
Für den Protagonisten eines Dokumentarfilms stellt sich uns dieselbe Frage:
Was ist sein Ziel? Und was hindert ihn am Erreichen dieses Ziels, bzw. was ist
sein Konflikt? Solche Filme können auf ein Ziel hin gebaut werden. Was aber
heißt das für Filme, in denen offenbar keine Menschen als Helden vorkommen?
Als Erstes würde ich fragen, ob es hier trotzdem eine Art Protagonisten gibt. Ist es
die Landschaft, die von ihren Bewohnern verlassen wird? Ein Haus mit bewegter
Vergangenheit, das nutzlos wird? Und wie kann man die klassische Dramaturgie
für essayistische oder experimentelle Filmkunst nutzbar machen? Hier muss ein
Ersatz gefunden werden. Als Surrogat für die Narration kann beispielsweise eine
Steigerung in inhaltlicher oder formaler Hinsicht dienen. So könnte der Inhalt im-
mer intensiver werden, oder die filmischen Mittel können in ihrer Drastik zuneh-
men. Beschleunigung oder Verlangsamung des Erzähltempos sind dafür Beispiele.
Will der Film ein abstraktes Thema (z.B. Angst oder Ordnung) untersuchen, so
würde ich mit den harmloseren Erscheinungsformen anfangen und im Verlauf des
Films die immer kruderen, skurrileren Seiten des Phänomens darstellen.

C – Chronologie – Im Dokumentarfilm ist die Chronologie des Geschehens eine


nützliche Gliederungshilfe. Für den Aufbau eines Films aus beispielsweise 100
Stunden Drehmaterial kann die »Zwangschronologie« des Materials das dramatur-

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Kleines ABC der Dokumentarfilmmontage

gische Skelett bilden. Selbst wenn der Film letztlich nicht chronologisch erzählt
werden soll, hilft das Orientieren am zeitlichen Verlauf der Wirklichkeit in der
Phase des dramaturgischen Bauens sehr. Das Skelett zu bilden ist der Anfang.
Wenn es steht, dann erst erhalte ich Kriterien, um Sehnen und Muskeln anzuhän-
gen: Was braucht ein Knochen, um zu halten, bzw. bewegt zu werden? Wie muss
eine Szene optimal vorbereitet werden, um verstanden zu werden und auf eine
bestimmte Art zu wirken, und wie möchte ich sie nachbereiten, damit sie ihre
volle Wirkung entfaltet? Vom Skelett leitet sich ab, wo wiederum andere Szenen
zu stehen haben.

D – Dokumentarfilmmontage – Die Dokumentarfilmmontage erfordert drama-


turgisches Denken. Dieser Aufgabe, d.h. mit dem gegebenen Material eine span-
nende Geschichte aufzubauen (denn sie ist nicht automatisch da und oft nicht
leicht zu erkennen), gilt mein größtes Interesse. Dramaturgie bedeutet, einen Bo-
gen über eine Szene, bzw. über den ganzen Film zu spannen.

E – Entscheidungen – Entscheidungen fällen, dies ist eine der fortwährenden


Anforderungen an einen Editor. Durch Entscheidungslosigkeit wird der Schnitt-
prozess zäh und gerät ins Stocken. Deshalb entscheide ich in einigen Fällen lieber
irgendwie als gar nicht. Eine Entscheidung kann überprüft und später wieder
verworfen werden. Eine nicht gefällte Entscheidung, das Verharren im Möglichen
ist Stagnation. Zum Entscheiden gehört der Mut, falsch zu entscheiden. Der er-
ste Entwurf muss nicht immer der große Wurf sein. Dieses Zugeständnis wirkt
entlastend.

F – Fiktion – Spielfilm- und Dokumentarfilmmontage sind nicht per se unter-


schiedlich. Den szenischen Schnitt betreffend ist die Tätigkeit dieselbe – nur die
Materialausgangslage ist unterschiedlich: Der Spielfilmschnitt hat mehr Auswahl
im Detail und kann Figuren ziselierter aufbauen.
Jedes gedrehte Filmmaterial braucht seine jeweils eigene und andere Behand-
lung. In der Dokumentarfilmmontage muss die Geschichte meistens überhaupt
erst entwickelt werden, eine Arbeit, die beim Spielfilm vor dem Dreh die Buchau-
toren getan haben. Insofern ähnelt die Arbeit eines Dokumentarfilmeditors teil-
weise der eines Drehbuchschreibers.
Beim Spielfilm wird der Editor zum Dramaturgen, wenn das gedrehte Material
eine vom Drehbuch gravierend abweichende Wirkung hat. Jetzt ist der Editor
besonders gefordert: Wahrscheinlich baut er die Geschichte um.

G – Grenzenlos – Es gibt Phasen, in denen versinke ich in meiner Arbeit, bzw.


versenke mich in sie. Und zwar besonders dann, wenn ich mich in einem Projekt

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Gesa Marten

befinde, in dem die Regie hochgradig auf ihren Film konzentriert ist. Selbst so en-
gagiert reißt sie mich mit. Ich mag Intensität bei der Arbeit: nur diesen einen Film
montieren, wochenlang, monatelang. Und nichts anderes tun. Organisatorisches
und Freizeit, all dies wird vernachlässigt. Das ist exzessiv und führt zu langen
Arbeitstagen, aber auch zu sehr großer Befriedigung.

H – Hollywood – Meinen ersten abendfüllenden Dokumentarfilm, Chuppa – A


Wedding Canopy, begann ich zunächst in Berlin zu schneiden. Die beiden Re-
gisseure zogen dann zurück in ihre Heimatstadt Los Angeles und nahmen mich
mit. Ich fand mich unerwartet in einer »Editing Suite« – in einem Schneideraum
in Hollywood wieder. Was ein Dokumentarfilm in Hollywood zu suchen hat? Der
Grund war banal: In Hollywood lag 1993 das einzige PAL-Studio in ganz L.A.,
und wir brauchten, aus Deutschland kommend, einen PAL-fähigen Schnittplatz.
Interessante Erfahrung, aber ich sah damals keinen Grund, dort zu bleiben.

I – Intuition – Auf kreative Lösungen im Schnitt kommt man nicht nur durch
Nachdenken oder durch Reden. Gefühl und Erfahrung zählen hingegen viel. Lö-
sungen werden oft intuitiv gefunden, sei es spontan oder durch Ausprobieren.
Wenn im Schneideraum dennoch eine Menge diskutiert und argumentiert wird,
so dient dies in der Regel der Verständigung aller Beteiligten (Editor, Regie, Pro-
duktion, Redaktion) im gemeinsamen Ringen um die beste Lösung. Favorisierte
Lösungen im Montageprozess begründen zu können, halte ich deshalb für nütz-
lich. Das rationale Verbalisieren jedoch folgt der zumeist intuitiven Entscheidung
nach.

J – Ja-Sager – Editoren sind die ersten Außenstehenden, die dem gedrehten Ma-
terial begegnen – seine ersten Zuschauer. Wir waren beim Dreh nicht dabei, wir
kennen die Drehbedingungen nicht und sind deshalb unvoreingenommen. Unse-
re Aufgabe ist es, das Material einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Wir sind
nicht Ja-Sager oder Schönredner, sondern wir sind ein Widerpart. Unser Fokus
liegt nur auf dem Material: Was sehen, was verstehen und empfinden wir im
Material? Was lässt sich mit ihm erzählen und was vielleicht leider nicht? Dieser
unabhängige und zugleich interpretierende Blick ist unser Kapital.

K – Karteikarten – Eine Wand meines Schneideraums ist bedeckt mit einer rie-
sigen Pinwand, an welcher der im Bau befindliche Film in Form von verschieden-
farbigen Karteikarten überblickt werden kann. Ebenso das noch zur Verfügung
stehende, weitere Material und aussortierte Reste. Dafür erhält zu Beginn der
Arbeit jedes filmische Element – Szenen, wichtige O-Töne, Archivmaterial etc.
– eine Karte. Dieses Verfahren gehört für mich zum Prozess der Materialaneig-

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Kleines ABC der Dokumentarfilmmontage

nung. Es dient mir als Bestandsaufnahme und erleichtert das Sondieren mög-
licher dramaturgischer Funktionen einzelner Elemente: Was soll bzw. kann damit
ausgedrückt werden? Aus vielen Stunden scheinbar unüberschaubaren Materials
werden auf diese Weise handhabbare Bausteine.

L – Lernen – Filmschnitt habe ich autodidaktisch gelernt. Meine Voraussetzung


dafür war ein Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Die Grund-
lagen der Dramaturgie werden dort vermittelt. Die Bedienung der professionellen
Bild- und Tonbearbeitungsapparaturen erlernte ich vor Ort während des Schnitts.
Bis Avid sich durchsetzte, nutzte ich über zehn verschiedene digitale nonlineare
Schnittsysteme. Eine Schnittassistenz habe ich leider nie gemacht. Viele Filme
und damit jedes Mal andersartige Aufgaben haben mich trainiert. Ich suche stets
die Herausforderung.

M – Montage – Filmmontage ist für mich der richtige Begriff für unsere Tätigkeit.
Er betont das Zusammenbauen filmischer Materialien oder anders ausgedrückt:
das Gestalten und Kombinieren filmsprachlicher Mittel zu einer Erzählung. Als
Schnitt hingegen bezeichne ich den Übergang von einer Einstellung zur Nächsten.
Schnitte setzen ist unser Handwerkszeug – die Arbeit im Detail – hunderte Male
am Tag. Und damit spannende Geschichten zu montieren, ist unsere Kunst.

N – Nachwuchs und Netze – Ich halte die Unterstützung des Nachwuchses so-
wie die Vernetzung unter Kollegen für unerlässlich. Beides gehört zusammen.
Ein starker Nachwuchs stärkt die Branche. Jüngere Kollegen, zumal solche, die
bei mir durch Assistenzen gelernt haben und die ich deshalb in ihrer Arbeit ein-
schätzen kann, unterstütze ich durch die Vermittlung von Projekten und durch
Supervision. Mit Kollegen tausche ich mich in Rohschnittsichtungen aus. Mit
Einverständnis der Regie geben wir dabei Einblick in den Arbeitsprozess und
üben gegenseitig konstruktiv Kritik. Davon profitieren alle Seiten. Ich habe die
so genannte Schnittwerkstatt ins Leben gerufen. Das ist eine feste Gruppe von
FilmemacherInnen, die ihre Projekte seit Jahren gegenseitig begleitet und für den
Einzelnen eine Art Redaktion darstellt. Auch das ist Vernetzung und gegenseitige
Unterstützung. Aber auch meine Aktivitäten für das Filmnetzwerk LaDOC grün-
den auf der Überzeugung, dass Vernetzung größere Schlagkraft bedeutet.

O – Off – Durch Off-Töne wie Text, Geräusche und Musik kann »vertikal mon-
tiert« werden: Akustische Materialien können zu einer Bildebene mit Originaltö-
nen hinzuaddiert werden. Musik kann Emotionen verstärken oder überhaupt erst
erzeugen. Oder aber man setzt Musik gerade entgegengesetzt kritisch kommen-
tierend oder zur Desillusionierung ein.

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Komplizierter ist das Zusammenwirken von Bild und Text. Die Bedeutung eines
Bildes verändert sich durch den hinzugefügten Text. Beide Ebenen interpretieren
einander. Deshalb muss die Bildmontage auf den Text reagieren, und der Text,
der ja auch weiterentwickelt werden muss, reagiert wiederum auf das Bild. Der
zeitliche Aufwand für die Erarbeitung einer poetischen Text-Bild-Beziehung wird
meistens unterschätzt.

P – Protagonisten – Wer sind die Hauptfiguren? Wer die Nebenfiguren? Und wa-
rum? Das sind die Fragen, die ich zuerst an mein dokumentarisches Rohmaterial
stelle. Protagonist wird derjenige, der eine durchgängige Geschichte hat. Derje-
nige, der einen Konflikt zu bewältigen hat, der mit Anfang, Mitte, Höhepunkt
und Ende erzählt werden kann. Dieser Protagonist wird wünschenswerterweise
durch den ganzen Film geführt. Auch wenn der Protagonist eine Landschaft oder
ein Haus ist, so muss dennoch deren Problem gesucht und narrativ entwickelt
werden.
Protagonisten brauchen Sympathie, damit der Zuschauer sich für sie interes-
siert. An der Sympathieschraube lässt sich gerade in der Montage drehen. Unterm
Strich würde ich sagen, dass wir unsere Figuren im dokumentarischen Film öfters
liebenswerter darstellen als wir sie in der Wirklichkeit erleben. Dies erscheint mir
als der vielleicht angreifbarste Punkt in meiner Arbeit.

Q – Quasifiktion – Auch im Dokumentarfilm kann man – wie im Spielfilm – Illu-


sionen aufbauen, um die Zuschauer emotional mitzunehmen. Die Illusion näm-
lich des Realismus. Im Dokumentarischen muss der Realismus teilweise bewusst
hergestellt werden, wenn das Material die Realität nicht angemessen abbildet.
Ich benutze dafür quasifiktionale filmsprachliche Mittel wie plausible Parallel-
handlungen oder Zeitverläufe (z.B. Tag- und Nachtwechsel), die so in der Realität
stattfinden könnten. Meiner Ansicht nach schaltet das emotionale Mitgehen im
Dokumentarfilm das Denken nicht aus, sondern steigert im Gegenteil das Interes-
se am Film.

R – Rhythmus – Rhythmus bedeutet zunächst einmal eine regelmäßige Abfolge


von Impulsen. Er ist eine irrationale Kategorie, doch zugleich irgendwie bere-
chenbar und damit gezielt einzusetzen. In einem Film sind rhythmische Elemente
meines Erachtens geradezu körperlich erlebbar. Alle filmischen Mittel können
in der Montage rhythmisiert werden: Der Einsatz beispielsweise von Off-Texten
oder Musik in erkennbar regelhafter Wiederkehr. Auch die Frage, wann Schnit-
te gesetzt werden, unterliegt rhythmischen Gesichtspunkten: Der Schnitt steht
immer in einem rhythmischen Verhältnis zur Bewegung im Bild oder zum Ton
in unmittelbarer Nähe. Ein Schnitt wird als Akzent empfunden, selbst wenn er

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»unsichtbar« bleibt. Rhythmen können auch wechseln und aufgebrochen werden.


So dienen Zäsuren, Phasen des Innehaltens, zur Unterbrechung von Rhythmen:
wahrnehmbare Zeit für den Zuschauer zum Durchatmen, zum Nachdenken über
Gesehenes und Gehörtes. Durch den bewussten, rhythmisierenden Einsatz fil-
mischer Mittel kann der Film einen fühlbar organischen Ablauf bekommen.
Und nicht zuletzt ist der Rhythmus eine Kategorie, nach der ein Film in Erman-
gelung einer Geschichte gebaut werden kann. Rhythmus strukturiert.

S – Sichten – Zu Beginn der Arbeit an einem Film schaue ich mir das Material
nicht in seiner Gänze an. Stattdessen sichte ich es quer wie einen Text, den ich
überfliege, um seine Essenz zu erfassen – inhaltlich und stilistisch. Dieses Verfah-
ren hat zeit- und mentalökonomische Gründe. Ich bleibe so länger in der geistigen
Verfassung, nicht in die unendlichen Möglichkeiten des Materials verwickelt zu
werden. Ich erhalte mir Distanz. Später, unmittelbar vor der Montage der ein-
zelnen Szene, sehe ich mir das jeweilige Material an, dann allerdings komplett.
Hätte ich es ganz zu Beginn gesichtet, ich hätte Einzelheiten längst vergessen. Die
jedoch muss ich für die Montage kennen.
Für Rohschnittsichtungen im späteren Verlauf der Arbeit finde ich es generell
wichtig, mich wieder in einen distanzierten Zustand zum Film zu versetzen. Hilf-
reich dabei sind Zuschauer, die hinzugezogen werden, und deren kritischen Blick
ich während des Schauens unwillkürlich antizipiere. Einen ähnlichen Zweck er-
füllt der Wechsel von meinem täglichen Schnittplatz weg an einen anderen Ort.
Das dient dem Blickwechsel, dem neuen Blick auf die eigene Arbeit. Am be-
sten geeignet, um mit innerem Abstand sehen zu können, ist der Umzug mit der
Schnittfassung in ein Kino. Die Projektion ist dort größer, ebenso unser Abstand
zur Leinwand, und die Dunkelheit des Raums spielt auch eine Rolle. Die Montage
und die Schnitte eines Kinofilms müssen ohnehin in der Kinoprojektion kontrol-
liert werden, weil ihre Wirkung auf dem Monitor im Schneideraum sich von der
auf der Kinoleinwand deutlich unterscheidet.

T – Ton – Man hört gelegentlich, der Filmton würde vernachlässigt. Für mich
gehören Ton und Bild ohne Frage zusammen. Der zum Bild gehörige Original-
ton sowie hinzugefügte akustische Materialien beeinflussen nämlich die Wirkung
eines Bildes und umgekehrt. Beispiel: Schneide eine Passage erst ohne Ton, dann
schneide sie mit Ton. Beide Fassungen werden unterschiedlich ausfallen. Die
Trennung von Bild- und Tonschnitt in der Postproduktion sehe ich als ein proble-
matisches Verfahren an, sowohl im Dokumentar- als auch im Spielfilm.

U – Unwahrheit – Oft führen Dokumentarfilmeditoren die grundsätzliche Diskus-


sion über Manipulation und Authentizität, über Wahrheit und Lüge – zweifellos

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ein wichtiges Thema. Jeder, der von Realität erzählt, stellt seine subjektive Inter-
pretation der Wirklichkeit dar. Cutter und Regisseur müssen sich gemeinsam auf
die Gestaltung ihrer Interpretation von Wirklichkeit verständigen. Gerade im Do-
kumentarischen ist es unerlässlich, dass Realität so wahrhaftig und angemessen
wie möglich abgebildet wird. Deshalb muss die Filmmontage Verantwortung für
die Figuren und die Darstellung von Geschehnissen übernehmen.

V – Vertrauen – Sowohl der Regisseur als auch die Produzenten müssen dem
Editor vertrauen. Das Vertrauen bezieht sich in erster Linie auf eine gleichsinnige
Deutung des Materials, die in der Montage den gewollten Sinnzusammenhang
sicherstellt. Vertrauen bezieht sich aber auch auf handwerkliche Fertigkeiten des
Cutters einschließlich seiner Arbeitsgeschwindigkeit und nicht zuletzt darauf,
dass er sich für den Film engagiert einsetzt. Wenn neben einem ein Regisseur
sitzt, der Ängstlichkeit verbreitet, der ungeduldig ist oder sich kaum beraten lässt,
dann macht das keinen Spaß. Und umgekehrt genauso, wenn neben einem Re-
gisseur ein Cutter sitzt, der kein Selbstvertrauen zeigt und sein Licht unter den
Scheffel stellt, so ist das dem Vertrauensverhältnis auch nicht förderlich. Ein so
belastetes Arbeitsklima wird kaum ein optimales Filmergebnis hervorbringen.

W – Weglassen – Einen abendfüllenden Film zu montieren, das bedeutet, hun-


derte oder gar tausende Einstellungen aus dem umfangreichen Ausgangsmaterials
auszuwählen, sie zu verkürzen und in eine sinnvolle, verständliche und span-
nende Abfolge zu bringen. Gleichzeitig bedeutet es, das meiste des für den Film
gedrehten Materials mit Bedacht nicht zu benutzen, es auszumustern, wie es im
Fachjargon heißt. Filmmontage zeigt sich aber nicht in dem, was sie weglässt. Sie
zeigt sich in dem, was sie auswählt und zusammengefügt hat, und in dem, was
sie strukturiert und wie sie es gemacht hat, d.h. im Filmablauf – Einstellung für
Einstellung.
Die Materialauswahl und damit das Weglassen bringt eine gewisse emotionale
Schwierigkeit mit sich: Das Verabschieden und Loslassen mühsam und liebevoll
gedrehten und inzwischen teilweise geschnittenen Filmmaterials kostet deshalb
Überwindung und Zeit.

X – X-Rated – Eines Tages in einem großen Postproduktionshaus stellte sich mir


ein deutscher Cutter-Kollege vor: Patrice Chevalier war sein Name. Das klang
nach Mann von Welt, aber irgendwie auch unwirklich. Jedenfalls kamen wir
ins Gespräch, und seitdem weiß ich, dass es für Editoren genrebedingte Gründe
gibt, sich einen Künstlernamen zuzulegen: Patrice schneidet Pornos. Sein extra-
vaganter Name dient dabei nicht in erster Linie als Pseudonym, wie ich zunächst
mutmaßte, sondern im Abspann des Films zur Veredelung des Produkts.

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Kleines ABC der Dokumentarfilmmontage

Y – Why? Wozu? – Noch bevor ich mir Material ansehe oder zu schneiden be-
ginne, stelle ich der Regie Fragen: »Was willst Du? Was hast Du gedreht? Was ist
die Geschichte?« Und vor allem frage ich: »Why? Warum hast du dies gedreht und
wozu jenes?« Dies ist die grundlegende Frage nach der dramaturgischen Funktion
der filmischen Elemente. Diese Methode führt mich als Editorin in die Materialla-
ge und die Absicht der Regie ein. Und sie forciert ein strukturiertes, gemeinsames
Nachdenken über das Material und was daraus werden soll und kann. Nur eine
dramaturgische Funktion gibt einem filmischen Element seine Daseinsberechti-
gung im Film (dramaturgische Ökonomie).

Z – Zu Ende – Das Alphabet ist eine dramaturgische Krücke; eine vertraute Ab-
folge, eine Struktur, die inhaltlich gefüllt werden kann. Ähnlich funktionieren im
Film Jahreskreise, Schuljahre, Lebensverläufe und Tagesabläufe. Wenn sich im
Rohmaterial keine Dramaturgie aufdrängt, z.B. weil sich während der Drehar-
beiten schlichtweg kein Höhepunkt ereignet hat, dann suche ich in der Montage
nach einem erzählerischen Ersatzmuster. Das ABC ist ein solches, und es hat
zudem ein klares Ende. Unabgeleitet und zwingend: Z.

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