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Hermann Broch
Kommentierte Werkausgabe
Herausgegeben von
Paul Michael Lützeier
Band 11
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Hermann Broch
Politische Schriften
Suhrkamp
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Zweite Auflage 1986
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1978
Bibliographischer Nachweis für die
einzelnen Texte am Schluß des Bandes
Alle Rechte Vorbehalten
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
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Inhalt
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Anmerkungen des Herausgebers
Bibliographischer N achw eis...............................................497
Textkritische Hinweise........................................................ 499
Auswahlbibliographie zur Sekundärliteratur......................506
Verzeichnis der A bkürzungen............................................507
Personenregister..................................................................508
Editorische Notiz (mit Copyright-Angaben)......................513
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Demokratie und Sozialismus
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Konstitutionelle Diktatur
als demokratisches Rätesystem
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gelangt, an welchem sie sich dieses Instrumentes der Gerech
tigkeit ohne weiteres begeben könnte, stellt sie mit einer gewis
sen Selbstentäußerung diesen Schritt in Frage, um - vertrauend
auf die weitere Überzeugungskraft ihrer Theorien - die Errei
chung der sozialistischen Diktatur auf demokratischem Wege
abzuwarten.
Für die Aufrechterhaltung des demokratischen Gerechtig-
keitsprinzipes spricht aber noch ein weiterer gewichtiger Fak
tor. Gerechtigkeit bedeutet immer Freiheit des Individuums,
und wenn auch jeder Staat Machtidee ist und daher einen Teil
der persönlichen Freiheit des Individuums quasi als grundle
gende Staatssteuer für sich beansprucht, so will der soziali
stische Staat-deswegen nennt er sich ja auch bloß Gesellschaft
- das Maximum an Freiheit seinen Bürgern gewährleisten: er
will eine Gesellschaft freier Menschen sein. Sein politisches
Ideal ist also die Identität der vollkommenen Demokratie mit
der vollkommenen Diktatur der neuen Staatsidee; erstrebt ei
nen Zustand, in welchem die Idee des neuen Staates und seiner
Machtdiktatur von all seinen Bürgern auch gleichmäßig gewollt
werde, mit einem Wort: jene Freiheit der Pflicht, die in der
Kantischen Autonomie2 ihren ethischen Ausdruck gefunden
hat.
Die Diktatur der Räte wird daher von vielen bloß als ein - so
zusagen pädagogischer - Übergang, als ein, manchmal
schmerzhafter, Kursus angesehen, den die noch nicht aufge
klärten Staatsbürger mitzumachen hätten, um das reine Den
ken, die reine Staatsidee schließlich zu erlernen und zu akzep
tieren. Das ist falsch: denn die Diktatur der neuen
Gesellschaftsordnung ist kein Übergang; sie bleibt nicht nur als
solche das definitive Ziel der Revolution, sondern auch das Rä
tesystem als solches wird - soweit menschliche Voraussicht
reicht - bestehen bleiben müssen.
Denn das Rätesystem konkretisiert jenes Politikum, das dem
Sozialismus als Partei jene innere Ernsthaftigkeit verliehen hat,
die ihn von der landläufigen politischen und rhetorischen
Windbeutelei abscheidet, die sich ihm in den demokratischen
Parlamenten als Gegenparteien scheinbar paritätisch gegen
überstellen: der Sozialismus ist ein wirtschaftliches Prinzip, er
ist ein unrhetorischer, unpathetischer Realfaktor, und jener
Unernst, mit welchem der rhetorische Politiker über Phrasen
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zur gesetzgeberischen Arbeit gelangt, ist ihm fremd. Insolange
und insoweit der Staat oder die Gesellschaft ein reales, konkre
tes Gebilde ist, ist die materialistische Politik an ihrem Platze.
(Womit noch nicht gesagt ist, daß die materialistische Ge
schichtsauffassung als Geschichtswissenschaft unanfechtbar
wäre.)
Das Rätesystem verwirklicht nun dieses erste Prinzip des Ma
terialismus. Es geht nicht aus willkürlichen, geographischen
oder sonstweichen politischen Keimzellen hervor, sondern es
liegt in der Wirtschaftsordnung selbst verankert. Bilden das
Bauerngut und die industriellen Produktionsstätten die Ur- und
Keimzellen der Wirtschaft, so sollen sie auch die politischen
Keimzellen der Regierung sein.
Die Frage liegt nun darin, ob die Diktatur solcher Räte auch
tatsächlich der erstrebten Diktatur der neuen Staatsidee ent
spricht. Die politische Denkweise der Arbeiter und damit der
Arbeiterräte gewährleistet selbstverständlich, daß sie im Sinne
des neuen Staatsgedankens zu arbeiten und diesen vorzuberei
ten imstande sein werden; auch die Soldatenräte werden in die
ser Richtung arbeiten. Aber schon mit den Bauernräten wird
- wie Dr. Otto Bauer3 erst kürzlich dargelegt hat4 - in Öster
reich nicht zu rechnen sein. Aber selbst wenn sich auch noch die
Kleinbauern anschließen würden, so ist es dennoch nur ein Teil
der Gesamtbevölkerung, in deren Hände die Diktatur gelegt
wird, und zwar jener Teil, der, weil er persönliche Besitzinter
essen dabei vertritt, sozusagen kapitalistisch gegenüber dem
Kapitalismus auftritt. Es kann sich daher in dieser Form tat
sächlich nur um einen Übergang handeln - umsomehr als die
militärische Institution der Soldatenräte mit dem Verschwin
den des Militarismus ja ebenfalls verschwinden wird müssen -,
um eine Übergangsform, die ehebaldigst ausgebaut werden
müßte. Denn es ist das Wesen eines Provisoriums, daß es den
Gesamtkomplex eines Problems nur von einer, der augenblick
lich einfachsten Seite her angeht und daher nur auch Teillösun
gen zustande bringt; es berücksichtigt sozusagen aus der Ge
samtheit der Motive zur Problemlösung nur eine Minorität der
Motive, und von welchem Übel Provisorien, speziell wenn es
sich um aufbauende Arbeit handelt, sein können, haben die
Kriegsgesetze zur Genüge bewiesen.
Die Hauptgefahr eines solchen Provisoriums aber liegt - und
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damit kehren wir zu dem sozialistischen Dilemma zwischen Rä
tesystem und Demokratie zurück - in der konkreten Verge
waltigung des Freiheitsgedankens. Das demokratische Gerech
tigkeitsprinzip verlangt nicht nur für den staatlichen Zielzu
stand, sondern auch für jene Entwicklungsstufe das Maximum
politischer, individueller Freiheit, in der sie eben auch die Ge
währ der ruhigen, zielsicheren und fruchtbaren Entwicklung
sieht. Auch sie kennt wohl eine Diktatur, und zwar die der Ma
jorität über die Minorität, aber diese Diktatur ist keine usurpa-
torische, sondern ist Frucht des demokratischen Wahlganges,
sie ist unpersönlich geworden und daher vom Wähler im voraus
als legal anerkannt. Wenn die Gewalt aber imperativ in die
Hände einzelner Volksteile - ganz gleichgültig ob diese die nu
merische Majorität besitzen oder nicht - gelegt wird, so wird
sich der andere Volksteil - wieder völlig gleichgültig ob er zah
lenmäßig über- oder unterlegen ist - mit vollem Rechte in sei
ner Freiheit geschmälert, in seiner Würde als Mensch beleidigt
fühlen. Naivere Kommunisten werden eine solche Beleidigung
als die gerechte Strafe ansehen, mit der nunmehr der einzelne
Kapitalist für seine ausbeuterische Tätigkeit oder die seiner
Vorfahren belegt wird - aber ganz abgesehen davon, ob eine
derartige kindlich-mystische Theorie, die den besitzenden
Menschen im vorhinein als den persönlich Strafbaren betrach
tet (hier muß doch wieder einmal das Sparkapital erwähnt wer
den) zu Recht besteht oder nicht, so muß, eben ganz abgesehen
davon, daß diese sogenannte Strafe zum Großteil auch solche
trifft, die mit Kapitalismus nie etwas zu tun gehabt hatten, so
muß, eben aus dem Geist des Sozialismus heraus, immer wieder
darauf verwiesen werden, daß jede imperative Vergewaltigung
der Freiheit an sich, ausgeübt von Menschen gegen Menschen,
daß jede Beleidigung der Menschenwürde fluchwürdigstes
Verbrechen ist und bleibt.
Die notwendige Folge aber ist der Bürgerkrieg. Denn selbst
jener, welcher ansonsten rückhaltlos mit der Idee des neuen
Staates sympathisieren würde, sosehr er auch die ökonomische
Sozialisierung beispielsweise begrüßen möchte, wenn sie von
der sachlichen, gerechten, das heißt - worauf es hier ankommt
- unpersönlichen Staatsgewalt ausgeht, er wird sofort zum
schärfsten Protest gegen diese gedrängt sein, wenn er nicht den
seiner politischen Freiheit gebührenden Teil an der Staatsge
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walt besitzt und diese in die Hände eines bestimmten Volkspar-
tikels - und zwar überdies eines ökonomisch daran interessier
ten - gelegt sieht. Der Bürger erträgt den steuersüchtigen
König, wenn sich dieser als »Beamter« des unpersönlichen
Staates geriert und diesen Nimbus aufrechthalten kann, aber er
verweigert ihm seine Windmühle5, das heißt seine Freiheit,
wenn der König persönlich darnach Gelüste trägt. Daß aus die
ser psychologischen Konstellation der Bürgerkrieg und der
Terror unweigerlich hervorgehen, zeigt das russische Beispiel.
Nun wäre einzuwenden, daß es sich trotz alledem gar nicht um
ein Provisorium handle, daß vielmehr die ausschließliche Ge
walt bei den Arbeiterräten bereits das Definitivum sei und sein
müsse, da nur diese Gewaltverleihung die Befreiung des Prole
tariats darstelle und daß daher für diesen Preis Bürgerkrieg und
Terror wohl in Kauf zu nehmen seien. Wer so denkt, ist ein gu
ter Revolutionär, aber er weiß nichts vom marxistischen Ziel
der Revolution; er will die Revolution um ihrer selbst willen.
Denn auch die Befreiung des Proletariats ist nur Mittel zum
Zwecke; an sich genommen ist sie ein leeres Wort, ja ein Ver
brechen am Proletariat. Sogar die Sozialisierung der Produk
tion kann nicht als letztes Ziel der neuen Staatsidee aufgefaßt
werden: die Freiheit des Menschen, die die Freiheit des Prole
tariers ist, steht höher; sie verlangt, daß das Kulturgut, das jene
menschliche Produktion durch Jahrhunderte geschaffen hat,
ungeschmälert zum sozialisierten Gemeingut der Allgemein
heit werde. Erst in dieser Sozialisierung des Kulturgutes ist die
Befreiung des Menschen zu sehen, erst durch sie Entpolitisie
rung gegeben, die den Staat zur Gesellschaft verwandelt. Wie
denn auch erst an dieser Entpolitisierung des freien Menschen
es klar wird, warum das Ernsthafte in der Politik und damit das
Ernsthafte des sozialdemokratischen Gedankens, nämlich die
wirtschaftliche Basis, apolitisch sein mußte. Revolution als sol
che aber ist immer politisch.
Der Bürgerkrieg aber - umsomehr als er das Erbe der radika
len Methoden des Weltkrieges angetreten hat - vernichtet die
sen Siegespreis radikal. Man muß nicht einmal gerade an die
unausweichlichen Nebenerscheinungen des Bürgerkrieges
denken: an die weitere Verrohung und Vertierung des Men
schen, an die Vernichtung von Kunstschätzen, an die Aufhe
bung jener äußeren Zivilisation, die den Stolz der Moderne bil
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det. Man möge sogar diese konservativen und äußerlichen
Werte als Luxuswerte niedrig einschätzen, wenn man auch
nicht vergessen sollte, daß sich unter jenen Luxuswerten, die
bisher in der Verwahrung der bevorrechteten Klassen standen,
auch solche befinden - man denke nur an die Möglichkeiten der
Krankenpflege -, deren das Proletariat einfach nicht wird ent-
raten dürfen. Aber selbst wenn man dies alles als gering erach
tet: sogar das ökonomische Ziel der Revolution erscheint durch
den Klassenkrieg in Frage gestellt, da ja die eigentlichen Träger
des Wirtschaftslebens-sowohl die Leiterder Großproduktion,
der Finanzen und des Verkehrs, als auch eben die Bauern und
Kleingewerbetreibenden und schließlich die freien Berufe -
nicht dem Proletariat, zumindest nicht der Arbeiterschaft an
gehören. Ein Kriegszustand mit diesen Gruppen bringt, wie es
eben in Rußland geschehen ist, das gesamte ökonomische Ge
triebe in die Gefahr der Verelendung und stellt die Arbeiter
schaft in einer Zeit, wo es ohnehin um Leben und Tod geht, vor
die ungeheure Aufgabe, ein Wirtschaftsleben, das sie organisa
torisch halbwegs intakt übernehmen hätte können, neu auf
bauen und ausbauen zu müssen.
Auch im Klassenkampf gibt es ein Brest-Litowsk6. Das Prole
tariat hat gerade im gegenwärtigen Augenblicke, da es an die
Lösung seiner tiefsten Aufgaben herantritt, alles Interesse
daran, den Kampf, in dem es bereits Sieger ist, abzuschließen
und die unterlegenen Klassen sofort in die Gemeinschaft, in den
Bund aller freien und werktätigen Menschen aufzunehmen und
sie zur Kooperation zu erziehen. Das Mittel hierzu ist ihm im
Prinzip der demokratischen Gerechtigkeit, die auch im Besieg
ten keine Bitterkeit hinterläßt, gegeben und vertraut.
Praktisch gesprochen: die Sozialdemokratie darf ihr eingebo
renes demokratisches Prinzip nicht auf geben; auch nicht zu
gunsten des Rätesystems. Ist dieses - wie Lenin zeigt7 - in sei
ner Identität von Gesetzgebung und Verwaltung die einzig
adäquate Regierungsform der marxistisch-ökonomischen Ge
sellschaft, so bedarf es des demokratischen Ausbaues, um aus
dem Provisorium, das es jetzt ist, zum Definitivum werden zu
können. Die einseitige Beschickung der Räte durch die Arbei
terschaft, also durch die Minorität einer einzigen Wirtschafts
gruppe, hat wohl für den Moment den Vorteil, daß die neue
Staatsidee durch diese verläßliche Vorhut gesichert werden
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kann. Auch verspricht man uns, daß im endgültigen, kommuni
stischen Staate sich die Demokratisierung der Räte ohnehin
und automatisch vollziehen werde. Denn es komme nur darauf
an, daß der Fabriksdirektor, der Landwirt, der Gewerbetrei
bende, die geistigen Berufe auch wirklich zur kommunistischen
Gesinnung gelangen, damit auch sie im rein kommunistischen
Sinne als werktätige »Arbeiter« gelten und ihre Vertretung im
Rätesystem finden könnten. Doch dieser Wechsel auf die Zu
kunft bringt - wie gezeigt - die schwersten Gefahren. Und sind
jene nicht auch schon jetzt werktätige Arbeiter? Leisten nicht
selbst auch die spezifischen Träger des Kapitalismus, der Fi
nanzier und Kaufmann, deren Verschwinden ja einmal nur zu
begrüßen sein wird, leistet aber vor allem der industrielle Un
ternehmer nicht eine, für die Gemeinschaft jetzt noch unum
gänglich notwendige, werktätige Arbeit? Anläßlich des Soziali
sierungsentwurfes in der Nationalversammlung sagte Friedrich
Adler8, daß das Proletariat nicht daran denken könne, jetzt
etwa die Unternehmer, Direktoren und Oberbeamten aus den
Fabriken zu verjagen9. Eben die Liquidation der alten Welt
macht es zur größten Wichtigkeit, ihre Arbeitsleistungen klag-
und reibungslos in die neue Wirtschaft zu überführen; dürfen
also die Träger dieser Arbeit politisch entrechtet werden, will
man nunmehr diese zur praktischen Arbeit in Bureau und Fa
brik versklaven und ihre freien, politischen Bürgerrechte ver
gewaltigen? Auch sie werden ihre politische Opposition durch
das alte Machtmittel des wirtschaftlichen Streiks und der Sabo
tage manifestieren, und der Bürgerkrieg muß, wie gesagt, zur
unausweichlichen Folge werden!
Es gibt dagegen nur ein einziges Mittel: sofort allen Wirt
schaftsgruppen die entsprechende Vertretung im Rätesystem
zu sichern. Diese Demokratisierung muß bereits in den politi
schen Urzellen beginnen. Ist die industrielle Produktionsstätte
eine derselben, so darf sie sich nicht einseitig in einem Rat der
Lohnarbeiter konstituieren, sondern muß in ihrem Arbeiterrat
alle aufnehmen, die an der Arbeit werktätigen Anteil nehmen,
den Unternehmer, den Direktor, den Beamten in gleicher
Weise wie den Arbeiter. Und da die Fabriken nicht die einzigen
Zellen des Wirtschaftslebens darstellen, so sind auch alle übri
gen Berufe und ihre (vorderhand noch existenten) sozialen
Schichtungen adäquat zu berücksichtigen. Die Vertretung die-
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scr wirtschaftlichen Gesamtheit aber bildet sodann das demo
kratische Rätesystem.
Eine kürzlich erschienene Schrift Paul Schreckers10, die leider
den verfehlten Titel »Für ein Ständehaus«11 trägt, beschäftigt
sich mit der Konstitution und Struktur einer solchen gesetzge
berischen Körperschaft, welche als Vertretung der Gesamt
wirtschaft zu fungieren hätte. Schrecker behandelt diese Kör
perschaft mit gutem Grunde als eine »zweite Kammer«, welche
neben das, wenigstens bis auf weiteres, bestehende demokra
tische Parlament zu treten hätte und dem vor allem die wirt
schaftlichen Gesetze zur Ausarbeitung zu überantworten wä
ren, während die eigentliche politische Gesetzgebung der
ersten Kammer Vorbehalten bliebe. Aber auch bei ihm ist es
klar, daß mit dem Vordringen des sozialistischen Staatsgedan
kens die wirtschaftliche Gesetzgebung immer mehr in den Vor
dergrund zu treten hat, und daß daher die zweite Kammer ne
ben ihren jeweiligen praktischen Aufgaben die Entpolitisierung
des Staates als eines ihrer Hauptziele sich vorzunehmen hätte.
Fürs erste aber hätte diese zweite Kammer das wichtigste wirt
schaftliche Mandat im neuen Staate zu übernehmen: die
Sozialisierungsarbeit.
Denn gerade die Sozialisierungsarbeit bedarf der werktätigen
Mithilfe aller beteiligten Kreise, darf nicht dem Proletariat al
lein überlassen bleiben, wenn sie das sein will, was sie sein soll:
sachgemäße und fruchtbare Arbeit. Sowenig man den bisheri
gen Unternehmer, Direktor und Beamten in der Fabrik ent
behren kann, sowenig ist er hier zu entbehren, wo es gilt, die
Betriebe auf völlig neue Basis umzustellen. Man fürchte nicht,
daß die Mitarbeit des Unternehmers diesen Weg erschweren
werde, denn man darf die Liebe, die er zu seinem Werke hegt,
das meistenteils seine Lebensarbeit ist, nicht unterschätzen.
Auch er arbeitet ja meistens nicht »für sich selbst« - die Ein
fachheit der Lebensführung vieler Kapitalisten ist bekannt -,
sondern für das »Werk«, manchmal für seine Erben. Und er
wird in gleicher Weise an seinem Werke interessiert bleiben,
wenn man ihm Gelegenheit gibt, seine neuen Erben kennenzu
lernen und ihnen das Testament seiner Arbeit überantworten
zu können. Es sind dies wohl nur psychologische Erwägungen,
aber sie sind für denjenigen, der einmal im industriellen Wirt
schaftsleben gestanden ist, beweiskräftig. Und im übrigen ist
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dies auch das einzige, zweckentsprechende Mittel, um die
Sozialisierungsarbeit vor jener Überstürzung zu bewahren, die
- wie Rußland gezeigt hat - die Verelendung der Produktion
nach sich zieht, ihr aber hingegen jene »schrittweise« Entwick
lung zu sichern, die die Sozialdemokratie immer propagiert
hatte. Daß bei dieser gesetzgeberischen Arbeit der einfache
Nutznießer des Kapitals, der Aktionär und Rentner ausge
schaltet werden muß, daß im Rätesystem tatsächlich nur die
werktätigen Arbeiter und Fachmänner vertreten sein dürfen,
versteht sich von selbst.
Es wäre nun noch einzuwenden, daß das demokratische Räte
system sich überhaupt nicht vom demokratischen Parlament
unterscheide: Otto Bauer12 lehnt das Rätesystem für Öster
reich ab, weil die Bauernräte einfach christlichsozial, die Ar
beiterräte sozialdemokratisch sein würden, und daß daher die
selben Leute wie im Parlament zusammentreten würden. Dem
ist aber doch nicht so. Das Rätesystem soll eine Körperschaft
der Fachmänner, nicht die von Abgeordneten sein, und die Ge
währ für diese Zusammensetzung ist schon in ihrer wirtschaftli
chen Basis gegeben. Dem Sozialdemokraten, der auch im Par
lament, in der Gewerkschaft den wirtschaftlichen Hintergrund
besitzt, wird in der Rätekammer nicht der rhetorische Politiker
einer »Partei«, sondern höchstens der Angehörige irgendeiner
anderen Wirtschaftsgruppe, etwa der des Unternehmertums,
entgegentreten. Und daß derartige Oppositionen - die hier
faktisch nur dem Gedeihen des »Werkes« gelten - von ganz an
derer Fruchtbarkeit sind als die pathetischen der Parlamente,
zeigt sich auch jetzt schon in dem gedeihlichen Zusammenar
beiten jener Kommissionen, in denen Unternehmer und Ar
beiterschaft paritätisch ihren Platz gefunden haben. Auch hier
kann man sich den Argumenten Schreckers vollinhaltlich an
schließen, welcher darauf hinweist, daß in dieser Rätekammer
zwischen dem Vertreter und seinen Urwählern ein steter (wirt
schaftlicher) Kontakt bestehen muß, der es zu einem viel be
weglicheren, individuelleren Instrument zu machen befähigt ist,
als es die Parlamente je sein können, die, völlig von der starren
Parteischematisierung beherrscht, immer nur das Ja und Nein
der den Urwählern längst entfremdeten Parteileitungen zeiti
gen, und die ihre tatsächliche Arbeit bestenfalls nur so nebenbei
und im geheimen fast, nämlich in den Ausschüssen bewerkstel
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ligen können, bei denen der Träger des Wirtschaftslebens, der
Fachmann, überhaupt nicht eine offiziell entscheidende, son
dern nur eine beratende Stimme besitzt.
Ein letzter Einwand, allerdings der gewichtigste: wir sagten,
daß die reine Staatsidee stets der Diktatur benötige. Ein demo
kratisches Rätesystem in seiner individuellen Beweglichkeit ist
kein diktatorisches Element mehr. Es nähert sich vielmehr im
Gegenteil dem Ideal des Apolitikums, das man - allerdings mit
einiger Kurzsichtigkeit - mit politischer Gleichgültigkeit ver
wechseln kann, so daß das Projekt eines »Ständehauses« im
Parlament als »vormärzlich« abgelehnt werden konnte, wobei
zwar als Entschuldigung dienen kann, daß dieses Projekt von
den Deutschnationalen13 eingebracht wurde. Von wo aber soll
das demokratische Rätesystem seine sozial-diktatorischen Di
rektiven beziehen? Kann dieses Apolitikum eben nicht ebenso
leicht zum Instrument der Reaktion werden?
Diese Bedenken werden auch von der Schreckerschen Schrift
erhoben. Sie glaubt, ihnen mit dem Hinweis auf die strukturelle
Zusammensetzung der Rätekammer begegnen zu können.
Denn aus dieser Zusammensetzung (für welche durchaus gang
bare Vorschläge gemacht werden) sollen ja vor allem jene Trä
ger des Kapitalismus ausgeschaltet werden, die wie der Rentner
und der Aktionär an der werktätigen Arbeit nicht teilhaben und
daher im eigentlichen Kapitalismus ihre Lebensbedingung se
hen, während es dem wahrhaft Schaffenden im Grunde gleich
gültig ist, ob er sein Brot vom Aktionär oder von der Gesamt
heit erhält - das letztere wird ihm sogar vielfach lieber sein.
Außerdem ist die Zusammensetzung in einer Form vorgesehen
(und auch die Abstimmungsmodalitäten könnten dieser ange
paßt werden), die an die Struktur der bestehenden paritätischen
Kommissionen erinnert und eine Majorisierung der Kammer
durch ihre reaktionär-verdächtigen Mitglieder zumindest un
wahrscheinlich machen.
Das Wesentliche aber ist, daß diese Zusammensetzung von ei
ner höheren und imperativen Instanz ausgeht: und das ist die
Nationalversammlung, respektive, wenn auf die Urwähler zu
rückgegangen werden müßte, das Plebiszit. Die Nationalver
sammlung, das demokratische Parlament, geht aus dem glei
chen und geheimen Wahlrecht hervor und in ihr ist die
Majorität diktatorisch und darf es legal sein. Das demokra
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tische Parlament ist seiner Wesenheit nach politisch und soll
auch fürderhin die politische Gesetzgebung (bis sich diese als
überflüssig erweisen wird) für sich beanspruchen. Setzt es aber
eine zweite und wirtschaftliche Kammer als Apolitikum neben
sich, so darf es von dieser verlangen, daß es ihr die politische
Richtung als Gesamtheit vorschreiben darf, wie es ja auch sei
nen eigenen wirtschaftlichen oder sonstigen Ausschüssen - die
Sozialisierungskommission ist das schlagendste Beispiel hierfür
- die genaue politische Wegrichtung vorzeichnet. Ist die Mehr
heit des Parlamentes sozialistisch, so wird die gesetzgeberische
Arbeit der Rätekammer zur Gänze sozialistisch sein. Die Räte
kammer steht zur parlamentarischen ersten Kammer im glei
chen Verhältnis wie das Parlament zur Krone gestanden ist; die
Staatsidee des monarchisch-konstitutionellen Prinzipes mußte
unter allen Umständen diktatorisch in aller Gesetzgebung auf
rechterhalten werden, im übrigen aber war das Parlament - we
nigstens ideal gedacht - in seiner Gesetzgebung autonom-dik
tatorisch. Es entsprach nur dem Wesen der Staatsidee, daß die
Krone und ihr Prinzip nicht in die parlamentarische Debatte
gezogen werden konnte - sie war eine vorgegebene Wegrich
tung in der Gesetzgebung, gleichwie innerhalb der Rätekam
mer der Sozialismus eine Wegrichtung der wirtschaftlichen Ge
setzgebung ist, nicht aber mehr Gegenstand politischer Debatte
sein kann.
Damit aber erweist sich die Rätekammer doch als das, was sie
im Sinne der Staatsidee sein soll: die Diktatur der Idee. Ihre
einzige Voraussetzung hierzu jedoch ist in der legalen Majorität
innerhalb der demokratischen ersten Kammer oder, wenn man
will, in einem Plebiszit gelegen. Denn der Bestand der ersten
Kammer ist eigentlich mit dem Augenblick theoretisch er
schöpft, da sie sich entschließt, die Rätekammer neben sich zu
setzen und ihr die politische Direktive der Majorität zu geben.
In einem Lande mit gesicherten Parteiverhältnissen wie etwa in
England wäre es ganz gut möglich, daß das demokratische Par
lament nach erfolgter Wahl zu dieser einzigen legislativen Ar
beit zusammenträte, um sich sodann sofort bis zu den nächsten
Neuwahlen zu beurlauben, die gesetzgeberische Arbeit aber
der nunmehr fix orientierten Rätekammer in der Zwischenzeit
zu überlassen. In Ländern starker politischer Beweglichkeit
wäre dies vorderhand wohl nicht möglich, und die parallele Ar
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beit der politischen und wirtschaftlichen Kammer wird, wie ihre
gegenseitige fortlaufende Kontrolle, wohl vonnöten sein. Aber
auch hier wird sich die politische Arbeit des Parlamentes mit
der Zeit immer mehr erschöpfen, und selbst jene kulturellen
Gesetze, die Grundlagen von Staat, Kirche, Ehe und Schule be
treffend, die jetzt noch als politische Angelegenheiten ersten
Ranges betrachtet werden, werden immer weiter in den Bereich
der Rätekammer rücken, die auch hier, und zwar durch die
Vertretung der geistigen Berufe, eine immerhin objektivere
Behandlung der geistig-kulturellen Fragen erwarten läßt, als sie
im alten Parteiparlament von Menschen »minderer Intelligenz
und verkümmerten sittlichen Verantwortungsgefühls« erfah
ren haben, die, wie Schrecker sagt, »nichts kannten und wußten
als ihre sinnlosen Parteischablonen, nichts liebten als ihr arm
seliges Mandat, und denen die Zeitungsartikel über ihre Reden
der Weisheit letzten Schluß bedeuteten«.14
Die Zweiteilung der gesetzgeberischen Gewalt in ein demo
kratisches Parlament und ein demokratisches Rätesystem ist für
den Augenblick das einzige Mittel, um die Forderung und das
tiefe Bedürfnis der Sozialdemokratie nach Aufrechterhaltung
der Demokratie bei gleichzeitiger zielstrebiger Diktatur der so
zialistischen Idee zu befriedigen, und das den demokratischen
Gedanken innewohnende Gerechtigkeitsprinzip ist jetzt auch
das einzige, das die Vergewaltigung, den Terror und den Bür
gerkrieg verhindern, das Proletariat aber vor der damit verbun
denen physischen und psychischen, ökonomischen und kultu
rellen weiteren Verelendung behüten kann. Daß das
demokratische Parlament dereinst zugunsten des demokrati
schen Rätesystems völlig abdanken wird müssen, gleichwie die
Monarchie zugunsten der Parlamente abdankte, verhindert
nicht, daß sie wie diese nunmehr eine Zeitlang nebeneinander
bestehen werden müssen. Denn war das Ziel der Parlamente
völlige Demokratisierung der Welt, und machte erst diese die
Monarchie überflüssig, so ist das Ziel des Rätesystems völlige
Entpolitisierung der Menschheit und kann erst durchdringen,
bis diese die politischen Schlacken abgestreift hat. Wer Revolu
tion um der Revolution willen treibt, wird das Politische in das
Rätesystem selber verpflanzen und wird in einer kindischen
Ungeduld und Begehrlichkeit jene Blutschuld auf sich laden,
deren tiefstes Verbrechen die Entwürdigung des Menschen ist.
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Denn erst wenn der politische Staat völlig von der apolitischen
Idee durchdrungen sein wird, wird er zur Gesellschaft des freien
Menschen werden.
1 Vgl. Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturge
schichte der Revolution (Berlin 1919), S. 133ff.
2 Vgl. u. a. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, I.
Buch, 1. Hauptstück, § 8, Lehrsatz IV.
3 Otto Bauer (1882-1938), Austro-Marxist, österr. Politiker, 1918 Staatsse
kretär des Auswärtigen.
4 Vgl. Otto Bauer, Der Weg zum Sozialismus (Wien 1919), S. 4 ff.
5 Anspielung auf eine Anekdote um Friedrich II. (1712-1786).
6 Gemeint ist der Frieden von Brest-Litowsk (1918), in dem das bolschewi
stische Rußland sich dem Diktat der deutschen Heeresleitung unterwerfen
mußte.
7 Vgl. W. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat
und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution (Berlin 1918); ferner: Die
nächsten Aufgaben der Sowjet-Macht (Berlin 1918).
8 Friedrich Adler (1879-1960), Austro-Marxist.
9 Vgl. Friedrich Adler, »Eine ernste Warnung«, in: Arbeiterzeitung, XXXI, 119
(1. 5. 1919), S. 2.
10 Paul Schrecker (1889-1963), Professor für Mathematik, später für Philo
sophie; Mitarbeiter zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Zeit
schriften, 1929-1933 Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaf
ten, 1940 Emigration in die USA, wo er an verschiedenen Universitäten
Philosophie lehrte. Einen Namen machte sich Schrecker vor allem als Leib-
niz-Editor und -Forscher. Vgl. seine Studie Leibniz. Ses idees sur l’organisa-
tion des relations internationales (London 1937). Seit 1960 war Schrecker
Emeritus für Philosophie an der University of Pennsylvania in Philadelphia.
Er war ein Freund Brochs aus der frühen Wiener Zeit; in New York und
Princeton traf Broch während des Exils wieder mit ihm zusammen.
11 Paul Schrecker, Für ein Ständehaus. Ein Vorschlag zu friedlicher Aufhebung
der Klassengegensätze (Wien 1919).
12 Vgl. Fußnote 4.
13 Gemeint ist die »Großdeutsche Vereinigung« (letzter Ausläufer der
Deutschnationalen Bewegung der Donaumonarchie), zu der sich 1919 sechs
undzwanzigdeutschnationale Abgeordnete der österr. Nationalversammlung
zusammenschlossen. 1920 nahm sie den Namen »Großdeutsche Volkspartei«
an und forderte vor allem den Anschluß Österreichs an das deutsche Reich.
14 P. Schrecker, Für ein Ständehaus, a.a.O., S. 30-31.
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Zur Diktatur der Humanität
innerhalb einer totalen Demokratie
Vorbemerkung
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Bericht an meine Freunde
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sen verlangen, und der ihnen von den Diktaturen durch einen
Pseudo-Heilsbringer präsentiert wird, nicht von Staats wegen
bestellen. Hingegen ist das Problem des Totalstaates den De
mokratien immerhin zugänglich, und sie sind nicht berechtigt,
davor die Augen zu schließen.
Unter einem Totalstaat darf ein solcher verstanden werden,
dessen regulative Grundprinzipien in die geschriebene oder
ungeschriebene Verfassung eingegangen und für jeden Bürger
unter Strafsanktion verbindlich geworden sind. In den Dikta
turstaaten ist die Person und der unwidersprechbare Wille des
Führers mit dieser Funktion betraut; über die Analogien zur
Kirchenverfassung und zum Gnadenbegriff braucht hier nicht
gehandelt zu werden, ebensowenig über den Begriff des Abso
luten, der ausgesprochen oder unausgesprochen derartigen
Gedankengängen einverwoben ist.
Die Demokratien waren bisher das strikte Gegenteil von
Staatstotalitäten. Ihre Grundprinzipien, die sie mit ihrer
Staatsform verwirklichen wollen, stehen im großen und ganzen
außerhalb ihrer Konstitution. Die amerikanische Verfassung
gründet sich auf die Prinzipien, die in der Unabhängigkeitser
klärung und später im Bürgereid ihren Ausdruck gefunden ha
ben, jedoch niemals expressis verbis in die Gesetzgebung ein
gegangen sind. In den wenigen Ausnahmefällen, in denen dies
trotzdem geschehen ist, handelte es sich lediglich darum, den
Bürger gegen Übergriffe der Staatsgewalt zu schützen.
Es wäre verfehlt, zu glauben, daß in einer totalitären Demo
kratie der Bürger etwa nicht gegen Staatsübergriffe geschützt
werden soll; die Schutzlosigkeit des Bürgers ist das traurige
Vorrecht der Diktaturtyranneien. Noch weniger freilich würde
es genügen, den Staat als solchen gegen die Übergriffe seiner
Bürger zu schützen, obwohl auch dies zu geschehen hat; doch
mit einem »Gesetz zum Schutz der Republik«4, wie es von der
Weimarer Republik und von Österreich geschaffen wurde, ist
nach den dort gemachten Erfahrungen kein Auslangen zu fin
den. Die gewünschte Totalwirkung des Grundprinzipes der
Humanität beschränkt sich nicht auf das Verhältnis des Staates
zum Bürger und des Bürgers zum Staate, sondern muß sich in
einer Durchtränkung des gesamten Rechts-Organes vollziehen,
d. h. in einer organischen Gesetzesgewalt, welche das gesamte
juristisch erfaßbare und faßbare Verhalten der Bürger unter
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einander in ihrer Eigenschaft als konkrete Personen regelt.
Dies ist das Ziel einer jeden Gesetzgebung, da jede Gesetzge
bung letztlich zu einer totalitären Ganzheit strebt, im besonde
ren aber hat es das Gesetzesziel einer Staatstotalität zu sein, die
das Zusammenleben ihrer Bürger unter die Grundprinzipien
der Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit, unter das
Prinzip der physischen und psychischen Integrität der Person,
kurzum unter das Prinzip einer unbedingten Wahrung der
menschlichen Würde gestellt haben will.
Eine Demokratie, die auf diese Weise ihre Totalität anstrebt,
verlangt zum Aufbau ihres Rechts-Organes nach einer Reihe
von Gesetzen, denen es obliegt, die Einzelperson mit ihren
Rechten nicht nur - wie bisher - gegen den Staat, sondern auch
gegen Nebenmenschen unbedingt zu schützen. Humanität ist
ein soziales Gut und muß in einer kategorischen, allgemeingül
tigen Sozialmoral verwurzelt werden. Im Mittelpunkt einer sol
chen Gesetzesgruppe hätte demnach ein »Gesetz zum Schutze
der Menschenwürde« zu stehen, das etwa wie folgt zu formulie
ren wäre:
»Wer durch Worte oder Taten danach trachtet, die Prinzipien der
Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Humanität aufzu
heben, wer durch Worte oder Taten trachtet, einen Menschen, der sich
nicht gegen eine gesetzliche Bestimmung vergangen hat, oder eine
Gruppe solcher Menschen aus der ihnen vom Schöpfer verliehenen all
gemeinen Menschengleichheit auszuschließen, wer danach trachtet, ih
nen ihre unveräußerlichen Rechte auf Leben und Freiheit und Glück
streben abzustreiten oder zu schmälern, ferner, wer durch Worte oder
Taten danach trachtet, einzelne Personen oder Gruppen von solchen,
welche sich nicht gegen die Gesetze des Staates vergangen haben, aus
den allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten auszuschlie
ßen und insbesondere derart zu diskriminieren, daß ihnen nicht der ge
rechte Mitgenuß an den bürgerlichen Rechten und Ehren, nicht die
gleiche Anwartschaft an den öffentlichen Einrichtungen, nicht die
gleiche Freiheit ihres persönlichen Lebens, m. a. W., nicht die gleiche
physische und psychische Integrität wie den übrigen Bürgern zustehe,
schließlich, wer danach trachtet, Völker oder irgendeine andere Men
schengruppe oder einzelne Personen derart zu diffamieren, daß sie zum
Gegenstand des Hasses werden, wer nach solchem trachtet, verstößt
gegen die Grundlage des Staates und soll straffällig gemacht werden.
Gegen diese Straffolgen schützt keine vom Staate sonstwie gewährlei
stete Rechtsimmunität.«
Mit einem solchen Gesetz ist der Humanitätsfeind, der in dieser
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Eigenschaft eben als Staatsfeind zu gelten hat, definiert. Ein
Staat, welcher ein derartiges Gesetz erläßt, steht im diametra
len Gegensatz zu einem jeden, der die Hitlersche Judengesetz
gebung angenommen hat und kann sich daher auch hiervon
eine entsprechende Wirkung erhoffen: erstens sieht eine derar
tige Gesetzesgruppe jene sehr notwendige, technische Selbst
beschränkung der Demokratie vor, die geeignet ist, ihre inner
und außerparlamentarische Selbstzersprengung zu verhindern;
zweitens aber, über die negative Verhinderungswirkung hinaus,
läßt sich hievon eine positive Propagandawirkung für den Hu
manitätsgedanken erwarten, die an Stärke der von den Nürn
berger Erlässen5ausgegangenen zumindest gleichkommt, denn
die wahre Popularität einer Idee ist, wie das deutsche Propa
gandaministerium sehr gut weiß, stets im Gerichtssaal veran
kert; ein wirkungsvolles Gebot hat stets die Form eines »Du
sollst nicht« zu erhalten.
Eine Freiheit, die sich aus Freiheitsgründen selber aufheben
läßt, eine Humanität, die sich aus Humanitätsgründen selber
vernichten lassen will, ist ein Unding. Und eben deswegen ver
langt eine Totaldemokratie, die den Volksmassen den von ih
nen benötigten seelischen Halt zu geben wünscht, nicht nur
nach einer Abriegelung der staatsgefährdenden Gegenpropa
ganda, sondern auch, durchaus nach dem Muster der Diktatu
ren, nach dem Aufbau einer zentral geleiteten, mit allen Mitteln
der Presse, des Radios und des Films arbeitenden propagandi
stischen Volksaufklärung. Denn die Masse weiß nichts von den
Gütern, in deren Besitz sie sich befindet, sie braucht sogar sehr
lange, um deren Verlust zu bemerken, und ihre Verführbarkeit
gilt stets einem mit Neuheitsreiz ausgestatteten Bilde, von dem
sie alles Heil erwartet, vor allem dann, wenn es mit dem Bilde
eines bekämpfbaren Feindes verbunden ist und hierdurch eine
Aggressionsbefriedigung versprochen wird.
Im Gegensatz zu den Diktaturen, welche mit all ihren Maß
nahmen, nicht zuletzt mit ihrer Propaganda, sich an die trübsten
Masseninstinkte wenden, hat die Demokratie wesensgemäß die
ungleich schwerere Aufgabe auf sich genommen, die hellen und
rationalen Kräfte der Massenseele zu erwecken und zu mobili
sieren. Der Aufgabenkreis der Demokratie ist ein ungeheuer
großer, und er wächst mit ihrer totalitären Intensivierung, da
der totalitäre Freiheitsentzug, mit dem die Diktaturen sich die
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Arbeit so bequem erleichtern, für eine Demokratie bloß an den
ohnehin nicht mehr zu ihrem Gebiet gehörigen Grenzfällen der
Selbstzersprengung in Wirksamkeit treten darf. Wenn also die
Totaldemokratie zur Bewältigung ihrer Aufgaben, welche von
dem notwendigen Umbau ihres technisch-parlamentarischen
Apparates bis eben zur intensivsten Propaganda für ihre Hu
manitätsgrundprinzipien reichen, das gesamte Rüstzeug des
Staates in Stellung zu bringen hat und das volle Verfügungs
recht über den gesamten Waffenbestand sowohl in physischer,
wie in geistiger Beziehung für sich in Anspruch nehmen muß,
(da solches zu den ersten Erfordernissen eines Kriegszustandes
gehört), so kann dies gleichfalls nur mit den der Demokratie
adäquaten, sohin nur mit rationalen und rationalsten Mitteln
geschehen, und gerade weil es bei alldem um die so überaus un
zugänglichen, der rationalen Behandlung bisher noch weitge
hend verschlossenen Belange der Massenpsyche geht, wird es
notwendig werden, eine rational-wissenschaftliche Annähe
rung an dieselben tunlichst bald anzubahnen: der augenblick
lich sich ausbreitende Massenwahn ist zumindest ebenso ge
fährlich wie der Krebs, und die Mortalität, die sich aus dieser
psychischen Seuche ergeben hat, übersteigt bereits heute die
des Krebses um ein Tausendfaches, wird sich aber ins Hundert
tausendfache steigern, soferne dem Wüten der Krankheit nicht
Einhalt geboten wird; es liegt daher im dringendsten Interesse
aller entgegengesetzt gerichteten, humanitätsbejahenden
Kräfte, unverzüglich die Gründung eines »Institutes zur Erfor
schung und Bekämpfung psychischer Seuchen« ins Auge zu
fassen und seine Errichtung von Staats wegen oder aus privaten
Mitteln oder in Kombination der beiden Initiativen anzustre
ben.
Gewiß ließen sich die Wünsche noch weiter ausdehnen; sie
hätten zweifelsohne bis zur Neuerrichtung eines regenerierten
Völkerbundes zu reichen. Doch da der Rahmen des Realisier
baren nicht durchbrochen werden soll, so müßte es fürs erste
genügen, daß sich in den Ländern der Demokratien ehestens
eine Vereinigung von Personen bildete, denen der Weiterbe
stand der Humanität und der Kultur am Herzen liegt und [die]
daher gewillt sind, die Verwirklichung der angeführten Pro
grammpunkte tatkräftig in die Wege zu leiten. Diese Vereini
gung hätte also zu fordern:
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1. Es mögen die Regierungen und Parlamente der demokrati
schen Länder unverzüglich eine Gruppe von Gesetzen zum
Schutze ihres humanitätsorientierten, demokratischen Staats-
grundprinzipes erlassen, in deren Mitte ein »Gesetz zum
Schutze der Menschenwürde« zu stehen hätte.
2. Es mögen die demokratischen Staaten unverzüglich eine
zentrale Propaganda einrichten, welche mit allen Mitteln der
Presse, des Films, des Radios, usw. eine aufklärende Tätigkeit
zur intensiven Massenführung in der Richtung des humanitären
Staatsgrundprinzipes aufzunehmen hat.
3. Es möge unverzüglich zur Gründung eines »Institutes zur
Erforschung und Bekämpfung psychischer Seuchen« geschrit
ten werden.
Der Zweck all dieser Maßnahmen, der Zweck der gedachten
Vereinigung ist »Die Diktatur der Humanität durch eine totale
Demokratie«.
Erstes Kapitel
Persönliche Beobachtungen
Ich war in der Lage, das Aufkommen des Nationalsozialismus
innerhalb Deutschlands während der Jahre 1928-33 zu beob
achten; ich habe ferner die Entwicklung der psychischen Situ
ation in Österreich bis 1938 mitgemacht und glaube, trotz der
Kürze der Zeit, die ich nunmehr in England und Amerika ver
bracht habe, die Ansätze zu einer analogen Entwicklung kon
statieren zu dürfen.
Es wäre lächerlich, wenn man bloß von der Wirkung der deut
schen Propaganda spräche: gewiß besteht diese Propaganda, sie
besteht sogar in einem viel intensiveren Maße, als gemeiniglich
angenommen wird, doch sie wäre nicht wirksam, wenn sie nicht
auf einen aufnahmsbereiten Boden fiele, d. h. wenn die fasci-
stisch-diktatorischen Ideen nicht einen »gesunden« Kern besä
ßen, d. h. einen solchen, welcher dem Zeitgeist entspricht.
Die deutsche Propaganda - die italienische ist auf die Levante
beschränkt —hat zwei Angriffspunkte: erstens die besitzend
herrschende Klasse, die durch die Angst vor der Bolschewisie-
rung zu kaptivieren ist, zweitens aber die Mittelklasse und die
Untermittelklasse, welche an ihren negativen revolutionären
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Instinkten gepackt wird, d. h. an ihrer Tendenz, sich von beste
henden Moraltraditionen loszulösen und sich einer Moral des
»Warum-nicht« anzuschließen. Es wird also einerseits eine
konservative Übermoral, andererseits eine revolutionäre Un
termoral propagiert, m. a. W. es wird jedem recht getan, wie es
zum Wesen eines jeden guten Inseratengeschäftes gehört.
Beide [Mittel] sind in gleicher Weise wirksam, ersteres weil es
sich an die unmittelbaren Träger des Machtapparates wendet,
letzteres weil es jene Volksschichten ergreift, welche die ei
gentlichen Träger jeder Diktatur sind. Die propagierte Über
moral ist bloß insoferne ehrlich, als sie Ausdruck der imperia
listischen Reichspolitik ist, hingegen ist die an die breiten
Volksschichten herangetragene Untermoral wesentlich nackter
und stellt die eigentliche »Weltanschauung« der modernen
Diktaturen dar ; im Wesentlichen stellt sie sich als Bruch mit al
len Prinzipien der Humanität und der Gerechtigkeit dar,
kurzum als Bruch mit der absoluten Ethik an sich, freilich da
durchgemildert, daß die Lizenzierung der Frage »Warum nicht
morden?« »Warum nicht rauben?« nur in Ansehung einer Mi
noritätengruppe, den Juden, statthaben soll, eine Einschrän
kung, welche die weltanschauliche Gefahr der Moralaufhebung
für die herrschenden Klassen in einer durchaus angenehmen
Weise camoufliert.
Nach meinen - so weit es Deutschland und Österreich betrifft
- ziemlich intensiven Erfahrungen findet der Nationalsozialis
mus mit diesen Grundrichtungen sein propagandistisches Aus
langen. Die großen Massen sind dem kirchlichen Traditions
zwang teils entronnen, teils entwachsen - es sei hiezu nebenbei
erwähnt, daß die Diktatur sich in zunehmendem Maße gegen
die Kirchlichkeit stellt, je mehr sie der herrschenden Klasse und
ihrer Moral entraten kann -, und gerade dieses Erlöschen der
religiösen Bindung gibt der Moral des »Warum nicht?« [die]
offene Türe, ja, in einigen Spezialproblemen, wie z. B. in der
Ehegesetzgebung, sogar eine gewisse innere Berechtigung. Be
denkt man ferner, daß der Durchschnittsmensch sich von dem
Terror einer Diktatur keine Vorstellung zu machen vermag, er
also durchaus nicht weiß, welchen Preis er zu zahlen haben
wird, ja, dies auch meistenteils nicht einmal klar weiß, wenn er
bereits unter den Terror gestellt ist, so ist die Verlockung einer
Moralaufhebung geradezu unwiderstehlich zu nennen.
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Die deutsche Propaganda nützt diese Sachverhalte in einer
bewunderungswürdig genialen Weise aus. Die Träger der Pro
paganda arbeiten teils unbewußt - zumindest dort, wo es sich
um die Beeinflussung der höheren Gesellschaftsschichten han
delt-, teils durchaus bewußt, und vielfach hiefür sogar bezahlt.
In England besteht zweifelsohne ein sehr engmaschiges Agen
tennetz, während in Amerika jeder einzelne Deutsche und gar
erst die deutschen Vereine zu Agenten gemacht werden; die
deutschen Konsulate führen eine genaue Evidenzliste mit aus
gearbeitetem Stammbaum über alle Ausländsdeutschen, und
diese erhalten vom Institut für Auslandsdeutschtum in Stuttgart
ihre einheitlichen Direktiven. Hiebei spielt das antisemitische
Propagandamaterial eben eine besonders ausschlaggebende
Rolle, weil ja an der Judenfrage die Instinkte des Moralekels
am leichtestenzu entfachen sind. Unter diesem Gesichtspunkt
kann die deutsche Judenausweisung nur mit ehrlichster Be
wunderungbetrachtetwerden, denn abgesehen von dem finan
ziellen Resultat der geglückten Beraubung, ist der Hinauswurf
des Beraubten eine propagandistische Großtat; jedes Emi
grantenschiff muß den Haß gegen die ungebetenen Gäste in den
Emigrationsländern schüren, muß letztlich progermanisch wir
ken, umsomehr als die fascistischen Gruppen in den betroffe
nen Ländern sich dieses Agitationsmaterial nicht entgehen las
sen, die Arbeitslosen auf die Einwanderer hetzen und damit im
Grunde deutsche Politik betreiben; niemand verzichtet gerne
darauf, einen Unglücklichen auch noch überdies schuldig zu
sprechen, und jedwede zu diesem Zwecke geäußerte Lüge, sei
sie noch so durchsichtig, noch so leicht widerlegbar, wird ohne
weiteres geglaubt. Die nämliche, sonderbar zweigleisige Pro
pagandawirkung muß, in noch weitaus stärkeren Ausmaßen,
den Erfolgen der Diktaturstaaten zugemessen werden: die Nie
derlagen des eigenen Landes, die Nachrichten über Barbaris
men, die Nachrichten über Treulosigkeit, Wortbruch und ne
benbei auch über Zahlungsunwilligkeit, wirken keineswegs, wie
man annehmen sollte, gegen die Diktatoren, sondern durchaus
für sie, denn für eine materialistische Gesellschaft ohne ethi
sche Bindung hat auch ein toller Hund »Erfolge« und muß an
erkannt werden, wenn er hiedurch sein Fressen findet; je tiefer
die sittliche Entrüstung einer Regierung wird und je größer die
Empörung, welche von den Journalen geäußert wird, desto in
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tensiver wirkt die deutsche Behauptung, daß Regierung wie
Presse von den Juden gekauft worden seien, desto weniger wer
den die Nachrichten geglaubt, und aus diesem circulus vitiosus
gibt es kein Entrinnen. Es sind dies meine persönlichen Fest
stellungen, und ich glaube, mich mit ihnen nicht zu täuschen:
es mag sein, daß dieser Tatbestand in England, obwohl er auch
dort klar genug zutage tritt (- ich habe während der Tage der
Kriegsgefahr6 mit Einrückenden gesprochen, welche es nicht
fassen konnten, daß sie sich »für die Juden« schlagen sollten -),
immerhin noch ein Gegengewicht in der traditionellen Schwer
beweglichkeit des politischen Engländers besitzt, doch in Ame
rika und speziell in dem judenüberschwemmten New York sind
die Verhältnisse weitaus krasser, nicht nur wegen des Völker
gemisches und des deutschen Einschusses, sondern auch wegen
der rauh-beweglichen, rücksichtslosen Wirtschaftsform dieses
Landes; der Mensch ist überall gleich, und wenn auch der Ame
rikaner der Mittelklasse sich seine Demokratie nicht nehmen
lassen will, so stellt er sich doch vor, daß ihm diese Demokratie
die Lizenz zu Raub und Plünderung und Vergewaltigung werde
erteilen müssen.
Gewiß gibt es sowohl in England wie in Amerika (vielleicht
aber auch in Deutschland) bloß eine verschwindend kleine Mi
norität ausgesprochener Fascisten. Doch wahrscheinlich ist die
Gruppe überzeugter Antifascisten nicht viel größer; weder die
Parlamentsreden in beiden Ländern, noch die Stellungnahme
der Presse sind hiefür ausschlaggebend, und am allerwenigsten
darf man sich darauf verlassen, daß sich die überwiegende An
zahl der Engländer und Amerikaner für Demokraten, z. T. so
gar für demokratische Sozialisten halten, denn all dies haben
wir mit etwas anderer Färbung in jedem einzelnen der jetzigen
Diktaturstaaten erlebt, all dies ist viel zu vage und zu fluktuie
rend, um ein richtiges Gesinnungsbild zu ergeben: wirklich an-
tifascistisch dürfte lediglich eine verhältnismäßig dünne Intel
lektuellenschicht sein, sowie eine Vorhut der Arbeiterschaft,
die freilich auch unter intellektueller Führung steht, und sicher
lich nicht ausreicht, um die labile Masse des Elendsproletariats
vor fascistischen Schlagworten zu bewahren. Die Fascisierung
Englands und Amerikas (von Frankreich ganz zu schweigen)
steht also durchaus im Bereich konkretester Möglichkeit.
Schließlich darf und muß man es auch als bezeichnendes Sym-
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ptom werten, daß Chamberlains fascistische Sympathien über
eine recht solide Mehrheit im Parlament verfügen und die Op
position sich mit oratorischen Exkursen begnügt, und wenn
auch in Amerika vorderhand derartiges nicht zu verzeichnen
ist, so vermute ich dennoch - und wahrscheinlich mit Recht -,
daß in den Kreisen des reinen Amerikanismus sehr starke poli
tische Kräfte am Werke sind, um (- wenn auch nicht gerade mit
Unterstützung, so doch im Kontakt mit Deutschland -) eine
fascistische Neuordnung vorzubereiten, die explosiv in Er
scheinung treten dürfte und gegen die der Chamberlainsche7
Evolutionsfascismus wahrlich ein Humanitätsideal sein könnte:
schubweis-explosives Wachstum gehört zum Wesen des soge
nannten Zeitgeistes, gehört sogar zum Wesen einer so rauhen
und dynamischen Lebensform, wie es die amerikanische ist.
Niemals wäre der fünfjährige sukzessive Selbstmord der West
mächte, der in München8seinen ebenso notwendigen wie über
flüssigen Abschluß gefunden hat, möglich gewesen, wenn er
nicht eben Ausdruck [des] legendären Zeitgeistes gewesen
wäre.
Interpretation
Es ist das Umsichgreifen einer psychischen Seuche, was sich da
vor unseren Augen abspielt. Nun muß man allerdings mit der
artigen Bezeichnungen äußerst vorsichtig umgehen; es ist ei
nerseits viel zu simpel, andererseits viel zu gewagt, um einen
Weltzustand kurzerhand als krankhaft zu bezeichnen: der je
weilige Zeitgeist war im Laufe der Weltgeschichte immer wie
der »krank«, ja, es scheint dies sogar - zumindest in den Augen
der jeweiligen älteren Generation - ein Dauerzustand des Zeit
geistes zu sein, und trotzdem hat sich die Welt durch all die
Krankheit hindurch zu einem Zustand höherer Humanität ent
wickelt. Wie weit also die Seuchenbezeichnung für die heutigen
Erscheinungen zutrifft, wie weit dieselben unter die Kategorie
eindeutig echter psychischer Seuchen fallen, wie es z. B. der
Hexenwahn und der Flagellantismus gewesen sind, dies bedarf
einer gewissen Scheidung innerhalb der Phänomene. Voranzu
stellen ist, daß psychische Seuchen stets auch mit einem An
steckungswillen behaftet sind. Der Irrsinn steht nämlich in ei
nem sehr merkwürdigen Verhältnis zur Ethik: solange der
Irrsinnige noch eine Spur Vollbewußtsein besitzt, schämt er sich
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mit diesem seiner Narrheit, weiß er, daß er mit der Narrheit ge
gen ein absolutes Sittengesetz verstößt, und dieses schlechte
Gewissen sucht er durch Propagierung seiner Narrheit zu be
schwichtigen, meinend, daß die absolute Geltung dieser Narr
heit ihn zum Gesunden machen werde: er sucht sozusagen eine
demokratische Majorität für seine Narrheit. Die Expansions
bestrebungen der germanischen Weltanschauungen sind nicht
zuletzt auf dieses Irrsinnscharakteristikum zurückzuführen.
Diese Bewertung fallt aber in sich zusammen, wenn die prak
tische Seite der Irrsinnspropagierung betrachtet wird. Die Dik
taturen sind keineswegs vollirrsinnig, auch nicht in ethischer
Beziehung - umsomehr Grund für ihr schlechtes Gewissen!
sie wissen ganz genau, daß es unumstößliche ethische Werte wie
Gerechtigkeit, Pakttreue etc. gibt, und sie sind auch immerzu
bereit, dieselben für sich in Anspruch zu nehmen, zweifelsohne
sogar oftmals mit Berechtigung, wie etwa in dem Wunsch nach
Revision des Versailler Vertrages, etc. Und in den Dienst sol
cher Gerechtigkeit wird die Irrsinnspropagierung zu einem
durchaus rationalen Mittel: Deutschland steht mit imperialisti
schen Ansprüchen in der Welt, steht also Gegenspielern und
Feinden gegenüber, darf also nicht wünschen, daß die Kriegs
gefahr auch durch weltanschauliche Gegensätze verschärft
werde. Darüber hinaus aber bedeutet die Hineintragung der
weltanschaulichen Konflikte ins gegnerische Lager eine unge
heuere Schwächung des Gegners; ein zwischen Kommunismus
und Fascismus geteiltes Frankreich ist von Deutschland ohne
weiteres zu erledigen. Je mehr die Demokratien durch Kon
flikte beladen werden, desto unbeweglicher wird der ohnehin
schwerfällige parlamentarische Apparat, desto größer wird der
Rüstungsvorsprung der dynamischen Diktaturstaaten. Das Ju
denproblem als Agitationsmaterial, die Einpumpung dieses le
bendigen Materials in die gegnerischen Länder bekommt, von
hier aus gesehen, noch einen zweiten, eminent praktischen
Sinn.
Da die Rückdemokratisierung der Diktaturen versäumt wor
den ist, scheint unter diesen Umständen praktisch nichts ande
res übrig zu bleiben, als eine Fascisierung der demokratischen
Länder - selbst um den Preis der Aufopferung der Emigranten
- unter möglichster Beschleunigung vorzunehmen. Ein von
Diktaturen umzingeltes demokratisches Frankreich ist gefähr
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det: für ein fascistisches Frankreich, für ein fascistisches Eng
land, eingegliedert in den Kreis der anderen Diktaturen, be
ginnt einfach wieder das nämliche imperialistische Kräftespiel,
wie es unter den Demokratien seit jeher bestanden hat und wie
es seit altersher der diplomatischen Tradition und Routine ent
spricht. Zu dieser sehr windigen Hoffnung wurde die Macht
stellung der einstigen Demokratien reduziert, zu einer Hoff
nung, die ihnen unter Umständen sogar auch noch die
Sympathie und die Hilfe Amerikas verscherzen kann. München
hat diesen Weg ziemlich deutlich aufgedeckt, und die Ge
schicklichkeit der Diktaturstaaten, die dieses Resultat gezeitigt
hat, ist umso größer, als sie hiedurch ihre Zwitterstellung in ei
nen Doppeltrumpf verwandelt haben: an und für sich war die
Dreiteilung Europas in Bolschewismus, Fascismus, Demokra
tismus für die praktische Politik nahezu untragbar, an und für
sich stehen die Diktaturen infolge ihrer Regierungsform und
ihrem ökonomischen Programm dem Bolschewismus weitaus
näher als den kapitalistischen Demokratien, doch unfähig, ne
ben Rußland innerhalb eines reinen Kommunismus die ange
strebte europäische Führerrolle zu übernehmen, zumindest
nicht, ehe Rußland entscheidend geschwächt worden ist, muß
ten die Diktaturen, u. z. vor allem Deutschland, trachten, den
- eigentlich bloß oratorisch bestehenden - Antagonismus ge
gen Rußland zu unterstreichen, um zuerst einmal die Führer
rolle in einem voll-fascistisch gewordenen Europa zu überneh
men. München bedeutet also nicht nur die im Hitlerschen
Konzept liegende (- es ist alles in Mein Kampf nachzulesen -)
Schwächung des Westens, sondern eingestandenermaßen auch
die Rückendeckung gegen Osten. Gelingt es, die westliche
Schwächung durch innere Schwierigkeiten in den betreffenden
Ländern derart gründlich vorzunehmen, daß ein Krieg gewagt
werden kann, so wird dieser den Marsch gegen Osten einleiten;
andernfalls wird dieser Marsch - und dies ist eine Lockspeise
für den Westen - mit der Unterstützung gleichberechtigter
Partner vorgenommen werden, wobei eben dann die Streitig
keit über die Beuteverteilung noch aussteht. Zweifelsohne ist
aber in dieses Konzept auch Amerika eingeschlossen, gegen
welches mit Hilfe der lateinamerikanischen Staaten bereits die
nämliche Einkreisungspolitik, unterstützt durch innere Zerset
zung, vorbereitet wird; die Fehler Englands, d. h. die Berufung
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auf die unangreifbar isolierte Lage, die Berufung auf die uner
schöpflichen Hilfsmittel des Territoriums, werden heute schon
von Amerika begangen, und sie werden sich genauso wie in
England schließlich rächen müssen.
Von Irrsinn kann also angesichts solch [eines] großen und
durch seine Einfachheit bestechenden Konzeptes keine Rede
sein. Was hier geschieht, ist genial durchgeführt, rein machia-
vellistische Machtpolitik, und in ihrem Rahmen legitimieren
sich alle Niederträchtigkeiten, alle Barbarismen, alle Verbre
chen, deren sich Deutschland bisher schuldig gemacht hat. Gibt
man weiter zu, daß der Versailler Vertrag ein Verstoß gegen die
Weltgerechtigkeit gewesen ist, gibt man weiter zu, daß
Deutschland und Italien tatsächlich in der kapitalistischen
Weltverteilung zu kurz gekommen sind, daß also die Durchfüh
rung des deutschen Programms eine Erhöhung des Gesamtge
rechtigkeitszustandes in der Welt bedeuten könnte, so wäre die
Hinopferung des jüdischen, des spanischen, des baskischen, des
tschechischen Volkes, denen noch manche anderen kleineren
Nationalitäten folgen werden, eben der Preis, welcher für den
Gerechtigkeitszuschuß in der Welt zu bezahlen wäre. Und die
Hingeopferten hätten eben ihre Märtyrerrolle auf sich zu neh
men. Ich habe - wenn auch nicht in so krasser Formulierung -
in puritanischen Kreisen, denen die Versailler Ungerechtigkeit
seit zwanzig Jahren ein Dorn im Auge gewesen war, tatsächlich
Ansätze zu einer derartigen Stimmung gefunden, Ansätze,
die bereits den Keim zur Selbstaufgabe Englands enthielten,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Stimmung, die sich
allerdings des Endresultates nicht bewußt war und jetzt in Er
schrecken über die Greuel an der Humanität umgeschlagen
ist, durch Jahre hindurch die englische Politik mitbestimmt
hat.
Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: die Struktur
der Diktaturstaaten ist weitgehend bereits der Planwirtschaft
unterworfen und wird sich notgedrungen weiter zu immer
schärferen sozialistischen Formen entwickeln; ob man dies als
Vorstufen oder als Parallelerscheinungen zu den sowjetischen
Formen werten will, ist gleichgültig, via factum stellt sich aber
da wie dort die Diktatur als Übergangsepoche zu einem, freilich
höchst legendären, endgültigen Glückseligkeitszustand der
Menschheit dar, und beide erheben den Anspruch, jedwede
37
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Wertvernichtung und jedwede Lebensvergewaltigung in Anse
hung solcher Zukunft vornehmen zu dürfen.
Der überzeugte Kommunist darf also nicht einmal die Hin-
mordungder Kommunisten in Deutschland beklagen, so wenig
wie der überzeugte Stalinist die Opfer des russischen Regimes
zu beklagen hat: in beiden Fällen weisen die Phänomene auf ih
ren geistigen Urquell, die Hegelsche Dialektik, zurück, in bei
den Fällen muß in ihrem Sinne gesagt werden, daß das Seiende
immer vernünftig ist, in beiden Fällen darf nicht der Vorwurf
des Irrsinns erhoben werden, besonders dann nicht, wenn man
sich mit der Erbarmungslosigkeit historischen Geschehens ab
gefunden hat und nüchtern erkennt, daß lediglich Gewalt im
stande war, imstande ist, irgendeine Änderung im Weltzustand,
u. z. sowohl im großen wie [im] kleinen, sowohl zum guten wie
zum schlechten, herbeizuführen und durchzusetzen.
Nichtsdestoweniger kann sich niemand - und auch die Haupt
akteure selber sind hievon nicht ausgenommen - dem Eindruck
völligen Irrsinns im heutigen Weltgeschehen entziehen. Wird
dieser Eindruck durch die Besessenheit hervorgerufen, mit
welcher die Diktaturen ihre Zwecke verfolgen? Gewiß ist Be
sessenheit - schon der Name sagt dies - ein integrierender Be
standteil jedweden Irrsinns, doch auch der geniale Mensch ist
von seiner Idee besessen, und Genialität in der Durchführung
ist den Diktaturen keineswegs abzusprechen. Irrsinnshandlun
gen zeichnen sich durch die Unverständlichkeit ihrer Motive
aus, aber nicht nur, daß der geniale Mensch gleichfalls seinen
Zeitgenossen zumeist unverständlich ist, es liegt hier gar nicht
Unverständlichkeit vor, im Gegenteil, die Motive der Diktatu
ren sind mehr als verständlich, und ihre Begründungen sind zu
meist schlechterdings platt: weit eher wären ihre Gegenspieler
irrsinnig zu nennen, da sie —in der nämlichen imperialistischen
Geisteshaltung befangen - sich in Gefahr begeben haben, ihre
vor kurzem noch weitgehend gesicherten Positionen sich aus
der Hand nehmen zu lassen. Gerade aber die überaus große
Verständlichkeit, ja, Banalität der diktatorischen Ideologie
deckt deren Irrsinnswurzeln auf: Besessenheit, die sich auf Ba
nalität bezieht, ist nicht - wie die des genialen Menschen - auf
die Werttotalität der Welt bezogen, sie begreift bloß einen mehr
oder minder engen, bereits vorhandenen Wertteil, eben jenen,
von dem sie besessen ist, und während der geniale Mensch mit
38
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seinem Werk immer die logische Gesamtmasse der Welt wei
terentwickelt (und dadurch unverständlich werden kann), sucht
der Irrsinnige dieselbe unter die Logizität seines Besessenheits
ausschnittes zu bringen; es ist das sittliche Skalar der Genialität
und des Irrsinns, das damit zutage tritt. Im Gegensatz zur ge
nialischen und weltgeöffneten Besessenheit ist die des Irrsinni
gen stets abgesperrt und dadurch antisozial und antihuman,
weitgehend also auch infantil, dem Kinde gleichend, für das es
keine Wertwelt gibt und [das] sich in den Nebenmenschen nicht
einzuleben vermag, sie ist dem Destruktiven zugewandt, und je
mehr ihre Leitvorstellung dem Banalen, d. h. der Ideenwelt des
Gestern zugewandt ist, desto eher wird sie imstande sein, sich
destruktiv durchzusetzen und die archaisch-infantilen Tenden
zen, die eben jedem Irrsinn innewohnen, zur Geltung zu brin
gen. Aus der Fülle der Mischformen, in denen sich das Geniali
sche und Irrsinnige verkreuzen, hebt sich dadurch eine als
besonders gefährlich heraus, sie ist die besondere Form des po
litischen Irrsinns und sie heißt Dämonie: Besessenheit und Ba
nalität gepaart ergeben Dämonie. Der dämonische Mensch ist
archaisch und er ist infantil, aber dank seiner Banalität ist er
realitätsangepaßt und dank seines genialischen Einschusses ist
er besonders fähig, alle praktischen Mittel zur Befriedigung sei
ner Irrsinnstriebe in Bewegung zu setzen. Niemand wird leug
nen, daß der Typus der modernen Diktatoren in diesem Sinne
dämonisch zu nennen ist. Und hierauf beruht der Eindruck des
Irrsinns, der von ihnen ausgeht.
Das Dämonische, sei es nun politisch oder sonstwie ausge
prägt, ist antihuman und ist damit implizite gegen den christli
chen Geist gerichtet, welcher das Abendland unter die Leitung
der humanisierten antiken Kultur gestellt hat: die Kirche - al
leinseligmachend in ihrem Bewußtsein, daß bloß ein noumena-
ler, ein überirdischer, ein unangreifbarer Grundwert, ein Wert,
der zu keinem andern in paritätische Konkurrenz zu setzen ist,
stark und umfassend genug sein kann, um das System aller übri
gen Werte aus sich folgern zu lassen und dauernd zu halten, daß
alle Sittlichkeit, alle Gerechtigkeit, alle Menschlichkeit nur
durch den Bezug auf diesen obersten Wert zu gewährleisten ist,
und daß mit seiner leisesten Erschütterung unweigerlich das
gesamte sittliche System ins Wanken geraten muß -, die Kirche,
welche um die stete Rückfälligkeit des Menschen weiß, hat stets
39
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um die Gefährdung des Humanen durch das Dämonische ge
wußt, und sie hat aus diesem Grunde alle weltlichen Regungen,
all das, was außerhalb ihres Bereiches geschah, mit äußerstem
Mißtrauen betrachtet, sie hat sich stets auf die Seite des Beste
henden gestellt und in jeder weltlichen Neuerung stets die Ge
fahr der Wieder-Dämonisierung und Enthumanisierung der
Welt gewittert. Die konservativen Parteien haben diese miß
trauische Haltung, welche den jeweiligen Stand der Weltdinge
als einen gerade noch knapp haltbaren Glücksfall der Humani
tät ansieht, konsequent beibehalten, und wenn auch das liberale
Denken sich ebendeshalb dem kirchlichen und außerkirchli
chen Konservativismus strikt entgegengestellt hat, so war es
doch - bis tief in den Sozialismus hinein, der von der Gerechtig
keitsidee her seinen eigentlich befeuernden Schwung erhalten
hat - ausschließlich von der christlichen Humanität getragen,
vielleicht sogar noch mehr als der Konservativismus, da gerade
der liberalistische Geist sich nicht vorstellen konnte, daß sein
Vertrauen zur Ratio, daß dieses Vertrauen, um dessentwillen
er die Demokratie erfunden hatte, jemals enttäuscht werden
[könnte], und just aus der Demokratie wieder das Dämonische
hervorbrechen werde, die Grundgerechtigkeit der Welt aufs
neue zu gefährden. Die heutigen Weltereignisse haben voll
kommen sinngemäß bei den Liberalen weit mehr Verblüffung
hervorgerufen als im konservativen Kreis, und sie sind sehr ge
neigt, diesem die Verantwortung für die Ereignisse zuzuschie
ben, sei [es] als [dem] zaristischen Stammvater für die russische
Diktatur, sei es als imperialistischen Ausgangspunkt für die na
tionalistischen Diktaturen des Westens. Nun gibt es natürlich
für das Motivenkonglomerat historischer Geschehnisse keine
eindeutigen Derivate, und selbst der von den Diktaturen her
beigeführte Freiheitsverlust des Individuums ist keineswegs
eindeutig ableitbar: die vom Konservativismus gewünschten
und zurückgewünschten gebundenen Lebensformen wider
sprechen dem liberalistischen Geist, und die von diesem, soweit
er zum Sozialismus sich umgeformt hat, befürworteten gebun
denen Wirtschaftsformen laufen konservativer Eigentumsan
schauung entgegen, und es kann daher dem totalitären Staat
nicht vorgeworfen werden, daß er um dieser Totalität willen
jene, wenn auch ihrer Herkunft nach disparaten, Bestrebungen
zusammenfaßt, welche ihm eine maximale Bindung des Indivi
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duums zugunsten der Staatsganzheit zu verbürgen scheinen.
Der totale Staat ist in diesem Sinne nur eine natürliche Weiter
entwicklung des demokratischen Gebildes, da dieses in noch
viel auffallenderem Maße imstande gewesen ist, ganz ohne
Kompromiß die disparatesten Strebungen zu einer gewissen
Resultierenden zu vereinigen, und so etwa, je nach den jeweili
gen Motivierungen, bei allen freiheitlichen oder gar christlichen
Tendenzen ohne weiteres einen blutigen Eroberungskrieg zu
führen vermag, oder aber bei imperialistisch-konservativen
Grundhaltungen sich zu einem tätigen Pazifismus bequemt; die
gleiche natürliche Weiterentwicklung ist hinsichtlich der Inten
sität zu konstatieren, mit der diese Dinge vor sich gehen, denn
der Radikalismus der Anschauungen, ein Radikalismus, wel
cher keine andere Meinung berücksichtigt haben will, ja, sogar
den Andersdenkenden kurzerhand physisch zu vernichten
wünscht, diese Radikalität und Ausschließlichkeit, ist ein
durchgängiges Symptom des modernen Lebens und wie überall
auch in den modernen Demokratien präformiert, muß also, in
organischer Weiterentwicklung solchen Radikalismus, von der
natürlichen Staatsbejahung zur Staatstotalität führen, diese
aber eben auch mit allen Zeichen uneingeschränkter Radikali
tät ausstatten. M. a. W., der totalitäre Staat ist der notwendige
Schlußstein einer langen Entwicklungsreihe, er ist dadurch lo
gischer und eben zeitgerechter als die noch bestehenden staatli
chen Vorstufen, die im Gegensatz zu ihm Zwittergebilde sind,
und er ist ihnen eben hiedurch als Machtfaktor überlegen; das
Logische ist stets stärker als das rudimentär Logische. Worin
begründet sich aber dann der plötzliche Umbruch ins Dämoni
sche, da alle Vorstufen undämonisch und sogar antidämonisch
gewesen waren? worin liegt das Irrsinnige des neuen Gesche
hens, worin liegt seine spezifisch irrsinnige Unproduktivität, da
inhaltsgemäß die ganze Entwicklungsreihe hiezu produktiv ge
wesen ist? Dieser Umschwung ins Gegenteil (zweifelsohne ein
spezifisch dialektischer Prozeß, durchaus im Hegelschen Sinne)
hat sich konkret von dem Augenblick an entwickelt, als die
menschliche Ratio, gemäß der ihr durch das Wertsystem, in der
sie eingeordnet war, verbürgten sittlichen Freiheit, daranging,
ihrem rationalen Eigengesetz folgend eben dieses Wertsystem
kritisch zu durchleuchten und die Zweifel bis zur suprana-
tural-göttlichen Wertspitze heranzutragen; es wurde solcherart
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die Wertspitze, trotz sonstigem Fortbestand des Wertsystems,
sukzessive abgebaut, d. h. es blieb wohl das christliche Sittlich
keitssystem noch jahrhundertelang bestehen, aber die Welt
verlor mehr und mehr den Glauben an die Wertspitze, sie
wurde mehr und mehr ungläubig, nichtachtend, daß hiedurch
der gesamte Wertverband gelöst und die Einzelwerte, so ak
zeptabel sie auch jeder für sich sein mochten, hypertrophisch
zu wuchern begannen, kurzum, daß sie nicht mehr gemeinsam
auf die Werttotalität bezogen waren, sondern entfesselt in eine
Wertkonkurrenz gerieten, in welcher jeder von ihnen trachten
mußte, an die Systemspitze zu gelangen, um durch Unterjo
chung der anderen sich selber zu behaupten. Dieses Spiel muß
notgedrungen dann ein Ende finden, wenn es einem dieser
Werte gelingt, tatsächlich an die Spitze zu gelangen: die Demo
kratie ist sicherlich bloß ein sehr verkleinertes Abbild dieser
komplexen Wertvorgänge, doch sie zeigt, wie in ihrem Kräfte
spiel sich totalitäre Strebungen nach und nach entwickeln kön
nen, um dann schließlich innerhalb der Systemregeln bis zur
Aufgebung des Systems selber vorzustoßen. Ein solcher Au
genblick ist nunmehr eingetreten, d. h. es hat sich aus dem Sy
stem der humanitären Werte nunmehr der des diktatorisch-ab
soluten Staats herausgebildet, es hat sich dieser an die Spitze
des Wertsystems gestellt, und er mußte sich, um sich daselbst be
haupten zu können, sofort mit allen Attributen supranaturaler
göttlicher Machtvollkommenheit ausstatten: hervorgegangen
aus einem Sittlichkeitssystem, das der seelischen Freiheit des
Individuums eine tragende Rolle zuweist, muß die Diktatur
nunmehr dieses System selber aufheben, sie muß die seelische
Freiheit des Individuums vernichten, und zu diesem Behufe ihr
eigenes Sittensystem aufstellen, das weitgehend, zumindest
vom alten System aus gesehen, ein System der Unsittlichkeit ist,
weil darin die Aufhebung des Humanen schlechthin sich be
gründet. Diese vollständige Umklappung des ethischen Bildes
hat den Freiheitsbegriff zu einem konservativen zurücktrans
poniert, und mit ihm alle andern sittlichen Werte, welche das
Humane ausmachen; Menschenwürde, Pakttreue, Gerechtig
keit, Wahrhaftigkeit haben in dem neuen System keinen Platz
mehr, und nirgends zeigt sich vielleicht diese Radikalumklap-
pung so deutlich wie in dem Verhältnis Italiens zum Antise
mitismus, der vor drei Jahren dortselbst noch der Gegenstand
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berechtigsten Hohns gewesen ist, während heute der italieni
sche Führer keinen Anstoß nimmt, sich selbst zu desavouieren
und um des Systems willen, gegen besseres Wissen, die Be
rechtigung des Antisemitismus durch sogenanne Wissenschaft
ler beweisen zu lassen: Niedertracht zum System und die cäsa-
rische Vergöttlichung des Menschen an der Systemspitze
benötigt einen ebenso fleischlich-materialen Teufel als Gegen
folie, damit das Dämonische sich an dessen Ausrottung legiti
miere -, wenn auch die Beweggründe gewechselt haben, hat je
der Durchbruch des Dämonischen zu Teufelsernennungen und
Teufelsausrottungen geführt, widerwillig von der Kirche gese
hen, widerwillig von ihr geduldet, und waren es im 16. Jahrhun
dert arme Weibsbilder, die auf den Scheiterhaufen mußten,
weil man in ihnen unerlaubte Muttermystik gewittert hat, so
widerfährt die Ernennung zum Teufel heute einem völlig vagen
Begriff, wie es der des Kapitalisten und Antirevolutionärs ist,
so wie dem Juden, hinter dem das Gespenst der rationalen Frei
heit vermutet wird. Und damit ist tatsächlich die Grenze des
Irrsinns bereits überschritten, hier bricht das archaisch Chao
tische des Wahnsinns auf, denn bei allem Machiavellismus ist
es einfach die Wahrheitsblindheit eines irren Infantilismus oder
infantilen Irrsinns, der sein Spiel auf irgendeinen Wunschwert
eingestellt und diesen verabsolutiert hat, es ist die Haltung des
Kindes, das noch nicht zur Menschenwürde erwachsen ist, und
es ist die Haltung des Irrsinnigen, der seine Menschenwürde
verloren hat, aber auch nicht fähig ist, sie beim Nebenmenschen
gelten zu lassen, ja nicht einmal zu sehen: die ungeheuere Welt
gefahr des irren deutschen Geistes, der sein Material vom sla
wischen Bolschewismus und lateinischen Fascismus bezogen
hat, um beide sodann zu verknechten, wird daran klar, die un
geheure Gefahr dieser gigantischen Irrsinnsmaschine, welche
sich in Erlöserphantasien und Welteroberungsplänen ergeht
und diese auch, unbeschadet aller Selbstvernichtung, verwirkli
chen wird. Denn so platt kindlich auch die Vorstellungen von
der historischen Gerechtigkeit sind, welche den bevorzugteren
Ländern ihren sogenannten »Besitz« entwenden will (- möge
auch der gesamte Wohlstand Europas durch eine japanische
Herrschaft in Indien untergraben werden -), so platt die hero
ischen Ideale sind, mit denen die einstigen Raubzüge nun fort
gesetzt werden sollen, es ist eben die Verhaftung am alten Ein
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zelwert und seine Umlügung zur Systemspitze, auf der er um
seiner selbst willen besteht, das Spezifikum des Dämonischen.
Es gehört zum Dämonischen, solchen Irrsinnszweck mit genial
gehandhabten Mitteln zu erreichen, und ebendeshalb steht die
Gefahr der Erreichung solchen Zieles unmittelbar vor der
Türe; die Plattheit des dämonischen Ausgangspunktes bewahr
heitet sich an einer Platitüde, nämlich an der Wahrheit vom Irr
sinn des unvermeidlich werdenden Krieges, der Irrsinn des To
talkrieges, des Krieges um seiner selbst willen, der dem Total
staat zugeordnet ist, mag sich dieser auch rühmen, bisher kraft
übermäßiger Rüstungen krieglos die Welteroberung eingeleitet
zu haben, wofür München das erste Beweisstück geliefert hat.
Die Gründe
Es handelt sich nicht um die aus der historischen Herkunft ab
leitbaren Erklärungsgründe, also nicht um diese oder jene Ge
schichtstheorie, gleichgültig, ob eine solche, wie etwa die
marxistische, eine noch so brauchbare Arbeitshypothese dar
stellt, es handelt sich überhaupt nicht um eine derartige Dog-
matisierung, sondern um die Gründe, die in der unmittelbaren
Situation liegen, dies umsomehr, als jene Geschichtstheorien
selber Bestandteile der Situation sind. Die Frage lautet: warum
ist die heutige Menschheitssituation für den Wahnsinn auf
nahmebereit?
Ich beginne mit der rein technischen Frage der Demokratie,
also mit dem Parlamentarismus, d. h. mit dem Problem der po
litischen Wahrheitsfindung durch Majorität. Es wurde bereits
erwähnt, daß sich die parlamentarische Demokratie von einem
überaus optimistischen Glauben an die Ratio leiten läßt und mit
dem Wahnsinn höchstens als Einzelfall, niemals jedoch als
Massenerscheinung rechnet; für den reinen Demokraten ist es
derart unvorstellbar, daß eine genügend große Körperschaft
kurzerhand den Selbstmord des Staates beschließen könnte, es
ist ihm unvorstellbar, daß außer vereinzelten Wahnsinnigen ir
gendein Mensch, geschweige denn die Majorität einer gesetz
gebenden Körperschaft, sich freiwillig in Knechtschaft und
Würdelosigkeit begeben könnte, es ist ihm unvorstellbar, daß
außer vereinzelten Verbrechern irgendein Mensch, geschweige
denn die Majorität einer gesetzgebenden Körperschaft, auf den
Gedanken kommen könnte, die primitivsten Gesetze der Sitt
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lichkeit wie der Humanität abzuschaffen und Angehörige der
Minorität oder sonst irgendeine unschuldige Menschengruppe
kalten Blutes zu erschlagen, zu berauben, zu vergewaltigen: all
dies ist dem wahren Demokraten so unvorstellbar, all dies läuft
seinem Bilde von menschlicher Gerechtigkeit und menschli
chem Glück so sehr entgegen, daß er nicht nur gemeint hatte,
die Fundamente der demokratischen Verfassungen seien mit
Axiomen von Ewigkeitswert in den Zeiten verankert, sondern
es sich auch niemals beifallen ließ, für jene unvorstellbaren
Sachverhalte vorzusorgen, niemals sich die juristisch-morali
sche Frage vorlegte, ob sich die Volksminorität durch eine
Gangstermajorität regieren lassen müsse, ob sich die Volksmi
norität durch eine Narrenmajorität zum Selbstmord zwingen
lassen müsse, niemals daran dachte, die Verfassung und damit
auch die Minorität gegen die unausweichlichen Verfassungs
lücken zu schützen, immer im Vertrauen, daß die Ratio und die
ewigkeitsbestimmte Sittlichkeit eine Verfassung bloß verbes
sern, niemals aber verschlechtern werde; die demokratischen
Verfassungsstifter haben derartige Wahnsinnsfälle für ebenso
wahrscheinlich gehalten wie ein Ausbleiben der Sonne am
Morgen oder wie ein plötzliches Aufglühen der Luft an irgend
einer Raumstelle, und sie haben dabei vergessen, daß mensch
liche Wahrscheinlichkeit nicht mit physikalischer verwechselt
werden darf, und daß in der menschlichen Psyche, wie dies eben
heute überdeutlich wird, es viele Tage gibt, an denen die Sonne
nicht aufgeht, und viele Räume, in denen die Luft plötzlich zu
glühen beginnt.
Vielerlei ist für diesen Tatbestand verantwortlich zu machen,
erstens wohl, daß die heute noch bestehenden europäisch-ame
rikanischen Ur-Demokratien, also die Schweizer und die der
angelsächsischen Länder, aus einer Zeit noch bestehender Re
ligiosität herstammen und sich für befugt hielten, Konstitu
tionsstiftungen auf unabänderliche Gesetze Gottes über die na
türliche Freiheitsbestimmung des Menschen und der Men
schenseele zu gründen; ferner darf nicht vergessen werden, daß
diese Demokratien nicht nur verhältnismäßig kleine oder zu
mindest dünnbesiedelte Territorien umfaßten, sondern auch
von einer Bevölkerungsschicht getragen wurden, welche den
Herrschafts- und Verwaltungsbereich jener Territorien voll
übersah und mit voller Verantwortung gewillt war, den Willen
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Gottes und die Freiheit des Menschen auf dem ihr zugeteilten
Gebiet zu wahren und zu verteidigen. Nichts von alledem trifft
heute mehr zu.
Die modernen Demokratien decken kontinentale Territorien
und, was vielleicht noch ausschlaggebender ist, Großstädte von
einstmals unerahnbarer Ausdehnung; die Bevölkerung, welche
die Demokratie tragen soll, ist nicht mehr die einer kantonal
durchgegliederten und durchsichtigen sozialen Ordnung, son
dern sie hat sich in stürmischer Weise vervielfacht und ist zu ei
nem Menschenkonglomerat geworden, das zwar klassenmäßig
gesonderte Schichten kennt, trotzdem aber weitgehend fluktu
ierend ist, sowohl in seiner konjunkturabhängigen Bauern- und
Farmerschaft, als auch in seinem industriellen Proletariat, und
das sich im Grunde um eine weitgehend uneinordnenbare, le
diglich geldorientierte Großstadtmasse gruppiert. Von dieser
Masse wird nun verlangt, daß sie die Verantwortung für das von
ihr besiedelte Riesenterritorium, das für sie ein vager, durch
eine Fahne repräsentierter Begriff ist, übernehmen möge; und
wenn auch das zusätzliche Verlangen, nämlich das nach einer
politischen Überzeugung, d. h. nach einer Parteizugehörigkeit,
eher eine Erleichterung als eine Erschwerung jenes ersten Ver
langens darstellt, so ist es doch fast ein Wunder zu nennen, ein
Wunder, das für eine außerordentliche Lebenskraft der Demo
kratien spricht, daß dieselben unter solch veränderten Umstän
den nicht schon längst zusammengebrochen sind: denn man
darf sich keiner Täuschung [darüber] hingeben, daß diese, ins
Gigantische angewachsene, demokratische Maschinerie sich
weitgehend im luftleeren Raum bewegt, daß die professionelle
parlamentarische Politik nur durch die sehr dünnen Wahlfäden
und die etwas stärkeren Korruptionsfäden mit dem Volke ver
bunden ist, und daß insbesondere die demokratische Annahme
von dem Bestand politischer Überzeugungen durchaus eine
Fehlannahme ist, mehr noch, bereits ein Schritt zur Depravie-
rung des Menschen, denn von der Heiligkeit und Unantastbar
keit politischer Überzeugungen zu sprechen, ist bereits Blas
phemie, da es keine politische, sondern höchstens eine sittliche
Überzeugung gibt. Diese freilich ist heilig, und sie wäre die ein
zige Basis für ein der Verfassungssittlichkeit entsprechendes
moralisches Weiterwirken der Politik. Doch ist diese sittliche
Überzeugung von den Wählermassen überhaupt zu erwarten?
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Eine Bestandsaufnahme für die Sittlichkeit eines Volkes oder
einer Volksgruppe ist schier unmöglich; alle Aussagen, welche
hierüber zu machen sind - selbst statistische - beruhen auf einer
mehr oder minder zutreffenden Einfühlung, ohne die weder das
eine noch das andere zu vollziehen ist. Und gerade die geld
orientierte Großstadtmasse, um die es hier hauptsächlich geht,
ist von einer kaum erfaßbaren Komplexität, besonders seitdem
die Grundlagen des Geldwesens sich verändert haben. Denn
das 19. Jahrhundert, dem die Großstadt und deren Bevölke
rung ihre Entstehung verdanken, war vom Phänomen der Meß
barkeit bestimmt, es hatte vom Meßbaren her seine spezifisch
rationale Ausprägung empfangen, seine geistig-wissenschaftli
che Haltung war davon [geprägt], ebenso seine ökonomische,
und diesem Tatbestand entsprach es, daß es einen Begriff wei
testgehender Meßfähigkeit, den allesausdrückenden Geldbe
griff als fiktive Wertspitze benützte; das regulative Grundprin
zip war hiebei das der Rentabilität, und unter ihrer Leitung
geschah die Industrialisierung der Welt, unter ihrer Leitung
entwickelten sich die Großstädte in der Richtung der maxima
len Bodenrente, unter ihrer Leitung wurde die Börse zum
Weltzentrum: aber es war auch die letzte Epoche unangetaste
ter christlicher Humanität, denn wenn auch alles Magische im
Menschengeschehen auf die Wertspitze des Geldbegriffes kon
zentriert wurde, wenn auch die Partizipation am Gelderwerb
nicht nur Besitz, sondern darüber hinaus ein Stück Seelenheil
bedeutete, und wenn auch Geldbesitz und moralische Respek-
tabilität identisch wurden (besonders da das Problem der Ar
beitslosigkeit noch unbekannt war), es wurde dieses Wertge
bäude höchstens in ein paar Grenzfällen, sonst aber nirgends
durch die überkommene Sittlichkeit gestört, im Gegenteil, sie
war zur Einhaltung der Geschäftsverträge, zur Schuldenein
treibung und zur Aufrechterhaltung einer sozialen Pseudohier
archie derart vonnöten, daß sie trotz Auswechslung der Wert
spitze geradezu als Tragstütze, freilich nicht als Mittelpunkt des
Systems betrachtet werden konnte. Es war die Epoche des zur
Selbständigkeit erwachten Gelderwerbes um des Gelderwerbes
willen, und der Demokratie oblag nicht mehr die Wahrung ei
ner supranaturalen Sittlichkeit und Gerechtigkeit, vielmehr
wurde sie, wie der Sozialismus, dieses rationalste Kind des ra
tionalen Jahrhunderts, richtig feststellte, um sich gleichzeitig in
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dieses Spiel einzuordnen, ein Kampfplatz von Interessenver
tretungen; von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen,
verlor der Mensch jegliches Interesse an der konstitutionellen
Politik, sie war zu einer Angelegenheit von Professionals ge
worden, manchmal noch ein Ziel des Ehrgeizes, zumeist aber
verachtet, als läge in der Sorge um das Gemeinwohl eine Art
pfäffischer Scheinheiligkeit verborgen, die bestenfalls durch
politische Sinekuren zu entschuldigen wäre. Nichtsdestoweni
ger gab die Ausrichtung auf den Gelderwerb, gab die Sicherheit
des Geldbesitzes, gab die im Geldbegriff installierte fiktive
Wertspitze der Sittlichkeit den großstädtischen Massen einen
gewissen Halt und bei aller moralischen Dürftigkeit noch jenen
Rest von Lebenssinn, den der Mensch braucht, wenn er nicht
wahnsinnig werden soll. Dies hat sich mit der Änderung der
ökonomischen Situation und mit der Erschütterung der Geld
grundlagen tiefgreifend verschoben; das regulative Prinzip der
Rentabilität war verlorengegangen, und es zeigte sich, daß
selbst die Erschütterung einer fiktiven Wertspitze vom Men
schen nicht vertragen wird.
Die heutige Großstadt ist von ihrem Gott verlassen; es rentiert
sich nicht mehr, Häuser zu bauen, es rentiert sich nicht mehr,
Geld zu sparen, es rentiert sich kaum mehr das einstige Sitten
gesetz des Fleißes, aber auch nicht mehr das der Börsenspeku
lation: was im Rahmen der Rentabilität sinnvoll gewesen war,
ist zu einer leer fürchterlichen, unbegreiflichen Bedrohung im
Sichtbaren wie im Unsichtbaren geworden; äußerlich hat sich
nichts gewandelt, das Stadtbild steht unverändert, Bürohäuser
und Fabriken schlucken allmorgendlich die ihnen zugeteilten
Lebewesen, um sie abends wieder auszuspeien, die Hetzjagd
um ein Stück Zeit geht auf den Straßen, in den Untergrundbah
nen, in der Rastlosigkeit des Geldumsatzes ungebrochen wei
ter, ja, immer noch geht der Pflug, allerdings ein motorisierter,
über die Felder, aber hinter allem hat sich eine schier geister
hafte Unwirklichkeit aufgetan, die für den Menschen umso er
schreckender ist, je handgreiflicher und gigantischer die Wirk
lichkeit um ihn herum aufgebaut ist, eine Kulisse von
Wolkenkratzern und Verkehrsmitteln, kurzum einer Lebens
technik, die ihres Sinnes beraubt worden ist, und wenn auch der
Mensch dies immer nur in Streiflichtern erkennt und kaum er
kennt, er hat doch begonnen, die Wirrheit seiner Rastlosigkeit
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zu durchschauen, und es ist ihm ein neues Lebensgefühl, ein
neues Wissen geworden, das Wissen um die Unbewältigbarkeit
einer ehemals bewältigbaren Welt. Fragt er sich nach der Ursa
che solchen Zusammenbruches, so sieht er sich, selbst wenn er
nicht fragt, einer Fülle unüberwindlicher, stumm-dunkler Ge
walten gegenüber, er sieht sich einer unaufhörlich wachsenden,
selbständig gewordenen Maschinentechnik gegenüber, welche
ihn mit jeder Stunde arbeitslos machen kann, er sieht sich einem
Weltgeschehen gegenüber, dessen blutig gewaltsamer Ablauf
von keinem Staat, geschweige denn von einem Einzelbürger zu
beeinflussen ist, sieht sich von einem Teufelsgott beherrscht,
welcher zwar einen Namen trägt und Konjunktur heißt, dem
sich aber keinerlei Weltgesetz abringen läßt, und inmitten einer
Welt pünktlichster Rationalisierung und Berechenbarkeit, in
mitten einer Welt von Zentralheizung und Straßenbahn und
Radio und Flugzeugen fühlt er sich - mit Recht - unaufhörlich
den unerwartetsten Unberechenbarkeiten ausgeliefert. Die
apokalyptische Ahnung ist über den Menschen gekommen, sie
ist ihm aus dem Bilde der Großstadt aufgestiegen, und apoka
lyptisch furchtbar ist ihm die Ingenieurwelt geworden, die er
sich errichtet hat.
Es könnte gesagt werden, daß die Verkoppelung von Wirt
schaftskrise und Apokalypse unerlaubt sei, und daß eine Wie
derkehr der prosperity raschestens das Leben wieder sinnvoll
machen werde. Es erklingt also nicht nur aufs neue der beruhi
gende Ruf »bussiness as usual«, der Heilsruf der Bürgerlich
keit, sondern es wird auch von den sozialistischen Kreisen vor
allem eine Ankurbelung der Wirtschaft verlangt - zweifelsohne
eine berechtigte Forderung, zweifelsohne eine, deren Erfüllung
ein Menschheitssegen wäre. Und zweifelsohne wünschen sich
die Großstadtmassen nichts dringlicher als eine Wiederkehr der
prosperity und eine Rückkehr ins alte Geleise. Doch während
jene, welche sich auf das »business as usual« verlassen möchten,
die Hoffnung vertreten, es werde sich auch diese tiefste Krise
automatisch wieder beheben, weil die Wirtschaft stets durch
Krisen hindurchgegangen ist, während sie - sicherlich nicht un
begründeterweise - davor zurückschrecken, sinkenden Kon
sum mit nochmals erhöhter Investition zu bekämpfen, so zeigt
eben die ganz außergewöhnliche Wendung des Investitionsan
triebes, der unter wechselnden Formen auf der ganzen Welt
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vorgenommen wird, daß die Depression sich nicht ohneweiters
an die alten Konjunkturkrisen angliedern läßt, sondern eben
Momente enthält, welche auf einen wesenhaften Umbruch der
Wirtschaft hindeuten: allerdings ist dies eine fast müßige Über
legung; denn die politische und seelische Erschütterung der
Welt ist so weit fortgeschritten, daß sich eigentlich niemand
ernsthaft vorstellen kann, es werde das Riesenwerk der wirt
schaftlichen Wiederankurbelung, das nun einmal da ist und we
der rückgängig gemacht werden kann, noch rückgängig ge
macht werden soll, selbst bei bestem Gelingen (- und dann erst
recht nicht -) einfach dazu dienen, den Geist des 19. Jahrhun
derts, mag dieser sogar von den Massen selber zurückge
wünscht werden, wieder aufleben zu lassen, und am allerwenig
sten ist zu erwarten, daß ein einzelnes Land sich politisch und
wirtschaftlich als eine glückselige Insel rentabler Kapitalsanla
gen und ungestört sittlichen Geistes zu isolieren vermöchte. Wo
es sich um Massenerscheinungen handelt, besonders dann,
wenn es darum geht, die Massen zu einer Willensäußerung zu
bewegen, gilt immer nur das hinc et nunc der augenblicklichen
Situation, und mag auch das Wunschbild des Gewesenen inner
halb der Masse noch so groß sein, sie kann ihre Zukunftsent
scheidung, auch wenn sie mit dieser das alte gemäßigte Vorstel
lungsbild verwirklichen möchte, immer nur unter das radikale
Entweder-Oder des Ja und Nein stellen; Verzweiflung, Visio
nen, Ahnungen sind nicht durch rationale Überlegungen zu
kommandieren, nicht einmal beim Einzelmenschen, ge
schweige denn also innerhalb einer Masse, und die radikalen
Wunschbilder, die der Massenseele vorgaukeln, weil sie als Ve
hikel für die kleinen vorstellbaren Wünsche benützbar sind,
übersteigen selber immer das Vorstellbare, sind vage Gebilde,
die heute Nazitum oder Bolschewismus heißen, im Grunde aber
ebenso unpräzise und phantastisch sind wie die Phantasien, die
sich ein Knabe über seinen künftigen Beruf macht. Solange das
System der moralischen Werte ungebrochen dastand, konnte
sich der Sozialismus darauf beschränken, von der Wirtschaft ei
nen gerechteren Lohn für den Arbeiter abzufordern -, auch
heute will der Arbeiter selbstverständlich seinen besseren Lohn
haben, aber er sieht zugleich, daß er von dem üblichen Gewerk
schaftssozialismus ein für allemal sozial als lohnempfangender
Arbeiter einklassiert wird, und dies sagt ihm nichts mehr, weil
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das ganze moralisch-soziale System, in dem dies vollzogen wird,
sinnlos geworden ist, weil sich an die Stelle der fix eingestellten
moralischen Tradition nunmehr ein Bündel von vagen Vorstel
lungen geschoben hat, die viel zu flottant sind, um überhaupt
mit einer triftigen Erklärung, wie z. B. Machttrieb, definiert zu
werden, und in denen der Wunsch nach höherem Lohn, mag er
noch so intensiv bestehen, eine bloß untergeordnete Rolle
spielt. Bei allem Fortbestand der Geldgier ist die Vorspiegelung
einer künftigen prosperity noch lange kein Anreiz, um die Mas
sen zu wahren Verteidigern und Wahrem der Demokratie zu
machen, und selbst wenn diese prosperity eintreten würde oder
eintreten wird, kann nicht erwartet werden, daß die sittliche
Wertpyramide der Humanität durch Neuaufsetzung ihrer fikti
ven Geldspitze sich wieder konsolidieren werde; ein entthron
ter Gott ist noch niemals auf seinen Thron zurückgelangt, und
bei allem Fortbestand der Geldgier ist es ausgeschlossen, daß
der Geldbegriff nochmals zum Träger der magisch-mythischen
Vorstellungen des Menschen gemacht wird, oder daß der seeli
sche Prozeß, den die Massen in den letzten Jahren durchlaufen
und durchlitten haben, wieder eine rückläufige Bewegung er
halte: Massenahnungen sind Wirklichkeit, man darf in diesem
Zusammenhang mit Fug von einer demokratischen Treffsi
cherheit der Massen sprechen, und Wirklichkeit ist der äußerst
angstvolle und eben fast apokalyptische Zustand, der ihnen
durch ihre Konfrontation mit dem Unbewältigbaren auferlegt
worden ist.
Es ist also nicht Verachtung der Massen - ob Verachtung oder
Nichtverachtung ist überhaupt eine falsch gestellte Frage -, und
es ist auch nicht Unglaube an die Demokratie, wenn wir die
Frage nach der Möglichkeit einer sittlichen Willensüberzeu
gung, mit [der] sich die Wählerschaft zur Demokratie stellen
soll, kurzerhand verneinen. Im Gegenteil, es wird der Mas
senpsyche vielleicht mehr zugetraut, als sie tatsächlich zu leisten
imstande ist, wenn wir Angstgefühle bis zur großen Wirklich
keitsahnung erweitert wissen wollen, bis zu jenem apokalypti
schen Wissen, das über die Bedrohung des unmittelbar Unfaß
baren hinaus alle Schrecknisse, alle Greuel, alles Menschheits
leid einer mordzerstörten Welt erfühlt. Aber selbst wenn diese
Angst nicht so weit reichte, selbst wenn sie bloß von der unmit
telbaren Lebensbedrohung und der unmittelbaren Lebensangst
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bedingt wäre, es bleibt das Gemeinwesen dem heutigen Men
schen mehr schuldig als er ihm, denn er findet im Gemeinwesen
nicht mehr jene Beruhigung, die es ehemals lieferte, als es noch
Produkt und Ausdruck eines gesicherten Wertsystems gewesen
war und ebenhiedurch seine Angehörigen vor jedweder Uner-
klärlichkeit geschützt hat; gewiß hat der Sozialismus versucht,
den Massen eine - sogar weitgehend zutreffende - rationale
Erklärung für die sie bedrohenden Unerklärlichkeiten zu lie
fern, er hat darüber hinaus sogar versucht, sich zur »Weltan
schauung« zu dogmatisieren und das gesamte sittliche Wertsy
stem in seine Terminologie unterzubringen und damit zu
erneuern, was bei einer Schicht von Halbintellektuellen auch
gelungen ist, indes, die eigentliche Massenwirkung ist nicht vom
marxistischen Lehrgebäude ausgegangen, überhaupt kaum
vom Rationalen, wohl aber von der Rückbezogenheit auf das
Bild der Revolution, auf die Erweckung der Vorstellung von
der Revolution; die Massenwirkung ist durch die beinahe my
stische Berufung auf die Revolution ausgelöst worden, be
zeichnenderweise nicht durch die Berufung auf die angelsächsi
schen Demokratiegründungen, wohl aber auf das Bluttheater
der französischen Guillotine, m.a.W. nicht durch eine Wendung
an die Rationalität, sondern an die Vorstellungswelt des Men
schen, also ungeachtet sittlicher Absichten unter weitgehender
Preisgabe der sittlichen Motivation. Und dies scheint einer der
wesentlichen Punkte zu sein: die Vorstellungswelt des Men
schen in der Ur-Demokratie deckte sich weitgehend mit den
Belangen dieser Demokratie selber, die sein eigenes Leben
verkörperte und sicherte, die Vorstellungswelt der Großstadt
demokratie des 19. Jahrhunderts war zwar nicht mehr unmit
telbar von dem Gemeinwesen beliefert, sondern von der Geld-
bezogenheit der Werte, fand aber doch innerhalb des selber
gezogenen Gemeinwesens ihren gesicherten Platz; die Vorstel
lungswelt des heutigen Menschen, d. h. die vorstellungsmäßi
gen Ansätze zu seiner seelischen Lebenssicherung, entspringen
weder dem Gemeinwesen, noch der Geldsucht, sondern stam
men, so grotesk es klingt, aus der Kinoindustrie und aus dem
Bilderteil der Zeitungen; denn die Seele des Menschen geht
stets den Weg des geringsten Widerstandes, sie sucht stets die
bekannte Welt, sie sucht stets das unmittelbar Wünschens
werte, sie will von einer Übersetzung ihrer Wünsche in eine an
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dere, weniger unmittelbare Sprache, zu der auch die rationale
gehört, tunlichst nichts wissen, sie scheut jegliche Anstrengung,
und wenn es ihr, beraubt ihrer Wertwelt, zurückgeworfen in die
Wirrnis ihrer Vorstellung, nottut und nottun muß, die unbe
kannten, ständig drohender werdenden Gewalten gemeistert zu
sehen, so wird sie dorthin blicken, wo ihr dies am unmittelbar
sten vor Augen geführt wird, wo innerhalb einer bekannten
Welt zauberhaft das Unerklärliche beiseite geschafft und die
altgewohnten Wünsche befriedigt werden, er flüchtet mit seiner
Seele ins Dämonische und mit seinem Leib ins Kino, wo dem
Kinohelden zuverlässig die Bewältigung des Unbewältigbaren
im allerbekanntesten Wunschtraum gelingt -, denn unverges
sen ist es der Seele, daß der Dämon ein Gott von gestern ist,
daß er einstmals das Unerforschliche verkörpert hat, das Uner-
forschliche des Meeres, das Unerforschliche des Waldes, das
Unerforschliche der Zeugung und des Todes, das Unerforschli
che des Kriegssturmes, unvergessen ist es der Seele, daß sie
einstmals - sie tut es noch immer - zu jenem Ur-Gott um die
Aufhellung des Unerforschlichen gebetet hat, daß sie ihm Op
fer gebracht hat, damit sein Wunsch mit dem ihren Zusammen
falle, damit im Wunsch und in der Erfüllung des Wunsches stets
aufs neue Gott und Mensch identisch werden mögen, und wenn
auch der Kinoheld, der statt dessen zum [Gegenstand] der
Identifikation erhoben worden ist, das Dämonische an seine
Gegenspieler abgetreten hat, um es in ihnen umso sinnfälliger
zu besiegen, wenn er also auch als Vertreter eines neuen und
lichteren Glaubens fungiert, als Heilsbringer, der kraft seiner
Erkenntniskraft und seiner allumfassenden Ratio, die alten Be
herrscher der Gewalten nun selber niedergezwungen hat, auf
ihren Sieg einen neuen Sieg setzend, wenn er also auch lichtge-
staltig und zum Zerrbild versüßt immer noch das Erlösungsbe
dürfnis des Menschen befriedigt, so rollen doch die eigentlichen
Wünsche der Seele in der düstern Sphäre des Ur-Gottes ab, in
der Sphäre des Gestern und des Einst, in der Sphäre des Dämo
nischen und der von allem Rationalen abgekehrten, dämoni
schen Bewältigung des Unerforschlichen, in der vor-heilsbrin-
gerischen Sphäre. Die Guillotine des Films ist weitaus
unmittelbarer vorhanden als die Revolutionserinnerung eines
Sozialismus, welcher rational das Klassenbewußtsein des Pro
letariats erwecken will, sie ist ein handgreifliches Opferinstru
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ment, errichtet für den Ur-Gott, durch dessen Geneigtheit sich
die Gefahrenwildnis des Lebens öffnen soll, sie ist es unabhän
gig davon, ob der Film revolutionär oder antirevolutionär ge
dacht ist, genau so, wie es durchaus gleichgültig ist, ob eine
Schlachtszene mit kriegerischer oder pazifistischer Tendenz
gezeigt wird, denn ob so oder so, es geht um die Identifikations
richtung, und diese verlangt, soll der Film nicht abgelehnt wer
den, daß der Ur-Gott von einst sich fähig zeige, entweder die
dunklen Gewalten harmlos zu machen oder aber sie zu besie
gen, u. z. womöglich mit allen Mitteln der modernen Technik,
alle Gewalten des Unheimlichen in seiner Hand haltend und sie
gegeneinander ausspielend, um im Wohlstand des Happy-Ends
schließlich das Wunschbild von gestern zu konkretisieren: si
cherlich ist dies nicht nur das Dämonische des Kinos, es ist si
cherlich das Dämonische, das Panische der Kunst überhaupt,
doch niemals noch war das Dämonische derart industrialisiert,
niemals noch war es derart Massenware für Massenbedarf ge
wesen; das dämonische Element der Identifikation ist zu einem
standardisierten Konservenartikel geworden, es steht im Leben
der Großstadt nur noch mit dem Sport in Konkurrenz, und auch
dieser hat in seinem Massenbetrieb und [seinen] Rekordisie-
rungen bereits Formen angenommen, die deutlich darauf hin-
weisen, daß die Massen auf der Suche nach einer neuen fiktiven
Wertspitze für ein nicht mehr existentes Wertsystem begriffen
sind, als könnte ein Rekord alles Unerklärliche übertäuben.
Fast könnte man meinen, daß die stumme Identifikation mit
dem Sieger schlechthin die eigentliche Denkform der moder
nen Massenseele geworden ist, daß damit ihr Erkenntnisdrang
Genüge findet, mehr noch, daß sie darüber hinaus gar nicht er
kennen will, daß dies ihr Glaube sei, ein neuer Glaube, der nur
eine Wertspitze, jedoch darunter kein sittliches Wertsystem
mehr kennt. Gewiß, das menschliche Leben ist stets ein Traum
leben gewesen, selbst dann, wenn es im gesichertsten Wertsy
stem eingebettet war, es ist Traum, weil auch jedes Wertsystem
ans Traumhafte grenzt, allein der Traum verwandelt sich zum
betäubten Herdenschlaf, je wertfreier der Mensch dahinleben
muß, je wertberaubter er wird, und durchaus traumhaft ist das
Leben, dessen Taghaftigkeit sich im Maschinellen und Zah
lenmäßigen erschöpft, dessen Seinsgefühl aber ausschließlich
auf Identifikation eingestellt ist. Inmitten einer rationalen
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Überwachheit der Dinge, neben einer rational-kritischen
Überwachheit einer von einer sehr dünnen Schicht getragenen
Wissenschaft und Geistigkeit, läuft das Leben des Großstadt
menschen in Flucht und Traum dahin, vor der Wertentbunden-
heit flüchtend dem Traume zu, vor dem Alptraum flüchtend in
die Zahlenbetäubung: auf welchen Volksmassen soll also da die
Demokratie beruhen, da ihr Wort kaum noch wie ein halbver
gessener Tagesrest in den Träumen herumwebt? Welches In
teresse an der Demokratie kann man von einem Träumenden
erwarten, außer [das an] den zahlenmäßig-sportlichen Wahlre
sultaten? Welche menschliche Würde, welche menschliche
Freiheit, welche menschliche Sittlichkeit hat der Träumende zu
verteidigen? Keine! keine, da er weder Sittlichkeit noch Würde
besitzt, und seine Traumesfreiheit keine Freiheit ist -, es gibt
keine Freiheit ohne Zeitablauf, in dem die Gestaltung der Welt
vorgenommen werden kann, ohne jenen unendlichen Zeitab
lauf, in dem alle sittlichen Werte mit zukunftsgeschichtlichem
Willen auf das unendliche, niemals erreichbare Ziel ausgerich
tet sind; und die Welt des Traumes ist ebenso ohne Zeit wie die
des ebenso stets sittlichkeitsberaubten, würdeberaubten
Wahnsinns, obwohl der Träumer wie der Wahnsinnige danach
trachten, die Zeit mit Geschehnissen anzureichern, auf daß sie
eben wieder Zeit werde, sie beide gleichsam in einer steten
Angst vor einer Freiheit, die sich im Zeitlosen verirrt hat und
mit der sie, wie mit der Zeit selber, nichts anzufangen wissen.
Daß die mannigfaltigen Typen des Wahnsinns unaufhörlich in
den Traum hineinragen, ja, daß ein einziger Traum die ver
schiedensten hievon gleichzeitig enthält, darf vermutet werden,
ebenso daß die magisch-archaische Denktechnik der Personifi
kation und Identifikation einen gemeinsamen Nenner für
Traum und Wahnsinn abgibt; man muß sich hiebei umsomehr
auf Vermutungen beschränken, als das Grenzgebiet von Traum
und Wahnsinn bereits im Individuellen wissenschaftlich schwer
zugänglich und kaum bearbeitet worden ist, hier aber noch
überdies vornehmlich Massenerscheinungen, Massenträu
mende und Massenwahnsinn umfaßt: gewiß kann das unbewäl-
tigbar Bedrohliche auch im Individuum zu klinischer Gei
steserkrankung führen, sehr oft zu solchen depressiver und
melancholischer Art, doch im allgemeinen hat die klinische Er
fahrung gelehrt, daß hiezu eine auslösungsbereite pathologi-
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sehe Prädisposition gehört, während der Normalmensch eine
merkwürdig zähe Widerstandskraft selbst unter schwerstem
psychischen Druck außergewöhnlichster Umstände sich be
wahrt, nach wie vor arbeitsfähig bleibt, soferne man ihm nur
Arbeit verschafft, nach wie vor kriegsfeindlich ist, soferne man
ihm nur seinen Frieden läßt, nach wie vor die Ordnung liebt,
den pünktlichen Straßenverkehr, geregelt durch grüne und rote
Lichter, geregelt durch eine Polizei, welche das Eigentum
schützt, und nicht nur, daß seine Träume, zumindest nach dem
vorliegenden Beobachtungsmaterial, sich im gewohnten Nor
malumkreis bewegen, es geht die Wirkung einer so schweren
Erschütterung wie die des Krieges, greift sie sogar wirklich in
die psychische Gesundheit ein, selten über den Bereich der
kleinen Normalwünsche hinaus, d. h. sie äußert sich in Renten
neurosen und Rentenpsychosen; erst im Massenpsychischen
ändert sich dieses Bild, erst in der Masse wird die archaische
Gefühlswelt aufgetan, die voller Ordnungsekel, voller Welt
ekel, voller Freiheitsekel, voller Kulturekel allem Rationalen
gegenübersteht, erst in der Masse wird der Krieg, mag er dem
einzelnen noch so hassenswürdig, noch so sinnlos, noch so
selbstmörderisch erscheinen, aufopferungsfreudig bejaht, erst
die Masse reagiert auf die Bedrohung mit der Anrufung des
einstigen Gottes, der Opfer verlangt und dem Opfer gebracht
werden müssen, erst in der Masse bricht der Dämonentraum
aus, angepeitscht von der apokalyptischen Vision, die ein Wis
sen der Masse und nicht des einzelnen ist. Und verwirrt vom
Traume, verwirrt von der Angst, verwirrt vom Ekel, gebannt
von einer schlafwandlerischen Vorstellungswelt ohne Wertsitt
lichkeit, torkelt die moderne Großstadtmasse in den Wahnsinn,
der an den selbstmörderischen, erbarmungslosen Geschehnis
sen der Zeit, an ihrer Sintflut von Leid und Qual immer wieder
abzulesen ist. Im Schatten des Apokalyptischen wohnt die
Größe und die Zerknirschtheit des menschlichen Herzens, zu
meist aber seine Armseligkeit.
Die Entwicklung des Wertzerfalles, die Entwicklung der Mas
senpsyche zu ihrem gegenwärtigen Zustand ist wie jeder histo
rische Ablauf logisch begründbar und wäre noch begründbarer,
wenn man sämtliche Verursachungen erfassen könnte. Die lo
gisch notwendige Ableitung einer Krankheit stempelt diese
aber noch lange nicht zur Gesundheit, sie kann höchstens den
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Heilungsprozeß erleichtern, und wenn man auch mit Wahn
sinnsdiagnosen zurückhaltend sein muß, besonders vor neuen
Phänomenen mit starkem Unbekanntheitscharakter, so scheint
hier-m an braucht nur immer wieder auf die medikamentlosen
Epidemien im chinesischen Kriegsgebiet, auf die verhungern
den spanischen Kinder, auf die Morde in den deutschen Lagern,
auf die Pogrome und Erschießungen hinzuweisen, die Aufzäh
lung hat kein Ende - der Wahnsinnsfall ziemlich eindeutig ge
geben zu sein. Hingegen entspricht es der historischen Notwen
digkeit, daß jede wahre Führernatur sich in die Richtung des
Ablaufes stellt, daß er, im Sinne seines Genies, den jeweiligen
Zustand der Massenseele erlauscht, gleichgültig ob diese krank
oder gesund ist, und ihr rückhaltlos dient. Ist die Massenseele
irre, so hat der geborene Führer, der sie beherrschen will, vom
gleichen Irrsinn besessen zu sein, muß also ihren Irrsinn tun
lichst steigern. Würde er statt dessen die Heilung versuchen, er
wäre mehr als ein Führer, er wäre ein Heilsbringer, freilich mit
der Gefahr, gekreuzigt zu werden. Die modernen Diktatoren
haben den Besessenheitsweg gewählt; sie haben mit großer Ge
nialität den Freiheitsekel, den Demokratieekel, den Sittlich
keitsekel der Massen erfaßt, zugleich aber deren tiefe Sehn
sucht, ein neues Wertgebäude zu erhalten, eine neue
Werthierarchie, das eine sichtbare wertstiftende Spitze besitzt,
und sie haben dieses Wertgebäude mit dem totalen Staat, an
deren Spitze sie selber in cäsarisch vergöttlichter Omnipotenz
als Identifikationszentrum stehen, geschaffen und konsolidiert.
Doch darüber hinaus haben sie noch mehr erkannt: sie haben
erkannt, daß alle Widersprüche der menschlichen Seele sich
auch in der objektiven Welt verwirklichen lassen, daß Ordnung
und Zuchtlosigkeit, daß Friedensliebe und Aggression, daß
Sozialismus und Ausbeutung, daß Humanität und Verknech
tung, daß Ratio und Triebhaftigkeit, daß Wahrheit und Lüge
ohneweiters zu einem einzigen dichten Geflecht zu vereinigen
sind, kurzum, daß die Welt genau die gleiche unsaubere Verfil
zung von Gegensätzen ist, wie sie in der Seele des unerwachten
und gar des irrsinnig gewordenen Menschen vorliegt. Was in
dieser Verfilzung keinen Platz hat, ist die Würde des Menschen,
ist die Größe und Unantastbarkeit seiner ebenbildlichen Natur
und seiner verstandesbegnadeten Humanität; an ihre Stelle ist
die Befriedigung der archaisch-magischen Irrationalvorstel
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lungen und eines infantilen Siegeswillens getreten, welche ei
nen vollwertigen Ersatz für den ohnehin nicht sehr fühlbaren
Freiheitsentzug darstellt. Lenin war der erste dieser genialen
Diktatoren, allerdings auch der letzte Nachfahre des rationali
tätsbesessenen 19. Jahrhunderts, er hat als erster die Unfähig
keit der demokratischen Riesenapparate vor der Bewältigung
großer dynamischer Aufgaben erkannt, und er hat als erster
durch Entfesselung von irrationalen Massentrieben am Begriff
einer perpetuierten Revolution es unternommen, die Massen
wünsche in den Dienst einer ihr dienenden Diktatur zu stellen.
Der Abstand zwischen der russischen Bauernmasse und der
amerikanischen Großstadtmasse ist ein ungeheuerer: aber da
zwischen liegen Deutschland und Italien und die westeuropä
ischen Länder, und ihr Beispiel zeigt, daß es einen Weltgeist
gibt, daß die Massenpsyche überall die gleiche ist, ja, daß mit
je höherer und städtischerer Rationalisierung eines Volkes
umso schärfere Aufbrüche des Irrationalen und des magischen
Sadismus zu erwarten sind; je höher der Baum, desto tiefer
seine Wurzeln, und je größer die Freiheit war, deren der
Mensch teilhaftig gewesen ist, desto mehr affektive Güter wer
den von seiner wahnsinnsbesessenen Seele gefordert, sobald
das sittliche Band völlig aufgehoben wird. Die Moral des
»Warum nicht?«, welche in den europäischen Diktaturen be
reits die grauenhaftesten Ergebnisse gezeitigt hat, ist eine un
aufhaltsame Lawine; sie wird immer weitere Gebiete umfassen
und zu immer scheußlicheren Formulierungen gelangen, sie
wird, wenn es einem Diktator einfällt, bis zur gesetzlichen
Menschenfresserei führen, ohne daß deshalb die Bahnen, die
Post, die Fabriken, der Handel zu funktionieren aufhören wer
den, es wird die vom Christentum eingeleitete Humanisierung
der Welt endgültig aufgehoben werden. Wohlgemerkt, der ge
samten Welt. Denn Amerika, das dank seiner Konstitution
heute noch die Humanität hochhält und in Kürze das einzige
noch humanitätsorientierte Land sein wird, ist zugleich das
Land der tiefgreifendsten Rationalisierungen, das Land der gi
gantischsten Großstädte, das Land der zerklüftetsten Massen
psyche, und wenn die Fascisierung Europas vollendet sein wird,
so wird es ebensowohl infolge seiner politischen Einkreisung,
als auch infolge der psychischen Aufnahmebereitschaft seiner
Massen als Beute der schon heute wirksamen Propaganda dem
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lawinenartig weiterschreitenden Massenwahn zum Opfer fal
len. Und es läßt sich schon heute prophezeien, daß der künftige
Diktator der Vereinigten Staaten nach Abtretung sämtlicher
Randgebiete seine Massen durch die Wiedereinführung der
Sklaverei für Neger und Juden beschwichtigen wird.
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gen Parlamentsmaschinen erhalten, um zu vertuschen, daß der
Staat der Humanität hinter dem Worte Demokratie steht. Der
amerikanische Bürgereid hat dies nicht vergessen: »I believe in
the United States of America as a Government of the people,
by the people, for the people; whose just powers are derived
from the consent of the governed; a democracy in a republic;
a sovereign Nation of many sovereign States; a perfect union,
one and inseparable; established upon those principles of free-
dom, equality, justice, and humanity for which American pa-
triots sacrificed their lives and fortunes.«11
Das Bewußtsein der Massen ist ins Vergessen abgetrieben, die
Großstadtmasse träumt zu wilden Affektbefriedigungen hin,
und ins Vergessen ist ihr das einstige Grundprinzip des Huma
nen, ist ihr die lebendige Demokratie getaucht; sie hat des
Menschen Würde vergessen, sie hat ihren eigenen Würdean
spruch vergessen, da sie, geblendet von den kriegerischen und
räuberischen Erfolgen der Diktaturen, durchaus neiderfüllt auf
diese blickt, hoffend, daß ein eigener Diktator ihr gleichfalls
Siege einbringen werde, auf daß das Unerklärliche, das über sie
gekommen ist, mit der Befriedigung ihrer Grausamkeitslust
übertäubt und die Identifikation mit dem Helden vorgenom
men werden könne. Diese Situation ist das Produkt einer
strenglogischen historischen Abfolge, welche nicht mehr rück
gängiggemacht werden kann. Es wäre vielleicht möglich gewe
sen, durch rechtzeitiges Eingreifen dem propagandistischen
und imperialistischen Ausbreitungsbedürfnis der Diktaturen
einen Riegel vorzuschieben und damit auch den sogenannt
geistigen Seuchenherd einzudämmen; daß die Demokratien
dies nicht getan haben, mag sogar als Mit-Symptom für die
Überlebtheit der parlamentarischen Maschinerie gewertet
werden, doch selbst wenn sie es getan hätten, es wäre damit
noch nichts Positives geleistet gewesen, denn nicht nur, daß sol
ches Eingreifen bloß die westliche, nicht aber die russische Dik
tatur getroffen hätte, es hätte wahrscheinlich ein solches Vor
gehen wenig dazu beigetragen, die Grundstimmung der Massen
zu ändern und das Bewußtsein demokratischer Humanität wie
der in ihnen lebendig zu machen. Seuchenbekämpfung durch
Quarantäne und Erschießungen sind zwar ein Ausfluchtsmittel,
indes eines der Verzweiflung, und sie sind nicht geeignet, eine
Krankheit auszurotten, dies umsoweniger, als es sich um eine
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psychische Erkrankung handelt und der Wille zur Krankheit in
den Massen vorhanden ist. Es hat also auch gar keinen Zweck,
immer aufs neue die Schrecknisse dieser Krankheit zu schil
dern, wie dies in Tausenden von Zeitungsartikeln und Druck
werken geschieht; je dokumentarischer und richtiger das
Grauen geschildert wird, desto anziehender wird es für den
Krankheitswilligen. Wir brauchen mehr als Schreckbilder, und
wir brauchen mehr als Quarantäne.
Der dunkel-ahnende Wunsch der Massen geht nach Errich
tung oder Wiedererrichtung eines verbindlichen Wertsystems,
in welchem sie das tiefe menschliche Bedürfnis nach seelischer
Lebenssicherheit aufs neue zu befriedigen vermögen. Es ist ein
religiöses Bedürfnis oder zumindest ein sehr wesentlicher Teil
eines solchen, und wie jedes religiöse Bedürfnis ist es von irra
tionalen Unterströmungen durchzogen; der totalitäre Staat hat
diese irrationalen Unterströmungen aufgegriffen, er hat sie in
jene magisch-archaische Primitivform zusammengefaßt, in der
sich prä-religiöse Dämonologie immer bestimmt und immer
bestimmen wird, sie ist Ersatz-Religion, und der dämonische
Diktator ist ihr Ersatz-Heilsbringer. Nun läßt sich allerdings
echte Religion nicht von Staats wegen etablieren, so wenig wie
sich ein echter Heilsbringer von Staats wegen bestellen läßt. Ein
solches Vorhaben ist nicht Angelegenheit des Laien, ist nicht
Angelegenheit des Staates. In Österreich wurde der Versuch
gemacht, den Katholizismus und seine Neuerweckung hiefür zu
verwenden, oder richtiger zu mißbrauchen, und es war ein von
vorneherein zum Scheitern verurteilter Versuch, vermutlich
von allem Anfang [an] von der Kirche mit Skepsis betrachtet,
wenn auch geduldet; die mystische Unität von Katholizismus
und Staatsführung war innerhalb der Tradition eines alten Kai
sertums noch möglich, während sie in der Hand von Halbdikta
toren, mochten sie persönlich noch so gläubig gewesen sein,
bloß dazu gedient hatte, den Katholizismus bei den Massen
vollends zu diskreditieren und diese mit Sehnsucht nach der
handgreiflichen, affektbefriedigenden Ersatzheilslehre zur
deutschen Grenze hinblicken ließ, hinter der alles lag, was ih
nen diesseits verweigert wurde, denn diesseits gab es bloß
Nachahmung, diesseits war wohl auch die Demokratie aufge
hoben, aber es gab keinen Gegenwert für den Freiheitsentzug,
diesseits gab es wohl auch Rüstungen und übermäßige Rü
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stungslasten, aber keinen Eroberungs- und Siegeswillen hiezu,
diesseits gab es wohl auch Propaganda und Aufmärsche, aber
jene hatte den Charakter von Kanzelreden, und diese gingen im
Tempo von Kirchenprozessionen schwerbäuchig vor sich,
Österreich war in allem und jedem Ersatz des Ersatzes, obwohl
- und dies darf ernsthaft zu denken geben! - es kein Ersatzmehl
und kein Ersatzbrot gab, vielmehr die wirtschaftliche Lage un
gleich besser als in Deutschland war, und eben diese Ersatzpo
litik, welche zwar den Ruf »Heil Hitler!« verbot, statt dessen
aber eine Art unausgesprochenes, trotzdem recht vernehmli
ches »Heil Gott!« einführte, läßt das tragische Geschick jenes
kleinen Landes als paradigmatischstes Musterbeispiel für ver
fehlte Maßnahmen erscheinen. Was also kann ein humanitäts
gewillter Staat zur Aufrechthaltung seines Grundprinzipes und
damit zur Aufrechthaltung seines eigenen Bestandes tun, da of
fenkundig ihm all diese sicherlich gutgemeinten Wege versperrt
sind und versperrt bleiben müssen, ja, sogar eine bessere wirt
schaftliche Position nichts gegen das unbewußte Affektvolu
men der Masse nützt? Die Antwort lautet: nicht durch Nachah
mung der dämonischen Methoden ist es möglich, dem
wertsuchenden Bedürfnis der Massen, wie es nun einmal un
leugbar vorliegt, gebührende Rechnung zu tragen, sicherlich
also auch nicht durch eine Selbstaufhebung der demokratischen
und sozialen Errungenschaften, sicherlich aber auch nicht da
durch, daß dieselben zum Selbstzweck erhoben werden und, in
Fortsetzung der alten Verwechslung von Konstitutionsinstru
ment und Konstitutionswillen, eben diesen hinter der Demo
kratie stehenden Willen zum Grundprinzip der Humanität ver
gessen lassen, wohl aber dadurch, daß [es] in radikaler Abkehr
von solcher Verwechslung neuerdings und ausdrücklichst an die
Spitze aller staatlichen Maßnahmen gestellt werde, d. h. sämtli
che Handlungen des Staates und seiner Gesetzgebung ständig
begleite und darüber hinaus Gesetze veranlasse, welche zum
Schutze dieses Grundprinzipes und damit auch zum Schutze der
Demokratie selber dienen, damit diese nicht, nach dem Muster
anderer Länder, infolge der Lücken ihrer Konstitution von in
nen heraus zersprengt werden könne; in den Diktaturen wird
die Einheit von sittlichem und staatlichem System durch die
Einbeziehung des diktatorischen Willens in das Gesamtsystem
vollzogen, in Österreich wurde das nämliche mit humaner Ten
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denz versucht, indem Gott als gesetzliche Wertspitze eingestellt
wurde (-die Gerichtsurteile wurden »Im Namen Gottes« ver
kündet! -); die Demokratie hat bescheidener zu sein, sie kann
und will kein neues Sittensystem etablieren und auch keine Re
ligion fundieren, doch indem sie ihr eigenes altes, selber der
Religion entsprossenes Grundprinzip an die Spitze ihres Ge
setzsystems stellt und ausdrücklich in dieses einbezieht, indem
sie also sich selber zum totalen System schließt, wenn man es
also so ausdrücken mag, zur totalen Demokratie, wird sie zum
Platzhalter des Sittengesetzes, dem sie selber entsprungen ist,
wird sie zum Bewegungsraum für jede Religion, welche das
Sittliche will. Die Demokratie wird zerfallen, wenn sie nicht zur
totalen Demokratie wird.
Fragt man nach der praktischen Durchführung, so scheint es
klar zu sein, daß in erster Linie ein Gesetz zum Schutze des
Grundprinzipes des Staates nottut, d. h. ein solches, welches die
Würde des Menschen ausdrücklich schützt; aus diesem Haupt
gesetz ergäben sich die übrigen erforderlichen Gesetze zum
Schutze der demokratischen Einrichtungen; es wäre demnach
ein Delikt »Verbrechen gegen die Menschenwürde« zu konsti
tuieren und unter Sanktion zu stellen, welches über die kleinen
Delikte der Ehrenbeleidigung, des Unfuges etc. weit hinaus
reicht und insbesondere alle Handlungen gegen die Grundprin
zipien des Staates, wie sie in der amerikanischen Unabhängig
keitserklärung und dem amerikanischen Bürgereid Umrissen
sind, zu umfassen hätte: wer durch Worte oder Taten danach
trachtet, die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit, der Ge
rechtigkeit und der Humanität aufzuheben, wer durch Worte
oder Taten trachtet, einen Menschen, der sich nicht gegen das
Gesetz vergangen hat, oder einer Gruppe solcher Menschen aus
jener Gleichheit auszuschließen, die ihnen vom Schöpfer ver
liehen worden ist, wer danach trachtet, ihnen ihre unveräußer
lichen Rechte auf Leben und Freiheit und Glücksstreben abzu
streiten oder zu schmälern, ferner, wer durch Worte oder Taten
danach trachtet, einzelne Personen oder Gruppen von solchen,
welche sich nicht gegen die Gesetze des Staates vergangen ha
ben, aus den allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und
Pflichten auszuschließen und insbesondere derart zu diskrimi
nieren, daß ihnen nicht der gerechte Mitgenuß an den bürgerli
chen Rechten und Ehren, die gleiche Anwartschaft an den öf
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fentlichen Einrichtungen, die gleiche Freiheit ihres persönli
chen Lebens, kurzum die gleiche physische und psychische
Integrität wie den übrigen Bürgern zustehe, schließlich, wer da
nach trachtet, Völker oder irgendwelche andere Menschen
gruppen oder einzelne Personen derart zu diffamieren, daß sie
zum Gegenstand des Hasses werden, wer nach solchem trach
tet, verstößt gegen die Grundlage des Staates und soll straffällig
gemacht werden.
Abgesehen davon, daß eine derartige Gesetzesgruppe zu den
notwendigsten Selbstbeschränkungen der parlamentstechni
schen Demokratie gehört und - soweit sich nicht nach einer ge
wissen Zeit neue technische Lücken zeigen - in der Lage ist, die
technische Selbstzersprengung der Demokratie nach zentral
europäischem Muster zu verhüten und damit ähnlichen Plänen,
wie sie von nationalsozialistischer Seite offen zugegeben wer
den, rechtzeitig zuvorzukommen, abgesehen von diesem nicht
zu unterschätzenden technischen Vorteil, ist anzunehmen, daß
die Stipulierung des »Verbrechens gegen die Menschenwürde«
weitaus das beste Mittel ist, um den Gedanken des Humanitäts
staates wieder zum lebendigen Bewußtsein der Massen zu brin
gen, m. a. W., um die Menschenwürde wieder populär zu ma
chen. Denn der Gerichtssaal ist die populärste Einrichtung des
Staates, und eine staatliche Einrichtung, die keine strafgericht
liche Resonanz besitzt, bleibt ohne Interesse; die Diffamierung
der Juden in Deutschland wäre nicht vollständig gewesen, wenn
sie nicht durch die Rassengesetze —vom sexuellen Reiz beson
ders schmackhaft gemacht - deliktmäßig unterbaut worden
wären. Doch es handelt sich nicht nur um diese billige Propa
gandawirkung; diese ist bloß Nebeneffekt, allerdings ein hier
sehr erwünschter, während es in Wirklichkeit um Prinzipielles
geht: kein totales Wertsystem kann im Irdischen bestehen,
wenn es nicht seinen irdischen Gegenpol hätte, den Widersa
cher, der es stürzen will, und um dieser Teufelsgestalt willen
mußte der Antirevolutionär in Rußland, der Jude in Deutsch
land erfunden und mit den schwärzesten, wenn auch nicht
nachweisbaren Absichten ausgestattet werden; die totale De
mokratie, um bei diesem Namen zu bleiben, braucht den Wi
dersacher nicht zu erfinden, weil sie keinen Widersacher an sich
kennt, sondern bloß Delikte bestraft, aber sie muß das Delikt
definieren, damit an Hand des definierten Deliktes auch der
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Widersacher erkannt werde. Grundprinzipien sind Satzungen,
aber Gesetze haben Verbotsform, und erst am Gesetz wird die
Satzung erkannt; nimmermehr wäre die Heiligkeit des Men
schenlebens dem Menschen zu Bewußtsein gekommen, wenn
es in der Form eines Grundprinzipes »Du sollst das Leben ach
ten« geäußert worden wäre, erst »Du sollst nicht töten!«
machte die Satzung zum eingängigen Gesetz, und nimmermehr
wird das Grundprinzip der Humanität dem Menschen wahrhaft
inne werden, ehe es nicht in der Form eines »Du sollst nicht«
gesetzlich ausgesprochen wird. Das Gute bedarf des Bösen, um
zu sein.
Es muß wiederholt werden, daß die Masse nicht verachtet
werden darf. Die Diktaturen können sich nur in einer grundle
genden Verachtung des Menschen begründen, die Demokra
tien hingegen in einer unauslöschlichen Achtung vor dem Men
schen. Für die Diktaturen ist also die Massenpropaganda, deren
Erfindung zweifelsohne ein Produkt ihrer dämonischen Genia
lität ist, ein Mittel, um die Masse an ihren wahnsinnsbereiten,
inhumansten Trieben zu packen: wenn die totale Demokratie
mit Rücksicht auf den seelischen Massenzustand gleichfalls den
Propagandaweg nimmt - und sie muß ihn nehmen -, wenn sie
auch einem »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« jene
propagandistische Wirkung abgewinnen soll, die in einem sol
chen Gesetz enthalten ist, so darf sie dies nur in dem Wissen tun,
daß [in] des Menschen Seele Gutes und Böses, Dunkles und
Helles unvermittelt nebeneinanderliegen, und daß eben mit
Hinblick auf die dämonische Einstellung der diktatorischen
Propaganda es den Demokratien zu obliegen hat, eine eben
solche Propaganda für ihr eigenes Staatsgrundprinzip, eine
Propaganda der Humanität zu betreiben. Dies bleibt so lange
undurchführbar, so lange die Konstitution lückenhaft bleibt,
d. h. so lange sie erlaubt, daß gegen die wichtigsten Grundprinzi
pien, denen sie ihre Entstehung verdankt, Propaganda getrie
ben wird; eine Bestimmung, wie die über die Rede- und Presse
freiheit wird sinnlos, wenn zugleich die Aufhebung der
Bestimmung damit inkludiert wird, d. h. wenn die Rede- und
Pressefreiheit benützt wird, um die Rede- und Pressefreiheit
aufzuheben -, es ist dies ein typischer Fall für die Notwendig
keit, gewisse Grenzsachverhalte, die sich durch verfassungsmä
ßige oder sonstwie gesetzliche Bestimmungen ergeben können,
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und die vom Gesetzgeber nicht vorausgesehen werden konn
ten, nachträglich durch Selbstbeschränkung des Gesetzes aus
zuschalten. Besteht aber ein Gesetz zum Schutze der Grund
prinzipien des Staates, also eben das Gesetz zum Schutze der
Humanität, dann ist die Irrsinnsantinomie einer Freiheit, die
sich aus Freiheitsgründen selber aufheben läßt, einer Humani
tät, die sich aus Humanitätsgründen selber vernichten lassen
will, weitgehend beseitigt; kurzum: es darf jede Rede- und
Presse- und Propagandafreiheit bestehen mit Ausnahme eines
einzigen Falles, nämlich jenem, in welchem die humanitätsge
tragene Freiheitsgrundlage des Staates selber angegriffen wird.
Und diese Maßnahme ist heute umso dringlicher, als die frei
heitlichen Einrichtungen der Demokratie systematisch von
auswärtigen Mächten benützt werden, um die Staatsgrundlagen
zu erschüttern; in Zeiten einer annähernd gemeinsamen Welt
sittlichkeit war in solchen Möglichkeiten keine Gefahr enthal
ten, und es war auch noch in jenen Jahren keine Gefahr, in de
nen die Demokratien physisch stark genug waren, um
auswärtige Einflüsterungen als nebensächlich behandeln zu
können, heute jedoch, da sie ihre Machtpositionen zu einem
großen Teil selber geräumt haben, sind sie sehr empfindliche
Gebilde geworden und können, ja, dürfen angesichts der seeli
schen Stimmung ihrer Volksmassen es sich nicht mehr leisten,
zum Objekt auswärtiger Propaganda herabzusinken: sie müs
sen zum Subjekt der Propaganda werden. Es ist paradox, daß
zu den wesentlichsten Bestandteilen der diktatorischen Regie
rungsmaschinerie ein ausgezeichnet arbeitendes Propaganda
ministerium gehört, während in den angegriffenen Demokra
tien - und dabei ist Amerika das Ursprungsland der
Propagandatechnik! - sich nichts dergleichen befindet, viel
mehr ein Zustand völliger Wehrlosigkeit herrscht. Die Demo
kratien müssen endlich einsehen, daß sie, ob sie nun wollen
oder nicht, sich bereits im Kriegszustand12 befinden, daß ein
Kriegszustand besondere Maßnahmen erfordert, und daß sie
daher entweder zu kapitulieren haben, wozu ja freilich bei den
europäischen Demokratien genügend Neigung vorliegt, oder
aber, wollen sie solche Kriegszeit durchhalten, die Wendung
zur totalen Demokratie werden nehmen müssen, eine Wen
dung, die es vonnöten macht, daß der Staat nicht nur über die
physischen, sondern auch über die geistigen Waffen das volle
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Verfügungsrecht erhalte, unbeschadet des Freiheitsentzuges an
den ohnehin nicht mehr zum Gebiet der Demokratie gehörigen
Grenzfälle.
Bis hierher haben wir uns auf dem Boden der realen Tatsachen
bewegt, nun hiezu noch eine utopische Bemerkung: der Über
schrecken des von den Diktaturen erfundenen Totalkrieges
mag den ungeheueren Segen in sich bergen, zu Friedensschlüs
sen ohne Kriegsführung zu führen, von denen der erste in Mün
chen stattgefunden hat und eine volle Niederlage der Demo
kratien darstellte; abgesehen vom Rüstungsvorsprung bestand
das Übergewicht der Diktaturen in der Einheit von Weltan
schauung und imperialistischem Kriegswillen, und dieses
Übergewicht wird selbst nach erfolgter Rüstungsaufholung
durch die Westmächte unbrechbar anhalten, wenn nicht diese
gleichfalls zu einer Einheit von Ideologie und Staatswillen, zu
einer Einheit von Weltanschauung und Verteidigungswillen
gelangen, d. h. wenn sie nicht, ohne Rücksicht auf Nebeninter
essen, gewillt sein werden, die Prinzipien der Humanität, die
auf ihren Gebieten in Geltung stehen, geschlossen zu verteidi
gen. Würde eine derartige Wendung eintreten, die eben die
Wendung zur totalen Demokratie wäre, dann darf mit einiger
Sicherheit vorausgesetzt werden, daß der nächste Friedens
schluß gleichfalls ohne Kriegführung, aber mit einem Sieg der
Humanität, also mit der Rettung der Weltkultur Zustandekom
men wird.
Den Demokratien, als rationalen Gebilden, widerstrebt es,
derartige irrationale Momente als Machtfaktoren einzusetzen,
es erscheint ihnen sogar die Staatspropaganda als eine gewisse
zirkusmäßige Unwürdigkeit, obwohl sie durch die Erscheinung
der Diktaturen, durch deren Auftreten und deren Entwicklung
über das geradezu ans Wunder grenzende Überraschungsmo
ment psychischer Massenkräfte hätten belehrt werden können;
ihre rationale Struktur verlangt, das Hauptgewicht ihrer Maß
nahmen auf die Belange des Meßbaren zu legen, auf das ratio
nal und wissenschaftlich Erforschbare, nicht zuletzt also - und
damit berühren sie sich mit der sozialistischen Motivation - auf
die Belange des Wirtschaftlichen und der Volkswohlfahrt, also
immer wieder bereit, wie schon erwähnt, in die rationale Ideo
logie des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Es wäre eine Bin
senweisheit, eigens nachzuweisen, daß über die Belange des
67
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Irrationalen nicht die des Rationalen und gar die des wirt
schaftlichen Aufstieges vernachlässigt werden dürften, nicht
einmal die Diktaturen tun dies, doch gerade weil das Rationale
so durchaus zu Recht besteht, ist es notwendig, auch die heute
noch irrationalen Bestandteile des Lebens und der Politik ehe
stens einer rationalen und wissenschaftlichen Behandlung zu
zuführen. Aus diesem Grunde dürfte es von äußerster Wichtig
keit sein, sei es von Staats wegen, sei es aus privaten Mitteln,
sei es in Kombination der beiden Initiativen, die Gründung ei
nes »Institutes zur Erforschung und Bekämpfung psychischer
Seuchen« ins Auge zu fassen; der augenblicklich sich ausbrei
tende Massenwahn ist zumindest ebenso gefährlich wie der
Krebs, und die Mortalität, die sich aus dieser psychischen Seu
che bereits ergeben hat, übersteigt die des Krebses zumindest
um ein Zehntausendfaches, wird sich aber ins Hunderttausend
fache steigern, wenn man die Seuche ungestört weiterwüten
läßt.
Die Richtigkeit dieser Ausführungen vorausgesetzt, wäre an
zustreben, daß sich in den Ländern der Demokratien rasche-
stens eine Vereinigung von Personen bilde, denen der Weiter
bestand der Humanität und der Kultur am Herzen liegt und
daher in Wort und Schrift auf die Verwirklichung der angeführ
ten Programmpunkte hinwirke, also13
1. es mögen die Regierungen und Parlamente der demokrati
schen Länder ehestens eine Gruppe von Gesetzen zum Schutz
ihrer humanitären Staatsgrundprinzipien erlassen, in deren
Mitte ein »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« zu stehen
hätte;
2. es mögen die demokratischen Staaten ehestens eine zentrale
Propaganda einrichten, welche mit allen Mitteln der Presse, des
Films, des Radios usw. die Führung der Massen in Angriff
nehme und diese in der Richtung des humanitären Staats-
grundprinzipes leite;
3. es möge raschestens zur Gründung eines »Institutes zur Er
forschung und Bekämpfung psychischer Seuchen« geschritten
werden.
Der Zweck all dieser Maßnahmen, der Zweck der gedachten
Vereinigung ist »Die Diktatur der Humanität in der totalen
Demokratie«.14
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1 Eine Reihe dieser Programmpunkte sind später von Broch in den vierziger
Jahren im Rahmen seiner »Massenwahntheorie« ausgearbeitet worden. Vgl.
dazu den 12. Band dieser Ausgabe.
2 Gemeint ist offenbar der Abschnitt »Die Abwehr«.
3 Broch meint den österreichischen Stände-Staat von 1934-1938
4 Nach den politischen Morden an Erzberger (1921) und Rathenau (1922)
wurden das Gesetz und der Staatsgerichtshof »zum Schutz der Republik« ge
schaffen. Das Gesetz (Verordnung des Reichspräsidenten vom 21. 7. 1922)
lautete offiziell »Gesetz zur Verteidigung der republikanisch-demokratischen
Staatsform in Deutschland«. Es wurde zunächst auf fünf Jahre erlassen und
dann am 17. 5. 1927 um weitere zwei Jahre verlängert. In abgeschwächter
Form erging am 25. 3. 1930 das zweite Republikschutzgesetz, das am 19. 12.
1932 außer Kraft gesetzt wurde.
5 Broch bezieht sich auf die »Nürnberger Gesetze«, die während des Reichs
parteitages der NSDAP in Nürnberg am 15.9. 1935 verkündet wurden und
die die »juristische« Ausgangsbasis für die Judenverfolgung bildeten.
6 Gemeint sind die Tage vor dem »Münchner Abkommen« Ende September
1938 als Broch noch in England war. Brochs Exilzeit in England bzw. Schott
land dauerte vom 29. Juli bis 1. Oktober 1938.
7 Arthur Neville Chamberlain (1869-1940), englischer Premierminister zwi
schen 1937 und 1940.
8 »Münchner Abkommen« vom 28. 9. 1938.
9 So beginnt der zweite Absatz der »Declaration of Independence« der USA
vom 4. Juli 1776.
10 »Constitution of the United States« vom 4. März 1789.
11 Wortlaut des Eides in den vierziger Jahren. Man legt ihn ab, wenn man als
Ausländer die US-Staatsbürgerschaft erwirbt. Der Text lautet heute etwas
anders, hat sich inhaltlich aber nicht geändert.
12 Broch spricht hier noch nicht vom Zweiten Weltkrieg, der erst einige Monate
nach Abfassung dieses Aufsatzes begann.
13 Vgl. den ähnlich lautenden Schluß des Abschnittes »Bericht an meine
Freunde« am Anfang dieses Aufsatzes. Der »Bericht an meine Freunde«
stellt eine überblicksmäßige Zusammenfassung des »Ersten Kapitels« dar.
14 Broch hat dem Aufsatz ein dreiseitiges Typoskript mit dem Titel »Anhang
(Die Judenfrage)« beigefügt, das Fragment geblieben ist. Es lautet:
»Es gehört, wie bereits ausgeführt, zur Genialität der Dämonie, irrationale
Affekte zu treffsicheren Instrumenten praktischer Zwecke zu machen; nir
gends ist dies sichtbarer als an dem Judenhaß, der dunkel in Hitlers Besessen
heit wühlt, von ihm aber in einer Weise, die nicht genug zu bewundern ist,
zu einem der wirkungsvollsten Instrumente der internationalen Machtpolitik
umgeformt worden ist: die teuflische Kaltblütigkeit, mit der diese Machtpoli
tik von den übrigen Diktatoren, vor allem also von Italien, übernommen wor
den ist, rückt das Schicksal des kleinen Volkes in die Gefahrenzone der Aus
rottung schlechthin. An und für sich ist dieses Schicksal nicht tragischer als
das der chinesischen Bevölkerung unter den japanischen Bomben, es ist nicht
tragischer als das der Basken und Katalonier, die halbverhungert und halber
froren haufenweise erschossen werden, es ist nicht tragischer als das Opfer
des russischen Terrors, es ist bloß unfaßbarer, weil es mit den grauenhaftesten
und perfidesten Mitteln einer erbarmungslosen Abschlachtung innerhalb ei
nes weitgehend geordneten, technisch tadellos funktionierenden Staatswe-
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sens vonstatten geht, und weil es von dem Führer, dem Anführer des Mordes,
mit dem zynischsten, billigsten Hohn gedeckt wird. Unverschuldetes Leid er
zeugt Würde, verächtlich ist bloß der Peiniger; die Juden haben das ihnen be
reitete Schicksal mit der gleichen Gefaßtheit wie die Spanier und die Basken
auf sich genommen, vielleicht mit der etwas besseren Vorbereitung einer
zweitausendjährigen Leidenstradition, von der sie eines ihrer tiefsten Sprich-
worte »Der Mensch möge davor bewahrt werden, all das zu müssen, was er
kann« gelernt haben, und jetzt [sind] sie eben wieder vor das Muß dieses Kön
nens gestellt, sie sind vor die Aufgabe gestellt, zu erweisen, wieviel das
menschliche Herz in seiner Größe und Stärke zu ertragen vermag, sie sind vor
das Muß des Sterben-Könnens gestellt. Herr Hitler nennt das, was er ver
bricht, Buße und Vergeltung, doch er weiß selber nicht, was gebüßt, was ver
golten werden soll, er denunziert die Unschuldigen als Schädlinge, Aufrührer
und Kommunisten, hoffend, daß er die Gepeinigten dadurch zur Gegner
schaft bringen könne, um die Berechtigung zu bekommen, sie als Gegner zu
erledigen, er nennt überhaupt alles, was nicht mit ihm einverstanden ist, jü
disch und jüdischen Geist, und es mag ihm gelingen, auf diese Weise wirklich
die insektenmäßige Vertilgung dieses Menschenvolkes herbeizuführen: nim
mermehr wird es ihm jedoch gelingen, die Besessenheit seines Gewissens zu
beruhigen, um dessentwillen er die Vernichtung auch des letzten Zeugens sei
ner Untat herbeiwünscht, und mögen auch Mitwelt wie Nachwelt niemals
wissen, daß jedes dieser jüdischen Einzelschicksale, da es an den Märtyrertod
rührt, von der tiefen Größe leidender Unschuld beschattet ist, aus dem Hit-
lerschen Haß steigt gespenstisch der Wille zur Selbstvernichtung der Kultur
auf, aus der als erster Stein die große jüdische Kulturleistung herausgebro
chen werden soll.
Noch besteht die Hoffnung, daß es nicht so weit kommen werde, und weil
diese Hoffnung besteht, kann die praktische Frage nach dem ferneren Lose
der Unglücklichen glücklicherweise noch nicht beiseite geschoben werden.
Und ist es möglich, diese fürchterlichste Krise des Judentums noch einmal zu
überwinden, so war die Hitlersche Eruption ein Segen, denn sie hat die Af-
fektzerwühltheit der Welt aufgedeckt und dadurch auch dem Juden einen
klareren Platz angewiesen.
Die Hitlersche Abgrenzung der jüdischen Volksmasse nach der großelterli
chen Blutmischung kann im Großen und Ganzen vollkommen akzeptiert
werden: es ist vielleicht der einzige wirklichkeitsentsprechende Punkt in der
ganzen Rassentheorie, die sowohl in ihren Einteilungen, als auch in ihren Be
wertungen an keiner Stelle standhält, hier aber tut, denn wenn es auch sicher
lich keine Arier gibt, so gibt es doch sicherlich Juden, und wenn auch diese
die mannigfachsten Erbzuschüsse erhalten haben, insbesondere durch die
Aufnahme ganzer nicht-semitischer, wahrscheinlich sogenannt arischer
Volksgruppen in die jüdische Religionsgemeinschaft, so hat die jahrhunder
telange Ghettoabschließung zweifelsohne eine Reihe physischer und psychi
scher Eigentümlichkeiten entwickelt, die man als die eines Volkscharakters
ansprechen darf; ob man hiebei zwei herkunftsmäßig so verschiedene Grup
pen, wie etwa die der Orient- und die der osteuropäischen Juden, in einen
Topf werfen kann, [ist fraglich]. Es ist hiebei nicht festzustellen, ob diese Cha
rakteristika blutmäßiger Art sind oder auf Vererbung erworbener Eigen
schaften, bedingt durch das Ghettoleben, beruhen: der physische Habitus des
Juden schwankt, er unterscheidet sich zwar unverkennbar vom nordgermani
70
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sehen, weniger bereits vom slawischen, am allerwenigsten jedoch vom lateini
schen; und ähnliches läßt sich vom geistigen Habitus sagen: es ist dies überaus
auffallend, denn abgesehen von dem slawischen Einschlag, der ebensowohl
aus einer starken slawischen Übertrittsbewegung, wie aus jener geheimnis
vollen Assimilierungskraft des Bodens herrühren kann, der z. B. im Laufe ei
ner einzigen Generation beinahe alle amerikanischen Einwanderer konstitu
tiv beeinflußt,«
(Das Fragment bricht hier ab.)
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Theorie der Demokratie (1938-1939)1
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wjetunion gilt die Marxsche Doktrin, für den Kirchenstaat das
katholische Glaubensdogma als regulatives Prinzip, während
man bei Diktaturen im allgemeinen nicht von einem wirklichen
regulativen Prinzip sprechen kann, es sei denn, daß man den
unbedingten vertrauensvollen Gehorsam gegenüber dem Wil
len des Führers als solches bezeichnen will. Die regulativen
Prinzipien treten mit dem Anspruch auf Selbstevidenz auf, und
das gibt ihnen ihren Glaubenscharakter; allerdings sind sie in
ihrer Anwendung noch von anderen, und zwar in der Tradition,
im Volkscharakter usw. begründeten Nebenregeln begleitet,
deren Evidenz womöglich noch stärker ist, so daß sie kaum
mehr bemerkt wird oder ausgesprochen werden kann. Das
komplexe Gefüge der englischen Tradition, welche eine eigene
Aufstellung von regulativen Prinzipien für überflüssig erachtet,
beruht auf der Wirksamkeit dieser Evidenzen.
Die Verwirklichung der regulativen Prinzipien in der Staats
realität ist in erster Linie ein formal-technisches Problem, wenn
es auch von der Natur der jeweiligen Prinzipien nicht ganz los
zulösen ist. Immerhin läßt sich vorstellen, daß die Konstitution
der Vereinigten Staaten unter Beibehaltung ihrer Grundprinzi
pien ganz anders hätte aufgebaut werden können, etwa als Ein
kammersystem oder sonstwie; die Grundprinzipien sind für ein
Gemeinwesen, solange es als solches besteht, unabänderlich;
ihre Verwirklichungsform hingegen ist abänderbar, und deswe
gen sollte Demokratie nicht, wie das immer wieder geschieht,
mit den Formen ihrer parlamentarischen Repräsentation ver
wechselt werden.
Nichtsdestoweniger: gerade die Verwirklichungsform der re
gulativen Prinzipien deckt den eigentlichen Formalunterschied
zwischen totalitären und nicht-totalitären Staaten auf.
Jede Gesetzgebung wird von den Tagesbedürfnissen veran
laßt; ihre Aufgabe ist einerseits die Feststellung des Verhältnis
ses zwischen Regierung und Staatsbürger (in beiden Richtun
gen), andrerseits die Regelung des wechselseitigen sozialen und
ökonomischen Verhaltens der Staatsbürger im Alltagsleben.
Die regulativen Prinzipien haben in einigen Ländern, wie z. B.
eben in Amerika, den ersten Teil dieser Aufgabe unmittelbar
beeinflußt (in Amerika in der »Bill of Rights«3), während der
.zweite Teil der Aufgabe nicht in direktem, sondern nur in indi
rektem Kontakt mit den regulativen Prinzipien steht: die sich
73
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auf den bürgerlichen Alltag beziehende Gesetzgebung spricht
nämlich nirgends die regulativen Prinzipien als solche aus, ist
vielmehr bloß verhalten, sich nirgends offenen Widerspruch
gegen die regulativen Prinzipien zuschulden kommen zu lassen
(worüber in Amerika der Oberste Gerichtshof zu wachen hat);
etwas kraß ausgedrückt ließe sich sagen, daß im bürgerlichen
Alltagsleben die regulativen Prinzipien höchstens ein Objekt
oratorischer Anpreisung sind, aber kein eigentliches Rechtsgut
darstellen. Wer also nicht gegen die jeweils bestehenden Ge
setze verstößt, findet zwischen diesen genügend viele Lücken,
um die regulativen Prinzipien ungestraft mit Wort und Tat zu
verletzen, also - wie es eben in Europa geschehen ist - die bür
gerliche Freiheit mit Hilfe dieser Freiheit zu vernichten.
In Amerika z. B. war die Angst vor der Tyrannis so groß, daß
man die regulativen Prinzipien bloß dort positiv in der Gesetz
gebung verwendet hat, wo die Freiheit der Staatsbürger gegen
über der Regierung geschützt werden sollte (»Bill of Rights«);
hingegen waren die regulativen Prinzipien für das bürgerliche
Alltagsleben einfach selbstevident, ja sie waren die eigentliche
Form des bürgerlichen Alltagslebens, und daher die Demokra
tie selber, und daher hat niemand daran gedacht, daß es ja not
wendig sein könnte, den Staat vor den Bürgern oder die Bürger
vor den Bürgern schützen zu müssen, mit anderen Worten, man
hat sich damit begnügen dürfen, die regulativen Prinzipien als
sozusagen bloß negative Rechts- und Gesetzesquelle zu ver
wenden.
Das Gegenteil findet im totalitären Staate statt. In Rußland ist
die marxistische Theorie ständige Rechtsquelle für beide Ge
biete, und genauso wie hier »unproletarisches Verhalten« unter
Ahndung gestellt ist, genauso verhält es sich in Deutschland mit
jedem »nicht-nationalsozialistischen« Verhalten. Kurzum: im
Gegensatz zur nichttotalitären Gesetzgebung fügt der totalitäre
Staat seine regulativen Prinzipien als geschütztes Rechtsgut un
mittelbar in das Alltagsleben seiner Bürger ein, und zwar [so],
daß jeder Schritt des einzelnen, jede Relation, jedes Rechtsge
schäft, m. a. W. das gesamte Leben hievon durchtränkt wird.
Damit ist die »legale« Vernichtung der regulativen Prinzipien,
wie sie insbesondere in den Demokratien möglich geworden ist,
rigoros aufgehoben.
Rußland hat zur Durchführung dieser Maßnahmen (Rechts
74
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quelle der regulativen Prinzipien) das Einparteiensystem er
funden, das sich nunmehr auch in den übrigen Totalitärstaaten
bewährt. Es ist zweifelsohne das einfachste Mittel, umsomehr
als es von einer eigenen Prätorianergarde getragen wird (Funk
tion der Staatspolizei), doch ist es durchaus nicht ausgeschlos
sen, daß bei anderen regulativen Prinzipien auch andere Mittel
zu deren Durchsetzung gefunden werden könnten. Auch dies
ist eine bloß technische Frage.
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ist, sind von technischen und ökonomischen, immer aber ge
fahrdrohenden Unbegreiflichkeiten erfüllt. Dem Großstadt
menschen sind die Humanitätsprinzipien abhanden gekom
men; allzuviel Inhumanität, allzuviel Ungefestigtheit umgibt
ihn; er ist in ethische Unsicherheit geraten.
In engem Zusammenhang damit steht das technische Problem
der parlamentarischen Demokratie: ein Wähler, der nicht im
stande ist, die Interessen seines Gemeinwesens zu überschauen,
hat keinen echten politischen Willen, aber noch viel weniger
läßt sich ein solcher von einem Menschen erwarten, der sich in
ethischer Unsicherheit befindet; die Demokratie als staatstech
nische Einrichtung hat sich bisher als unfähig erwiesen, das
Problem des politischen Willens innerhalb der neuen sozialen
Körper, insbesondere also innerhalb der Großstadt befriedi
gend zu lösen.
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handenen Willen der Massen, und mußten daher ohne Respons
von diesen bleiben.
Die Diktaturen hingegen haben den eminent psychologischen
Inhalt der Frage erkannt; sie haben erkannt, daß die rationalen
und materialen Lösungen hinter den seelischen zurückstehen
dürfen, daß sie mit Versprechungen (selbst mit unerfüllbaren)
überbrückt werden können, daß aber vor allem die ethische
Unsicherheit der Massen, sollen diese zur Gefolgschaft ge
bracht werden, beseitigt werden müsse, und sie haben daher mit
einer erstaunlichen psychologischen Einfühlungsgabe vor allem
ihren eigenen regulativen Prinzipien zur unbedingt totalitären
Geltung verholten, indem sie sich nicht auf rationale Wahrheit
stützten, sondern mit jedem Mittel, zu dem selbstverständlich
auch das des Terrors gehörte, die panikisierten Massen zu Af
fekthaltungen und damit wieder in Aktion brachten: das Resul
tat war ein Maximum an politischer Wirksamkeit nach innen
wie nach außen.
Daß die Totalitärbestrebungen als erste Versuche zur Behe
bung der Wertzersplitterung aufgefaßt werden können und daß
sie deshalb von den (eben durch die Wertzersplitterung) pani
kisierten Massen als Rettung empfunden und begrüßt werden,
gehört schon ein wenig zur Geschichtsmystik und braucht daher
nicht weiter ausgeführt zu werden.
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sehen Vertrauens, ist bloß dann möglich, wenn sich jede konsti
tutionelle Reform strikt in den Dienst der regulativen
Grundprinzipien der demokratischen Humanität stellt; diese
Grundprinzipien können wohl ausgestaltet werden, müssen
aber als solche unverändert bestehenbleiben, geschweige also,
daß sie durch andere ersetzt werden dürfen.
Es kann werttheoretisch gezeigt werden, daß Demokratie,
eben infolge ihrer regulativen Grundprinzipien, den »offenen
Systemen« zuzuzählen ist und daher auch deren spezifische
»Wertgültigkeit« besitzt. Andere Prinzipien, wie etwa das feu
dale oder aber auch das Marxsche, tendieren zu »geschlosse
nen« politischen Systemen, da ihre Wertnormung nicht nach
funktionalen, sondern nach materialen Gesichtspunkten er
folgt. Hingegen ist Totalitarismus kein unbedingt gültiges Sym
ptom für Systemgeschlossenheit; Marxismus z. B. kann eben
sowohl parlamentarisch wie totalitär repräsentiert werden, und
das nämliche gilt sogar für den Rassismus, denn die Staatsform
als solche ist immer nur technisches Instrument zur Konkreti
sierung der Grundprinzipien, von denen das Gemeinwesen ge
lenkt werden soll und die ihm seinen ihm eigentümlichen
»Geist« verleihen. Und umgekehrt könnte demnach auch ein
»offenes« politisches System, wie es die Demokratie ist, »tota
litär« repräsentiert werden, besonders dann, wenn sich hie
durch staatstechnisch vorteilhaftere und modernere Lösungen
für die Konkretisierung ihrer Prinzipien finden ließen.
Man wird daher nicht umhinkönnen —und vielleicht gehört
sogar ein gewisser Mut hiezu -, die Frage einer »totalen Demo
kratie« anzuschneiden. Die Demokratie ist durch die ökono
misch-soziale und die ethische Unsicherheit ihrer Volksmassen
gefährdet; von dieser Basis aus wurden die europäischen De
mokratien zerstört, und zwar unter formaler Benützung der
bürgerlichen Freiheit, der es konstitutionell gestattet ist, sich
selbst zu zerstören, und zwar durch fortgesetzte - straflose, weil
unstrafbare - Verletzung der demokratischen Grundprinzipien
im öffentlichen wie privaten Alltagsleben. Das europäische
Beispiel zeigt ferner, daß es nichts nützt, gegen diese verschie
denen Übel einzelweise einzuschreiten, sondern daß für sie eine
Gesamtlösung hätte gefunden werden müssen: diese Lösung
wäre wahrscheinlich die »totale Demokratie« gewesen, d. h.
eine Demokratie, welche ihre Grundprinzipien nicht nur als
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Gegenstand oratorischer Anpreisung verwendet, sondern sie
zum lebendigen Rechtsgut des Alltagslebens und aller zwi
schenbürgerlichen Relationen macht. Auf die amerikanische
Legislatur angewandt, würde dies bedeuten, daß diese Verlet
zung der in der Unabhängigkeitserklärung und Konstitution
zum Ausdruck gebrachten demokratischen Grundprinzipien
strafbar gemacht werden würde, und zwar wo immer und wie
immer eine solche Verletzung erfolgte, also besonders auch,
wenn dies in der Relation der Staatsbürger untereinander er
folgte ; beispielsweise würde ein »Gesetz zum Schutze der Men
schenwürde«, wie es bereits in den Untersuchungen zur Reno
vierung des Völkerbundes gefordert wurde, durchaus in den
Rahmen dieser gesetzlichen (und im übrigen noch weitgehend
konstitutionsgerechten) Maßnahmen fallen. Gewiß, es wird
noch viele andere Wege zur Wiederkonsolidierung der Demo
kratie als den ihrer Totalisierung geben - obwohl es vielleicht
gerade dieser sein wird, den die Kriegsverhältnisse diktieren
werden-, aber welcher immer auch beschritten werden möge,
es wird die Demokratie das nämliche psychologische Verständ
nis in der Behandlung der Volksmassen aufbringen müssen, wie
es die jetzt totalitären Staaten mit so großem Vorteil getan ha
ben: in der Seele des Menschen liegt das Gute und das Böse
knapp nebeneinander, und genauso wie sie aus ihrer Panik zu
Sadismus und Aggression geführt werden kann, ebensowohl
kann sie zur Humanität geführt werden. Das Wesentliche bleibt
die Wiedergewinnung der psychischen und physischen Sicher
heit, und darum wird die Demokratie, bei aller Wichtigkeit ih
rer staatsrechtlichen Festigung, sich nach wie vor dringlichst mit
diesen Konkretproblemen zu befassen haben, d. h. nicht nur,
wie bisher, mit den Problemen der Sozialwirtschaft, sondern
nun auch mit denen der Sozial- und Massenpsychologie.
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mentaren Brochs sei hier wiedergegeben: »Roberts, Richard. T h e U n fin ish ed
P ro g ra m m e o f D e m o c ra c y (London: The Swarthmore Press, 1919), 326 S.
Richtige Ansichten, historisch begründet, linksgerichtet, mit religiösem Hin
tergrund. - Kraus, Herbert. G e rm a n y in T ra n sitio n (Chicago: The University
of Chicago Press, 1924), 236 S. Politische Analyse Deutschlands nach Versail
les. - Lindsay, Alexander Dunlop. T h e E ssentials o f D e m o cra c y (Philadelphia:
University of Pennsylvania Press, 1929), 82 S. Historisch-philosophische Stu
die. Ausgangspunkt Cromwell. Anti-irrational. »Democracy implies faith, but
a reasoned faith.« (S. 82). - Holcombe, Arthur Norman. G o v e r n m e n t in a
P lanned D e m o cra c y (New York: W. W. Norton, 1935), 173 S. Technische
Analyse der Demokratie. Sehr gediegen, vorsichtig, nicht konstruktiv. —Tead,
Ordway. The C ase f o r D e m o cra c y a n d its M e a n in g f o r M o d e rn L ife . W ith a
R ea d in g L is t o n D e m o cra c y b y B e n so n Y. L a n d is (New York: Association
Press, 1938), 120 S. »Businessminded«. Sehr gute Reading List! - Tead, Ord
way. N ew A d v e n tu r e s in D em o cra cy. P ractical A p p lic a tio n s o f the D em o cra tic
Idea (New York, London: Whittlesey House, 1939), 229 S. Ausgangspunkt
»Science of Administration«, innerhalb liberal kapitalistischer Ordnung, wel
che im großen und ganzen aufrechterhalten werden soll. (»Fabriken« als de
mokratische Zellen, industriell-demokratische Führerschaft, etc.) - Cole,
George Douglas. E u ro p e , R u ssia a n d the F uture (London: V. Gollancz, 1941),
186 S. Sozialistisch-gemäßigte Betrachtungen zu den Friedensproblemen. -
Lerner, Max. Id ea s f o r the Ice A g e . S tu d ies in a R e v o lu tio n a ry E ra (New York:
The Viking Press, 1941), 432 S. Gesammelte Aufsätze. - Weinstein, Jerome:
»Pay for Your Own Inflation«, in: T h e N a tio n , 157/8 (21. August 1943), S.
202-204. Schlägt flexible Warenumsatzsteuer vor, welche die steigenden
Preise direkt dem Staat zufließen läßt.«
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The City of Man
Ein M anifest über W elt-D em okratie
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Reformvorschläge nach gründlicherer Untersuchung einer ent
sprechenden Anpassung oder Revidierung bedürfen mögen.
Nichtsdestoweniger können die Hauptrichtlinien wie folgt an
gedeutet werden:
Projekte für ein politisches oder ethisches Eingreifen in den
Wirtschaftsablauf müssen unweigerlich utopisch bleiben, so
lange sie nicht im Einklang mit den Interessen von Gruppen
stehen, die mächtig genug sind, deren theoretische Grundlagen
durchzusetzen. Insoweit ist also der materialistische Gesichts
punkt von unabweisbarer Gültigkeit. Aber über diese ur
sprüngliche Übereinstimmung hinaus gelangen diese Grundla
gen und deren leitende Prinzipien zu einer wesentlich größeren
Stärke als jene von bloßen Aushängeschildern materieller In
teressen, im Augenblick da die ihnen innewohnende Eigendy
namik selbsttätig zu wirken beginnt. So hätte der Marxismus
wohl kaum die Massen derart ergreifen können, wenn dessen
wirtschaftliche Motivierungen nicht gleichzeitig auch vom Ein
satzwillen für Gerechtigkeit getragen worden wären. Gleicher
weise wären die Kriege Washingtons und Lincolns sicherlich
schon in ihren Anfängen in Niederlagen zusammengebrochen,
wenn es Washington beispielsweise in erster Linie nur um die
Abschaffung der Teesteuer zu tun gewesen wäre, oder wenn
Lincoln seine Schlachten bloß als Condottiere der neuengli
schen Industrien geführt hätte. Das aber heißt nichts anderes,
als daß wirtschaftliche Reformen auf der doppelten Grundlage
einer praktischen Notwendigkeit und einer moralischen oder
religiösen Zielsetzung fußen müssen. Wahre Realpolitik ist an
gewandte Ethik.
Ein Rückfall in das Sklaventum - und zwar ein Sklaventum
moderner Fassung, von einer Kompromißlosigkeit und Aus
schließlichkeit, wie es die Geschichte noch niemals gekannt hat
- kennzeichnet unsere Zeittendenz. Die Wurzeln dieses Übels
sind sowohl ethischer wie ökonomischer Art, und daher müssen
die Mittel zu dessen Behebung dies ebenso sein. Vom wirt
schaftlichen Standpunkt aus gesehen, wird der Arbeiter vom
totalitären Staat für ein Minimum an Unterhalt und Sicherheit
erkauft, wogegen er den Verlust von allem anderen, vor allem
jenen seiner Freiheit erleidet. Berufswahl, das Recht auf
Wechsel des Arbeitsplatzes, das Recht auf unvoreingenom
mene Rechtsprechung, sie alle sind abgeschafft, und allein der
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Arbeitgeber ist es, der über die Zuweisung der Arbeit entschei
det, der die Arbeitsdauer bestimmt, dem die »Rechtsprechung«
obliegt und der befugt ist, Strafen zu verhängen. Dieser Arbeit
geber aber ist letztlich niemand anderer als der Staat selber.
Zwar gewährt dieser Totalitärstaat - in seiner fascistischen und
nazistischen Form, und vielleicht auch schon wieder im totalitä
ren Kommunismus, wenngleich durch getarnte Methoden - ge
wissen privilegierten Gruppen nicht unbeträchtliche Gewinn
chancen, sozusagen als Bindeglied zwischen Vergangenheit und
Zukunft, oder aber als Trennungszeichen zwischen der neuen
Autokratie und der Masse des Volkes. Aber derartige Zuge
ständnisse sind jederzeit widerrufbar, und Privatbesitz ist nichts
als nackter Trug ebenso wie freie Wirtschaft nichts mehr als
eine bloße Erinnerung darstellt. Weder in den oberen, noch in
den unteren Gesellschaftsschichten gibt es noch Raum für den
»gesichtslosen Unbekannten«, denn Staat und Polizei führen
genau Buch über jeden und jedermann. Diese Wirtschaft der
Knechtschaft und der Vergeudung, die zwingend in Rüstungs
industrie und im Krieg als Beutezug gipfelt, führt durchaus
fälschlicherweise den Namen »Planwirtschaft«.
Dahingegen muß jene Planwirtschaft, die wahrhaft einer de
mokratischen Ideologie entspricht, völlig anders beschaffen
sein: hier hat das Idealziel darin zu bestehen, daß Nahrung und
Unterkunft jedermann so freizügig zur Verfügung stehe, wie
dies für Wasser, für die Benützung des Straßennetzes und für
eine Reihe anderer öffentlicher Dienste in manchen Ländern
fortgeschrittener Zivilisation schon der Fall ist. Realistischer
formuliert besteht das Problem darin, jedermann einen Min
destunterhalt zuzusichern ohne dafür einen durch Schnellge
richte erzwungenen Frondienst abzufordern, gleichzeitig aber
die Sozialdienste so zu bemessen, daß die Sicherheit wohlver
dienter Versorgtheit nicht in nörgelnde Müßiggängerei einer
parasitären Wohlfahrt entarte. Wenn es daher zur Errichtung
einer entsprechend neubelebten Demokratie auf dem verfas
sungsmäßigen Gebiet notwendig scheint, die »Bill of Rights«
(also das Staatsgrundgesetz) an eine »Bill of Duties« (also ein
Grundgesetz ziviler Pflichten) einschränkend zu binden, so
muß gleichzeitig und erweiternd das Grundgesetz über poli
tische Rechte auch dementsprechend durch ein solches über
wirtschaftliche Rechte (»Bill of Economic Rights«) ergänzt
83
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werden. Zielstrebungen dieser Art sind entlang einer flexiblen
Linie von Kompromissen zu verfolgen, dies umsomehr als das
Kompromiß - und es muß sich dabei durchaus nicht um ein sol
ches übler Natur handeln - dem eigentlichen Wesen der Demo
kratie naturgemäß entspricht. Wenig Sinn hätte es dabei, ledig
lich den Kapitalismus leidenschaftlich - wenngleich nur
rhetorisch - als den einzig Schuldtragenden zu bezichtigen, in
dem man etwa den altmodischen Schlachtruf »Eigentum ist
Diebstahl« neu aufgreift, denn der Kapitalismus, als Ergebnis
einer langen, mühsamen und verantwortungsvollen geschicht
lichen Entwicklung, läßt sich nicht einfach durch Schlagworte
und Plakate auslöschen. Und ebensowenig Sinn hat es, den
Sozialismus mit einer Art Kirchenbann belegen zu wollen, denn
der Sozialismus - oder welchen Namen auch immer man einer
Staatsform geben mag, die einen kollektivistischen oder demo
kratisch-sozialen Charakter trägt - ist zu einem bleibenden
Merkmal unserer Zeit geworden, gleichgültig ob uns dies ge
nehm sei oder nicht.
In der Tat, es sind dies die beiden janusartig sich gegenseitig
bedingenden Aspekte der Demokratie. Denn einesteils sieht
die Demokratie, im Rahmen ihres sie beseelenden Freiheits-
prinzipes, im Kapitalismus eine sozusagen natürliche, wenn
auch nicht vorbehaltlos notwendige Wirtschaftsform, während
sie andernteils im Rahmen des ihr gleicherweise immanenten
Gerechtigkeitsprinzips sich eher einem Kollektivismus zuneigt,
der ihr zwar weniger naturgegeben, jedoch ethisch unerläßlich
scheint. Ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Prinzipien
konnte solange aufrechterhalten werden, als sich Profitwirt
schaft mit den Erfordernissen einer auf Verbrauch abgestellten
Wirtschaft deckte, doch wurde dieses Gleichgewicht in dem
Augenblick aufgehoben, da diese beiden Wirtschaftssysteme
sich nicht mehr ergänzten. Dies war teilweise die Folge des mo
ralischen Zerfalls, der sowohl in den beiden Sphären der Pro
duktion und des Konsums, als auch in jenen beiden der Arbei
terschaft und des Arbeitgebertums eingesetzt hatte, hauptsäch
lich aber und in einer Wirkungskette von streng wirtschaftli
chen Faktoren, war es die blinde Folge der gleichzeitigen
Unreife und Auswucherung des Maschinenzeitalters, das oft
unnützerweise eine an und für sich verwerfliche Massenpro
duktion an Stelle eigenständiger Handwerksarbeit gesetzt
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hatte. Die Leistung des Arbeiters wurde derart zu einem ent-
geistigten Frondienst herabgewürdigt, und der Arbeitseinsatz
des die Maschine bedienenden Menschen wurde dem automa
tisierenden Rhythmus der Maschine untergeordnet. Dies, zu
sammen mit zwangsbegleitenden Umständen und vor allem
unter der Einwirkung der plötzlichen Verlagerung der Welt
produktion und der Weltmärkte, hat gleichzeitig sinkende Ge
winne und eine steigende Arbeitslosigkeit mit sich gebracht, so
daß das Kapital wie auch die Arbeiterschaft sich mit einem
Male der Panik eines drohenden Gesamtzusammenbruchs aus
gesetzt sahen. Krise folgte auf Krise in immer kürzer werden
den Pausen, bis diese schließlich in einer einzigen Krise, diese
aber von Weltweite und chronischer Dauer, einmündeten.
Und doch können und müssen die Erschütterungen dieser
größten aller technologischen Revolutionen - ebenso wie jene
der früheren Zeitalter der Metallurgie und der Eröffnung des
Welthandels, deren schreckhafte zeitgenössische Auswirkun
gen uns in deren düsteren Mythen überliefert sind - als der noch
verschattete Tagesanbruch einer neuen und besseren Epoche
angesehen werden. Denn wenn auch die Maschine, des Men
schen Geschöpf, eine ihr eigene Übermacht entwickelt zu ha
ben scheint, so ist doch im menschlichen Geiste die ahnende
Überzeugung verwurzelt, daß es ihm gelingen kann und wird,
diesen Homunkulus aufs Neue zu zähmen. Ein weiterer Fort
schritt in der technischen Erfindungsgabe und eine Neufassung
der menschlichen Zielsetzungen müßte es möglich machen
können, die intensive Wirtschaft, die heute in der ganzen Welt
am Versagen ist, weitgehend durch eine Extensivwirtschaft zu
ersetzen. Sicher scheint es vorderhand nicht möglich, die
Früchte der heutigen Technik voll zu ernten, ohne die großen
Städte erstmals neu aufzubauen, aber schon jetzt eröffnen sich
allenthalben Möglichkeiten, Heimindustrien und individuali
siertes Handwerk in kleinem und kleinstem Ausmaße durch
autonom mobilisierte Kräfte neu anzuregen und zu unterstüt
zen. Die allerorts auftretenden zentrifugalen Strömungen her
aus aus den großen städtischen Ballungen sind zweifelsohne als
ein Vorzeichen zukünftiger Tendenzen zu werten, während
eine im Zeichen der Verbrauchsbedürfnisse statt in jenem des
rein finanziellen Profits stehende Produktion allenthalben
schon mannigfache Beispiele in öffentlichen Unternehmen und
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in den sozialen Diensten und der Forschung gewidmeten Insti
tutionen aufzuweisen hat, sie allesamt auf eine Gesellschafts
ordnung der Zukunft hinweisend, die nicht mehr ausschließlich
auf geldliche Werte ausgerichtet sein wird. Derartige Vorzei
chen und Tendenzen müssen voll ausgenützt und weiter ange
regt werden; so haben beispielsweise Bewegungen zur Bildung
von Konsumgenossenschaften im Skandinavien der Vor-
Nazi-Zeit und im vor-fascistischen Italien alle Merkmale einer
weltweiten Anwendungsmöglichkeit getragen und drängen sich
daher auf, heute als Brücken zwischen einer Produktions- und
Konsumwirtschaft neu belebt und allgemein nachgeahmt zu
werden. Was immer für spezifische Projekte aber auch von
Wirtschaftlern und Soziologen in Antwort auf die konkreten
Bedürfnisse einer in Umwälzung befindlichen Welt geplant
werden mögen, sie müssen alle von einem einigenden Grund
gedanken getragen sein: die fascistisch totalitäre Staatsform,
den Krankheitskeimen einer siechenden Demokratie entspros
sen, hat die beiden dem demokratischen Geiste innewohnen
den widersprüchlichen Tendenzen - das zum Kapitalismus
drängende Freiheitsprinzip und das den Kollektivismus erfor
dernde Gerechtigkeitsprinzip —zu einem einzigen Ring zusam
mengeschmiedet, zum Würgering des Nationalsozialismus. Es
ist dieser verhängnisvolle Kreis, gebildet vom Kapitalismus und
vom Kommunismus als feindliche Brüder oder als verbündete
Komplizen, der gebrochen werden muß, damit die beiden se
gensbringenden Komponenten der Demokratie - freie Wirt
schaft und wirtschaftliche Gerechtigkeit - in eine einzige, eini
gende und sich gegenseitig ergänzende Wesenheit für ein
Zeitalter schöpferischer Blüte zusammengefaßt werden mögen,
ein Zeitalter, in welchem weder die Rechte des Individuums in
Anarchie ausarten, noch seine Pflichten in Sklaventum erstik-
ken werden.
Dabei ist weitgehend auf jene durchaus geniale Anpassungs
fähigkeit zurückzugreifen, die die Englisch sprechenden Natio
nen immer wieder in der auswählend neuerungsbereiten Be
wältigung sozialer Probleme bewiesen haben, eine natürliche
und bisher nicht erlahmende Begabung, inmitten der stürmi
schen Wogen des historischen Ablaufs trotz allem feste Funda
mente für die Zukunft zu errichten. Von allen Versuchen, der
Demokratie eine neue wirtschaftliche Formulierung zu geben,
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war zweifellos der »New Deal« der bedeutsamste. Seine Fehl
schläge, wie z. B. die NIRA4, sind in der Hauptsache einem
vornehmlich empirischen Vorgehen zuzuschreiben, das nur un
zureichend durch eine entsprechende ideologische Basis ge
lenkt war. Seine Leistungen hingegen, unter anderem die
Schöpfung der TVA5, der NYA6 und anderer mehr, haben so
wohl die Nörgelei der Linken, die sie als Schachzüge eines nach
wie vor unbesiegten Kapitalismus verdächtigt, als auch die An
griffe der Rechten, die sie als dünn verkappten Kommunismus
anprangert, überlebt. Wichtiger aber als deren spezifische Ver
dienste und Schwächen ist der immanente Wert eines Sozialex
perimentes, das innerhalb des gelockerten Gewebes der freien
Wirtschaft den Keim für eine geplante Wirtschaftspolitik ein
zuführen wußte, ein Experiment also, das derart, ungeachtet
seines Schicksals in der absehbaren Zukunft, ein richtungge
bender Wegweiser für eine Epoche revolutionären Wachstums
bleiben wird. Denn es ist Evolution und nicht Revolution, die
Hoffnung und Ziel der schöpferischen Demokratie darzustellen
hat.7
(Aus dem Englischen übersetzt von
H. F. Broch de Rothermann.)
1 Broch gehörte seit 1939 einer Gruppe von amerikanischen und emigrierten
europäischen Intellektuellen an, die sich um eine Intensivierung des demokra
tischen Lebens bemühte und sich für die Propagierung der demokratischen
Staatsform einsetzte. Diesem Kreis gehörten an: Herbert Agar, Frank Ayde-
lotte, Guiseppe Antonio Borgese, Hermann Broch, Van Wyck Brooks, Ada
L. Comstock, William Yandell Elliott, Dorothy Canfield Fisher, Christian
Gauss, Oscar Jäszi, Alvin Johnson, Hans Kohn, Thomas Mann, Lewis Mum-
ford, William Allan Neilson, Reinhold Niebuhr und Gaetano Salvemini. Sie
zeichneten als Autoren des Buches T h e C ity o f M a n . A D eclaration on W orld
D e m o c ra c y (New York: Viking Press, 1940). Das Buch besteht im ersten Teil
aus der »Declaration« (S. 11-73). Sie wurde von allen Autoren gemeinsam er
arbeitet und am 31. Oktober 1940 endgültig formuliert. Beim zweiten Teil
handelt es sich um den »Proposal« (S. 76-96), der wiederum in vier Abschnitte
unterteilt ist. Der erste behandelt den politischen, der zweite den religiös-welt
anschaulichen, der dritte den volkswirtschaftlichen und der vierte den juristi
schen Aspekt einer Welt-Demokratie. Broch übernahm die Ausarbeitung des
dritten »Proposal«, der hier in der deutschen Übersetzung wiedergegeben ist.
Das Buch endet mit einer »Note« (S. 97-113), die die Entstehungsgeschichte
der Studie referiert.
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Der hier abgedruckte »Proposal 3« beginnt mit einem Einleitungsabschnitt,
der die Verbindung zum vorausgehenden Kapitel herstellen soll, in dem es um
religiöse Fragen ging. Dieser Übergangsabschnitt ist wohl vom Redaktions
komitee der Herausgeber eingefügt worden und stammt offensichtlich nicht
von Broch. Der Vollständigkeit halber sei er hier abgedruckt: »The third issue
points to the need of a profound economic reform outlining in detail the law
of the common wealth, the era of distributive justice. For there cannot be any
birth or rebirth of freedom under God unless it be a God of justice, manifest
in breath and bread, beyond and above the vicious era which saw monopolistic
capitalism and materialistic communism concurrently lift to the dignity of su-
preme virtues the three Capital sins of greed, pride, and envy. Therefore the
Declaration of Independence shall be upheld not only in so far as it States each
man’s inalienable rights to life and liberty and the pursuit of happiness, but in
the final oath as well, which consecrates to a common duty beyond each indivi-
dual’s rights »our lives, our furtunes« and pledges to this duty »our sacred ho-
nor«. (S. 85-86).
2 Thorstein Veblen (1857-1929), amerikanischer Nationalökonom und Sozio
loge. Vgl. T he T h e o ry o fth e L eisu re Class. A n E c o n o m ic S tu d y in the E v o lu tio n
o f In stitu tio n s (1899). Veblen erwartete, daß die neue Technologie der Indu
strie neue Sozialverhältnisse schaffe und begründete eine kulturgeschichtliche
Entwicklungstheorie, die besonders durch ihre sozialkritische Analyse der
Oberklasse Verbreitung fand. Veblen war Mitbegründer der »New School«.
3 Henry George (1839-1897), amerikanischer Volkswirtschaftler. Vgl. P rogress
a n d P overty. A n In q u iry into the C ause o f In d u stria l D ep ressio n s a n d o f Increase
o f W ant with Increase o f W ealth. T h e R e m e d y (1879). George sah die Hauptur
sache der sozialen Not im Privateigentum an Grund und Boden. Er forderte
die Aufhebung des privaten Bodeneigentums oder die Konfiskation der
Grundrente durch eine Steuer.
4 National Industrial Recovery Act vom 16. 6. 1933, Teil des New-Deal-Pro-
gramms.
5 Tennessee Valley Authority vom 18. 5. 1933, Teil des New-Deal-Programms:
Entwicklungsprojekt für das sieben Staaten umfassende Stromgebiet des Ten
nessee.
6 National Youth Administration vom 26. 6. 1935, Teil des New-Deal-Pro
gramms, begründet zur Arbeitsbeschaffung.
7 Der hier abgedruckte »Proposal« aus der C ity o f M a n wurde von Broch nach
der gemeinsamen Diskussion mit den übrigen Team-Mitgliedern verfaßt.
Brochs Originalbeitrag, der als Diskussionsgrundlage des »Proposals« benutzt
wurde, und den Broch im Oktober 1940 an Guiseppe Antonio Borgese - dem
Spiritus rector des >City-of-Man<-Unternehmens - schickte, liegt im DLA vor.
Es handelt sich um ein titelloses, zweiseitiges, einzeilig geschriebenes Typo
skript. Es wird hier vollständig abgedruckt:
»Auf ökonomischem Gebiet neigt Demokratie infolge ihres Freiheitsprinzipes
zum Kapitalismus, infolge ihres Gerechtigkeitsprinzipes zum Sozialismus. Sie
konnte solange klaglos funktionieren, solange zwischen den beiden Prinzipien
Gleichgewicht herrschte, d. h. solange dasselbe nicht von der ökonomischen
Seite her gestört wurde. Die Störung erfolgte, als der Kapitalismus durch die
Umschichtung der Weltproduktion sowie durch die technische Entwicklung
gezwungen wurde, von extensiver auf intensive Wirtschaft überzugehen; Pro
fitschwund trat ein, die erzeugten Güter konnten nicht mehr zu Selbstkosten,
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geschweige denn mit Profit verkauft werden, der Arbeitgeber sah sich vor den
Ruin, der Arbeitnehmer vor Beschäftigungslosigkeit gestellt, die »Krisen«
häuften sich, sie wurden zum Dauerzustand, und die Demokratie, viel zu kom
pliziert hiezu und selber zu wirtschaftsabhängig, vermochte ihrer nicht Herr zu
werden. Aus dem Boden dieser allgemeinen und bis zur Panik gesteigerten
Unsicherheit erblühten die Diktaturen.
Kapitalismus und Sozialismus bedingen sich gegenseitig; sie sind miteinander
gewachsen und erstarkt, und sie sind heute miteinander geschwächt, zu Unsi
cherheit gesunken, ja beinahe hilflos geworden, ökonomisch gesehen, ist es
hiebei nahezu gleichgültig, welcher der beiden Partner jeweils die Oberhand
gewinnt. Denn ob auf der einen Seite die Heilung aller Weltschäden von einer
revolutionären Sozialisierung der Wirtschaft erwartet wird, oder auf der an
dern verlangt wird, daß dieselbe ungeachtet aller zutage getretenen Mängel in
ihrer jetzigen kapitalistischen Form unangetastet bleiben möge, damit sie - und
wenn es nicht anders geht, so unter Akzeptierung fascistischer Hilfe - zu einer
sozusagen »natürlichen« Selbstheilung gelange, der Endeffekt ist für beide
Richtungen, obwohl für beide zumeist unerwünscht, der nämliche: sie führen
beide zur Diktatur und zu einer Wirtschaftsform, der man zwar den Charakter
der Planung nicht absprechen kann, und die man trotzdem kaum Planwirtschaft
nennen darf.
Die fascistische Ökonomie hält das Profit-Prinzip aufrecht, die kommunisti
sche schaltet es aus; beiden gemeinsam ist die »geplante Produktion«. Doch
was bedeutet diese? Ist sie tatsächlich »geplanter Wohlstand«? Nein, das Ge
genteil ist der Fall, sie sind beide ausgesprochene »Notwirtschaften« oder rich
tiger »Zuteilungs-Wirtschaften«, d. h. solche, deren geplante Güterverteilung
zwar die unbedingtesten Lebenserfordernisse deckt, darüber hinaus jedoch
unter dem Zeichen der »Verarmung« steht, teils einer Verarmung durch Min
derproduktion wie heute noch in Rußland, teils einer solchen durch »Falsch
produktion«, wie sie sich überall ergeben muß, wo nicht Wohlstand, sondern
Kriegsmaterial erzeugt wird. Es ist der Schluß erlaubt, daß diese Gesamtver
elendung geradezu eine unumgängliche Voraussetzung für diese Art von »Pla
nung« darstellt und daß beim heutigen Stand der ökonomischen Verteilungs
technik überhaupt keine andere möglich ist.
Die soziale Folge solcher Notwirtschaft muß Sklaverei sein und ist Sklaverei.
Sowohl Fascismus wie Kommunismus, in auffallender Übereinstimmung, stre
ben zu Arbeitsverhältnissen, welche alle Zeichen einer Massenversklavung
tragen, nämlich Aufhebung der Freizügigkeit, Aufhebung der freien Arbeits
wahl und schließlich Unterstellung unter das Strafrecht des Arbeitgebers, der
nunmehr (wenn auch im fascistischen System unter Einschaltung von Zwi
schengliedern) im totalitären Staat verkörpert wird. Entgegen jeder soziali
stischen Theorie ist ein neues Proletariat im Bilden begriffen, ein Unter-Prole
tariat von Staatssklaven, die für die Preisgabe ihrer Menschenrechte und
Menschenwürde nichts erhalten als ein gewisses, sehr geringes Minimum an
Existenzsicherheit.
Will die Demokratie weiter bestehen, will sie auch weiterhin des Menschen
Würde und des Menschen Rechte schützen, kurzum will sie auch weiterhin
ethische Politik betreiben, so muß sie auf ökonomischem Gebiet den unheil
vollen Zirkel Kapitalismus-Kommunismus durchbrechen; sie darf nie und nir
gends den Weg der Versklavung gehen, und sie muß daher auch ökonomisch
den »dritten Weg« suchen. Freilich, mit ethischen Prinzipien, Überzeugungen
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und Aufrufen allein wäre noch nichts getan, denn politische Eingriffe ins Wirt
schaftsleben müssen, soferne sie nicht bloße Utopie sein wollen, selber »wirt
schaftsmöglich« sein, d. h. sie müssen mit den ökonomischen Interessen einer
Gruppe zusammenfallen, welche ihrerseits genügend Macht besitzt, um diese
Prinzipien durchzusetzen. Gewiß, die Eigenkraft der unveräußerlichen und
ewigen Grundprinzipien menschlicher Ethik brechen immer wieder durch,
wenn das Getriebe des Alltags und des Eigennutzes zu unerträglichen Situatio
nen geführt hat, Gerechtigkeit und Humanität haben sich noch immer als Mo-
ventien des eigentlichen Geschichtsfortschrittes erwiesen, und die Aufhebung
der Sklaverei in den verschiedenen Ländern, nicht zuletzt in Amerika, ist wohl
das schlagendste Beispiel hiefür, doch solch revolutionäres Wirken wäre nie
mals möglich gewesen, hätte es sich nicht jeweils auf echten und neuen Reali
tätserkenntnissen gründen können; am Anfang eines jeden ethischen Fort
schrittes steht eine neue Realitätswahrheit. Und eben deshalb muß die
Demokratie nach einer neuen Realitätserkenntnis innerhalb der Wirtschaft
verlangen, auf daß auch hier wieder der »Anwendungsraum« für ethische Prin
zipien geschaffen werde.
Der ethische Ausgleich zwischen Pflicht und Freiheit ist die erste und wesent
lichste Aufgabe einer auf Treu und Glauben begründeten Demokratie, sie ist
auch ihre wirtschaftliche Aufgabe, u.z. als Einschränkung der wirtschaftlichen
Handlungsfreiheit zugunsten der des Ganzen, denn gerecht verteilte Existenz
sicherheit - dieses stärkste Lockungsmittel der Diktaturen - gehört zu den
ethischen Wirtschaftspflichten, und jede Sicherheit erfordert einen gewissen
Freiheitsverlust als Kaufpreis; doch damit die Sklavereilösung der Diktaturen
samt ihrer Zerschlagung und Verelendung der Wirtschaft vermieden werde,
und mehr noch, damit die jahrhundertelange, jetzt unterbrochene Wirtschafts
stetigkeit wieder aufgenommen werden könne, ist eine umfassende Krisen
theorie vonnöten, welche über die bisherigen kapitalistischen und marxisti
schen Anschauungen hinausführt, um solcherart zur Theorie einer tunlichst
krisenbefreiten Wirtschaft zu werden, welche nicht nur Existenzsicherheit,
sondern sogar Wohlstand für alle zu verbürgen imstande wäre. Die Schwächen
des Kapitalismus zeigen den theoretischen, die Schwächen der kapitalistischen
Gruppen aber den praktischen Ansatzpunkt zur positiven Überwindung des
mangelhaft gewordenen Systems.
Die Aufgabe der Demokratie innerhalb der zu erstrebenden krisenbefreiten
Wirtschaft lautet: Aufstellung und Durchführung einer »Economic Bill of
Rights« für den Menschen.«
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Nationalökonomische Beiträge
zur C i t y o f M a n (1940)1
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Armen? Ist sie wirklich so sehr kapitalistisch verblendet, daß sie
weder den sehr weitgehenden theoretischen Richtigkeitsgehalt
der Marxschen Volkswirtschaftslehre noch den ihr innewoh
nenden moralischen Gerechtigkeitsanspruch anzuerkennen
vermag? Nun, diese primitive Identifikation von Demokratie
und Kapitalismus ist einfach falsch; es läßt sich ebenso primitiv
darauf antworten, daß der Kapitalist, wenn es darauf ankommt,
den Fascismus zu Hilfe ruft, der echte Demokrat dies aber nie
mals tun wird, selbst auf die Gefahr hin, hiedurch ins soziali-
stisch-fascistische Kreuzfeuer zu geraten. Und dieses Kreuz
feuer ist wörtlich zu nehmen, denn sowohl bei einem
fascistischen wie bei einem radikal sozialistischen Sieg wird das
Exekutionspeloton für die Verteidiger der Demokratie bereit
stehen.
Nein, der echte Demokrat kämpft nicht für einen bestimmten
Typus der Ökonomie, er kämpft einfach für die Humanitäts
prinzipien der Demokratie, und er bekämpft mit äußerster In
tensität die Gefahr der Menschheitsversklavung und eines Ter
rors, der bereits allenthalben im Kommunismus wie im
Fascismus zur Wirklichkeit geworden ist. Er kämpft wahrhaft
für die bedrohte Freiheit und Würde des Menschen. Denn er
fühlt - zumeist unbewußt, selten bewußt -, daß Freiheit bloß
im offenen System der Demokratie, niemals jedoch in einem
geschlossenen nach der Art des Marxismus oder des Fascismus
dauernd realisiert werden kann.
Für den Sozialisten, insbesondere in seiner kommunistischen
Ausprägung (und ebenso für den Fascisten) ist aber just diese
demokratische Freiheit eben nichts als pure Heuchelei, ein Lu
xusgut für den Besitzenden, ein nutzloses Dekorationsstück für
den Besitzlosen, da dieser in Wahrheit unter sozialer und
ökonomischer Unfreiheit leidet, ja, nicht einmal daran leidet,
sondern bloß den Hunger seines Magens spürt: der Kohlengrä
ber wird seine sogenannten bürgerlichen Freiheiten sehr gern
für ein tägliches Butterbrot verkaufen, besonders gern, wenn
ihm zugesichert wird, daß in Hinkunft auch die bisher Bevor
zugten gleich ihm versklavt werden würden. Denn der Mensch
braucht ökonomische Sicherheit und er braucht Affektbefrie
digung, aber er braucht keine Freiheit; über Freiheit wird ein
stens einmal gesprochen werden können, wenn die klassenlose
[Gesellschaft] eingerichtet und jeder Magen gefüllt sein wird.
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Der materialistische Geschichtsdeterminismus mit seinem An
spruch auf unfehlbare Absolutgeltung erlaubt keinerlei Senti
mentalitäten; die innere Logik der ökonomischen Abläufe be
stimmt alles Geschehen, und der Mensch in seiner Passivität, in
seiner Gleichgültigkeit und Kurzsichtigkeit (die ihn zum
stumpfen Herden[tier] werden läßt), beweist stets aufs neue,
daß er lediglich Objekt, niemals Subjekt des historischen Ge
schehens ist. Das proletarische Denken und damit auch die
proletarische Politik betrachten sich selber als Teil des ökono
mischen Weltgeschehens, und da sie dieses in seiner ganzen
Brutalität sehen, sind sie gleichfalls ungeschminkt brutal: aus
schließlich mit nackten Realitätstatsachen wird gerechnet, und
aus dieser Konkretheit, nicht aus Menschenverachtung (wie
z. B. in der Ideologie des Fascismus) resultiert der uneinge
schränkte Machiavellismus, der den radikalen Sozialismus so
wohl im politischen wie im geistigen Bereich auszeichnet. Die
ser harte Machiavellismus wird folgerichtigerweise auch nicht
davor zurückscheuen, heute die Demokratie als antikapitalisti
schen oder zumindest akapitalistischen Bundesgenossen anzu
erkennen (wie dies zur Zeit des front populaire der Fall gewe
sen ist), auf daß gemeinsam die demokratische Freiheit
verteidigt werde, um bereits morgen, ändern sich die Macht
verhältnisse, den Bundesgenossen als kapitalistisch verseucht
zu denunzieren und die Volksmassen, für die ein noch so ab
ruptes Umschwenken des Propagandaapparates kaum be
merkbar ist, zum Kampf gegen die verrottete bürgerliche Frei
heit aufzufordern. Ein unbedingter Angriffswille steckt in
dieser Realpolitik, wie sie da vom Radikalsozialismus, aber
auch vom Fascismus getrieben wird, ein Angriffswille, der sich
unbarmherzig gegen jegliche Schwäche, gegen jegliche Zwei
deutigkeit, gegen jegliche Unentschlossenheit richtet - und die
Demokratie besitzt von alldem gerade genug - und von v o rn
herein jegliche Verständigung mit dem Gegner, auch wenn es
nur ein vermeintlicher ist, als unkonkretes leeres Gerede ver
achtungsvoll verschmäht, geschweige denn, daß solche Ver
ständigung im Rahmen »demokratischer Gesinnung«, die
gleichfalls ein weitgehend leeres Wort ist, gesucht werden
könnte. Die Freiheit verblaßt davor zu einem unkonkreten Ge
bilde, umrankt von den oratorischen Unternehmungen eines
monologisierenden Liberalismus. Und mag es noch so sehr der
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innersten Überzeugung des echten Demokraten entsprechen,
daß jede Schmälerung der menschlichen Freiheit und der
menschlichen Würde als ein Schritt zum Menschheitsunheil
aufzufassen ist, daß also auch die spärlichen Anteile an der bür
gerlichen Freiheit, die dem Pennsylvania-Bergmann oder dem
Negro der Südstaaten zugemessen sind, als entwicklungsfähige
Keime erhalten und gepflegt werden müssen, so wird dies unter
dem unbarmherzig konkreten Aspekt zu bloßer Freiheitsmystik
degradiert, zu Luftblasen eines »bourgeoisen Denkens«, das be
wußt oder unbewußt die Geschäfte des Kapitalismus besorgt.
Wo aber bleibt bei alldem die ökonomische Auseinanderset
zung? Nicht ein einziges ökonomisches Argument wurde vor
gebracht, und dies ist kein willkürliches Arrangement, sondern
entspricht einer wirklichen Sachlage: man betrachte irgendeine
Periode der sozialistischen Literatur, etwa die der letzten De
zennien, und man wird, vielleicht mit einigem Erstaunen, fest
stellen können, daß beinah die gesamte hier geleistete Arbeit
sich auf die politischen Auswirkungen der Ökonomie bezieht
und daß fast nichts für ihr eigentliches sachliches Gebiet übrig
bleibt. Und so konkret, ja, brutal konkret sich die politischen
Überlegungen immer wieder erweisen, es erwecken die rein
ökonomischen Auseinandersetzungen, soweit sie sich nicht kri
tisch mit den kapitalistischen Schäden beschäftigen, immer
wieder den Eindruck einer ausgesprochenen Vagheit, unbe
schadet der Richtigkeit des Marxschen Ausgangspunktes. Dies
sind Feststellungen, die für den Sozialismus zweifelsohne unter
die Rubrik »bourgeoises Denken« fallen, aber man muß, wenn
es not tut, eben auch manchmal den Mut aufbringen, den Vor
wurf eines »bourgeoisen Denkens« auf sich zu nehmen.
Betrachtet man nämlich die ökonomische Seite der anfangs
gestellten Frage nach den Gründen, durch welche sich die De
mokratie abhalten läßt, den Sozialismus - für den sie im Grunde
doch so viel Neigung haben sollte - von vorneherein zu akzep
tieren, so muß die Frage präzisiert und erweitert werden: Was
eigentlich soll sie akzeptieren? Hier darf die Demokratie die
Forderung nach schärferer Konkretheit erheben, denn das
Wort Sozialismus ist an sich leer, und selbst wenn man sich -
berechtigterweise - darüber einigen wollte, daß damit »profit
lose Planwirtschaft« gemeint werden soll, so ist auch diese inso-
lange ein leeres Wort, insolange sie nicht durch konkrete, zah
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lenmäßig gestützte, detaillierte Wirtschaftspläne exemplifiziert
wird. Wo sind diese Pläne? Warum z. B. hat noch keine der
amerikanischen sozialistischen Parteien einen solchen ausgear
beitet und dem Kongreß vorgelegt? Hätte der kommunistische
Präsidentschaftskandidat auf die Existenz eines solchen Planes
hingewiesen, hätte er gezeigt, wie ein solcher Plan wachsenden
Wohlstand und wachsende Freiheit für jeden Staatsbürger zu
verlässig gewährleistet, er hätte hiedurch einen Stimmenzu
wachs erzielt, wie er durch keine noch so begründete Empörung
über die politischen Sünden Wall Streets je zu erzielen war oder
je zu erzielen sein wird. Warum ist dergleichen noch niemals
geschehen, weder in Amerika noch in sonst irgendeinem demo
kratischen Land? Die Antwort, die der Sozialismus darauf er
teilt, ist verhältnismäßig einfach, sogar übereinfach: zwecklos
wäre es, mit einem solchen Plan an die kapitalistische Demo
kratie heranzutreten, es gibt mit dem kapitalistischen Denken
keinerlei Verständigung, am allerwenigsten im Sinne einer
durchgreifenden Reform des Wirtschaftssystems, und müßig
wäre jede Bemühung in dieser Richtung; über den Gesamt
wirtschaftsplan kann erst nach Zerschlagung der Bourgeoisie
und nach Übernahme der von ihr gehaltenen Machtpositionen
gesprochen werden. Man möge sich hiezu erinnern, daß über
die Wiedereinführung der Freiheit auch erst in einem sehr spä
ten Zeitpunkt, nämlich erst nach Errichtung der klassenlosen
Gesellschaft, wird gesprochen werden können. Ein seltsames
Irgendwie und Irgendwann steigt da aus der sonst so realitäts
nahen, konkretheitsbesessenen Haltung des Sozialismus auf,
ein mystischer Glaube an die Schöpferkraft der »Revolution«,
nach deren Durchführung sich alle Probleme gewissermaßen
automatisch lösen werden, und am seltsamsten ist es, daß es
hiebei gar nicht um ökonomische, sondern um psychologische
Hypothesen geht: sowohl die Annahme über das prärevolutio
näre Verhalten der Bourgeoisie wie die über das postrevolutio
näre des Proletariats sind psychologisch begründet, sind Psy
chologie des wirtschaftenden und politischen Menschen, aber
nicht mehr. Wo immer er nur kann, entwischt der Sozialismus
dem rein ökonomischen Gebiet und den (man darf wohl sagen)
ihm hier drohenden konkret-sachlichen Auseinandersetzun
gen.
Es ist ein so überaus auffallender Sachverhalt, daß man sich
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eine weitere Frage vorlegen muß: ist die Aufstellung solch eines
umfassenden Wirtschaftsplanes überhaupt möglich? Und man
darf die Frage mit gutem Gewissen schlankwegs verneinen: es
erscheint ausgeschlossen, die Produktionskapazität einer hoch-
entwickelten Wirtschaft, wie es etwa die amerikanische ist,
wirklich in ihren Details (die sich ja unausgesetzt gegeneinan
der verschieben lassen) einwandfrei festzustellen, und noch
weit ausgeschlossener erscheint es, hiezu einen Bedarfsplan der
Gesamtbevölkerung theoretisch aufzustellen und nun die Pro
duktionskapazität nach diesem Bedarf einzurichten und aufzu
teilen; selbst wenn Hunderte von Wirtschaftsexperten jahre
lang mit der Sisyphusarbeit beschäftigt wären, sie kämen zu
keinem Ende, und der Sozialismus hat daher ganz recht, daß er
sich an diese Grundaufgabe seines Seins (in Erkenntnis ihrer
Unlösbarkeit) überhaupt nicht herangewagt hat. Trotzdem
kann und soll Planwirtschaft betrieben werden, trotzdem wird
sie - in Rußland, in Deutschland - einigermaßen erfolgreich
betrieben, und aus beidem ergibt sich die Aufforderung, die
Grenzen zu suchen, innerhalb welcher Planwirtschaft möglich
ist: nun, sie ist innerhalb von Rumpfwirtschaften möglich, d.h.
in solchen, bei denen die Hauptkapazität - wie in Rußland -
überhaupt fehlt oder aber künstlich, etwa als Kriegsproduktion
- wie in Deutschland -, dem Wirtschaftskonsumenten unzu
gänglich wird; eine Rumpfproduktion, welche die notwendig
sten Lebenserfordernisse der Massen gerade noch mit Müh und
Not deckt, muß planwirtschaftlich betrieben werden, weil die
Revoltegefahr sonst unmittelbar vor der Türe steht, und sie
kann planwirtschaftlich betrieben werden, weil der dringendste
Lebensbedarf, den sie zu decken hat, sich auf »einfache« Güter
bezieht und sich daher leicht überschauen läßt. Nun würde es
natürlich prinzipiell denkbar sein, die Planwirtschaft auf diesen
ihr zugänglichen Kern zu beschränken und den Überschuß in
alter Form frei weiter zu bewirtschaften, aber nicht nur daß
Versuche in dieser Richtung bisher technische Schwierigkeiten
ergeben haben (die sich freilich mit der Zeit wahrscheinlich be
heben ließen), es will der radikale Sozialismus von solchen
Mischformen, in denen notgedrungen eine Kapitalistenklasse
bestehen bleibt, nichts wissen, und so drängt er - sicherlich oft
mals unbewußt —zur Herstellung von Rumpfwirtschaften, sei
es durch Unterstützung kriegsgerichteter Handlungen, sei es
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durch Entfachung revolutionärer Zerstörungen, auf daß in dem
verbleibenden Wirtschaftsrest nunmehr einheitlich das neue
System etabliert werden könne. Die große Hoffnung hiebei ist,
daß dann aus dem hiedurch geschaffenen Primitivkern sich
wieder eine Volkswirtschaft entwickeln werde, genau wie sich
das kapitalistische System »natürlich« zu einem halbwegs be
friedigenden Gleichgewicht zwischen Produktion und Ver
brauch sukzessive entwickelt hat, nur daß es diesmal die Ent
wicklung eines Gesamtplanes werden soll, der zwar von
vorneherein theoretisch nicht aufstellbar ist, der aber im natür
lichen Wachstum sicherlich allen Wirtschaftsmitgliedern, ja, al
len Menschen des Erdkreises die ihnen zukommende ökono
mische Sicherheit verschaffen wird. Es ist - sieht man von all
dem Leid und all den Zerstörungen ab, die notwendig vorher
gehen sollen - eine große und bestechende Hoffnung, indes,
auch sie ist weniger auf ökonomischen als auf psychologischen
Grundlagen aufgebaut, denn sic setzt voraus, daß nach Schal
tung des planwirtschaftlichen Kernes nun desgleichen die Seele
sich sozialistisch stabilisieren werde und daß keinerlei Verlok-
kung des wiederkehrenden Reichtums, keinerlei Genuß- und
Luxusmöglichkeit den sozialistisch disziplinierten Menschen
der Zukunft vielleicht doch noch einmal bewegen könnte, die
angeblich letztmögliche Wirtschaftsform und deren Klassenlo-
sigkeit wiederum aufzugeben; eine definitive Seelenstabilität
wird da für diese künftigen Wesen imaginiert, eine Stabilität,
welche es verbieten soll, je wieder zu den alten Wirtschafts- und
Sozialformen zurückzukehren oder zu anderen, vielleicht bes
seren, vielleicht schlechteren fortzuschreiten, obwohl es in der
Zukunft bekanntlich stets Dinge gibt, von denen der jeweils
Lebende sich keinen Begriff zu machen vermag.
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- allerdings frevelhaft bourgeoisen - Vermutung, vor allem
wohl, daß es durch sie verständlich werden würde, warum bei
aller Dogmentreue und all der prophetischen Sicherheit, von
der die proletarische Realpolitik getragen wird, es in dieser so
viele Irgendwann und Irgendwie gibt, deren Realitätsgeltung
kaum viel größer ist als die der liberalistisch-oratorisch ange
priesenen bürgerlichen Freiheit, denn diese hat wenigstens den
moralischen Vorteil - und es ist dies die moralische Realität der
Demokratie -, bis zu einem gewissen Grade, wenn auch noch
immer spärlich genug, verwirklicht worden zu sein. Man darf
mit Fug behaupten, daß die Konkretheitsbasis dieser Art Real
politik überaus schmal ist, daß sie eigentlich über das hic et nunc
nicht hinausreicht, und würde auch eine kommende Weltver
elendung zeigen, daß diese schmale Basis der sozialistischen
Theorie ausreichend gewesen ist, würde sie also deren Prophe
zeiungen auch Erfüllung bringen, es ist dies bisher noch nicht
geschehen, und so hat die Demokratie unabweislich die Pflicht,
erst recht auf ihre eigene Konkretheit, die ihre Angreifer ihr so
gerne absprechen möchten, zu pochen und ihr eigenes konkre
tes Denken zur Überprüfung eben jener Konkretheitsbasen zu
verwenden; hier handelt es sich um die Überprüfung der
ökonomischen Basis, d. h. um ihre Befreiung von der politi
schen und psychologischen Verbrämung, mit der sie eben be
sonders im Sozialismus überdeckt worden ist.
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worden ist: die Krisen haben sich im Verlaufe des 19. Jahrhun
derts immer mehr gehäuft, sie sind immer schärfer geworden,
sie haben den ersten Weltkrieg mit verursacht (ohne daß dieser
ihnen eine Lösung gebracht hätte) und haben in der Nach
kriegsperiode jene übermächtige Stärke erreicht, deren Folge
die apokalyptische Weltsituation ist. Daß der Marxismus als
Politikum selber zu den Moventien dieser Weltsituation gehört,
hat mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Krisentheorie
nichts zu tun.
Die Krisenbehaftung des Kapitalismus, wie sie von Marx kon
statiert worden ist, kann heute nicht mehr angezweifelt werden.
Und deshalb kann die Demokratie, will sie als solche weiterbe
stehen, es sich nicht gestatten, sich mit Kapitalismus zu identifi
zieren oder sich mit ihm identifizieren zu lassen. Andererseits
ist sie nicht in der Lage, die Revolutionslösung des Sozialismus
zu akzeptieren, erstens weil sie ein offenes und daher evolutio-
nistisches System zu sein wünscht, und zweitens weil sie die Re
duzierung auf eine Rumpfwirtschaft, aus der sich erst in weite
rer Zukunft (oder wenn das Unglück es will, gar nicht) eine
neue, allerdings sozialisierte Vollwirklichkeit entwickeln soll,
nicht gutheißen kann. Die Demokratie ist daher angewiesen,
ihre eigenen Wege zur Krisenbekämpfung zu finden, und sie
wird umsomehr hiezu verhalten sein, je mehr sie durch die
Weltverhältnisse zur Verwandlung in eine »totale Demokratie«
gezwungen werden wird: ohne weitgehende Krisenausschal
tung gibt es keine pursuit of happiness für jedermann.
Die Krisentheorien des liberal-bürgerlichen Zeitalters, die an
Richtigkeitsgehalt sicherlich mit der Marxschen Anschauung
wetteifern können, geben im allgemeinen keine Anweisung zur
Krisenbekämpfung; gleich dem Sozialismus betrachten sie die
Krisen als naturgegeben notwendige Krankheit des Kapitalis
mus, gegen die eigentlich auch mit keiner Medizin - es sei denn,
daß kleine Erleichterungsmittel, wie etwa eine feiner abge
stimmte Zinsfußgebarung der Notenbanken, als Medizin anzu
sprechen wären - ernstlich anzukämpfen ist, doch im Gegensatz
zum Sozialismus diagnostizieren sie die Krankheiten nicht als
tödlich, sondern erwarten, daß der unentwegt gesunde Orga
nismus der Wirtschaft stets aufs neue über sie hinwegkommen
werde. Erst die Wirtschaftskatastrophen der letzten Jahrzehnte
haben die Legende von dieser unerschütterlich ewigen Lebens
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kraft einigermaßen ins Schwanken gebracht - obschon die ma
gische Beschwörung »let business alone« wahrscheinlich auch
noch an der Leichenbahre des gesamten Weltbusiness ertönen
dürfte und erst unter Katastrophendruck begann die Theorie
sich mit praktischen Lösungsmöglichkeiten für künftige Kri
senverhütung zu befassen: ihre Autoren waren und sind zu
meist sozialistische Wissenschaftler3, die sich angesichts der
Brüchigkeit des Marxschen Revolutionsdogmas mehr oder
minder entschieden von diesem abgewandt und sich einem so
zialistischen Evolutionismus zugewandt haben, um solcherart
eine sukzessive Überführung des Kapitalismus in die Planwirt
schaft zu bewirken. Zweifelsohne wird durch diese Hintanstel
lung des Revolutionsgedankens und des ihm innewohnenden
psychologischen (revolutionierenden) Elementes auch eine Art
ökonomischer Purifizierung der sozialistischen Theorie [her
beigeführt], allerdings auf Kosten ihrer praktisch-politischen
Wirkungsmöglichkeiten; es mag eine Theorie noch so richtig
sein, sie bleibt - und die alten liberalistischen Krisentheorien
sind das beste Beispiel hiefür - politisch wirkungslos, wenn die
psychische Zündkraft fehlt, d. h. wenn nicht eine Kraft vorhan
den ist, welche (wie eben etwa die Revolutionsidee) wesensmä
ßig die Fähigkeit besitzt, die menschlichen Hoffnungen, und
zwar ebensowohl die berechtigten wie die unberechtigten,
ebensowohl die erfüllbaren wie die unerfüllbaren, zu erwecken
und unaufhörlich weiter zu nähren, um kraft solcher Fähigkeit
selber zur »Interessenvertretung« für politisch entsprechend
starke Sozialgruppen zu werden. Nur in Ausnahmefällen ist ei
ner rein ökonomischen Theorie solch zündende Wirkung be-
schieden; dies war z. B. 1932 der Fall, als der Höhepunkt der
Wirtschaftskrise den »New Deal« zum einzigen Retter in der
Not machte und sogar weite Kreise der Businesswelt zur Unter
stützung der neuen Maßnahmen veranlaßte.
Allerdings, wenn man an die absolute Geltung der ökonomi
schen Bedingtheit für alles Geschehen glaubt und dies auch auf
das psychische Geschehen ausdehnt, so muß man sich fragen,
ob die außerordentliche psychische Zündkraft des Kommunis
mus und Fascismus, die so stark ist, daß sie sogar den Wunsch
nach Selbstversklavung zu erwecken vermag, nicht gleichfalls
auf ökonomischen Tatsachen beruht: ist die auffallende Über
einstimmung der kommunistischen und der fascistischen Ar
100
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beitsverhältnisse nicht auf eine allgemein zu geringe Tragfähig
keit der Wirtschaft zurückzuführen, so daß nur durch eine
allgemeine Wirtschaftsversklavung der Massen wieder das
Gleichgewicht herzustellen ist? In diesem Falle würde es sich
nicht nur um eine politische, sondern um eine ökonomisch be
gründete Versklavung handeln, doch diese - fürchterliche -
Annahme kann bloß widerlegt werden, wenn eine Lösung auf
findbar ist, welche zeigt, daß es ökonomisch auch ohne Ver
sklavung abgeht.
Sohin:
erstens, ist es möglich, daß die wissenschaftliche Durchfor
schung des Krisenphänomens und seiner Historie nunmehr ei
nen neuen (von der kommunistischen oder fascistischen [Lö
sung] abweichenden) Weg zur Krisenbefreiung zeige?
zweitens, dies vorausgesetzt, ist es möglich, innerhalb der De
mokratie politisch genügend starke Sozialgruppen zur Durch
führung zu gewinnen?
Das Schicksal der Demokratie ist weitgehend an diese beiden
Fragen gebunden; es geht um deren Bejahbarkeit.
Die erste Frage, also die der Krisenerforschung, ist unter allen
Umständen (unabhängig von jeder »demokratischen Ver
wendbarkeit«) aus rein intern wissenschaftlichen Gründen
heute mehr denn je eine Hauptaufgabe der ökonomischen Er
kenntnis. Denn das Forschungsmaterial ist in den letzten De
zennien ungeheuer angewachsen, und fast ließe sich sagen, daß
es-soweit man in einem historischen Bereich von Abgeschlos
senheit sprechen darf - heute abgeschlossen vorliegt. Unter der
Fülle der Phänomene, die der rückschauende Blick heute in der
Geschichte des hochindustrialisierten Kapitalismus zu unter
scheiden vermag, ist es insbesondere ein Doppelphänomen,
dessen krisenerzeugende Momente zunehmend schärfer zutage
treten: der extensiv betriebene Kapitalismus war im Laufe des
19. Jahrhunderts genötigt gewesen, sich immer mehr und ein
deutiger der Marktbewirtschaftung zuzuwenden, und diese
Nötigung war in erster Linie von der stürmischen Entwicklung
der Technik verursacht worden; nicht nur daß die Technik, ab
gesehen von der neuen Güterfülle, die sie hervorgebracht hat,
eine völlige Umstellung der Erzeugungsmethoden bedeutete,
sie hat auch eine völlige Umlagerung der Produktions- und
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Konsumtionsmärkte vorgenommen, und dieser Prozeß geht
unaufhaltsam weiter, mehr noch, muß unaufhörlich weiterge
hen, da ja eben die hiedurch verursachte intensive Marktbe
wirtschaftung nun ihrerseits rückwirkend die Technik zu neuen
Leistungen anspornen muß. Von den Nebenwirkungen dieses
Prozesses, wie Exportstockungen oder schubweise Überpro
duktionen, die früher als Hauptgründe der Wirtschaftskrisen
gegolten hatten, soll hier ganz geschwiegen werden, denn weit
aus wichtiger will es erscheinen, daß jenes Doppelphänomen
der intensiven Marktbewirtschaftung und der hypertrophierten
Technik von allem Anfang an den Keim des Rentabilitätsverlu
stes in sich getragen hat: es sei bloß auf die Abkürzung der
Amortisationszeiten hingewiesen, die sich aus dem Zwange zur
Einführung stets neuer Rationalisierungsmethoden in den In
dustrieanlagen ergeben, und dies bezieht sich nicht nur auf die
Industrie als solche, sondern auch auf das ganze Gebiet der
»Produktionsverwaltung«, zu der u. a. auch die gesamten mo
dernen Stadtanlagen mit ihrer unübersehbaren Vielfalt ökono
misch-technischer Einrichtungen gehören. Hier überall ist das
Rentabilitätsprinzip - das zentrale Prinzip des Kapitalismus -
ins Schwanken geraten, hat die Anlagen mehr oder minder
»wertlos« gemacht (zumindest börsenmäßig), veranlaßt das
mobile Kapital, sich aus der Produktion zurückzuziehen und
zur unverzinsten Hortung zu werden, kurzum zeitigt all die
schweren Unsicherheitssymptome, die das Wesen der Krisen
ausmachen; die Produktion, die einesteils dem Konsum mit
stets billigeren Gütern dienen muß, andernteils vom Konsum
den eigenen Lebensunterhalt zu beziehen hat, ist mit der Krise
in die Phase der »Profiterzwingung« getreten (und dies macht
sie nebenbei zum Mitverursacher des Fascismus).
Es könnte den Anschein haben, als ob mit zunehmender Fa-
denscheinigkeit des Rentabilitätsprinzips es für das herr
schende Wirtschaftssystem kein anderes Schicksal als das von
Marx vorausgesagte mehr gäbe: die letzten noch lebendigen
Teile dieses unheilvollen, unheilstiftenden Systems müssen
nunmehr vernichtet und durch das sozialistisch-planwirtschaft
liche ersetzt werden. Dies ist freilich wiederum politisch und
nicht rein ökonomisch gedacht; denn wollte man rein ökono
misch denken, so muß man sich sagen, daß das planwirtschaftli
che Moment - über dessen Durchführbarkeit bereits an anderer
102
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Stelle hier gesprochen wurde - ganz zu Unrecht in die Diskus
sion getragen wird: es gibt nämlich in der Wirtschaft keine
»heiligen Prinzipien« (bloß in der Ethik gibt es solche), auch im
sogenannten Kapitalismus gibt es sie nicht, am allerwenigsten
kann das Prinzip der Amortisation und Verzinsung als heilig
gelten, und wenn sich die Wirtschaft nicht nach ihnen richten
kann, so muß sie sich eben nach anderen richten; der Verzin
sungsverlust des Finanzkapitals, heute als Krankheit der Wirt
schaft gewertet, kann auch als Vorbote einer neuen Wirt
schaftsphase begrüßt werden, in der es, wie einstmals im
Mittelalter, überhaupt keine Finanzverzinslichkeit mehr geben
wird. Manche Theoretiker verlangen bereits heute nach ent
sprechenden Maßnahmen, und würden oder werden diese ein
mal durchgeführt werden, so wird dies eine so völlige Umwand
lung des Geldcharakters sowohl in funktionaler wie in
psychischer Beziehung bedeuten, daß der Verzinsungsanspruch
des Geldes bald zu den unverständlichsten Begriffen der Ver
gangenheit gehören dürfte; hiezu gesellt sich als zweiter finan
zieller Veränderungsprozeß, ebenfalls in seinen Ansätzen be
reits erkennbar, der Schwund des psychisch so wichtigen
Sicherheitskoeffizienten im Geldbesitz, ein Schwund, der nicht
zuletzt durch das Aufkommen neuer Sicherheitsfaktoren be
dingt [ist]: auf der einen Seite sind die Gemeinschaftseinrich
tungen, die dem öffentlichen Wohle und der Obsorge für das
Individuum gewidmet sind, zu einem früher ungeahnten Um
fang angewachsen und dehnen sich unausgesetzt weiter aus,
und auf der andern Seite ist das Versicherungswesen zu einer
Institution geworden, die immer weitere Teile des sozialen Le
bens, ja, sogar der sozialen Verwaltung erfaßt. Hält man all
diese Momente zusammen, so zeichnet sich hinter ihnen ein
Zukunftsbild ab, sicherlich nur ein hypothetisches Bild mit un
deutlichen Konturen, dennoch erahnbar als das einer »entkapi-
talisierten Privatwirtschaft«: es wäre dies eine Wirtschaftsform,
welche in ihrem Hauptvolumen nach wie vor auf freier Privat
initiative beruht und daher hiefür auch das Profitprinzip auf
rechterhält; daß daneben wesentliche Wirtschaftsteile profitlos
von öffentlichen Körperschaften oder vom Staate bearbeitet
werden, kann nicht als Charakteristikum einer Entkapitalisie-
rung gelten, da ja das nämliche inmitten des Kapitalismus ge
schieht; hingegen ist der Bruch mit dem Verzinsungsprinzip zu
103
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diesen Charakteristiken zu zählen, denn die damit verbundene
Einschränkung der Hortungs- und Verwendungsmöglichkeiten
der erzielten Profite rollt das ganze Problem der amortisierba
ren Investitionen und Erneuerungen auf, und für viele, die ge
wohnt sind, daß die Kreditwürdigkeit einer Investition nur von
einer Bank und ja von keiner andern Stelle geprüft werden darf,
wird das Gespenst der staatlichen Wirtschaftsregulierung und
der aufgehobenen Wirtschaftsfreiheit daraus aufsteigen. Doch
wie immer die Entwicklung vor sich gehen und welche Formen
sie auch immer annehmen wird, ihr Ziel bleibt das der zuneh
menden Krisenbefreiung, und dies kann nicht durch bloß fiska
lische Maßnahmen geschehen, etwa durch geeignete Profit-
und Zinsversteuerungen, sondern erfordert eine konstruktive
Lösung, und diese kann bloß gefunden werden, wenn die im
jetzigen Wirtschaftszustand bereits enthaltenen Keime zur Kri
senbefreiung systematisch zur Vollentfaltung gebracht werden.
Der »New Deal« z. B. weist in ähnliche Richtung, und was ihm
notwendigerweise zugestoßen, das wird notwendig desgleichen
allem zustoßen, was in dieser Richtung liegt: es wird von rechts
als Kommunismus, von links als Kapitalismus denunziert wer
den; und man darf wohl den Schluß daraus ziehen, daß es sich
hiebei um Bemühungen handelt, die sich vom kapitalistischen
wie vom kommunistischen Bereich gleich weit entfernt halten,
d.h. einen rein ökonomischen und damit wahrhaft demokrati
schen Weg zur Krisenbefreiung ohne vorhergehende Wirt
schaftszerstörung und ohne Menschenversklavung zu finden.
Ob man das vieltausendjährige privatwirtschaftliche System
mit all den vielfachen Formen und Moralen, durch die es hin
durchgegangen ist, einheitlich Kapitalismus nennen darf und
soll, ist eigentlich gleichgültig angesichts so viel Wandlungs
und Anpassungsfähigkeit, die sich bisher jedenfalls besser, fast
möchte man sagen »natürlicher« bewährt hat als alle planwirt
schaftlichen Experimente und daher eigentlich recht viel Aus
sichten hat, sich auch in der Zukunft weiter bewähren zu kön
nen, Schritt um Schritt sich weiterverwandelnd, vielleicht jetzt
einer entkapitalisierten Privatwirtschaft zustrebend, sicherlich
aber auch diese einmal hinter sich zurücklassend: darauf aber
kommt es an; denn wenn auch die Wirtschaft kein eigentliches
Wertsystem darstellt, es ist die Wirtschaftserkenntnis, von der
sie begleitet und gestützt wird, ein Teil des großen offenen
104
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Wertsystems und für dieses gibt es bloß ewigwährenden Fort
schritt, aber keinen Endzustand. Nur geschlossene Systeme
maßen sich - wahnhaft - an, einen endgültigen Erfüllungszu
stand auf Erden schaffen zu können.
Demokratie ist kraft ihrer ethischen und erkenntnismäßigen
Werte ein vollgültig offenes Wertsystem im politischen Bereich,
und darauf ist es wohl zurückzuführen, daß echt demokratische
Tradition, wo immer sie besteht, sich gegen geschlossene poli
tische Systeme, wie sie vom Kommunismus und Fascismus re
präsentiert werden, hartnäckig zur Wehr setzt. Die Idee einer
entkapitalisierten Privatwirtschaft ist heute bloß eine hypothe
tische Annahme, doch sicher ist, daß Demokratie sich bloß mit
einem Wirtschaftssystem befreunden kann, das ohne diktatori
sche Voraussetzungen, also ohne Rechts- oder Linksdiktatur zu
bestehen vermag. Indes, damit befinden wir uns bereits inmit
ten des Geltungskreises unserer zweiten Hauptfrage, nämlich
der nach der politischen Wirkungsmöglichkeit einer rein
ökonomischen Bewegung, der es mangels eigener politischer
Machtziele auch eigener psychisch-politischer Zündkraft er
mangelt. M. a. W., es genügt nicht, daß eine ökonomische Be
wegung den demokratischen Traditionen entspricht, es genügt
nicht, daß sie sich gegen Fascismus und Kommunismus kehrt
und sich gegen deren drohende Wirtschaftseingriffe behaupten
will, es genügt nicht, weil nur sehr wenige Demokraten auch nur
einen Finger für sie rühren würden, wenn ihr eigenes ökonomi
sches Interesse nicht Förderung von ihr erhoffen könnte, und
sie wird daher bloß dann politisch sich selbst verwirklichen
können, wenn sie - dieses Gesetz der materialistischen Ge
schichtsauffassung bleibt auch für sie aufrecht - mit einem
Großteil der ökonomischen Interessen des Landes, womöglich
mit deren Hauptvolumen so deutlich zu identifizieren ist, daß
die hinter diesen Interessen stehenden Sozialgruppen vollzählig
zu ihrer politischen Unterstützung aufzurufen sind. Wo also
sind die Interessen, welche diese spezifisch demokratische
Wirtschaftsbewegung wahren will? Welche Sozialgruppen will
sie zur Unterstützung auf rufen? Gegen welche glaubt sie sich
wenden zu müssen? Und hier muß nun doch der Versuch unter
nommen werden, zwischen Kapitalismus (mit dem Demokratie
fälschlich auf Gedeih und Verderb identifziert wird) und Pri-
vatwirtschaftstum (an das Demokratie, wenigstens bisher, tat
105
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sächlich gebunden zu sein scheint) zu unterscheiden: gefühls
mäßig macht wohl ein jeder diese Unterscheidung, und man
könnte wohl behaupten, daß z. B. die überwiegende Masse der
schaffenden Menschen Amerikas recht wenig an dem herr
schenden Wirtschaftssystem, in dem sie ihre Geschäfte betrei
ben, auszusetzen haben, es sei denn daß sie die sogenannten
»Auswüchse« des big business gern beseitigt sehen möchten,
sicherlich ohne sich dabei klarzuwerden, daß sie mit ihrer Zu
stimmung eben die Privatwirtschaft, mit ihrer Ablehnung je
doch den Kapitalismus meinen. Allein nicht nur der »kleine
Mann«, der sich der »guten alten Zeiten« erinnert und deren
Rückkunft unter Abschaffung des lästigen big business erhofft,
wird von der unbehaglich schwelenden Zwiespältigkeit der
Wirtschaft betroffen, nein, es liegt hier ein Wiederstreit vor, der
durch das gesamte System geht und auch noch dort, wo es sozu
sagen am kapitalistischsten ist, zum Ausdruck kommt: es kann
kein Zweifel darüber herrschen, daß innerhalb der kapitalisti
schen Gesellschaft, und zwar eben sogar in der Klasse der soge
nannten Ausbeuter, grundlegende Gegensätze in der Art der
Weltanschauung, in der Art der Geschäftsführung, in der Art
der Stellungnahme zum Kapitalismus nachzuweisen sind; es ist
dies jener Gegensatz, welcher beispielsweise in den Differen
zen zwischen Mittel- und Schwerindustrie, zwischen Kleinfar
mer und industrialisiertem Großagrarbetrieb, zwischen dem
selbständigen Unternehmer und dem eigentlichen Finanzkapi
tal besteht, und es kann demnach auch kein Zweifel darüber
herrschen, daß im Zuge einer wirklich geordneten Krisenbe
kämpfung sich Neugruppierungen innerhalb der kapitalisti
schen Klasse vollziehen müssen. Solange die Krisen vorüberge
hende Erscheinungen gewesen sind, war es möglich (wie dies
noch bei Marx geschehen ist), die Kapitalistenklasse als ein
heitliches Ganzes aufzufassen; die große Krise im Jahre 1932
hat hingegen mit aller Deutlichkeit die Ansätze zu einer begin
nenden Spaltung gezeigt, und zwar läßt sich mit einer gewissen
Simplifikation sagen, daß sich hiebei zwei Hauptgruppen un
terscheiden lassen, nämlich einerseits jene, welche an der Auf
rechterhaltung der alten kapitalistischen Form unter der Füh
rung des Finanzkapitals interessiert sind, während auf der
andern Seite sich klar jene Gruppen abscheiden, denen ledig
lich die Aufrechterhaltung der privatwirtschaftlichen Arbeit,
106
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jedoch gerade unter Ausschaltung der Domination durch das
Finanzkapital, am Herzen liegt. Wäre der »New Deal« (von
seinen Initialmängeln abgesehen) seit 1932 nicht unaufhörlich
durch außenpolitische Katastrophen in seiner Ausgestaltung
gestört worden, es hätte sich wahrscheinlich im Zuge seiner
Krisenbekämpfung immer deutlicher gezeigt, daß das Produk
tionskapital zunehmend »antikapitalistisch« geworden wäre,
um seine privatwirtschaftliche Selbständigkeit dauernd zu be
wahren; die Ereignisse haben diese Neugruppierung verhin
dert, aber sie haben damit auch in der Art der Krisenbekämp
fung eingegriffen, denn die Einheit von Produktions- und
Finanzkapital ist gegen ihre innere Krisenentwicklung machtlos
und wird daher zwangsläufig zu den Gewaltlösungen des Fa-
scismus getrieben, obwohl deren Trügerischkeit sowohl in poli
tischer wie in ökonomischer Beziehung - das nationalsoziali
stische System beispielsweise enthält Elemente, die man
ohneweiters in eine »entkapitalisierte Privatwirtschaft« ein
gliedern könnte - bereits mehr als wohlbekannt geworden sind.
Doch Trug und Wahrheit sind in einer kriegsverdunkelten
Welt, in der nur noch die Scheinblüten der Kriegswirtschaft
leuchten, wohl nicht mehr auseinanderzuhalten; blasser denn je
ist heute die Hoffnung auf eine demokratische Lösung des
Wirtschaftsproblems, stärker denn je sind die Verwirkli
chungsmöglichkeiten für eine Rechts- oder Linksdiktatur, für
eine zumindest jahrzehntelange Versklavung des menschlichen
Geistes und der menschlichen Arbeit inmitten einer allgemei
nen Weltverelendung, und bliebe uns unter solchem Aspekte
noch etwas zu wünschen übrig, so wäre es nur, daß es nicht die
fascistische, sondern die sozialistische Form werden würde,
denn diese ist, allem machiavellistischen Überbau zum Trotz,
der Funke der allgemein humanen Gerechtigkeit eingesenkt,
und der ist unverlöschlich.
Nichtsdestoweniger: heute besteht noch die Demokratie, und
die freie Forschung besteht unter ihrem Schutze, sie beide of
fene Systeme, sich gegenseitig bedingend und beide auf die ob
jektive Wahrheit ausgerichtet; nichts darf sie also hindern, bis
zum letzten Atemzug weiter ihrem Ziel zuzustreben, denn die
Wahrheitserkenntnis hat um ihrer selbst zu erfolgen, auch wenn
es in der äußeren Welt keinerlei Lebensmöglichkeit mehr für
ein offenes System und keinerlei Realisierbarkeit für die Wahr
107
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heit mehr gäbe, weil im gegebenen Augenblick die Wahrheit
durch ein geschlossenes System »reguliert« worden ist: für die
Erkenntnispflicht kann dies keine Rolle spielen und tut es um
soweniger, als jedes geschlossene System über kurz oder lang
den Punkt seiner logischen Sättigung erreicht und mit diesem
Augenblick auseinanderfällt, oder richtiger, vom eigenen
Wahn zersprengt wird.
Die Demokratie besteht heute noch. Und die Hoffnung auf
einen Zusammenbruch der Totalitärstaaten, die Hoffnung auf
die Selbstzersprengung ihrer geschlossenen Systeme unter
Kriegsdruck ist noch nicht erloschen. Kommt es aber dann zum
Aufbau einer neuen Welt, dann wird - mehr denn jemals bevor
- die objektive wissenschaftliche Wahrheit gehört werden müs
sen; insbesondere wird dies für die ökonomische Erkenntnis
gelten, denn es wird nicht zuletzt auch um den Aufbau einer
neuen Wirtschaftsordnung gehen.
Einer Vereinigung, wie es die »City of Man« ist, können also
in diesem erhofften künftigen Wiederaufbau sehr wichtige
Aufgaben zufallen, nicht zuletzt eben auch im volkswirtschaft
lichen Gebiete. Alles was hier vorgetragen worden ist, wurde
unter dem Zeichen der Hypothese gesagt, ist eher Frage als
Feststellung, und ich maße mir auch nicht an - trotz mancher
Vorarbeit4 -, diese Fragen lösen zu können. Aber ich kann mir
vorstellen, daß eine kollektive Zusammenarbeit von Fachleu
ten sehr weittragende Ergebnisse zu den hier angerissenen Pro
blemen der Krisentheorie, des Sozialismus, der Planwirtschaft
und ihres Verhältnisses zum »New Deal« wird zeitigen können.
Gelänge eine solche Klärung des Krisenproblems, so wäre es
eben die demokratische Klärung, d. h. [diejenige], welche aus
der Suche nach wissenschaftlich objektiver Wahrheit resultiert,
und sie wäre der demokratische Weg zur Rettung der paniki-
sierten Massen aus jener Wirtschaftsunsicherheit, vor der sie
jetzt Schutz bei den Diktaturen suchen. Zwischen der kommu
nistischen und der fascistischen Lösung wäre es der ersehnte
»dritte Weg«, der Weg ohne Versklavung, der amerikanische
Weg, und sein Ziel wäre der Wideraufbau einer zerrütteten
Welt.
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1 Dieser Abschnitt der »Autobiographie als Arbeitsprogramm« schließt sich
dem Kapitel »Theorie der Demokratie (1938-1939)« an.
2 Vgl. Fußnote 9 des Aufsatzes »Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer to
talen Demokratie«.
3 Gemeint sind u. a. Thorstein Veblen und Henry George.
4 Broch las 1940 volkswirtschaftliche Studien von William Yandell Elliott, John
Maynard Keynes und John Strachey.
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Die Demokratie
im Zeitalter der Versklavung
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Das Streben nach anarchischer Unbeschränktheit entfesselt ei
nen unaufhörlichen Kampf einerseits zwischen den verschiede
nen Institutionen und Institutionsgruppen untereinander, an
dererseits zwischen ihnen und dem Individuum. Die Mechanik
dieses fortwährenden Kampfes deckt sich mit jenem sozial-dy
namischen Geschehen, das gemeiniglich mit »Politik« (ob nun
Innen- oder Außenpolitik) bezeichnet wird; m. a. W., Politik
ist ständiger und ständig labiler Ausgleich anarchischer Ten
denzen. Das ist eine wesentliche Erweiterung jener Definition,
welche Politik als Ausgleich von »Interessen« auffaßt. Gewiß
verlangen auch »Interessen« nach »unbeschränkter« Geltung,
ähnlich also darin den anarchischen Strebungen, ja können ge
radezu als ein Teil von ihnen angesprochen werden, aber sie
sind - wie gerade an den Institutionen beobachtbar - bloß
deren »vernunftgebundener« Teil: bezöge sich Politik bloß
hierauf, sie wäre nicht das anarchische Geschehen, das sie
ist.
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(b) der Sklave ist an die ihm vom Sklavenhalter befohlenen Tä
tigkeiten gebunden (Aufhebung der Berufs- und Beschäfti
gungswahl),
(c) der Sklave ist in seiner Ernährung, Behausung und sonstigen
Lebenshaltung und -erhaltung ausschließlich vom Willen des
Sklavenhalters abhängig (Aufhebung des Anspruches auf ge
rechten Lohn),
(d) der Sklave ist der Judikatur des Sklavenhalters unterworfen
(Aufhebung des Anspruches auf unparteiische Rechtspre
chung).
Das Grundbeispiel für moderne Versklavung ist das Konzen
trationslager.
Das Konzentrationslager (mitsamt allen übrigen Greueln der
gegenwärtigen Politik) ist ein Produkt des ethischen Relativis
mus, der durch das Dahinschwinden der alten religiösen
Haltungen eingetreten ist. Der Sklavenhalter sieht nicht
ein, daß seine anarchischen Triebe »schlecht« sein sollen, und
selbst seine Opfer werden eher dumpf leiden, als sich der in
ihnen beleidigten »Freiheit« und »Menschenwürde« zu er
innern.
Nichtsdestoweniger ist gerade die moderne, am Konzentra
tionslager so grauenhaft sichtbar gewordene Versklavung ge
eignet, den Begriffen der »Freiheit«, der »Menschenwürde«,
»Anständigkeit« usw. einen neuen und vielleicht sogar wissen
schaftlich zu sichernden Inhalt und Anspruch zu verleihen.
Denn im Gegensatz zur ehemaligen Privatversklavung, die in
ihren anarchischen Tendenzen teils aus ökonomischen, teils aus
ethisch-religiösen Gründen noch vielfach gebändigt war, drückt
das Konzentrationslager seine Insassen unverhohlen auf eine
nicht nur untermenschliche, sondern untertierische Stufe
herab, untertierisch, weil das Tier im Unbewußten verbleibt
und daher seinen Käfig höchstens als irgendwie unbehaglich,
nämlich als »Anormalität« empfindet, während der Mensch im
Konzentrationslager vollbewußt und todesbewußt sich der
ständigen Mordbedrohung ausgeliefert sieht. Der biologische
Freiheitstrieb, der das gefangene Tier erfüllt, ist dem Menschen
im Konzentrationslager doppelt und dreifach zuzugestehen. Es
muß also gar nicht auf ethische Überlegungen hinsichtlich
»gut« oder »schlecht« eingegangen werden, um zu erkennen,
daß des Menschen Freiheitswillen im Konzentrationslager nicht
112
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nur als »natürlich«, sondern auch als »berechtigt« zu gelten hat,
und daß hier ein »natürliches Recht« des Menschen gebrochen
worden ist.
Kurzum, das Konzentrationslager bietet die Handhabe zu ei
ner säkularisierten Neufundierung des Naturrechtes, und zwar
ausgehend von dem anscheinend banalen, dennoch so überaus
fundierungswürdigen und fundierungspflichtigen Satz: »Der
Mensch darf den Menschen nicht versklaven.« All die übrigen
Begriffe, wie eben »Freiheit«, »Menschenwürde« usw., lassen
sich aus diesem Zentralsatz des Menschenrechtes ableiten.
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Alle Revolutionen zielen auf Ergreifung des staatlichen Macht
apparates. Daß der naturrechtliche Gewinn nach erfolgter
Machtergreifung sich zumeist als so überaus gering erwiesen
hat, ja sogar - wie in der napoleonischen Usurpation - völlig
annihiliert werden konnte, wird vom Leninismus-Marxismus
als Radikalitätsmangel erklärt, der mit Notwendigkeit immer
wieder die kapitalistische Konterrevolution hervorrufen muß.
Bei genügender Radikalität hingegen hat, seinem Versprechen
gemäß, die klassenlose Gesellschaft etabliert zu werden, und
diese wird den Staat überflüssig machen. In Rußland allerdings,
wo die Revolution genügend radikal war, ist bloß der - mehr
oder weniger - klassenlose Staat etabliert worden, angeblich als
ein Kriegsprovisorium, das nach vollzogener Weltrevolution
fallengelassen werden wird.
Sowohl die Theorie von der kapitalistischen Konterrevolution
wie die vom Kriegsprovisorium trifft nur in beschränktem Maße
zu. In Wahrheit ist da wie dort der Staat als Institution der Sie
ger. Die anarchischen Tendenzen der Revolution richten sich
gegen die Versklavungstendenzen jedweder Institution, vor al
lem also gegen die des Staates, aber sobald er in Besitz genom
men ist, zeigt sich, daß er - wie jede Institution - ein schier un
brechbares Eigenleben besitzt, und daß seine Versklavungs
tendenzen nicht minder unbrechbar sind.
Das Rückgrat dieses Eigenlebens ist die Tradition. Die mei
sten Institutionen sind Gebilde, welche - wie z. B. die Kirchen
- außer den ihnen angehörenden Menschen kein konkretes
Substrat besitzen, also nur dadurch bestehen, daß die von ihrer
Tradition vorgeschriebenen Haltungen eben von diesen Men
schen akzeptiert werden, und obwohl der Staat infolge seiner
geographischen Statur ein konkreteres Aussehen hat, er ist
darum in seinem Bestand nicht minder traditionsabhängig, ja
er ist es erst recht, weil gerade seine geographische Gestaltung
ihm eine bestimmte außenpolitische und militärische Tradition
auferlegt hat, die sich kaum durch einen Wechsel der Regie
rungsform ändern läßt. Die Außenpolitik des revolutionären
Frankreichs konnte kaum von der Ludwigs XIV. abweichen,
und ebenso mußten die Sowjets die der Zaren fortsetzen, wenn
Rußland nicht in Brüche gehen sollte. Und eine derart festge
legte Außenpolitik ist fix in einer Weise, daß keine Revolution
dagegen aufzukommen vermag.
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Jede Tradition hat ihre Träger, und jede Institution hat zu die
sem Zweck ihre Bürokratie, die Kirche ihre Priester, das Heer
seine Berufsoffiziere, der Staat seine Beamten. Die Bürokratie
ist institutionspatriotisch, d. h. sie will bloß ihre Institutionen
samt deren Traditionen intakt erhalten, und daneben ist es ihr
ziemlich gleichgültig, welche Klasse die politische Macht ge
winnt. Talleyrand hat unter vier grundverschiedenen Regie
rungstypen sein außenpolitisches Amt ausgeübt. Die Bürokra
tie ist apolitisch, und das ist ihr Vorzug, aber sie ist um ihrer
Institution willen so versklavungssüchtig, daß der Vorzug sich
wieder aufhebt. Sogar die jeweils herrschende Klasse, mag sie
auch zu einem großen Teil das Personal der Bürokratie beistel
len, wird von ihr, wie sich immer wieder zeigt, in Abhängigkeit
gebracht, und besonders ist es diese Abhängigkeit, welche im
letzten den Sieg des Staates über die Revolution bedeutet, den
perpetuellen Sieg des Kastenstaates über den Klassenstaat.
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dranges, mit dem sie sich selbst zum Eigenzweck setzen wollen.
Aus dem Primitivimperialismus verbunden mit Militarismus
entsteht der »anarchische Imperialismus«, der letztlich zur
Welteroberung drängt, und aus dem Polizismus entsteht der
Totalitärstaat, ohne den sich Welteroberung kaum ausführen
läßt, und der umgekehrt bei Welteroberungsplänen am besten
gedeiht. Und jede der Tendenzen, erst recht aber sie alle zu
sammen, zielen auf Totalversklavung des Bürgers.
Wo »Verteidigung« infolge idealer Grenzen überflüssig oder
infolge irreparabler Grenzen unmöglich wird, da kann sich der
Bürger gegen die ihn bedrohende Staatsversklavung wehren,
d. h. Militarismus und Polizismus auf ein Minimum herabdrük-
ken. Zur ersten Kategorie gehören u. a. England im 19. Jahrhun
dert, zum zweiten »Kontraktstaaten« wie z. B. die Niederlande,
aber auch solche, welche nach einem verlorenen Krieg unvertei-
digbar werden; sie allesamt werden außerpolitische Anhänger
des Kräftegleichgewichtes, jene als dessen Subjekte, diese als
dessen Objekte, die einen wie die andern wissend, daß im Rah
men des Status quo ihre Grenzen und ihr innerstaatlicher Libera
lismus am besten geschützt sind. Ebendarum jedoch bedeutet für
sie die Verringerung des Militarismus nicht notwendigerweise
auch Ausschaltung des Imperialismus, vielmehr kann gerade
von hier aus, wie England und Holland zeigen, seine Weiter
entwicklung gefördert werden.
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Kontinent unter seine einheitliche Herrschaft zu bringen, aber
der Fehlschlag des russischen Feldzuges, der die zaristischen
Aspirationen auf Byzanz hatte brechen sollen, um hiedurch den
Weg zu einer Wiedervereinigung Ost- und Westroms zu ebnen,
wurde zum Siege Englands, das nunmehr ungehindert (und so
gar als Völkerbefreier) sein System des europäischen Kräfte
gleichgewichtes einrichten und durch das ganze 19. Jahrhun
dert hindurch nicht nur aufrechterhalten, sondern auch,
nämlich durch Begünstigung des als Gegengewicht zu Rußland
(und seinen asiatischen Aspirationen) gedachten Bismarck-
Reiches, noch verstärken konnte. Der Gegenschlag erfolgte, als
das Reich nun selber mit Hegemoniebestrebungen auftrat und
dagegen Rußland zweimal zu Hilfe gerufen werden mußte,
so daß nun - bloß vier Jahre lang währte Hitlers Beherrschung
des napoleonischen Gesamtgebietes - die Sowjets als die alleini
gen Erben des gesamtrömischen Gedankens übriggeblieben
sind.
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würde es bloß in Afrika, südlich der Sahara, kontinental mit der
Einflußsphäre der Westmächte Zusammenstößen, und diese
Grenze wäre nicht nur um mehr als zwei Drittel kürzer als die
Jalta-Linie, sondern verliefe auch durch ein Gebiet, das über
wiegend so unwegsam ist, daß man von einer nahezu vollkom
menen ozeanischen Trennung der beiden Gegner sprechen
könnte.
Von einem rein mechanistisch-militärischen Aspekt aus be
trachtet, wäre eine derartige vollkommene Trennung auch für
die Westmächte akzeptabel, wenn die ihnen verbleibende
Weltsphäre den Aufbau eines dem russischen adäquaten
Machtblocks erlaubt. Doch dies wäre dann keineswegs mehr
der Fall. Denn nicht nur, daß die Überschreitung der Elbe und
des Rheins die Auslieferung der gesamten industriellen Kapa
zität Europas - wohlgemerkt einschließlich Englands - an
Rußland bedeuten würde, es hätte Rußland, dem jetzt schon
etwa 400 Millionen Chinesen zugefallen sind, nach der Einver
leibung Südasiens zwei Drittel der gesamten Menschheit unter
seiner Kontrolle. Und dazu könnte sich recht leicht aus natio
nalistischen Antiyankee-Gründen der südamerikanische Kon
tinent gesellen, besonders wenn Rußland sich in Dakar festge
setzt haben sollte. Nordamerika hat also bei all seiner Macht
und all seinem Reichtum mit völliger Isolierung - und wirt
schaftlich bedeutet das völlige Ausschaltung von allen Welt
märkten - zu rechnen, hat also Ursache genug, sich dem russi
schen Vormarsch zu widersetzen.
Die Jalta-Linie ist in Europa noch einigermaßen intakt, doch
in Asien sind die Westmächte bereits auf die zweite Verteidi
gungslinie, den Schutz Südasiens, zurückgedrängt. Daß Ruß
land seinen ungeheuren strategischen Vorteil nicht weiter aus
nützen sollte, ist nicht zu erwarten; bloß seine Kriegsfurcht,
die nicht geringer als die westliche ist, kann es davon ab
halten.
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halten, sondern mußte darüber hinaus auch noch zu jener Aut
arkie zurückkehren, in der es sich zwanzig Jahre hindurch - un
zulänglich genug - auf den Krieg mit Deutschland hatte
vorbereiten müssen. Angesichts der industriellen Rückständig
keit des Landes läßt sich eine solche Anstrengung nur unter
schärfstem totalitärem Druck bewerkstelligen.
Westliche Kommunisten meinen und hoffen, daß der russische
Totalitarismus nicht vom Wirtschaftssystem, sondern von der
Kriegsgefahr bedingt sei, und daß nach deren Verschwinden die
notwendige Liberalisierung im Sinne Marx’ eintreten werde.
Nun hätte ja Rußland seinen strategischen Vormarsch, der von
außen besehen nichts anderes als »anarchischer Imperialismus«
ist, nicht fortsetzen müssen, sondern statt dessen lieber unter
gleichzeitiger Liberalisierung sich wirtschaftlich konsolidieren
können, doch dagegen läßt sich sagen, daß bloß die Weltrevo
lution den endgültigen Frieden bringen werde, und daß eben
darum der strategische Vorteil der kommunistischen Vormacht
bis aufs äußerste, ohne Rücksicht auf die gegenwärtigen Opfer
des russischen Volkes, hatte ausgenützt werden müssen, umso
mehr als jeder Verzicht auf jenen Vorteil die kapitalistischen
Staaten zum Gegenstoß ermuntert hätte. All das hat seine Rich
tigkeiten. Aber ebenso richtig ist es, daß ein Totalitärregime sich
seiner Verschwisterung mit Militarismus und Polizismus niemals
zu entledigen vermag, daß es allüberall »Feinde« wittert und auf
intoleranteste »Verteidigung« eingerichtet ist, und daß daher
Moskau bloß bedingungslose Unterwerfung unter seine Dok
trinen, jedoch nicht die geringste Abweichung hievon, ge
schweige die des englischen Liberalsozialismus, duldet.
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Übergriffe erlaubt. Das war eine umso bemerkenswertere de
mokratische Leistung, als es sich, gerade in England, um einen
Totalkrieg handelte. Allerdings war sie bloß erzielbar, weil sie
von dem unermeßlichen Produktionsreichtum Amerikas getra
gen wurde, und es ist daher durchaus fraglich, ob sie im näch
sten Krieg sich wird nochmals erzielen lassen. Nicht nur, daß
eine jahrelang sich hinziehende Kriegsspannung und Kriegs
vorbereitung (nicht zuletzt wegen ihrer keineswegs unberech
tigten Spionenfurcht) eine ständige Verschärfung des Polizis-
mus hervorruft, es wird der Atomkrieg auch einen weitaus
höheren Totalitätsgrad als alles bisher Bekannte aufweisen, da
das gesamte Hinterland und besonders die kriegswichtigen In
dustrieorte schier schutzlos den gräßlichsten Gefahren ausge
setzt sein werden. Das sind Zustände, denen kein Reichtum,
auch nicht der amerikanische, gewachsen ist, noch viel weniger
aber irgendeine Demokratie: schon die Vorbereitungszeit för
dert eine Art »demokratischen Fascismus«, und je länger sie
dauert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß er sich
stabilisiert und schier unmerklich zum reinen Fascismus aus
artet. Insolange Rußland den Krieg, den es nicht wünscht, für
vermeidbar hält, wird es - eben durch Verlängerung der
Kriegsspannung sowie durch eine ganze Reihe von Nebenmit
teln, wie Enthüllungen usw. - überall das Aufkommen des Fa
scismus fördern, den es für die Vorstufe der kommunistischen
Diktatur hält; bricht der Krieg trotzdem aus, so ist es für Ruß
land ziemlich gleichgültig, ob es Demokratien oder Fascismen
gegenübersteht.
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ihnen keine »künstlichen« Fesseln auferlegt, und ebenso glaubt
er, daß dieser geradezu naturgesetzliche Wirtschaftsfortschritt
- und er verweist hiezu auf die moderne Demokratie als das ka
pitalistische Musterkind - die einzige Bürgschaft für die Men
schenfreiheit sei; der Marxismus hingegen sieht zwar eine durch
den Zusammenbruch des Kapitalismus verursachte Periode des
Wirtschaftsverfalls vor sich, erwartet aber hernach den dialek
tisch notwendigen Umschlag, d. h. die durch nichts mehr stör
bare Dauerprosperität für die ganze Menschheit im Rahmen
der kollektiven Planwirtschaft, in der es keine Eigengesetzlich
keit der Wirtschaft mehr gibt, so daß der Mensch, wirtschafts
befreit, erst dann seine wirkliche Freiheit erringen wird. Fürs
erste freilich scheint es, als ob beide den Keim zur schwersten
Menschheitsversklavung in sich trügen.
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Marktes, andererseits die einer unumschränkten über den
»Lohnsklaven«.
Je mehr die Gesamtwelt sich industrialisiert, desto schwieriger
wird es dem Extensivkapitalismus, sein Marktgebiet auszudeh
nen, und desto mehr werden seine Formen durch die des Inten
sivkapitalismus ergänzt, d. h. durch Formen, die nicht mehr
ausschließlich vom Produzentenbedürfnis, sondern auch zu ei
nem großen Teil von dem des Konsumenten diktiert werden.
Im Gegensatz zu dem erst vornehmlich ruralen und später ko
lonialen Extensivkapitalismus ist der intensive hauptsächlich
urban; er ist von den Käufermassen der großen Städte bedingt,
und er benötigt eine fortschreitende Urbanisation des Landes,
da er auf Marktaufstachelung (durch Reklame usw.) beruht,
und eine solche bloß in der Großstadt voll rentabel ist. Gewiß
sucht auch der Intensivkapitalismus monopolistische Positio
nen, aber da er selbst in einer solchen die Käufer vermittels bil
liger Preise anlocken muß, ist ihm Konkurrenz erträglicher als
dem Extensivkapitalismus: ob mit oder ohne Konkurrenz, er
muß stets neue Produkte hervorbringen und anpreisen, muß
demgemäß unaufhörlich neue Investierungen machen, beson
ders solche, deren rasche Amortisation durch Produktionsver
billigung gewährleistet wird, und er wird daher weit mehr
Gewicht auf lukrative Maschinenarbeit als auf Lohndruck
legen, umsomehr als er weiß, daß eine gut bezahlte Arbeits
kraft die Kaufkraft des Marktes erhöht. Der Intensivkapitalis
mus rückt also beidseitig, sowohl in seiner Markt- wie in seiner
Lohnpolitik, zunehmend vom Prinzip der »Ausbeutung«
ab.
Könnte die gesamte Wirtschaft nach dem Prinzip des Inten
sivkapitalismus betrieben werden, so wäre ein gewisser Teil der
unmittelbaren Wirtschaftsversklavung ausgeschaltet. Dem
aber ist nicht so. Denn in der Urproduktion und damit auch in
der gesamten Bergbau- und Schwerindustrie usw. kann nicht
intensiv gewirtschaftet werden. Die Landwirtschaft kann zwar
durch Herabsetzung der Produktionskosten und Preise ihren
Absatz einigermaßen erweitern, aber doch nur bis zu einer be
stimmten Normalgrenze, und keinerlei Marktanstachelung
kann darüber hinausführen. Noch viel mehr gilt das für die
Schwerindustrie; die Quote des Stahlpreises in dem Preis eines
fertigen Autos ist zu gering, um durch Ermäßigung den Auto
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absatz unmittelbar zu beeinflussen, und in andern Fertigwaren,
wie z. B. Textilgütern, ist sie bloß als Maschinenamortisation
enthalten, verschwindet also so gut wie vollständig. Hier also
nützt keine Intensivierung, vielmehr muß hier weiter nach den
Regeln des Extensivkapitalismus gearbeitet werden, und das
bedeutet eben Kolonialismus, Monopolismus und Lohndruck,
politisch aber die Neigung zur fascistischen Versklavung. Die
»liberalen« Mittel- und Fertigindustrien bilden hiefür kein ge
nügendes Gegengewicht, nicht zuletzt weil sie wegen ihres
schärferen Investitionstempos und infolgedessen wegen ihres
relativ sehr großen Geldbedarfes weitgehend von den Banken
abhängig sind, also von Stellen, bei denen der Einfluß der
Schwerindustrie eine bedeutende Rolle spielt. Die englische
Nationalisierung der Banken und der Schwerindustrie be
zweckt nicht zuletzt die Befreiung der liberalen Mittel- und
Fertigindustrie aus der sie umfangenden politischen Umklam
merung. Daß das Risiko der Unrentabilität, von dem die Ur-
industrien bei nicht-extensiver Führung stets bedroht sind, auf
die Gesamtnation fällt, ist freilich eine andere Frage.
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Wenn irgendwo, so hat im sowjetischen Rußland der Extensiv
kapitalismus sein Doppelideal, nämlich Vollbeherrschung der
Arbeiterschaft wie des Marktes, zur Gänze erreicht. Fast ist es
wie eine Bestätigung für die mythische Eigengesetzlichkeit der
Wirtschaft, ja es läßt sich sogar Voraussagen, daß die durch die
Rüstungsnotwendigkeiten in Gang gebrachte Hypertrophie
rung der russischen Schwerindustrie einstmals, d. h. unter Frie
densverhältnissen und nach Saturierung der Weltmärkte (be
sonders bei deren fortschreitender Eigenindustrialisierung),
Absatz- und Rentabilitätskrisen wird hervorrufen müssen, die
den kapitalistischen aufs Haar ähneln und daher - getragen von
der Bürokratie der Schwerindustrie - sich gleichfalls zu ständi
gem Rüstungsanreiz entwickeln können, während die Mittel
und Fertigwarenindustrie, auch hier schließlich zu einer Art In
tensivwirtschaft bemüßigt, das liberale und pazifistische Ge
gengewicht hiezu abgeben würde. Im übrigen ist es durchaus
nicht unwahrscheinlich, daß die Voraussicht solch künftiger
Entwicklung die Moskauer Expansionspolitik mit beeinflußt,
denn mit Kolonialmärkten - und Rußland wird sich nicht
scheuen, sie unter dem Titel der Kollektivplanung zu Zwangs
märkten zu machen - läßt sich die jetzige Expansivwirtschaft
noch beträchtlich verlängern.
Doch ob so oder so, es kann mit einiger Bestimmtheit behaup
tet werden, daß der in der Wirtschaft steckende Versklavungs
faktor ziemlich invariant bleibt, unabhängig vom privaten oder
nationalen Besitz an den Produktionsmitteln. Die kommunisti
sche Superversklavung ist politisch, nicht kollektivwirtschaft
lich bestimmt.
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perlen gegen Elfenbein (oder Sklaven), in Amerika als der von
Messern gegen Biberfelle, in Indien aber als der von Schieß
waffen gegen hochwertige Textilien usw. charakterisieren läßt.
Aus diesem Handelskolonialismus entwickelte sich der Plan
tagismus als dritte Phase der systematischen Auswertung der
kolonialen Naturschätze durch europäische Siedler, und
schließlich, unter deren Auspizien und patronisiert von der
Schwerindustrie des Mutterlandes, die vierte und letzte Kolo
nialphase, nämlich die der Vollindustrialisierung. Bereits in der
dritten Phase verringert sich das Wirtschaftsgefälle zwischen
Mutterland und Kolonie; die Siedler beginnen sich gegen die
Hochpreise der extensivwirtschaftlichen Importe aufzulehnen,
besonders wenn sie - wie zur Zeit der amerikanischen Revolu
tion - die Möglichkeit vor sich sehen, die koloniale Erweiterung
sowie den dazugehörigen Extensivkapitalismus aus Eigenem zu
betreiben, und dieser Zug zur wirtschaftlichen und politischen
Verselbständigung wird in der vierten Phase geradezu unver
meidbar. Aber noch mehr: da in der vierten Phase die Schwer
industrie (ihrem Extensivismus gemäß) in den Kolonien Mit
telindustrie und Fertigwarenfabriken einrichtet (so die
ägyptische und indische Textilindustrie), setzt sie den heimi
schen Fabriken eine geradezu tödliche Konkurrenz auf den
Hals. Dies alles, verbunden mit den verschiedenen Kolonialne
benformen der Mandate, Konzessionen usw. und dem noch
verschiedeneren Kolonisationstempo - der Kongo befindet sich
in der zweiten, Südafrika in der vierten Phase -, drückt dem
Kolonialimperialismus seinen spezifisch anarchischen Stempel
auf.
Für Rußland hat es alle Vorteile, diese Anarchie zu vertiefen.
Für die amerikanische Schwerindustrie (ohne Rücksicht auf
ihre Schwesterunternehmungen der Mittelindustrie und Fer
tigwarenfabrikation) ist es von vitaler Bedeutung, die Indu
strialisierung in einem wiederbefriedeten China durchzufüh
ren. Rußland tritt da keineswegs als Konkurrent auf,
wenigstens nicht vorderhand, da es ja jede Tonne Eisen für ei
gene Zwecke braucht, doch die kommunistische Beherrschung
Chinas bringt ihm jedenfalls Gewinn, da sie entweder Amerika
an Importen verhindern und damit seine Wirtschaftslage dros
seln wird, oder aber, wenn die Importe trotzdem fortgesetzt
werden, diese indirekt zumindest teilweise dem Warenhunger
125
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Rußlands wird zuführen können. Ganz anderen Wirtschafts
zwecken dagegen hat die russische Expansion in Europa zu die
nen. Soferne man hier von Kolonisation sprechen kann, handelt
es sich um eine vorkapitalistische der ersten Phase. Hier geht
es wie bei Cortez um Bekehrung und um Gier, zwar nicht um
eine nach Gold, wohl aber nach Maschinen und Gütern, umso
mehr als durch die Ausplünderung der Lebensstandard West
europas sich dem russischen angliche und dies einerseits die
kommunistische Bekehrung erleichtern, andererseits dem rus
sischen Volk das propagandagefährliche Neidobjekt entziehen
würde.
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sichtigen. Es geht um die Wirtschaftsversklavung, und die be
steht nicht nur in der extensivwirtschaftlichen Ausbeutung des
Arbeiters durch niedere Löhne und des Marktes durch hohe
Preise. Es gibt auch eine Wirtschaftsversklavung bei hohen
Löhnen und niedern Preisen, kurzum eine Versklavung in und
durch prosperity, und es läßt sich behaupten, daß gerade die In
tensivwirtschaft hiefür Pate gestanden hat und daß sie ebenhie-
durch politisch so lahm ist, wie sie ist. Denn wenn alle Energien
des Menschen auf die Güterproduktion gerichtet sind, wenn er
keinen andern Lebenssinn als diesen kennt, so wird er eben in
einer Art von der Wirtschaft beherrscht, daß er, bei aller politi
schen Freiheit, sich selbst allen Charakteristiken des Sklaven
tums unterwirft. Nicht zuletzt darum ist der Unterschied zwi
schen den beiden großen politischen Parteien der Vereinigten
Staaten so überaus gering. Und diese Versklavung ist umso
haltbarer, als sie keinen konkreten Sklavenhalter kennt; sie ist
die bedingungslose Unterordnung unter ein Abstraktum, das
manchmal »die Firma« oder »das Unternehmen« heißt, zu des
sen Wohl der Mensch seine letzte Kraft herzugeben hat, in
Wahrheit aber stets ein unsichtbarer Götze ist, der den Gene
raldirektor ebensogut wie den letzten Arbeiter unerbittlich und
absolut beherrscht. All das ist erst durch die Intensivwirtschaft
entstanden: der Fabrikherr der Extensivwirtschaft war immer
hin noch ein konkretes menschliches Wesen, mit dem man sich
verständigen oder gegen das man sich auflehnen konnte; jetzt
jedoch ist er selber Sklave, ist selber dem absoluten Abstraktum
untertan, und diese allgemeine Unterwerfung unter ein
Abstraktum - es gibt keinen ärgeren Sklavenhalter als den
Sklaven - ist zur Gesamteinstellung der modernen Massen ge
worden.
Der dem Kapitalismus und dem Marxismus gemeinsame
Glaube an das Wirtschaftliche ist also nicht zuletzt eine Frucht
der Intensivwirtschaft, und daß sich aus ihr, kapitalistisch oder
kommunistisch, die goldene Ära der menschlichen Freiheit
entwickeln könne, entpuppt sich bereits heute als Irrglaube. Ein
intensivwirtschaftlicher Kommunismus - soferne es ihn über
haupt geben wird - wird sich gegenüber den anarchistischen
Forderungen der Institutionen, der staatlichen wie der wirt
schaftlichen, genauso willig und lahm verhalten, wie es heute
der Intensivkapitalismus tut. Und noch viel weniger läßt sich
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eine Abnahme der marxistischen Dogmengläubigkeit erwar
ten.
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ten angestrebten Sieg über das verhaßte Rom sich versprechen
kann. (Kein Zweifel, daß das mit einer der Gründe ist, die Rom
veranlaßt haben, den russischen Kommunismus als Erzfeind
der katholischen Christenheit zu erklären).
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nicht ganz ernsthaft, sogar bei einem so wenig schizophrenen
Volk wie dem italienischen ein, erst recht also beim deutschen,
dessen ganze Geschichte danach angetan war, schizoide Züge
zu begünstigen.
Der kommunistische Totalitarismus geht um ein sehr ent
scheidendes Stück weiter als der fascistische, und ebendarum
darf er nicht mit diesem verwechselt werden. Der Kommunis
mus beläßt dem Menschen keine seiner sonstigen Bindungen,
er befreit ihn von allen und konzentriert ihn dort, wo er ohnehin
sich schon neigungsgemäß befindet, also im Wirtschaftlichen,
und da er überdies wissenschaftlich konstruiert ist und der
westliche Mensch nur das »wissenschaftlich Beweisbare«
glaubt, ist die marxistische Heilslehre - mitsamt ihrem Ver
sprechen auf ein wirtschaftlich bedingtes irdisches Gottesreich
- strukturell durchaus geeignet, dem westlichen Menschen
wieder die Sicherheit eines einheitlichen Wertsystems zu ge
ben.
Das Marxsche System transzendiert über die von ihm sonst
eingehaltene wissenschaftliche Sphäre hinaus, oder genauer,
es läßt seinen philosophisch-hegelischen Hintergrund durch
schimmern, wenn - zumeist in der Revolutionstheorie - die
Idee der Wirtschaftsgerechtigkeit vorangestellt wird, und es
sinkt unter die Wissenschaftssphäre, d. h. es wird praktische
Politik und weiter nichts, wenn - besonders im Leninismus —
»die« Kapitalisten mit Weib und Kind zur jeweiligen Sünden
bockgeneration erklärt werden, die physisch ausgerottet ge
hört. Auf dem Überwissenschaftlichen wie auf dem Unterwis
senschaftlichen gründet sich die unmittelbare Propagierungs
möglichkeit des Kommunismus: dies wird zuerst gehört.
Gerechtigkeit ist ein transzendentaler Begriff, und wenn es
auch der Hunger ist, der den Proletarier die Forderung nach
Gerechtigkeit erheben läßt, er wird sie auch dann erheben,
wenn ihre Erfüllung ihm nur sehr wenig Nahrung verschafft.
Dagegen wird er umso lieber für sie kämpfen, wenn er in ihrem
Namenseine sadistischen Triebe befriedigen darf: der Ruf nach
Gerechtigkeit ist ein immanenter Bestandteil alles Menschli
chen, und das sadistische Bedürfnis ist es gleichfalls, nämlich als
Bedürfnis zum Herabsinken ins Untermenschliche; aber beides
ist nicht auf den Proletarier beschränkt.
Ein etwas sonderbares und doch recht gewichtiges Gefühls
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moment steht der Bejahung der kommunistischen Wirtschafts
gerechtigkeit im Westen und vor allem in Amerika entgegen:
die wirtschaftliche Heroenverehrung, für die - ohne daß er sie
absichtlich gezüchtet hätte - in erster Linie der Intensivkapi
talismus verantwortlich ist. Es ist durchaus bezeichnend, daß
überall in der Welt, wo Intensivwirtschaftsformen mit ihren un
geheuren Wettbewerbsspannungen einsetzten, diese (einfach
weil der Mensch nicht mehr spannungslos zu leben vermag)
auch auf die Mußestunden übertragen werden; sozusagen gei
stig hat dieser Sachverhalt zu der gewaltigen Spannungsindu
strie geführt, deren zahmer Vorläufer der Detektivroman ge
wesen ist und die als Kino, Radio und Television sich immer
noch weiter ausbreitet, während auf physischem Gebiet der
moderne Sportbetrieb mit seinen spezifischen Rekordspan
nungen hier seinen Ausgang genommen hat. Und solcherart aus
der Wirtschaft entsprungen, wird dieser alle Lebensgebiete,
nicht zuletzt auch die Politik, durchdringende »Sportsgeist« zu
rück auf die Wirtschaft angewandt und wird hier gleichfalls zur
Rekord- und Erfolgsanbetung. Die success story wird zur Na
tionallegende, und die Großverdiener der amerikanischen Ex
tensivperiode sind zu mythischen Gestalten geworden. Nur von
hier aus ist die befremdliche Gefühlsbeziehung zu verstehen,
die zwischen amerikanischer Demokratie und Kapitalismus
tatsächlich herrscht und durchaus danach angetan ist, die ihr
mangelnde theoretisch-wissenschaftliche Systematik zu erset
zen. Allerdings, wenn der Kommunismus selber zur success
story werden sollte - und das zu werden, ist durchaus seine Ab
sicht -, dann hat er auch alle Aussicht, jene Gefühlsbeziehun
gen zu durchbrechen.
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nihilistischen Soldatismus (- Yeats’5 Gedicht vom irischen
Flieger -) oder den greisen Knut Hamsun6 sogar dem Nazis
mus, ist ein Verzweiflungsentschluß, und er ist keineswegs, wie
man vielleicht denken könnte, auf die Intellektuellen be
schränkt, vielmehr bilden diese nur die Exponenten echter Be
wegungen, von denen eben die des Kommunismus die den
Massen erfaßbarste ist. Anders freilich verhält es sich bei den
östlichen Völkern, deren Wertsystem zwar durch die Berüh
rung mit dem kolonisierenden Westen vergewaltigt wurde, die
sich ebendarum aber erst recht zu behaupten trachten: sie sehen
im Kommunismus vor allem bloß den russischen Bundesgenos
sen, mit dessen (politischer) Hilfe sie nunmehr endlich hoffen
dürfen, ihrer Opposition den Sieg zu verschaffen. Daß die So
wjets mit Völkerschaften, die in ihren Machtbereich geraten
sind und nicht vollständig parieren, aufs rücksichtsloseste um
springen und sie zu Hunderttausenden »umsiedeln«, also ver
nichten, diese Vorgänge hinter dem Eisernen Vorhang, an de
nen die Gefährlichkeit der Bundesgenossenschaft sichtbar
werden könnte, bleiben entweder wirklich verborgen oder sie
werden kaum zur Kenntnis genommen, nicht nur weil jeder -
selbst die Juden glaubten den Nazis, die ihnen ein friedliches
Leben als »Gastvolk« versprachen-drohende Gefahren zu ba
gatellisieren trachtet, sondern auch weil jeder gerne ein unbe
kanntes Übel in Kauf nimmt, wenn er nur das bekannte, hier
das der Kolonialbedrückung, sich vom Halse schafft. Also fällt
die offizielle Nationalitäten- und Minoritätenpolitik, die von
den Sowjets allüberall, nicht zuletzt bei allen internationalen
Zusammenkünften mit viel Nachdruck und Geschick vertreten
wird und im Prinzip tatsächlich vorbildlich ist, weit mehr ins
Gewicht als ihre geheime Praxis.
Das soll nicht heißen, daß der Kommunismus nicht mit den
einzelnen nationalen und national-religiösen Wertsystemen
Asiens Fusionen nach Art seines jetzigen Bündnisses mit der
orthodoxen Kirche eingehen würde, falls dies seine Etablierung
erleichtern sollte. Fürs erste freilich werden in Moskau die
kommunistischen Propagandisten für die einzelnen asiatischen
Länder rein nationalistisch, d. h. freigeistig geschult, denn ein
Land, dessen Götter, d. h., dessen eigene Werte gebrochen
werden, hat geringere Widerstandskraft. Es ist ja nicht einmal
ausgemacht, ob die Fusion mit der orthodoxen Kirche über die
132
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Wiedereinrichtung des Patriarchats Konstantinopel hinaus Be
stand haben wird; wenn die politische Leitung dann findet, daß
die mystischen Zusatzkräfte der Kirche damit ihren Dienst ge
leistet haben und der Partei nichts mehr nützen, ja sie sogar ge
fährden könnten, so wäre eine neuerliche blutige Kirchenver
folgung ein Ausweg, der den Sowjets bloß selbstverständlich
wäre. Bis dahin jedoch ist trotz aller Elastizität der Sowjetpoli
tik kaum anzunehmen, daß ein ähnliches Verhältnis zur römi
schen Kirche in Betracht käme, und hinterher erst recht nicht,
da ja hiedurch der dem Kommunismus so überaus günstige Zu
stand der westlichen Wertzersplitterung bloß beeinträchtigt
werden würde.
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habt, sondern sie wäre auch zu einem ideologischen Positivum
geworden, das Propagandamittel der ebenso starken wie hu
manen Demokratie, in deren Schutz sich die Völker gerne be
geben hätten. Statt dessen hat die Bombe Amerika die asia
tische Feindschaft eingetragen. Kann das noch durch
irgendeine - übrigens bisher noch nicht vorhandene - Ideologie
wettgemacht werden? Daß in Amerika viel von Weltföderation
und Weltregierung gesprochen wird, ist für niemanden ein
schlagkräftiges Argument, denn jedermann weiß, daß der Kon
flikt mit Rußland eben um die Weltregierung geht: für die Rus
sen sind all diese One-world-Bewegungen, die sie als offiziell
geförderte Propagandaorganisation betrachten, nichts anderes
als das Einbekenntnis der amerikanischen Weltherrschafts
aspiration, und da ihre eigenen Regierungsmethoden auf Kon
stitutionsbruch und Konstitutionsumgehungen aufgebaut sind
- an und für sich ist gegen die russische Konstitution nichts ein
zuwenden -, so sind ihnen all die schönen Weltkonstitutions
entwürfe (mit einigem Recht) leeres und aufreizendes Ge
schwätz; für die andern Nationen jedoch und vor allem für die
asiatischen, selbst für die, welche noch nicht unter russischem
Einfluß stehen, hat die Fassade eines Friedenspalastes, hinter
der sie die Errichtung einer Kaserne vermuten, wenig Verlok-
kendes, umsoweniger als sie die United Nations - diesen dürfti
gen Rest der Rooseveltschen Wünsche - vor Augen haben.
Und doch ist die United-Nations-Ideologie die einzige, die ge
genwärtig noch eine Art praktikable Bedeutung hat. »One
world« ist noch keine Ideologie, sondern bestenfalls wishful
thinking.
Wer aber meint, daß sich nach dem Ableben Stalins alles zum
Guten wenden werde, macht sich eines analogen wishful thin
king schuldig. Denn man kann zwar die kommunistische Nach
folgerfrage mit den prätorianischen Cäsarenausrufungen ver
gleichen, nicht minder aber mit den Papstwahlen, die bei aller
Unfehlbarkeit des neuen Statthalters Christi den Kurs der Ku-
rialpolitik höchstens um Nuancen ändern. Die päpstliche Poli
tik ist im Detail flexibel, in ihren Grundlinien jedoch hart und
starr: ihrer Humanisierungsaufgabe bewußt, ist sie gegen den
Laiengeist mißtrauisch, ja intolerant, weil sie in ihm - und Hit
ler hat das gerechtfertigt - den jederzeit möglichen Rückfall in
134
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heidnische Barbarei und Dehumanisation argwöhnt, und eben
dies macht sie auch gegen alle weltlichen Vorgänge, Regie
rungsformen und -Veränderungen verachtungserfüllt-gleich-
gültig, fast erbarmungslos, so daß es ihr sogar gestattet ist, mit
exkommunikationsreifen, heidnischen Gegnern wie Hitler zu
paktieren, wenn sie sich dadurch erhoffen kann, den Baube
stand der Kirche —besonders seitdem er in der Reformation ei
nen so bedrohlichen Riß erlitten hatte - intakt zu erhalten und
durch anderweitige Seelengewinnung zu festigen. Und nicht
viel anders sieht es mit der Sowjetpolitik aus: von wem immer
sie geleitet sein wird, die übrige Welt befindet sich für sie in ei
nem verächtlichen Laienzustand, mit dem man zur Not und un
ter Zwang wohl paktieren kann, ohne daß jedoch von den eige
nen ideologischen Grundlagen das Geringste preisgegeben
werden darf; an den dogmatisch ein für allemal festgelegten
Richtlinien der politischen Handlungsweise darf und wird für
lange Zeit hinaus nichts geändert werden.
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sehen Kräfte innerhalb der Vereinigten Staaten selber. Daß es
Rußland solcherart gelungen ist, die protestantischen Demo
kratien in eine ihnen durchaus inadäquate, ihre Ideologie aufs
äußerste belastende Bundesgenossenschaft hineinzutreiben, ist
ein diplomatischer Sieg, dessen Früchte noch zur Reife gelan
gen werden.
Die Korruption der öffentlichen Meinung in den demokrati
schen Ländern gehört zu diesen Früchten. Gewiß, England hat
offensiven Imperialismus betrieben und hat ihn - politics stop
on the water edge - niemals mit den innenpolitisch geltenden
demokratischen Prinzipien in Einklang zu bringen vermocht,
eine Haltung, die sich nicht so rasch abstellen läßt, am wenig
sten für ein Land, das sich in der Defensive befindet, doch noch
schwieriger wird das Problem für einen nicht-imperialistischen,
ja sogar bis jetzt isolationistisch gewesenen Staat, der nun
plötzlich eine seinen eigenen ideologischen Grundlagen entge
gengesetzte Außenpolitik führen soll: hier greift die öffentliche
Meinung viel intensiver als in England ein und kann unter Um
ständen geradezu lähmend auf die Außenpolitik wirken, so-
ferne sie nicht selber von letzterer gelähmt wird; die Schwarz-
Weiß-Manier des politischen Denkens ist in Amerika mehr
denn anderswo zu Hause, und die Gewöhnung der Öffentlich
keit an einen Businesspartner vom Schlage Francos kann zur
moralischen Gewöhnung führen, nicht nur um der schwarz
weißen Wohlgeordnetheit willen, sondern noch weit mehr weil
die Verlockung des Totalitären allüberall im modernen Leben
lauert. Und eben das wird von der Kurialpolitik in ihrem Be
mühen um eine antibolschewistische Einheitsfront ausgenützt.
Nicht etwa daß der christkatholische Glaube heute mit Fascis-
mus identisch sei; aber die Kirche tut nichts gegen die Totalitär
bedürfnisse des Menschen, und die ideologische Annäherung
der Demokratien an den Fascismus ist ihr sympathischer als
eine noch so milde Demokratisierung der katholischen Fascis-
men, obwohl sie eine solche recht gut zugunsten der Einheits
front in die Wege leiten könnte, und obwohl sie den Fascismus
durchaus nicht als ihr Eigenkind - bloß die katholische Gottes-
gnaden-Monarchie ist es - betrachtet, ja manches in ihm, so
seine Hitler-Reste wie den Rassenantisemitismus usw., grund
sätzlich verwirft. Warum nimmt sie ihn dann doch in Kauf? Vor
allem wohl zur Förderung eines Nebeneffektes, nämlich der
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Schwächung des hinter den Demokratien stehenden angelsäch
sischen Protestantismus.
Das alles gilt aber nur für Europa. Abgesehen von Jerusalem
und den Philippinen hat die römische Kirche in Asien für die
Westmächte alle Bedeutung verloren. Die katholische Seelen
gewinnung in China, eine der großen Hoffnungen Roms, ist
durch den Zusammenbruch der christlichen Generale auch der
amerikanischen Politik eine entschwundene Hoffnung gewor
den. Soferne in Asien überhaupt noch etwas von der katholi
schen Mission übrigbleibt, so wird das weit eher ein Band zum
Patriarchat Moskau als zum Westen hin werden. Der Westen
ist ideologisch isoliert.
Und jeder weitere Schritt zur Fascisierung oder Totalisierung
des Westens wird diese Isolierung verschärfen. Von der euro
päischen Demokratie haben die asiatischen Völker bloß Kolo
nialismus erfahren, und die Erwartungen, die sie auf die ameri
kanische Demokratie während des Krieges gesetzt hatten,
wurden nur allzubald zerstört; eine Fascisierung des Westens
bedeutet also für sie bloß Weiterführung oder Wiederaufnahme
der alten Kolonialpolitik. Selbst das befreite Indien ist von sol
chen Befürchtungen nicht frei, umsoweniger als es ein Haupt
ziel der kommunistischen Agitation geworden ist: das Schlag
wort von der echten »Volksdemokratie«, zu der sich der
russische Totalitarismus umgetauft hat, wird bei allen vom We
sten unterdrückten Völkern stets seinen Dienst tun.
Utopie? Der russische Totalitarismus ist sicherlich keine Uto
pie, der spanische Fascismus ist keine, ebensowenig sind es die
südamerikanischen Diktaturen, ja nicht einmal ein gaullisti
sches Frankreich, das dann auch in Italien eine ähnliche Regie
rung stark rechtskatholischer Färbung nach sich ziehen dürfte,
kann heute mehr als Utopie bezeichnet werden. Wahrhaft de
mokratisch im alten Sinne fungieren heute neben England nur
noch Holland-Belgien und die skandinavischen Staaten, wäh
rend in Amerika, das den ganzen Block Zusammenhalten soll,
sowohl aus diplomatisch-außenpolitischen wie aus ökono
misch-innerpolitischen Gründen der Kampf um die Fascisie
rung bereits längst eröffnet worden ist. Nein, es ist nicht Utopie
zu behaupten, daß aus der gegenwärtigen Situation ein Weltto
talitarismus entspringen kann und vermutlich entspringen wird,
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dessen verschiedene, einander feindliche Nuancen sich zwar um
den marxistischen und den fascistischen Pol gruppieren werden,
um einander zu bekriegen, für den Historiker des Jahres 3000
aber ideologisch ebensowenig oder ebensoviel voneinander ab
weichen dürften wie die Parteien der Grünen und Blauen in
Byzanz.
Und jener Historiker des Jahres 3000 wird vollkommen im
Recht sein; er wird ja auch kaum mehr irgendwelche Differen
zen zwischen den Wirtschaftsformen der beiden Staatengrup
pen entdecken können. Es mag sein, daß die Menschen des
Jahres 3000 bereits zur Einsicht gelangt sein werden, daß die
Wirtschaft mitsamt ihrer Güterverteilung keine Angelegenheit
von »Überzeugungen« ist, sondern wie die Technik einfach ein
System von Optimalproblemen darstellt, die ihre - vielleicht
nicht immer eindeutigen-Lösungsmöglichkeiten »objektiv« in
sich tragen, so daß die Wirtschaftsformen weit mehr von der je
weils vorhandenen Gütermenge und ihrer Verwendungsbreite
abhängen als vom Verwendungswillen des wirtschaftlichen
Subjekts, kurzum daß der Mensch seit jeher - wenn auch mit
Weh und Ach - in der jeweils besten aller ökonomischen Wel
ten gelebt hat, und daß unter solchem Aspekt auch die Diffe
renzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht viel ande
res als terminologische Schattierungen sind. Daß weder der
kapitalistische noch der sozialistische Wirtschaftsfatalismus
sich zu dieser letzten Konsequenz durchgerungen hat, ist nicht
unerklärlich: täten sie es, sie würden ihren Überzeugungscha
rakter und damit ihre Selbstgewichtigkeit wie ihr Kampfver
gnügen verlieren. Wird aber der Historiker des Jahres 3000 den
Welttotalitarismus von 1950 gleichfalls als eine derart fatali
stische, man möchte wohl sagen jämmerlich fatalistische Funk
tion auffassen müssen?
Gewiß, bis zu einem gewissen Grade ist alles in der Mensch
heitsgeschichte determiniert. Aber selbst die materialistische
Geschichtsbetrachtung versucht das Moralische, das für sie in
der Revolutionsentscheidung liegt, dem ökonomischen Fatalis
mus zu entlösen und dem freien Willen anheimzustellen, d. h.
aufzutragen: dahinter steht das tiefe, allgemeinmenschliche,
metaphysische Wissen um das Moralische, das dem freien Wil
len aufgetragen werden kann (da sich einem determinierten
nichts auftragen läßt) und das den Menschen zum Sünder
138
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macht, wenn es nicht befolgt wird. Und genau so verhält es sich
mit dem totalitären Staats- und Lebensgedanken: mag er auch
dem Menschen durch den Zerfall seines Wertsystems und durch
seine Unsicherheit (von der die ökonomische ein Teil ist) auf
gedrängt worden sein, mag er ihm also auch unausweichlich,
unentrinnbar zwingend erscheinen, es ist die Superversklavung,
zu der das Totalitäre ausartet, es ist der Terror, zu dem es sich
entwickelt hat und offenbar immer weiter entwickelt, eine mo
ralische Sünde, deren Begehung und Nichtbegehung vom freien
Willen abhängt. M. a. W.: das Hitlerische im Totalitären ist
daran, ein Bestandteil der Weltideologie zu werden, soweit es
dies nicht schon, wie im Sowjetismus und Fascismus, geworden
ist.
Eine Ordnung, die mit jedem Tag wechseln kann, ist keine.
Wenn der Mensch seine Sozialrelationen zur Ordnung bringt,
wünscht er die heutige morgen wiederzufinden; Ordnungssi
cherheit gibt es bloß bei zeitlicher Dauer, und hiezu bedarf es
eines zeitüberdauernden Ordnungsapparates, eines »Tradi
tionsapparates«, in dem die geordneten menschlichen Hand
lungen sich vollziehen und von dem sie (gesetzlich) geregelt
werden; als solche Apparate - die ebensowohl Kegelklubs wie
Staaten sein können - hat der Mensch seine handlungsbestim
menden Institutionen geschaffen. Wo eine lebendige Ord
nungstradition vorhanden ist, da darf damit gerechnet werden,
daß für all die möglichen Wechselfälle der Zukunft der (gesetz
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gebende) Traditionsapparat der Institutionen die initiale Ord
nung- so in den antiken Staaten oder im englischen - auch ohne
ausdrücklich gesetzte Normungen wahren wird; wo jedoch eine
solche Tradition fehlt, da muß sie durch einen Normungsakt,
durch eine »Konstitution« inauguriert werden.
Allerdings ist auch der normsetzende Konstitutionsakt nicht
völlig traditionsfrei; er muß sich auf unbedingte, auf axioma-
tische »Plausibilitäten« stützen. In einer absoluten Monarchie
z. B. reduziert sich der Konstitutionsakt auf die Inthronisierung
der Dynastie, da von hier aus gefolgert wird, daß sowohl der in
thronisierte Herrscher wie seine Nachkommen Gesetzgebun
gen vornehmen werden, welche einer gottgewollten Ordnung
entsprechen; indes, die Untertanen hätten solche Folgerung nie
und nimmer akzeptieren können, wenn ihnen das »Gottesgna-
dentum« des Herrschers und seiner Deszendenz nicht eine
Voraussetzung absoluter Plausibilität gewesen wäre. Und diese
sonderbar plausible Mystik ist auch in die anscheinend so ratio
nalen Konstitutionen der Demokratien eingegangen. Daß die
Menschen allesamt als gleich und frei geboren sind, ist eine zwar
plausible, dennoch mystische Annahme, zu deren Stützung man
sich noch wahrlich am besten auf die göttliche Ebenbildhaftig
keit des Menschen und somit auf ein Gottesrecht berief, wäh
rend das an seine Stelle getretene Naturrecht (ganz zu schwei
gen von der Farce mit der »Göttin der Vernunft« in der
Französischen Revolution) ein eher dürftiger Abklatsch davon
ist, wenn es nicht gelingt, es auf eine völlig neue Basis zu stellen.
Nicht viel weniger mystisch ist der Glaube an das »Volk« und
an die Volksmajorität, die nunmehr (und sei es nur mit der
Mehrheit einer einzigen Stimme) der Träger des Gottesgna-
dentums und seiner unumstößlichen Weisheit geworden ist.
Für die amerikanische Republik sind diese mystischen Plausi
bilitäten zum Hauptteil in der Unabhängigkeitserklärung nie
dergelegt, für die europäischen Staaten sind sie zumeist Konsti
tutionspräambeln, doch da wie dort ist ihnen die Funktion von
zeitüberdauernden, also unanfechtbar normativen Richtlinien
zugedacht.
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Plausibilität, der gegenüber die gottesrechtliche (und später die
der Begründung im Naturrecht) fast wie ein überflüssiges An
hängsel erschien. Daß diese normativen Richtlinien als Rechts
gut je von irgendwem anders als von einem verbrecherischen
Tyrannen angezweifelt oder angetastet werden könnten, war
schlechterdings unvorstellbar, und so hieß es bloß - dies der
Zweck der amerikanischen »Bill of Rights« -, sie vor den An
schlägen einer etwa neuaufflammenden Regierungstyrannis zu
schützen.
Die Demokratien wurden hiedurch zu einem Ausnahmefall,
ja geradewegs zu einem Fall staatsrechtlichen Leichtsinns. Seit
dem sich Juristen mit Staatsformen beschäftigen, sind die nor
mativen Richtlinien des Staates wohl immer als schutzpflichti
ges Gut angesehen worden. Ob der Sokrates-Prozeß bereits
unter die Kategorie dieser juristischen Schutzmaßnahmen fällt,
sei dahingestellt, doch sicherlich fällt das Problem der römi
schen Kaiserbüsten darunter, deren Verehrung, auch wenn sie
bloß eine formale war, zu den Grundlagen des römischen Im
periums gehörte. Nun ließe sich zwar einwenden, daß diese
Kaiservergottung selbst schon für den Römer und erst recht für
ein Fremdvolk vom Schlage der Juden so überaus unplausibel
war, daß sie eben erzwungen werden mußte, indes der Zwang
wurde auch dort keineswegs geringer, wo die Staatsgrundlagen,
wie im Mittelalter, höchste Plausibilität besaßen: der mittelal
terliche Staat wollte und sollte die symbolisch-irdische Spiege
lung des vom Nachfolger Petri regierten geistig-geistlichen
Universalstaates sein, und er beruhte daher gleich diesem auf
unbedingtem Gottesglauben und unbedingter Katholizität, aus
der allein sich die weltliche Macht des Gottesgnadentums her
leitete; das stand in Plausibilität unerschütterlich fest, und
trotzdem war es keineswegs nur Sorge um das Seelenheil des
einzelnen, wenn Kirche und Staat miteinander in Ketzerverfol
gung wetteiferten, vielmehr ging es dabei weitgehend um die
Intaktheit der normativen Richtlinien, nach denen gleicher
weise der geistliche wie der weltliche Staat aufgebaut war.
Was als des sogenannt »dunklen« Mittelalters Intoleranz be
zeichnet wird - Dunkelheit ist da übrigens eine sehr einseitige
Beurteilung -, beruht vornehmlich auf jenem Schutz der nor
mativen Richtlinien, während umgekehrt deren Ungeschützt-
heit die »Toleranz« der Demokratien ausmacht und sie zu Aus
141
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nahmefällen stempelt: sie sind gerne geneigt, diese Einzigkeit
als Endgültigkeit zu nehmen und in solchem Stolz sogar zu ver
gessen, daß ihre eigenen Richtlinien (auch wenn sie ins Natur
rechtliche umgetauft werden) nicht minder mystisch als die
darin weitaus folgerichtigeren und logischeren des Mittelalters
sind. Und besonders gerne vergessen sie, daß aus ihrer Struktur,
also offenbar nicht ohne deren Schuld, sich die Richtlinien der
Totalitarismen und Fascismen entwickelt haben.
Die ursprüngliche demokratische Toleranz des Marxismus
wurde durch seine leninistische Umwandlung aufgehoben. Die
normativen Richtlinien des Sowjetstaates sind zwar noch man
chen Schwankungen und Präzisierungen ausgesetzt, haben aber
jedenfalls ihre Grundlage in der Hegelschen Dialektik, d. h. in
der Mechanik des ins Materiale konvertierten »Weltgeistes«,
dessen deistische Ursprünge infolge dieser Unkehrung ver
schwunden sind; jedenfalls ist diese Fundierung haltbarer als
die rein demokratische, die sich auf Gott berufen müßte und
sich doch nicht dazu entschließen kann. Ausgestattet mit dieser
Grundlage und ihrer spezifischen Scholastik, hat der Sowjet
staat die mittelalterliche Tradition des Richtlinienschutzes wie
der voll aufgenommen: wer nach der Meinung der Partei, also
der Instanz, der die Obsorge für die Einhaltung der Richtlinien
anvertraut ist, gegen diese auch nur im geringsten verstößt (und
sei es auch auf den politikfremdesten Gebieten), der ist ein
Ketzer, der keiner Toleranz würdig ist, da er die Gesamtheit
gefährdet; er gehört ausgerottet.
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Delegation erfolgen, d. h. die Mittlerschaft ging durch Petrus
auf die Reihe der Päpste über, und durch die kirchliche Salbung
wurde der Herrscher zu seiner weltlichen Berufung sanktio
niert. Der Delegierte ist aber kein Heilsbringer mehr. Es wird
zwar angenommen, daß er kraft der Delegation immer im Rah
men der göttlichen Richtlinien handeln und entscheiden werde
- gerade darauf stützt sich das (allerdings sehr späte) päpstliche
Unfehlbarkeitsdogma7-, doch darüber hinaus bleibt der Dele
gierte ein dem Irrtum verfallener irdischer Mensch; das gilt ins
besondere für den Laienstand und demzufolge für den weltli
chen Herrscher. M. a. W., trotz Salbung vermag der Herrscher
von den ihm vorgeschriebenen Richtlinien abzuweichen, und
wenn das geschieht, so verwandelt sich die göttliche Ordnung
in menschliche Willkür, verwandelt sich die Institution des ab
soluten Königtums in Tyrannis, die sich eben an solcher Ver
kehrung der normativen Richtlinien definiert. Der mittelalter
liche Staatsaufbau und mit ihm die Kirche rechnete stets mit der
Möglichkeit von Tyrannis; für die Kirche war der Tyrann ein
Sünder, der seine Sünden im Jenseits abzubüßen hatte, aber er
blieb trotzdem der Gottgesalbte, freilich ein Beklagenswürdi
ger, weil er gesendet worden ist, um durch seine Untaten die
Menschen zu strafen und sich dabei selber strafwürdig zu ma
chen, so daß nur in ganz extremen Fällen mit Exkommunika
tion gegen ihn vorgegangen werden konnte.
Indem der Sowjetstaat die mittelalterliche Tradition wieder
aufnahm, mußte er auch das Risiko der Tyrannis wieder auf
nehmen. Die normativen Richtlinien des Sowjetismus sind ein
abstraktes Dogmengebilde wissenschaftlicher Prägung (dessen
theologische Absolutheitsursprünge kaum mehr sichtbar sind),
und ihr Schutz wurde einem Kollektivum übergeben, nämlich
der »Partei«. Nominell steht die Partei an der Stelle des mittel
alterlichen Herrschers; sie ist eine Kollektivperson, gebildet aus
einer Bevölkerungsminorität, und in gewissem Sinn ist sie
gleichfalls gottesgesalbt, denn wenn sie auch eine »Kaste« ist,
die angeblich für jeden Befähigten aufnahmebereit ist, so ist sie
doch auch infolge des Marxschen Proletariatsglaubens weitge
hend Geburtskaste, die sich überdies - selbst nach Proletarisie
rung der Gesamtbevölkerung - geradezu notgedrungen immer
mehr bürokratisiert und in sich selbst abkapselt, also Minorität
bleiben will. Damit ist mit dem (freilich nicht minder mysti-
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sehen) demokratischen Majoritätsprinzip radikal gebrochen.
Die Partei ist absolut; sie soll sich wie der absolute Herrscher
an die ihr vorgeschriebenen Richtlinien halten, aber sie kann
auch »sündigen« und wird nicht zur Verantwortung gezogen.
Ihre »Diktatur« steht stets am Rande der Tyrannis, ja ist im
Grunde nichts anderes als deren moderne Form.
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Nichtsdestoweniger muß an der demokratischen Fassade der
Partei als Ausdruck einer legendären Volksmajorität strikte
festgehalten werden. Denn ohne diese wenigstens fiktive My
stik des Volkswillens gäbe es keinen Ersatz für das Gottesgna-
dentum der herrschenden Clique und ihres Führers. Gleich dem
Gesalbten des Herrn handelt er in höherm Auftrag, und die
Gewalt, mit der er seine Herrschaft befestigt, ist für ihn wie ein
Gottesgericht, aus dem er siegreich hervorgegangen ist. Alles
andere und insbesondere die Ideologie samt ihren normativen
Richtlinien, zu deren Hüter er sich emporgeschwungen hat, be
trachtet er als ein fast überflüssiges Beiwerk. Und eben dies ist
die Einstellung, die von den eigentlichen Fascismen aufgegrif
fen wird: durch Gewalt und Volksakklamation emporgekom
men, haben sie überhaupt keine andere Ideologie mehr, son
dern begnügen sich - sozusagen in völliger Nacktheit - mit
diesem einzigen pseudomystischen Akt, umsomehr als sie ihn
beliebig oft wiederholen lassen können; ihre normativen Richt
linien bestehen ausschließlich in den willkürlichen Entschei
dungen des Führers, und der ihm zu zollende Gehorsam ist das
Staatsgrundgesetz an sich, ja das einzige invariable Gesetz, aus
dem alle andern erfließen, so daß jede Übertretung eine mittel
bare Mißachtung des Führerbefehls ergibt und daher unter To
desstrafe gestellt werden kann. Ebenhiedurch ist hier auch die
Verschwisterung von Partei und Staat viel inniger als im So
wjetismus; es geht einfach um die Staatsmacht an sich, und die
Totalitärorganisation des Staates ist nicht wie dort ein Mittel
zum Zweck, sondern ist primärer Zweck. In den praktischen
Resultaten läuft das zwar auf das nämliche hinaus, doch theore
tisch ist der Fascismus gewissermaßen die »reinere« Form; er
ist die Tyrannis an sich.
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oder Stalin ablehnen, er ist, sobald er sich in der Masse befindet,
stets bereit, jedem sein Vertrauen zu schenken, dem diese zuju
belt.
Das innere Sein und Denken der Einzelperson liegt außerhalb
des Staates, und sie ist daher für ihn und erst recht für seine
vollkommenste Form, den Totalitärstaat, »Ausland«, und zwar
potentielles »feindliches Ausland« ; er hat daher das begreifli
che Bestreben, das Individuum auszulöschen und es in der
Masse aufgehen zu lassen. Dem Prozeß solcher »Vermassung«
dienen zwei Hauptmittel: Propaganda und Terror, sowie die
Ausrichtung der Gesamtbevölkerung gegen einen gemeinsa
men »Feind«, der hiezu u. U. eigens erfunden werden muß,
aber auch ohneweiters erfunden werden kann.
Das Propagandainstrument des mittelalterlichen Totalitär
staates war die Kirchenkanzel. Aber die Kirche durfte nicht
»Vermassung« anstreben, sie hatte - und dieser ursprünglichen
christlichen Humanitätsaufgabe blieb sie trotz ihrer vielen
Schwankungen treu - für die Einzelseele zu sorgen; ihr Ziel lag
nicht in der Bildung von Massen, sondern in der zur »Ge
meinde«, also in einer Gruppenbildung, welche die Einzelper
sönlichkeit intakt läßt. Hierauf ist es wohl, wenigstens teilweise,
zurückzuführen, daß keine der mittelalterlichen Tyrannisfor
men zu jener noch immer unvorstellbaren Barbarei gediehen
sind, deren sich die modernen Diktaturen schuldig gemacht ha
ben und schuldig machen. Das hindert nicht, daß im Mittelalter
gleichfalls aufs kräftigste sowohl von der weltlichen wie von der
geistlichen Macht - die Kirche war eben auch Institution und
darin weltlich —mit Terror gearbeitet worden ist, umsomehr als
das Heidnische noch keineswegs erloschen war und daher in
Gestalt des Teufels den stets bekämpfbaren und überdies lo
gisch notwendigen Gottesfeind abgab. Nichtsdestoweniger, der
eigentliche Terror, also Inquisition, Ketzerverbrennungen,
Hexenverfolgungen waren in der Hauptsache nachmittelalter
liche Erscheinungen und fielen in eine Zeit, in der die Stellung
der Kirche als alleiniger Zentralwert bereits zu wanken begann.
Ob Propaganda oder Terror, ihrer beider moderne Fassung
unterscheidet sich von der mittelalterlichen durch den Mangel
normativer Richtlinien: sie dienen beide der nackten Willkür
und ihrer Sprunghaftigkeit; da die Diktaturen im letzten nichts
als sich selbst vertreten und eben hiefür prinzipien- und stand
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punktlos sein müssen, also eine rüdeste Realpolitik treiben, die
sich mit den täglichen Erfordernissen immerzu ändert, ist das
Widerspruchsvolle geradezu ihr Lebenselement und hat auch
ihre Propaganda danach eingerichtet, d. h. wendet sie unge-
scheut und mit stets gleicher Uberzeugungsstärke auf die wi
derspruchsvollsten Entscheidungen und Handlungen an, und
da es in solch kontradiktorischem Wirbel kein Gut und kein
Schlecht gibt, also keiner ein wirklicher Ketzer sein kann, wird
der Terror einfach wahllos und unverhohlen um seiner selbst
willen ausgeübt. Trotzdem wirkt diese Art der Propaganda, und
zwar nicht anders wie ihre harmlose Vorgängerin, nämlich die
(von der Intensivwirtschaft benötigte) kommerzielle Reklame,
die auch von niemandem geglaubt wird und doch die Verkaufs
ziffern hinauftreibt. Und gerade der wahllose Terror wirkt
grauenhafter als jener alte, der sich noch gegen »Schuldige« ge
richtet hatte, denn schuldig wird nun jeder, der vom Terror ge
troffen worden ist; ob der Feind »Kapitalist« oder »Jude«
heißt, wird dabei zunehmend belangloser, vielmehr geht es um
die Feind-Kategorie an sich, die nicht aussterben darf und da
her vom Terror immer weiter mit neuen Opfern frisch aufgefüllt
wird, weil gerade damit die Diktatur - die sich in diesem Zu
sammenhang auch »Revolution in Permanenz« nennt - ihre
Daseinsberechtigung propagandistisch zu beweisen trachtet
und schließlich auch hiefür Glauben findet: das Ruhebedürfnis
des Menschen grenzt immer an Gleichgültigkeit, und wenn er
unter ständigem Propaganda- und Terrordruck lebt, geht sie in
eine Abgestumpftheit über, die ihn am Ende alles glauben läßt,
was man ihm vorschreibt.
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kaum bezweifelt werden; für Kriegstriremen braucht man Ga
leerensklaven.
Denn vor allem muß berücksichtigt werden, daß der moderne
Krieg, ja vielleicht nur er die unbedingte Anwendung techno
kratischer Prinzipien erfordert. Idealistische Technokraten -
und es gibt deren sowohl solche kapitalistischer wie sozialisti
scher Richtung - behaupten zwar, daß ihre Lehre die Heilsbot
schaft für die friedliche und glückliche Entwicklung der
Menschheit in sich trage, aber es verhält sich damit genauso wie
mit dem Kapitalismus und dem Sozialismus selber: man kann
ebensowohl mit einer kapitalistischen wie mit einer soziali
stischen Wirtschaft in den Totalitarismus hineingeraten - und
gerade der heutige Weltzustand spricht für beides -, aber man
kann auch mit beiden Wirtschaftsformen zu einem Maximum
menschlicher Freiheit gelangen, soferne ein allgemein humaner
Wille, eine allgemein humane Moral - die freilich heute fehlt
- hiefür vorhanden ist. M. a. W., Technokratie mag sehr wohl
zur Einrichtung einer humaneren Welt verwendet werden, aber
sie zwingt nicht dazu, vielmehr ließe sich behaupten, daß sie
eine zumindest ebenso große Affinität zum Totalitarismus be
sitzt: denn Technokratie ist unbedingte Sachgebundenheit; sie
bemüht sich, die Logik der Dinge zu erforschen, um aus dieser
die richtige soziale Verhaltensweise zu gewinnen - beispiels
weise die Entscheidung für kapitalistische oder sozialistische
Bewirtschaftung der einzelnen Produktionszweige -, aber in
gewissem Sinn tut der Totalitarismus das nämliche, indem er
den Staat als technisches Gebilde in die Betrachtung ein
schließt. Kurzum, sowohl die Maschinentechnik wie die Insti
tutionstechnik, diese das Objekt des totalitären Denkens, jene
das der eigentlichen Technokratie, sie sind beide Menschen
werk, und wenn man das Menschenwerk vom Menschen loslöst,
um umgekehrt dessen »richtiges« Verhalten daraus abzuleiten,
so entsteht ein Zirkel, aus dem das Menschliche als solches ge
radezu automatisch ausscheidet.
Es spricht vieles dafür, daß ein strikt technokratisch geleitetes
Gemeinwesen zu anderwärts unerreichbaren materiellen Lei
stungen gelangen wird, doch mit zumindest ebenso großer Si
cherheit ist zu erwarten, daß dieses Rekordgemeinwesen ein
totalitäres sein wird.
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Sechster Teil (Anarchie)
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talitärstaat infolge seiner Verwandlung in nackte Diktatur et
was Ähnliches geschehen ist; auch er hat kein Dach mehr oder
bestenfalls nur ein sehr flaches.
Betrachtet man den theoretischen Sowjetaufbau genau, so
kann man nicht umhin, seine wohlausgewogene Subtilität zu
bewundern: die Masse des politisch noch nicht reifen Volkes
steht unter dem edukatorischen Diktat der Partei (in die es al
lerdings in zunehmendem Maße hineinwachsen soll), und diese
agiert ihrerseits auf scheinbar demokratischer Basis, wobei
freilich die normativen Richtlinien ihres Handelns durch die
Wissenschaftlichkeit der Marxschen Lehre ein für allemal fest
gelegt sind; daß hinter dieser auch noch eine mystische Abso
lutheit steht, nämlich der ins Materiale gewendete Hegelsche
Weltgeist, und daß auch das Vertrauen zu der innerhalb der
Partei wirkenden Majoritätsvernunft (abgesehen von Wahr
scheinlichkeitsüberlegungen) mystische Wurzeln hat, ist in dem
Gesamtaufbau so peripher geworden, daß eine eigentliche Be
rufung auf ein göttliches oder Naturrecht kaum mehr nötig er
scheint, obwohl es im Prinzip der »sozialen Gerechtigkeit«
noch immer durchschimmert und seine guten Dienste, insbe
sondere für Propagandazwecke, tut.
Der theoretische Kommunist hält nach wie vor an dieser
Struktur fest und meint, daß sie trotz ihrem gegenwärtigen Ver
fall spätestens nach erfolgter Weltrevolution wieder zur Akti
vierung gelangen könnte. Doch wie immer dem auch sei oder
sein wird, es ist eine Struktur, die in ihrer Vielschichtigkeit die
ganzen Mängel der simplen Zweigeschossigkeit Demokratie-
Naturrecht zutage treten läßt: entweder muß die Demokratie
zu ihrer klaren Verwurzelung im göttlichen Recht zurückkeh
ren - aber staatliche Maßnahmen sind das schlechteste Mittel
zur Wiedererweckung von Glaubenshaltungen und ihrer Plau
sibilität -, oder sie muß trachten, gleich dem Sowjetismus sich
der Fiktion des Naturrechtes, das ein bloßer Ersatz ist, zu entle
digen, und versuchen, ihre normativen Richtlinien auf andere
- wissenschaftlichere —Weise zu begründen: der demokratische
Praktiker möge dies für überflüssig halten, aber die Kurzlebig
keit all der Diktaturen, die ohne theoretische Stütze lediglich
der Tagespolitik dienen, darf als Gegenbeweis angeführt wer
den.
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Immerhin, die Demokratie behauptet, bereits in einem Zustand
zu sein, der vom Sowjetismus erst angestrebt wird: sie erachtet
ihre Mitglieder für politisch allesamt gleichmäßig reif (höch
stens annehmend, daß etwaige Reifeabstufungen sich automa
tisch ausgleichen) und kann daher auf »die« Partei verzichten,
welche als interndemokratische Führerschicht über das übrige
Volk gesetzt ist und ihm diktiert. Nichts wäre also unange
brachter als eine Übertragung der Sowjetstruktur auf demo
kratische Verhältnisse, und sollte etwa dagegen eingewendet
werden, daß in diesen ein Organ fehlt, das - wie eben »die Par
tei« - über die Reinheit der normativen Richtlinien zu wachen
hat, so scheint das eine Aufgabe zu sein, mit der in einer richtig
funktionierenden Demokratie ohneweiters die normalen ge
setzgebenden Körperschaften sowie der oberste Gerichtshof
betraut werden können. Was wahrhaft fehlt, ist die exakte For
mulierung dieser Aufgabe.
Denn je mehr die Demokratie sich säkularisiert, desto mehr
hat es den Anschein, als würde sie vor einer Auseinanderset
zung mit ihren Absolutheitsgrundlagen zurückscheuen, mehr
noch, als würden diese geradezu geflissentlich mit ihren Effek
ten verwechselt werden: weil die Demokratie kraft ihres initia
len, gegen die Versklavung des Menschen gerichteten Impetus
Meinungs- und Redefreiheit hervorgebracht hat, ist die Ansicht
entstanden, daß sie nichts anderes als Meinungs- und Redefrei
heit sei, auch wenn damit Mißbrauch getrieben und die Wie
derversklavung des Menschen gefordert wird, ja daß das Zu
standekommen eines derartigen absurden Majoritätsbeschlus
ses, der die Selbstaufhebung der Demokratie bedeuten würde,
von ihr widerstandslos hingenommen werden müsse. M. a. W.,
die Mystik des Glaubens an die absolute Vernunft der Majorität
hat den Sieg über die Mystik der normativen Richtlinien und
deren absolute Invarianz davongetragen, und das Resultat ist
hemmungsloser Relativismus, ein Relativismus, in dem sich so
gar die Grenzen zwischen Normal und Abnormal, zwischen
Gesundheit und Krankheit verwischen: »normal« ist das, was
die Majorität will (und sei es auch nur mit der Mehrheit einer
Stimme), und wenn man einstmals geglaubt hatte, es könnte
niemals eine Majorität so pathologisch abnorm sein, daß sie für
einen Verzicht auf die Menschenrechte und eine Selbstaufhe
bung der Demokratie stimmen werde, so hat das deutsche Bei
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spiel gezeigt, wie leicht sich hiefür eine Majorität finden läßt.
Und dies eben ist das Wesentliche, wenn die demokratische
Gesetzgebungsmaschinerie den Schutz der normativen Richtli
nien, deren Weiterbestand mit dem der Demokratie eins ist,
übernehmen soll, auf daß sie dem stets drohenden Majoritäts
relativismus entzogen werden: gibt es für die Demokratie ein
System so unangreifbar gültiger ethischer Sätze (von denen die
Verabscheuungswürdigkeit der Menschenversklavung einer
wäre), daß diese selbst gegen einen Majoritätsbeschluß vertei
digt werden müssen? Und welcher Art soll diese Verteidigung
sein? Läuft das nicht doch auf Minoritätsdiktatur nach Art der
sowjetischen (wenn auch mit anderm Inhalt) hinaus? Und als
letztes: können die normativen Richtlinien der Demokratie
gleich den totalitären strafrechtlich geschützt werden?
Das ist cum grano salis der Problemstand der modernen De
mokratie, zumindest soweit Großdemokratien in Frage kom
men. Bestünde nämlich die Welt aus lauter Kleinstaaten, so
gäbe es - wenigstens fürs erste - auch keine Totalitarismen.
Aber an eine Rückparzellierung der Welt zu denken, wäre
sinnloses Phantasieren.
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lativismus im positiven Recht sprechen: das Recht an sich ist
leere Form und gestattet gleich der Logik zwar keine Wider
sprüche in einem gegebenen System, wohl aber die mannig
fachsten Systeminhalte, so daß sogar das Nazirecht als Derivat
jenes »Rechtes an sich« gelten dürfte. Und der Inhaltsrelativis
mus erscheint umso gebotener, als kein Rechtssystem starr
bleibt, vielmehr jedes im Zuge seiner Entwicklung ganz funda
mentale Veränderungen erfährt: von den Hexenverbrennun
gen bis zur Strafausschließung auf Grund von Irrsinn ist ein ge
waltiger Weg von Rechtstransformationen zurückgelegt
worden. Die Verbrennung von Hexen war aber zu ihrer Zeit
ebenso »natürlich« wie es heute die Unbestrafbarkeit von Irr
sinnstaten ist; von einer Invariabilität des Naturrechtes kann
also keine Rede sein, vielmehr muß es, soferne überhaupt mit
ihm operiert werden kann, in relativistischer Beleuchtung be
trachtet werden, d. h. als eine Art gefühlsmäßiges Rechtsemp
finden, das eine Art Vorstadium des positiven Rechtes ist, sich
aber von ihm bloß im Helligkeitsgrad unterscheidet und, gleich
ihm Menschenwerk, sich mit ihm nach Zeit, Ort und sozialen
Umständen verändert.
Aus diesem Relativismus kann die Menschheit immerhin eini
ges lernen, vor allem, daß sie mit Absolutheitsüberzeugungen
und Absolutheitsforderungen, die sich auf »inhaltliche« Sach
verhalte beziehen, äußerst vorsichtig umzugehen hat: als Le
nin9verkündete, daß es nur eine einzige Moral, nämlich die des
Klassenkampfes gäbe, und daß ihrethalben jede andere, also
Pakttreue oder Mitleid oder sonst irgendeine Haltung simpler
menschlicher Anständigkeit, gebrochen werden dürfte, ja ge
brochen werden müßte, hat er eine wissenschaftliche Theorie,
die Marxsche, zu einem Absolutheitsrang erhoben, der keiner
Theorie, und nicht einmal [einer] besser fundierten, geschweige
denn irgendeiner sozialökonomischen, zukommt. Lenin war ein
großer und ebendarum sogar auch ein gütiger Mensch, der trotz
seiner ungeheuren Tatenergie niemals gewagt hätte, millionen
fachen Mord - nackten, gemeinen Mord - zu entfesseln, wenn
er sich nicht durch seine »Überzeugung«, durch seinen Glauben
an die Absolutheitsgeltung der Marxschen Lehre hiezu ver
pflichtet gefühlt hätte; es war der gigantische Fehlschluß eines
gigantischen Menschen, und er hatte ihn - so darf behauptet
werden - mit Selbstzerrüttung zu bezahlen. Was nach ihm kam
153
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-Trotzkij, freilich weitaus geringeren Formates als er, schied
aus war machiavellistisches Gesindel, das auch ohne Abso
lutheitsglauben gemordet hätte, und erst recht trifft das auf die
außermarxistischen Diktatoren vom Schlage Hitlers zu, wenn
man auch diesem den Glauben an die Absolutheitsgeltung sei
ner Rassentheorie zugestehen muß.
Kann aber bei solch allgemeinem Relativismus sich die De
mokratie auf eine »bessere« Absolutheit stützen?
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»Strafen«, so zeigen sie sich durchwegs als zwangsweise »Ich-
Verkleinerungen«. Über sein Ich weiß der Mensch, allerdings
nur gefühlsmäßig, recht gut Bescheid, da er es, berechtigter
weise, mit seinem Leben schlechthin identifiziert. Das Ich ist ein
physisch-psychisches Aggregat, und alle Wunschbilder des
Menschen zielen auf eine ständige Erweiterung oder zumindest
Intakthaltung dieses Aggregats. Gewiß, physische Erweiterung
ist trotz aller Gigantenphantasien ausschließlich dem Kinde
während seines Wachstums (das Organglück der Jugend) Vor
behalten, doch die Bewegungs- und Leistungsfähigkeit des
Körpers bleibt auch später immerhin noch ein Wachstumssym
bol, und vor allem sind alle Umweltteile, welche ins »Eigen
tum« des Individuums übergehen, als solche Symbole zu neh
men: ob der Mensch sich materielle Außenweltbestandteile, sei
es in Gestalt von Nahrung, Kleidung, Besitztümern usw., an
eignet oder ob er den Nebenmenschen sich durch Liebe oder
Zwang in Dienstbarkeit bringt, oder ob er die Außenwelt -
noch symbolischer und sublimierter - durch geistige Annexion,
d. h. durch Erkenntnis bewältigt, oder ob er sich all das nur er
träumt und hiezu Rauschgifte verwendet, immer ist es reale
oder fiktive Ich-Erweiterung, und ebendiese, zusammen mit
den sie begleitenden ekstatischen Gefühlen, wird vom Men
schen als »Wert«, als sein Lebenswert bezeichnet. Alle »Stra
fen« richten sich gegen Ich-Erweiterungen; sie schränken sie
ein oder heben sie auf oder gehen mit ausgesprochenen Ich-
Verkleinerungen vor, schneiden also Werterlebnisse sowie die
dazugehörigen Ekstasegefühle ab und erzeugen im Menschen
die Panikgefühle, von denen jede Ich-Verkleinerung unab-
weislich begleitet wird. Die radikalste Ich-Verkleinerung ist die
Todesstrafe, und für den Primitivmenschen ist sie auch die ein
zig denkbare, umsomehr als Ausstoßung aus dem Stamm (um
die es dabei geht) geradezu automatisch den Individualtod nach
sich zieht. Alles was in der späteren Strafentwicklung sich voll
zogen hat, angefangen von den Leibesstrafen bis zur humani
sierten Einkerkerung und zu den Geldstrafen, ist nicht nur
Symbol der Ich-Verkleinerung, sondern ebendarum auch sym
bolische Todesstrafe. Strafe ist demnach Hintanhaltung von Ich-
Erweiterung: das »Recht« des Straflosen ist das Recht auf unge
störte Ich-Erweiterung, und nur von hier aus - anders ist auch die
»pursuit of happiness« der amerikanischen Unabhängigkeits
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erklärung nicht auszulegen - ist der positive Inhalt des Natur
rechts zu verstehen.
Der Begriff der Freiheit ist ein Akzessorium des Rechtes zur
Ich-Erweiterung, ist also inhaltlich bestimmt, während der
Gleichheitsbegriff ein formaler Begriff ist, der aus dem des
Rechtes als solchem hervorgeht: das »Recht an sich«, ein
schließlich des Naturrechts und des positiven Rechts, kennt
Ich-Einschränkungen bloß als Strafe, hat aber keine Handha
ben, um innerhalb der Gruppe der »Straflosen« irgendwelche
Distinktionen zu machen, etwa so, daß einem ein größeres, dem
andern ein geringeres Maß an Ich-Erweiterung zukommt; hier
aus erfließt u. a. auch der Satz: Vor dem Gesetz gibt es keinen
Unterschied der Person.
Der Relativismus beginnt mit dem Begriff des »Verbrechens«.
Daß ohne geschehenes Verbrechen der Mensch nicht aus dem
Stand der Straflosigkeit in den der Strafwürdigkeit versetzt
werden darf, geht aus dem Formalbegriff des Rechtes hervor
und ist infolgedessen selber eine lediglich formale Feststellung,
- wo aber ist das inhaltliche Kriterium des Verbrechens? Und
damit wird wieder das Gebiet der (eben relativistischen) nor
mativen Richtlinien betreten. Wenn noch im 17. Jahrhundert
Hexen zur Strafe des Feuertodes verurteilt werden konnten, so
war dies möglich, weil die These von der Fleischwerdung der
Sünde im Teufel und durch den Teufel eben noch volle Moral
plausibilität besaß. Und wenn Lenin jeden politischen Gegner,
so revolutionär er auch eingestellt sein mag, als einen Agenten
der Bourgeoisie bezeichnete1\ der mit ihr zusammen der Strafe
der Ausrottung zu verfallen hat, so ist das zwar eine Ungeheu
erlichkeit, aber sie stimmt mit den normativen Richtlinien, die
er vermittels Absolutierung der Marxschen Thesen dem bol
schewistischen Staat gegeben hatte, logisch unanfechtbar über
ein, genauso wie die Hexenverbrennungen logisch mit der Teu
felstheorie übereinstimmen. Die Teufelstheorie ist von einer
höchsten Moralebene ausgegangen, und der Marxismus von ei
ner, der sehr bedeutender wissenschaftlicher Rang zukommt,
und doch sind sie beide zu Auswirkungen gelangt, zu deren Er
reichung ebensogut von der rassentheoretischen Tiefebene
hätte ausgegangen werden können: sie gelangten dorthin, wo
Verbrechensbestrafung gemeiner Mord wird. Denn alles In
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haltliche besitzt bloß relativen Wahrheitswert, und wenn es zum
Absolutum erhoben und bis in seine letzte Konsequenz verfolgt
wird, muß es, um sich zu behaupten, zu Wahnsinn und Mord
führen.
Humanität muß sich des Relativismus aller inhaltlichen Fest
stellungen bewußt bleiben. Und gerade darin liegt für die De
mokratie die Schwierigkeit bei der Fassung ihrer normativen
Richtlinien. Denn das Verbot zur Behinderung der individuel
len Ich-Erweiterung (gleichbedeutend mit dem Verbot zur Be
hinderung der persönlichen Freiheit und der pursuit of happi-
ness) sagt nichts über sozial erlaubte und sozial unerlaubte
Ich-Erweiterungen aus; sehr viele individuelle Ich-Erweite-
rungen beeinträchtigen die des Nebenmenschen, - wo also en
det deren Antastbarkeit, wo beginnt ihre Unantastbarkeit?
Gewiß, die jahrtausendealten Sozialtraditionen der Mensch
heit, nicht zuletzt in den Kodifikationen der großen Weltreli
gionen, also für das Abendland in denen der Bibel und in den
Humanisierungsbestrebungen der Christlichkeit, haben eine
für nahezu die ganze bewohnte Erde gültige Rechtsmoral ge
schaffen, kraft welcher sich Mord, Diebstahl, Paktbruch usw.
allüberall als Verbrechen qualifizieren, und trotzdem konnte in
den amerikanischen Lynchregionen12 [sich] eine - durchaus
hitlerisch begründete - Mischung von Rassenmord und Hexen
verbrennung als fiktive »Verbrechensbestrafung« etablieren,
deren Duldung auch heute noch für die Einzelstaaten »demo
kratisches Recht« ist, so daß sie sich bemüßigt fühlen, es gegen
die Bundesregierung zu verteidigen. Das ist freilich ein Ex
tremfall des demokratischen Relativismus, - und doch, gibt es
tatsächlich (außer der Bibel) keine Handhabe, um auch inner
halb der Demokratie einem inhaltlichen Tatbestand, wie eben
dem Mord, absoluten Verbrechenscharakter beimessen zu
können?
Wo es um Inhalte geht, ist aus formalen Bestimmungen, mö
gen sie auch die einzig wahrhaft einwandfreien sein, nichts zu
gewinnen; Inhalte müssen auf Inhalte referiert werden. Nun
haben aber die von Staats wegen über den Verbrecher verhäng
ten »Strafen« nicht nur die Formalfunktion der Einschränkung
oder Aufhebung seiner Ich-Erweiterung, sondern sie haben
auch sehr materielle Inhalte, nämlich Deklassierung und eine
sehr weitgehende Entrechtung bis zur erfolgten Strafabbüßung,
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zwangsweisen Geldentzug, Drosselung der Freizügigkeit durch
Einkerkerung mitunter fürs ganze Leben und schließlich bei
Kapitalverbrechen Hinrichtung. Wesentlich hiebei ist, daß alle
diese Strafinhalte auch die Charakteristika von Versklavung
sind, und wenn auch der Staat mit seinen Sträflingen nicht will
kürlich verfahren darf, sondern regulativ gebunden bleibt, er
agiert ihnen gegenüber doch auf Strafdauer als Sklavenhalter.
Und das ist der Punkt, von dem aus der Rückschluß gezogen
werden darf: wenn das legendäre Naturrecht dem Nicht-Ver
brecher voll zuerkennt, was es dem Verbrecher aberkennt, so
hat die Demokratie, die ihrer Intention und infolgedessen ih
rem Inhalt nach Auflehnung des Menschen gegen jegliche Art
von Versklavung ist und überdies solche Auflehnung natur
rechtlich zu begründen wünscht, dafür zu sorgen, daß in ihrem
Machtbereich keinerlei Handlungen begangen werden, die in
ihrer Tendenz irgendeines der Versklavungscharakteristika
aufweisen: das gilt sowohl für die Handlungen des Bürgers im
Verhältnis zum Nebenbürger als auch für die Handlungen der
von den Bürgern gebildeten Institutionen und insbesondere für
den Staat selber, und zwar ebensowohl in seinen gesetzlichen
wie administrativen Funktionen. Ein Staat, der diesen Kriterien
nicht genügt und z. B. einer Gruppe seiner Bürger Lynchjustiz
gestattet, ohne eine solche als gemeinen Mord zu ahnden, kann
trotz sonstiger demokratischer Einrichtungen nicht Demokra
tie genannt werden.
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ist, so daß von hier und wohl nur von hier aus, also im Gegensatz
zum Marxismus weit mehr im psychologisch-erkenntnistheore
tischen als im ökonomischen Gebiet verwurzelt, die Theorie der
Demokratie und ihrer normativen Richtlinien jene wissen
schaftliche Begründung erfährt, die dem rationalisierten Plau
sibilitätsbedürfnis dieser säkularisierten Epoche entspricht.
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tinomisch ist, und daß in Wahrheit darin das unbewußte Wissen
um die schließlich unvermeidbare Synthese von Thesis und An
tithesis sich anmeldet, so daß der so infame Trick der Kreierung
von »Feinden« als eine für den Augenblick zwar praktische,
letztlich jedoch überflüssige und ebendarum unheilsträchtige
Beschwindelung der Massen sich erweist. Im 18. Jahrhundert
waren noch fast für jedermann Republikanismus und Monar
chismus zwei antinomische Begriffe, und doch war das engli
sche Volk, schier ohne es selber zu bemerken, bereits daran, sie
zur konstitutionellen Monarchie zusammenzuschweißen, in der
konservative Gefühls- und Moralhaltungen, wie eben Anhäng
lichkeit an Tradition und altbewährte Einrichtungen, sich aufs
glücklichste und nachhaltigste mit der neuen Freiheitsmoral
kombinierten. Unendlich viele Wellen von Thesen und Anti
thesen durchziehen den Geschichtsablauf, und gewiß führen sie
nicht samt und sonders zu synthetischen Kompromissen - am
allerwenigsten lassen sich solche zwischen Wahrheit und Lüge
schließen -, doch wo es um die Anpassung der Tradition an
neue Notwendigkeiten geht, nicht zuletzt also im Kerngebiet
der Tradition, also dem der Moralhaltungen, da hat sich wohl
immer am Ende die Traditionsanreicherung durch die Synthese
und ihre Fruchtbarkeit ergeben.
Wellenberg und Wellental sind wieder einmal vertauscht. Das
Freiheitsbedürfnis des Menschen, verkörpert in den wenigen
noch verbliebenen Demokratien, ist zum konservativen Ele
ment geworden, während das Streben nach Sicherheit mit sei
nen Totalitärneigungen den Anspruch erhebt, als neue Welt
moral anerkannt zu werden. Die Demokratien wären berufen
(gerade weil der Kompromiß zu ihrer Mechanik gehört), das
Neue zu assimilieren und damit sowohl die fascistischen wie die
kommunistischen Anschläge, von denen sie im Innern bedroht
werden, unschädlich zu machen, d. h. die Tendenz der Antiver
sklavung vor solch eminenter, mit jedem Tag wachsender Ge
fährdung zu retten. Täten sie das nicht, so wäre das ein Zeichen
für die von den Totalitarismen behauptete und doch kaum
glaubhafte Seniiität des Individualismus und seiner demokrati
schen Moral.
Freilich, mit einer einfachen Negierung der totalitären Stre
bungen ist es nicht getan. So selbstverständlich es ist, daß der
Staat und gar der Rechtsstaat, als dessen Konkretisierung kat’
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exochen die Demokratie sich dünkt, die moralischen Haltungen
seiner Bürger bloß im Wege des Gesetzes und der gesetzlichen
Strafen zu regeln vermag, es können bloß konkrete Gesetze
eine lebendige Wirkung haben, also solche, die sich auf die
konkreten Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Ne
benmenschen anwenden lassen und zugleich seine unbewußten
moralischen und rechtlichen Vorstellungen zum Aufklingen
bringen. Mit abstrakten Lehrgesetzen (etwa nach Art des »Ge
setzes zum Schutz der Republik«13, mit dem Deutschland die
Nazigefahr hatte abwenden wollen) hat noch nie ein Staat die
Haltung seiner Bürger beeinflußt.
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jeder Machthaber verführt werden könnte - haben sich als »Bill
of Rights«, »Declaration des Droits de THomme«14 usw. aus
schließlich gegen die Regierungen gerichtet, und sie haben in
sofern günstig gewirkt, als sie die in deren Schatten arbeiten
den, ja oftmals sie befehligenden und überdies zumeist
diktaturzugeneigten Dauerbürokratien (wie z. B. die der fran
zösischen Ministerien) immerhin gezügelt haben. Die Regie
rungen als solche jedoch hätten, entgegen den ursprünglichen
Befürchtungen, solcher Zügelung kaum bedurft; demokratisch
gewählt, haben sie, bisheriger Erfahrung gemäß, fast niemals
versucht, den ihnen vorgeschriebenen Rahmen zu sprengen,
natürlich mit Ausnahme derjenigen, welche wie Hitler von
vornherein solche Absicht gehegt und von langer Hand vorbe
reitet hatten, also auch von vornherein willens waren, die ihnen
auferlegte Verpflichtung zur Respektierung der Menschen
rechte zu brechen und ihrem von den Wählermassen gutge
heißenen Programm entsprechend an das offen angekündigte
Versklavungswerk zu gehen.
Wird die Verletzung der Menschenrechte zu einem gemeinen
Verbrechen erklärt - und es ist nicht einzusehen, warum sie et
was anderes sein sollte, da sie im letzten eingestandenermaßen
Mordabsicht ist —,dann können die konstitutionellen Deklara
tionen nach Art der »Bill of Rights« ruhig ihre heutige mehr
dekorative als praktikable Form beibehalten: der eigentliche
Schutz der Menschenrechte wird dann den ordentlichen Ge
richten überantwortet sein, ja schon bei denen erster Instanz
beginnen.
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»Nichtversklavung« reduziert werden, so ist damit eben auch
ausgedrückt, daß sie am Versklavungsverbot zu konstituieren
sind, genauso wie des Menschen Recht auf sein Leben - seit den
Zehn Geboten-sich am Mordverbot konstituiert. Kurzum, die
Demokratie benötigt zur Aufrechterhaltung ihres Bestandes
nicht nur eine »Bill of Rights«, sondern auch eine »Bill of Du-
ties«, d. h. eine Gruppe von »Gesetzen zum Schutze der Men
schenwürde«, mit denen zu verhüten ist, daß irgendeine Person
im Staatsbereich irgendeine andere in Sklaverei zu versetzen
sucht oder dies tatsächlich tut.
In Ansehung der amerikanischen Verhältnisse wären hiezu
folgende strafwürdige Tatbestände zu skizzieren.
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derholungsfall hat sich der erste Strafsatz respektive zu verdop
peln, zu verdreifachen usw.
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und Kongreßmitgliedern automatisch auf, sicherlich keine po
puläre Konsequenz, dennoch eine wichtige, vor allem weil die
Einbringung eines jeden parlamentarischen Antrages, mit dem
die demokratischen Freiheiten und die Menschenwürde ange
griffen werden sollen, eine Selbstaufhebung der Demokratie
darstellt, dann aber auch, weil die Parlamentstribüne - die Na
zis sind hiefür das traurigste Beispiel - nicht zu derart zynischen
und verbrecherischen Propagandazwecken mißbraucht werden
darf.
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tion sehr nahe (ist manchmal sogar eine solche), und wenn sie
mit Menschenrechten und Menschenfreiheit ausgestattet wird,
so ist das eine Art Selbstbeschwindelung des demokratischen
Antiinstitutionalismus und umsomehr ein Unfug, als sich - mit
der Transformierung von Riesenunternehmungen zu staats
bürgerlichen R iesen-von hier aus einer der Wege zum (kapi
talistischen) Fascismus eröffnet. Es zeugt für die Gesundheit
der amerikanischen Demokratie, daß sie verhältnismäßig bald,
schon unter Theodore Roosevelt, sich dieser Gefahren bewußt
wurde.
Kurzum, die lebende Person ist in ihren staatsrechtlichen
Freiheiten unantastbar; die juristische Person besitzt keine die
ser Freiheiten, und wenn sie darum auch nicht vogelfrei ist, es
kann ihre Existenz nicht nur durch Strafen bei Gesetzesüber
tretungen, sondern auch durch andere gesetzliche Bestimmun
gen eingeschränkt und sogar aufgehoben werden: bloß die
Strafbarkeit hat die juristische Person mit der lebenden Person
gemein; immerhin, gerade dies ist mit einer der Gründe, die zu
der verhängnisvollen Gleichsetzung der beiden Personbegriffe
geführt haben, denn bei der stets bereiten Neigung zur Anthro-
pomorphierung wurde daraus - wenn auch nur unbewußt - ge
schlossen, daß die juristische Person gleichfalls ein Ich besäße,
dessen Erweiterung (groteskerweise also ihre pursuit of happi-
ness)bloß im Straffall eingedämmt werden dürfe. Noch folgen
schwerer freilich ist es, daß umgekehrt auf Grund dieser vom
Straffall bedingten Gleichsetzung die Demokratie sich für be
rechtigt, ja verpflichtet hält, in Ansehung des Verbrechers die
Personauffassung des Totalitarismus zu adoptieren, d. h. ihn (in
seiner Voll-Sklavenhaftigkeit) juristisch als bloße Sache einzu
schätzen, deren Radikalvernichtung (ohne Rücksicht auf ir
gendwelche Menschenhaftigkeit) ohneweiters zulässig ist: das
ist nichts als ein rationaler Kniff, mit dem die magischen
Grundlagen der Todesstrafe bemäntelt werden sollen, ein un
würdiger Kniff, weil er auf einer (in echter Magie und ihrer
strengen Logizität niemals vorkommenden) Begriffsverwechs
lung aufgebaut ist, ein funebrer Irrationalkniff der Rationalität
und überdies voll schlechten Gewissens, weil die Demokratie
genau weiß, daß die Unantastbarkeit der Menschenwürde, daß
die daraus erfließende Forderung nach Separierung der leben
den von der juristischen Person die radikale Aufhebung der
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Todesstrafe in sich schließt. Nur wo der Staat legitim diktato
risch wird, wie z.B. im Kriege, darf er auch das Totalitärakzes-
sorium kat’exochen, die Todesstrafe, wieder aufnehmen.
Die Separierung der lebenden von der juristischen Person so
wie die Aufhebung der Todesstrafe bilden offensichtlich not
wendige Ergänzungen zur »Bill of Rights«, fallen also auch mit
ihr unter den Schutz der »Bill of Duties«, ohne in dieser eigens
erwähnt zu werden. Die sich aus dem Sachverhalt ergebenden
zusätzlichen Verhaltensmaßregeln für juristische Personen wä
ren Gegenstand der gewöhnlichen Gesetzgebung.
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mal zynischen Aufrichtigkeit für sich; der Lobbysmus und die
Parteimaschinerien sind Instrumente dieses Machtkampfes,
daneben aber auch das »Recht zum Geben«, - soll die soziale
Fürsorge aus freiwilligen Beiträgen der Gesellschaft (welche
damit die Massen mit der bestehenden ökonomischen Struktur
versöhnt) oder aber (um der am Ruder befindlichen Partei die
nächste Wiederwahl bei den Massen zu sichern) aus der Staats
kasse und durch Steuereintreibungen bestritten werden? Da es
ein innerkapitalistischer Konkurrenzstreit ist, zieht der Befür-
sorgte seinen Nutzen daraus; sowohl das staatliche wie das pri
vate Sozialvolumen, d. h. die Zahl der Sozialagenturen, der
Krankenanstalten usw., ist in ständigem Ansteigen begriffen,
und rechnet man noch das Unterrichtswesen hinzu, an dem,
insbesondere in seinen höhern Graden, die Gesellschaft ver
mittels Universitäts-, Bibliotheks- und andern wissenschaftli
chen Stiftungen hervorragend beteiligt ist, so zeigt das Gesamt
system, sozusagen ein Halbfürsorgestaat, eine Praktikabilität,
die wahrscheinlich durch keinen Ganzfürsorgestaat sich über
bieten läßt.
Der Nur-Marxist mag das Ganze als Beweis für die Abhängig
keit moralischer Haltungen von ökonomischen Strukturen
nehmen. Der Nur-Demokrat liberalistischer Schule mag sagen,
daß zwar ein Hitler die Wirtschaftsausgeschalteten und Wirt
schaftsunfähigen abschlachten kann, daß dies jedoch keines
wegs auch Wirtschaftsgewinn bedeute, ja daß diese spezifische
Gattung unproduktiver Konsumenten einen nicht minderen
Produktionsanreiz als die Luxusbedürfnisse der leisure dass
bilde, und daß gerade darum ein so reiches Land wie Amerika
- von einem armen ist es nicht zu verlangen, weil keine Wirt
schaft mehr herzugeben vermag als sie produziert - auch ohne
Marxsche Nötigung und ohne Berufung auf die Erfordernisse
der Menschenwürde, also einfach aus Gründen der ökonomi
schen und sozialen Prosperität, die nationale Sozialfürsorge,
gleichgültig ob aus privaten oder staatlichen Quellen gespeist,
auf einen möglichst hohen Stand bringen müsse; das war einer
der Gedankengänge des New Deal, und damit hat er, sicherlich
kein Anwalt des Fürsorgestaates, seine Erfolge erzielt.
Beide, der Marxist wie der Demokrat, haben in diesem Fall
recht: mit Moralprinzipien —und die Forderung nach Men
schenwürde kann mit Stolz behaupten, daß sie ein Moralprinzip
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ist-werden keine Wirtschaftsformen und [wird] demnach auch
kein Fürsorgestaat geschaffen. Es geschieht immer dasjenige,
was die technische oder, wenn man will, die technokratische
Notwendigkeit des Ökonomischen und Sozialen im letzten will.
Und auch das Moralische könnte nicht bestehen, wenn es nicht
Notwendigkeit wäre, zum Teil sogar eine im Marxschen Sinne
ökonomisch-soziale Notwendigkeit, dennoch mit einer absolu
ten Komponente darüber hinausreichend: die Vertretung der
Menschenwürde ist heute eine praktische Notwendigkeit für
die Demokratie, damit sie weiterbestehen könne; doch der
Geltungsgrund, mit dem sie ihren Weiterbestand vertreten
kann, darf, muß, ist im Absoluten gelegen, wenn man will, im
irdisch Absoluten, dennoch im Absoluten und ebendarum mit
der Hoffnung auf Massenwirkung. Fragt man aber, wie sich
diese absolute Moralgeltung mit den technokratischen Sozial-
und Ökonomienotwendigkeiten verträgt, so wird sich wohl im
mer erweisen, daß diese, so zwingend sie in ihrer Eigengesetz
lichkeit sind, in moralischer oder in unmoralischer Weise sich
handhaben lassen: ob kapitalistisch oder sozialistisch gewirt-
schaftet werden muß, entzieht sich dem moralischen Befehl,
nicht jedoch die Art der Ausführung, die dem moralischen Be
fehl unterliegt; ein fascistischer Kapitalismus ist ebenso unmo
ralisch wie eine kommunistische Diktatur, und gegen beide hat
eine auf die Menschenwürde bedachte Demokratie, ob kapita
listisch oder sozialistisch oder in Mischformen, die ungeheure
Chance der Moralität.
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tivismus der Demokratie, gepaart mit ihrem Absolutheitsan
spruch.
Und eben aus diesem Absolutheitsanspruch mag die Demo
kratie ihre künftige Propagandastärke ziehen, mehr noch, sie
mag ihr sogar auch den Relativismus dienstbar machen, durch
dessen bisherige Alleingeltung sie in eine propagandistische
Selbstlähmung geraten war und insbesondere nichts der Totali
tärpropaganda entgegenzustellen hatte. Anders jedoch steht es
mit dem Absolutheitsanspruch der Nichtversklavung: denn
dieser gründet sich auf das »irdische Absolutum«, auf den Ter
ror, auf das unablässige tierhafte Grauen, dem der Mensch
durch die Diktaturen ausgesetzt ist, und nicht zuletzt auf die
unvorstellbare Dehumanisation durch einen neuerlichen Krieg.
Gewiß, all das ist »Feind«, aber nur ein sehr abstrakter Feind,
kein so konkreter wie es »die« Juden, »die« Kapitalisten, »die«
Neger sind. Zudem ist der Terror, um den es da geht, ein un
sichtbarer; er wird irgendwo im Ausland, in Rußland, in Spa
nien, in China ausgeübt, und nicht nur, daß der Mensch Hor
rorschilderungen liebt, weil er sich ja mit dem Quäler und nicht
mit dem Gequälten identifiziert (- bloß ausnahmsweise setzt
volle Identifikation ein, z. B. beim Intellektuellen, dem die von
den Sowjets ausgeübte Drosselung der wissenschaftlichen und
künstlerischen Produktionsfreiheit zur Kenntnis gebracht
wird -), es muß sich Inlandspropaganda auch gegen einen inlän
dischen »Feind« richten, da sie sonst allzuleicht zur Kriegshetze
wird. Zudem darf Demokratie, besonders wenn sie eine »Bill
of Duties« hat, nicht selber gegen deren Artikel 5 verstoßen
und en bloc zu Haß gegen irgendeine Gruppe von Personen
auffordern. Dagegen darf sie, ja muß sie Abscheu vor der un
moralischen Tat, also vor dem gerichtlich gebrandmarkten
Verbrechen erregen. Daß dies unbestimmt gefühlt wird, zeigen
die reichlich ungeschickten Hexenprozesse, die jetzt unter der
Flagge der »Unamerican Activities«16 veranstaltet werden und
dank ihrer Aufmachung und den Persönlichkeiten ihrer Veran
stalter bisher so ziemlich das Gegenteil der von ihnen ange
strebten Wirkung auf die Öffentlichkeit ausgeübt haben; es gibt
keine direkten Inkriminationen, vielmehr müssen sie auf Ne
bengeleise wie Spionage umgeleitet werden, und jedermann
spürt, daß diese unbehaglichen Schauprozesse17 Fremdkörper
im demokratischen Aufbau sind. Strafprozesse, denen eine
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präzise gesetzliche Basis fehlt, sind Selbstmordaktionen der
Demokratie und nützen bloß ihren Gegnern. Ebendiesem übel
aber kann die »Bill of Duties« abhelfen: abgesehen von ihrem
Artikel 1, in dem es um die demokratische Staatsform als solche
geht, sind auch die kleineren von ihr bezeichneten Vergehen
durchaus danach angetan, die dehumanisierende Wirkung, die
von jeder, auch der kleinsten Verletzung der Menschenwürde
ausgeht, sichtbar zu machen. Es gibt kein besseres Propaganda
mittel als das ordentliche Gerichtsverfahren, und gerade in Ba
gatellfällen ist es durchaus geeignet, den Mann von der Straße
über die Tragweite seiner moralischen Haltungen aufzuklären
- eine Verurteilung für die Schmähung »Nigger« ist da keines
wegs weniger gewichtig als eine nach Artikel 1 der »Bill of Du
ties« -, allerdings nur insolange als das Gericht nicht selber, wie
in den Diktaturen, zum Terrorinstrument herabgewürdigt wird.
Ein klagloses Funktionieren der Gerichte vorausgesetzt, ist der
gegen die Menschenwürde verstoßende Verbrecher der Public
Enemy No. 1, der »Feind« schlechthin der Demokratie.
Je intoleranter die Demokratie in jedem einzelnen Fall des
»Schutzes der Menschenwürde« auftritt, d. h. je totalitärer sie
die »Bill of Rights« verteidigt, desto toleranter, relativistischer
und liberaler kann, darf, muß sie sich gegenüber den von dieser
gewährleisteten Bürgerfreiheiten verhalten. Hier begründet
sich die moralische Haltung jener »Fairness«, die besonders als
Bestandteil der angelsächsischen Demokratie die Meinung des
Nebenmenschen unbedingt achtet, jene Haltung der schlichten
»Anständigkeit«, die als Pakttreue und Verläßlichkeit jedem
eingeht, und die doch nicht möglich wäre, wenn nicht alle Bür
ger der Gemeinschaft im letzten einer gemeinsamen morali
schen Grundhaltung absolut verpflichtet wären. Nur in dieser
Kombination von maximaler Gebundenheit in der Grundhal
tung und maximaler Freiheit in allen sonstigen staatsbürgerli
chen Belangen vermag der Mensch sich mit der Staatsinstitu
tion abzufinden, und nur hiedurch vermag er in ihr und durch
sie die von ihm benötigte seelische Sicherheit zu finden: ist die
totalitarisierte Demokratie imstande, ihm das zu vermitteln, so
ist darin auch ihr stärkster Propagandawert gegeben.
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um derentwillen er sich in das Unheil des Staatstotalitarismus
zu stürzen bereit ist. Und es geht ebendeswegen um Assimilie-
rung totalitärer Prinzipien durch das Humane, oder genauer,
um eine säkularisierte Wiederassimilierung, denn einstens war
ja das nämliche bereits durch das Christentum bis zu einem ge
wissen Grade erreicht gewesen. Man dürfte daher auch mit
einigem Fug eine solcherart totalitarisierte Demokratie einen
humanisierten Totalitarismus nennen, ohne sich damit einer
Schmähung schuldig zu machen: im Gegenteil, eine wahrhaft
totale Humanitätshaltung ist das Höchste, was von einem irdi
schen Gemeinwesen erwartet werden kann.
Unzweifelhaft liegt darin eine besondere Kraftprobe für die
Demokratie. Aber befindet sie sich nicht schon inmitten einer
solchen? Ist der innere und äußere Ansturm der Totalitarismen,
dem sie ausgesetzt ist, nicht schon in vollem Schwung? Daß in
einem solchen Halbkriegszustand sich auch schon eine Halb
diktatur zu entwickeln beginnt, ist nur selbstverständlich, indes,
diese Halbdiktatur kann sich, bricht der Krieg tatsächlich aus,
ohneweiters in einen Vollfascismus verwandeln, wenn nicht
Vorkehrungen für einen wahrhaft demokratischen Totalitaris
mus getroffen werden. Eingefleischte Altliberale werden darin
ein Vorauspaktieren mit dem Feind und seinem Ideengut se
hen, ja sogar ein nutzloses Paktieren, weil eine Demokratie,
welche nicht die Kraft aufbrächte, in ihrer jetzigen Form zu sie
gen, einen bereits so schwachen Humangehalt hätte, daß sie
auch der Kraftprobe der Totalitarisierung nicht mehr gewach
sen wäre. Es ist etwa so, als ob man einen, der einen wohlbe
waffneten Feind möglicherweise nicht mit den bloßen Händen
zu erwürgen vermag, nicht bewaffnen dürfte, weil ihm vielleicht
auch die Stärke zum Tragen der Rüstung fehlen könnte. Gerade
um diese Rüstung aber geht es im gegenwärtigen Augenblick,
umsomehr als es wahrscheinlich der letzte ist: nur um ein weni
ges später, und es mag der Humanitätsgehalt wirklich so
schwach geworden sein, daß er die ihm so notwendige totalitäre
Bewaffnung nicht mehr auf sich nehmen könnte.
Der Mensch, von seinem doppelten Streben nach Freiheit und
Sicherheit beherrscht, steht zwischen zwei Anarchien, zwischen
der individuellen und der institutionellen, und wenn es ihm ge
lingt - freilich zumeist nur für kurze Zeit -, die beiden in Ba
lance zu halten, dann gibt es ein Stück ruhigen irdischen Glük-
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kes für ihn: das ist das psychologische Grundgesetz allen
politischen Lebens. Die wunderbare und prekäre Kraft der De
mokratie ist mit dieser ebenso wunderbaren und prekären Mit
telstrecke identisch; es ist die Kraft der Mitte. Ist sie bloß eine
Funktion der beiden Extreme, die Funktion einer Durchzugs
station? Für denjenigen, der lediglich relativistisch denkt, kann
sie bloß das sein, doch in Ansehung der Absolutheit, auf die sie
sich beziehen läßt, auch wenn es nur eine irdische Absolutheit
ist, nämlich die der absoluten Versklavung des Menschen zu ei
nem Tier, besitzt die Mitte ihre Eigenkraft, und ihr Bestehen
vorausgesetzt - eine Voraussetzung, ohne die der Mensch kaum
zu leben imstande wäre, denn sie entspricht der Mitte seines ei
genen Ich -, muß es, nein, wird es möglich sein, die Mittel
strecke immer wieder zu verlängern, so daß die Ausschläge zu
den beiden unheilvollen Extremen hin sich zu immer kleineren
Oszillationen reduzieren. Man mag das Utopie nennen, aber da
sie sich auf offenbar invariante oder weitgehend invariante
Grundhaltungen der Menschennatur berufen kann, muß ihr ein
zumindest ebenso starker, wenn nicht stärkerer Realisations
wert als der Marxschen Utopie zugemessen werden, umsomehr
als sich diese gleichfalls auf die psychologische Struktur des
Menschen, d. h. auf sein psychologisches Verhalten im be
schränkten Feld der Ökonomie beruft; mehr noch, während die
klassenlose Gesellschaft ein Zukunftsbild ist, um derentwillen
der Menschheit im Augenblick die entsetzlichsten Opfer zuge
mutet werden sollen, ja angeblich zugemutet werden dürfen,
verlangt das demokratische Ideal, obwohl im letzten gleichfalls
ein (von der klassenlosen Gesellschaft nicht einmal so weit ent
ferntes) Zukunftsbild, daß unabhängig von dessen künftiger
Erreichbarkeit oder Unerreichbarkeit stets die unmittelbare
Wohlfahrt des Menschen vorangestellt werde: sosehr Ideale
angestrebt werden müssen, bei dem ihnen innewohnenden
vollkommen undurchsichtigen Unbekanntheitsfaktor rechtfer
tigen sie nie und nimmer, daß ihrethalben der Menschheit die
entsetzlichsten Opfer auferlegt werden, und diese Grundregel
macht die demokratische Utopie realitätsnahe. Gegenüber der
Radikalität der beiden anarchischen Extreme vergißt die De
mokratie - und das ist ihre Schwäche - nur allzuoft, daß sie
gleichfalls eine Radikalität zu vertreten hat, die Radikalität der
Mitte.
173
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Achter Teil (Der Konflikt)
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haltsamem Wachstum begriffen sind, während der Westen, ge
rade hiedurch ideologisch zerklüftet, gerade hiedurch zum Fa-
scismus getrieben, ohne jedoch - zumindest in den altdemokra
tischen Ländern - ihn voll akzeptieren zu können, ein
ideologisches Trümmerfeld bleibt. Kein Wunder, daß der We
sten, eben als der Schwächere, nach der Vernunft ruft, daß er
die Durchsetzung solcher Vernunft von den United Nations er
hofft, freilich dabei selber immer von den eigenen Staatstradi
tionen (nicht zuletzt in den Kolonialproblemen) auf den Weg
irrationaler Unvernunft gebracht wird.
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Welt, die ihre besten materiellen und kulturellen Güter verlo
ren hätte.
Der Marshall-Plan18, von den Russen (wider besseres Wissen)
als Kriegshetze ausposaunt, versucht - in zwölfter Stunde - sol
ches Unheil abzuwehren. Er versucht ein Kräftegleichgewicht
zwischen den beiden Weltblöcken herzustellen, auf daß auf
Grund solchen Gleichgewichts wirklich die Vernunft zu Worte
gelangen kann; würde das gelingen, so würde sich herausstei
len, daß die beiden Blöcke friedlich nebeneinander zu bestehen
vermögen, ja daß der angeblich zwischen ihnen befindliche Ab
grund verschwunden sein und statt dessen ein Zusammenarbei
ten Platz greifen wird, ohne das es keine echte und dauernde
Weltprosperität gibt. Um zu solchem Gleichgewicht zu gelan
gen, heißt es die strategischen Positionen in Süd- und Klein
asien zu erobern oder wiederzuerobern, heißt es den Kampf
willen Westeuropas zu stärken, heißt es Westeuropa zu
bewaffnen und seine fifth-column-Parteien auszuschalten,
heißt es - durch das ERP19 - daselbst eine befriedigende
ökonomische Lage zu schaffen. Kurzum, es geht um die militä
rische, ökonomische und ideologische Konsolidierung des
Westblocks. Und das ist eine gigantische Aufgabe.
Die Grundstruktur des Blocks ist einerseits durch das schon seit
langem nicht mehr einheitlich organisierte, ehemalig britische
Commonwealth gegeben, zu dem die asiatischen Kolonien
Hollands in engerer, die französischen in loser Beziehung ste
hen, andererseits durch den noch lange nicht zu einer einheitli
chen Organisation gelangten panamerikanischen Bund, zu dem
nunmehr auch die pazifischen Inseln sowie die Kette von Japan
zu den Philippinen gehören.
Doch zwischen diesen beiden Hauptkonglomeraten befinden
sich die drei Gruppen der Mittelmeerländer, also Westeuropa
mit seinen nordafrikanischen Annexen, weiters die beiden ägä-
ischen Uferstaaten Griechenland und Türkei, und schließlich
das von Nordafrika bis Kleinasien reichende Gebiet der Arabi
schen Liga mitsamt seiner israelischen Enklave, sie alle in mili
tärisch-politisch wichtiger Situation, während bei den angren
zenden mittelasiatischen Staaten zu solch strategischer
Wichtigkeit auch noch die der vorderhand noch kriegsunent
behrlichen Ölproduktion hinzutritt. Dieser lockere Ländergür
176
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tel soll zu einigermaßen straffem Band verwoben werden, und
wenn auch, was südlich von ihm liegt, bis auf weiteres quantite
negligeable bleiben darf, so liegen dafür die skandinavischen
Länder in der unmittelbaren Gefahrenzone und müssen in die
Gesamtkombination einbezogen werden.
Die nordatlantischen Länder sind mehr oder minder parteide
mokratisch (mit geringen kommunistischen Parlamentsminori
täten), die südatlantischen sind (mit Ausnahme Mexikos) mehr
oder minder fascistisch (wozu sich jetzt auch Südafrika gesellt
hat), und in Frankreich wie in Italien kann sich die demokra
tische Mitte gerade zur Not zwischen den beiden totalitären
Extremen halten. Griechenland wird gegen eine starke kom
munistische Volksbewegung diktatorisch regiert, und die Tür
kei ist ein zwar parlamentarischer, dennoch fascismusnaher
Autoritärstaat. Den arabischen Ländern fehlen eigentlich poli
tische Volksbewegungen, doch ist ein von religiösen Motiven
durchsetzter Nationalismus sicherlich im Werden, ein Nationa
lismus, der in Industrie- und Schiffahrtszentren wie etwa Alex
andria unzweifelhaft kommunistische Färbung annehmen
kann, und Israel schwankt aus begreiflichen Opportunitäts
gründen zwischen einer prorussischen und prowestlichen Ein
stellung. Im Kolonialosten dagegen ist - mit Ausnahme Indiens
- der Nationalismus dank der Ausbeutung durch den europä
ischen Plantagismus schlechterdings mit kommunistisch-russo-
philer Gesinnung identisch geworden.
Die wirtschaftliche Gruppierung deckt sich keineswegs mit
der politischen. Uneingeschränkter Kapitalismus herrscht nur
mehr, so sonderbar die Zusammenstellung ist, in Nordamerika,
den Niederlanden und in den fascistischen Staaten, während
ansonsten die Demokratie von Skandinavien bis Neuseeland
sich seit langem mit Stetigkeit auf gemäßigt sozialistischen
Bahnen bewegt, zwar in Frankreich und Italien immer wieder
recht schwankend, dagegen nun in England mit festen Zielen.
Ein Unikum im westlichen Sozialismus jedoch ist die israelische
Wirtschaft, da sie unter ausgesprochen kapitalistischer Patro
nanz von allem Anfang an vorwiegend kollektivistisch - Kom
munismus nicht als Selbstzweck, sondern als Dienst zur Ver
wirklichung einer höheren moralischen Idee - betrieben
worden ist, ein Unikum für den Westen, ein Fremdkörper für
die arabische Welt. Daß diese sowie die ganze südasiatische
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Autochthonie kaum als Kapitalismus bezeichnet werden darf,
versteht sich von selbst; sie enthält kapitalistische Inseln, ist
aber um diese herum einfach Privatwirtschaft, für die es, so we
nig wie für den südsibirischen Nomadismus, auch bei Adoptie
rung des politischen Kommunismus, noch lange keine Ände
rung geben wird.
Welch einigendes Band kann um derart disparate Teile ge
schlungen werden? Wo sind die Punkte, an denen die West
mächte ansetzen können, um solche Aufgabe zu bewältigen?
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den Kaumregierungen der Nomadenstämme und ihren
Scheichs), und zu dieser Gruppe, die durch Zugeständnisse,
Drohung, gegenseitiges Ausspielen und Bestechung schlecht
und recht zusammengehalten wird, wurde im Nordmittelmeer
—mit Italien ist es nicht vollständig geglückt - auch noch Grie
chenland zugesellt. Und gerade Griechenland zeigt, wie die
Kolonialmethode, auch wenn sie nun keine Kolonisationsziele
mehr verfolgt, ja sie nicht einmal mehr verfolgen will, sondern
nur mehr die Schaffung einer politischen Einheitsfront an
strebt, letztlich zur Gewalt greifen muß; sie wird überall unver
meidbar sein, wo ein strategischer Punkt - Berlin ist kein sol
cher - unmittelbar gefährdet ist, im Augenblick also vor allem
in Südasien.
Teils infolge seiner immer noch bestehenden Führerschaft im
Commonwealth, teils infolge der hundertfünfzigjährigen, von
einem Schatz sachlicher, technischer und politisch-psychologi
scher Erfahrungen getragenen Tradition seines Colonial Office
hat England trotz dahinschwindender Macht und trotz gefähr
deter Lage die ihm gebührende Siegerstellung neben Amerika
beim Aufbau des Westblocks zu behaupten und zu sichern ge
wußt. Die andern Siegerländer, oder genauer die befreiten Na
tionen Frankreich, Belgien und Holland, haben so viel Eigen
wünsche und Eigenempfindlichkeit, nicht zuletzt kolonialer
Natur, daß sie in mannigfacher Beziehung Belastungen bei der
Blockbildung sind, und so wünschenswert es ihrerhalb auch
wäre, Frankreichs finanzielle und innerpolitische Schwierigkei
ten durch eine starke und zudem antisowjetische Regierung
stabilisieren zu lassen, es ist den antiangelsächsischen Zügen im
Gaullismus nicht ohneweiters zu trauen. Andererseits freilich
können diese kontinentaleuropäischen Nationalismen zur
wahrscheinlich notwendig werdenden gewaltsamen Wiederge
winnung der strategischen Position in Südasien vorangeschickt
werden; England hat mit der Indien-Befreiung dem Common
wealth einen Prestigegewinn bei den asiatischen Völkern ver
schafft, kann sogar hoffen, daß ihnen Delhi zu einem Common
wealth-Zentrum werden mag, hat aber dafür in Südafrika einen
vielleicht nur vorübergehenden, keinesfalls jedoch unbedeu
tenden Prestigeverlust in Kauf genommen, kann also nicht den
Gewinn, dem ja auch die antiisraelischen Manöver dienen sol
len, durch einen Kolonialkrieg wieder aufs Spiel setzen, son-
179
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dem wird ihn den Franzosen in Indochina, den Holländern in
Indonesien umso lieber überlassen, als eine künftige von Delhi
ausgehende definitive Regelung eine noch weitere Prestige
stärkung bedeuten würde. Und obwohl Amerika genau weiß,
daß Frankreich und Holland, die es gegen einen russischen Ein
fall aufzurüsten hat, hier vielleicht überhaupt nicht zu kämpfen
gewillt sein mögen, fürs erste jedoch die neue militärische
Stärke benützen werden, um sich in den Kolonialfragen nicht
ausschalten zu lassen, wird es die Waffenlieferungen an sie nicht
einstellen, sondern die mit deren Hilfe installierten kolonialen
(und überdies den alten Plantagenkapitalismus aufs neue festi
genden) Scheindemokratien ohneweiters anerkennen.
In der gegenwärtigen, im Grunde völlig vertragslosen und
bloß auf gegenseitiger Kriegsfurcht beruhenden Weltkonstel
lation, die man schlechterdings als das Musterbeispiel von In
stitutionsanarchie bezeichnen kann, muß jede Partei auf die ra
scheste Herstellung von faits accomplis bedacht sein: das ist die
Tugend, welche die Westmächte aus ihrer Not machen. Und
Rußland, aus seiner Tugend eine Not machend, ist das Analo
gon hiezu; d. h. es wendet sich zwar an die institutionsfeindli
chen Instinkte des Individuums und der Massen, um damit die
Anarchie der Revolution und womöglich der Weltrevolution zu
entfesseln, doch auch hier liegt das eigentliche Ziel in der Ein
setzung von neuen Institutionen, die das Individuum knebeln
und sogar nach bolschewikischer Manier knebeln, da eine von
den Sowjets eingesetzte Scheinregierung noch viel weniger Be
wegungsfreiheit besitzt als eine von den Westmächten patroni-
sierte. Kurzum, auch Rußland befleißigt sich letztlich der Kolo
nialmethode, zu der die Westmächte von vorneherein
gezwungen sind. Trotzdem ist es nicht das gleiche. Vom revolu
tionären Nimbus läßt sich nämlich lange zehren, und eine ru
mänische oder bulgarische Regierung darf sich ohneweiters
diktatoriale Maßnahmen leisten, die der griechischen als
schwere Volksbedrückung angerechnet werden und ebenhie-
durch schließlich der amerikanischen Politik zur Last fallen.
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selten von »der« Vernunft, vielmehr zumeist nur von Partial-
vernunften, der militärischen, der kommerziellen usw., geleitet
wird.
In Wahrheit freilich gibt es keine derart allgemeine Vernunft.
Ob eine militärische oder kommerzielle Maßnahme als not
wendig zu erachten ist, läßt sich im Rahmen der militärischen
oder kommerziellen Vernunft immerhin mit einiger Verläß
lichkeit entscheiden, doch wollte man ganz allgemein behaup
ten, daß der Westblock einen viel gediegeneren Zusammenhalt
haben würde, wenn allüberall die Völker nach freiem Ermessen
ihre Regierungsform bestimmten, so befindet man sich im Be
reich vager und daher unpolitischer Hypothesen oder purer
Glaubensmeinungen. Was für ein befreites Indien vielleicht,
freilich nur vielleicht, zutreffen wird, nämlich seine Entwick
lung zu einer Stütze des Commonwealth, das trifft sicherlich
nicht auf Griechenland zu, dessen Entwicklung von seinem hel
denhaften, jedoch kommunistisch gefärbten antideutschen Wi
derstand eine bestimmte Initialrichtung erhalten hat und daher
auch heute noch - nicht viel anders sieht es ja mit der französi
schen Widerstandsbewegung aus - zum Anschluß an den So
wjetblock drängt, und daß sich heute das spanische Volk mit
wenig Dankbarkeit an das amerikanischen Waffenembargo20,
hingegen mit Dank der russischen Hilfe erinnert, darf als gesi
chert gelten, während in Österreich, wollte man hier den Din
gen ihren wirklich »freien« Lauf lassen, sich die Überraschung
einer neuen hitleroiden Regierungsform ergeben könnte. Ge
wiß sind es Sünden der Demokratie, die sich solcherart rächen,
die ehemaligen sowohl wie die gegenwärtigen, und zu diesen
Sünden gehört u. a. der Mangel eines dem kommunistischen
ebenbürtigen ideologischen Systems, von dem der angelsächsi
sche Geist im Grunde nichts wissen will und das trotzdem ge
rade für die diversen Widerstandsbewegungen so überaus
wichtig gewesen wäre; der mystische Glaube der Demokratie
an ihre universelle Heilkraft ist, obwohl er sich auf Kant21 beru
fen kann, schlechterdings politischer Leichtsinn, ein unpsycho
logisches Vertrauen zur allgemeinen Vernunft, dessen sich u. a.
auch Wilson im höchsten Maße schuldig gemacht hat, und bes
ser noch als die Fortsetzung dieser vagen Liberalismus-Mystik,
die ohne Änderung neue Sünden auf die alten häufen würde,
scheint der strategische Machiavellismus zu sein, der sich mit
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den Fascismen wie mit den ebenso verabscheuungswürdigen
Scheindemokratien abfindet, weil sonst, sozusagen zur reumü
tigen Abbüßung der alten Fehler, einfach vor der Brutalität der
allerdings folgerichtigeren und infolgedessen weniger fehlerbe
hafteten Sowjetpolitik die Segel gestrichen werden müßten.
Ein anderer Einwand der allgemeinen Vernunft ist der
ökonomische, und weil er eben allgemein ist, hat er wenig
Ökonomisches an sich. Von hier aus wird behauptet, daß allein
eine unbefriedigende Wirtschaftslage die Völker in die Arme
des Kommunismus treibe und daher der Zusammenhalt des
Westblocks ausschließlich von Amerikas wirtschaftlicher Bei
hilfe und deren Verteilung abhänge. Richtig daran ist, daß
Mangel an lebenswichtigen Gütern eine sozialistische Vertei
lung erfordert, und daß jede kraß ungerechte Güterverteilung
revolutionäre Tendenzen auslöst. In einigen Rohmaterialien,
so in Kohle und Eisen und manchen anderen Metallen, ist die
westeuropäische Wirtschaft (einschließlich Westdeutschlands)
selbstgenügsam, Faserstoffe müssen für alle Länder eingeführt
werden, Nahrungsmittel für alle mit Ausnahme Frankreichs,
Nordamerikas Bedarf an europäischen Industriegütern ist be
reits heute auf wenige Spezialartikel beschränkt und nimmt im
mer weiter ab, und sein eigener Industrieexport wird daher
nach Wiederankurbelung der europäischen Wirtschaft und de
ren Exporttätigkeit sich mit dieser auf den vorderhand noch
unterindustrialisierten Märkten wie dem südamerikanischen zu
messen haben, und selbst wenn auf diesem Umweg die jetzt in
den Marshall-Plan investierten Dollars zurückkehren sollten,
wird dieser Plan, wenn nicht gänzlich neue Prosperitätsmo
mente innerhalb des Westblocks hinzutreten, die inflatorische,
aus Steuergeldern zu bestreitende Aktion bleiben, zu der die
Vereinigten Staaten heute unter politischem Druck, fast
möchte man sagen unter politischer Erpressung, gezwungen
sind. Daß dieser Druck an einem politischen Gefährdungs
punkt wie Frankreich, wo jedes Absacken der Wirtschaft ein
Erstarken der Extremparteien links und rechts bedeutet - doch
schließlich mußten auch die italienischen Wahlen »erkauft«
werden -, am nachhaltigsten ist, versteht sich von selbst, und
unter diesen Umständen muß dem Gläubigerland die Auf
rechterhaltung einer kolonialen Einnahmequelle wie Indochina
- und ähnliches gilt für Holland - wichtiger sein als die poli
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tische und soziale Wohlfahrt der dortigen Eingeborenen, um
somehr als die strategische Besetzung des Territoriums jeden
falls notwendig ist. Sicherlich ist das ein kapitalistisches
Ausbeutungsmanöver, und zwar eines auf kurze Sicht, da ja
auch hier mit dem Dahinschwinden des »Wirtschaftsgefälles«
zwischen Mutterland und Kolonie desgleichen deren Rentabi
lität versiegen wird, genauso wie das in Indien geschehen ist, das
die endlich erreichte Unabhängigkeit z. T. seinem Rentabili
tätsschwund verdankt; indes, wie immer sich die Dinge einstens
gestalten werden, der heutige Zustand kann bloß als Proviso
rium gelten, als ein Provisorium äußerster Anspannung, und
unter solcher Anspannung ist Amerika unzweifelhaft berech
tigt, jede Gelegenheit zur Verkleinerung seiner ohnehin maßlos
gewordenen Belastung zu ergreifen. Es mag sein, daß der
Wunsch nach amerikanischen Zivilisationsgütern, der z. B. ge
rade bei den asiatischen Völkern durch den Krieg erweckt wor
den ist, später einmal einen Faktor zur Einleitung einer neuen
Weltprosperität bilden wird, doch fürs erste kann er nicht be
friedigt werden, selbst auf die Gefahr hin, die hiedurch geför
derten Rußland-Sympathien vermittels Gewaltanwendung, die
sich immerhin billiger stellt, unterdrücken zu müssen. Gott ist
zwar allmächtig, aber wenn er wem Geld geben soll, muß er -
und gar wenn er unter politischer Erpressung steht - es wem
andern wegnehmen.
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hältnisse in Griechenland23 wesentlich anders bestellt ist. Es ist
von keinem und am allerwenigsten vom politischen Gesichts
punkt aus zu begreifen, daß eine von einem angeblich ehrlich
demokratischen Staat finanziell abhängige oder gar von ihm
eingesetzte Regierung keine reinen Hände haben und ein In
strument der Volksbedrückung und -ausbeutung sein soll:
wollte man dagegen auf die Unverantwortlichkeit patronisier-
ter Regierungen verweisen, so heißt das nur, daß die Verant
wortlichkeit auf den Patronanzstaat zurückfällt; er übernimmt
ja auch diese tatsächlich, wenn er Militärregierungen einsetzt,
wobei nicht wenige von diesen die Gerechtigkeit geachtet und
die Menschenrechte in dem ihnen anvertrauten Staatsgebiet
gewahrt haben.
Und wiederum stehen hiebei die Menschenrechte im Vorder
grund. Und wiederum muß daher auf die Struktur der totalitä
ren Demokratie zurückgegangen werden, umsomehr, als sie
zwar in der Frage der Menschenwürde und des Schutzes ihrer
normativen Richtlinien zu äußerster Unnachgiebigkeit ver
pflichtet ist, sich aber eben in allen andern Fragen, so in denen
der Staatsform, der Volksrepräsentanz, des Wahlrechtes usw.,
äußerste Toleranz leisten darf. Gewiß ist die totalitäre Demo
kratie kein alle Leiden heilendes Wunderelixier. Bei Chinas
augenscheinlich vollkommen verrotteter Verwaltung z. B. hätte
man mit Menschenrechten allein nichts auszurichten vermocht,
ehe nicht - an Mahnungen von berufener Seite hat es nicht ge
fehlt - eine Reorganisation an Haupt und Gliedern vorgenom
men worden wäre; m. a. W., es hätte Amerika ohne Rücksicht
auf den erwartbaren (nach griechischem Muster von Kommu
nisten genährten) nationalen Widerstand, dem jedes, auch das
gutwilligste Eingreifen einer fremden Macht ausgesetzt ist, die
Einsetzung einer auf die Menschenrechte basierten, völlig
neuen Regierung erzwingen müssen. Umgekehrt: wo derartiges
bereits geschehen ist, wie eben in Griechenland, oder gesche
hen wird, wie in Indochina oder Indonesien, da kann nur dann
auf eine Wiedergewinnung der Bevölkerung (und nebenbei auf
Indiens Mithilfe hiezu) gehofft werden, wenn man diese Regie
rung unbedingt unter die normativen Richtlinien der Humani
tät, unter die der »Bill of Rights« und zu deren Schutz unter die
der »Bill of Duties« stellt. Und den gleichen Preis hätte die
Franco-Regierung für die von ihr angestrebte Aufnahme in die
184
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United Nations24 und den Einschluß in das European Recovery
Program zu zahlen25. Freilich ist das für ein rein fascistisches
Regime nach Art des spanischen ein hoher Preis; er bedeutet
das Wiederinkrafttreten der bürgerlichen Freiheiten und das
der Unantastbarkeit der Person, und er ist trotzdem ein zahlba
rer Preis, da die »Bill of Duties« die Handhabe zur Bekämpfung
der kommunistischen fifth columns bietet, deren gutes morali
sches Recht zu radikalstem Anti-Francoismus leider außer
Frage steht, und die doch nicht nur für Spanien, sondern auch
für den ganzen Westblock im Augenblick schwerste Gefahr
sind.
All das läuft an der Utopiegrenze, allerdings ohne sie zu über
schreiten; es bleibt im Gebiet des politisch Möglichen. Als
Noch-Möglichkeit ist es das Maximum dessen, was die demo
kratische Vormacht Amerika dem demokratischen Gewissen
seiner Bürger und sohin auch den im Westblock zu vereinigen
den Völkern bieten kann, aber es ist das Minimum dessen, was
die Völker von einem sich demokratisch nennenden Staatswe
sen zu fordern haben. Und da es ein Minimum ist, so wäre es,
selbst wenn es zu verwirklichen wäre, nur ein sehr dünnes Band
zur Zusammenhaltung des Westblocks, ein umso dünneres, als
z. B. den Beduinenstämmen nicht eigens Menschenrechte, die
sie sich in jedem beliebigen Ausmaß nehmen, zugestanden
werden müssen. Trotzdem: besser ein dünnes Band als gar kei
nes.
Und trotzdem: in dieses dünne Band ist der Ansatz zu einer
Ideologie einverwoben, die allein der marxistischen die Spitze
bieten kann, die Ideologie unbedingter Humanität.
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Schaft verleihen, also kaum an eine Wirtschaft, welche wie die
chinesische zum Großteil auf Defraudationen beruhte, doch
wie diese Ordnung beschaffen ist, ob kapitalistisch, ob staats
kapitalistisch oder sonstwie kollektivistisch, kann und darf ihm
gleichgültig sein, finanziell gleichgültig, weil der Schuldner bloß
eine juristische Person für ihn darstellt, politisch gleichgültig,
weil gerade die Demokratie prinzipiell »wirtschaftsneutral« ist
und überdies wissen sollte, daß bei Güterknappheit eine geord
nete Wirtschaft sich ohne gewisse Kollektivplanungen einfach
nicht erzielen läßt. Wollte man heute England wegen der ame
rikanischen Anleihen zur Rückgängigmachung seiner Soziali
sierung zwingen, so würde das nicht nur eine Gefährdung der
Anleihen bedeuten, sondern darüber hinaus einen politischen
Eingriff in die Souveränitätsrechte, der in seiner Sinnlosigkeit
jedwedes Gläubigerrecht weitaus überschritte.
Anders steht es mit den Menschenrechten. Vor ihrer Absolut
heit hätte - bisher allerdings bloß theoretisch und prinzipiell -
jegliche Souveränität dahinzuschwinden. Würde heute das
Gläubigerrecht aus Zweckmäßigkeitsgründen (die allein in der
Politik Geltung haben) den Menschenrechten zu Hilfe kom
men, d. h. sie zur Zusammenschweißung des Westblocks be
nützen, so würden sie wahrscheinlich zum ersten Mal praktisch
zu dem ihnen gebührenden überstaatlichen Platz gelangen. Daß
hiefür Amerika, vorerst einmal Amerika selber, die »Bill of
Duties« adoptieren müßte, daß dem die andern dem Westblock
angehörenden unabhängigen Staaten zu folgen hätten (nicht
zuletzt Frankreich und Holland, denen es obläge, ihre Kolo
nialstaaten in gleichem Sinn einzurichten), das versteht sich von
selbst und ebenso, daß die der »Bill of Duties« gewidmeten ge
setzlichen Bestimmungen in den einzelnen Ländern weitge
hend gleichlautend zu sein hätten. Denn der überstaatliche
Charakter des Schutzes der Menschenwürde wäre von vorn
herein verloren, wenn das Gerichtsverfahren, dem solcher
Schutz obliegt, nicht einen Instanzenzug hätte, der letztlich zu
einer überstaatlichen obersten Instanz führte.
M. a. W., neben die »International Bill of Rights«26, die von
den United Nations angenommen worden ist, würde für die
Staaten des Westblocks eine »International Bill of Duties« tre
ten, die nicht nur wie jene die Regierungen verpflichtet, und
zwar unverbindlich verpflichtet, da ja bei Verstößen gegen die
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Menschenrechte nicht einmal diese Regierungen (es sei denn
nach vorhergegangenem, sieghaft beendetem Krieg) verant
wortlich gemacht werden können, sondern ein gemeines Ver
brechen statuiert, das ebensowohl vom privaten Bürger wie
vom Regierungsmitglied begangen werden kann, und für das
der eine wie der andere vor Gericht zu stellen ist. Und da in ei
nem Staat, dessen Bürger oder gar Regierungsmitglieder eine
Bewegung gegen die Menschenrechte, sei es mit kleinen, sei es
mit gewichtigen Taten zu inaugurieren beabsichtigen, auch zu
meist die Gerichte nicht unaffiziert bleiben und daher korrupt
werden, tut es not, Prozesse dieser Art über die Staatshoheiten
hinaus bis zu dem hiefür zu installierenden »Internationalen
Gerichtshof« verfolgen zu können oder sogar - unter Anrufung
der ihm hiezu anzugliedernden »Internationalen Staatsanwalt
schaft« - unmittelbar bei ihm anhängig zu machen. Und zur
Komplettierung der Kontrolle wären wohl Internationale
Staatsanwälte zu den höheren Gerichten der einzelnen Staaten
zu delegieren, besonders dorthin, wo zu befürchten wäre, daß
eine mehr oder minder primitive Bevölkerung durch die Ge
richtsbehörden eingeschüchtert werden könnte.
Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« umfaßt einen
verhältnismäßig kleinen Teil des öffentlichen Lebens und
braucht doch einen unverhältnismäßig großen Apparat, um aus
dem Bereich der Einzelsouveränitäten herausgehoben werden
zu können. Denn mit der Installierung des dazugehörigen In
ternationalen Gerichtes ist es ja noch nicht getan; es gehören,
da es sich stets um individuelle Verbrecher handelt, Bestim
mungen über ein Auslieferungsverfahren sowie über den inter
nationalen Strafvollzug hiezu, und zu alldem wiederum gehören
die Zwangsmittel einer entsprechend bevollmächtigten Exeku
tive, und sicherlich hieße es mit Kanonen nach Spatzen schie
ßen, wenn zur Erzwingung eines einzigen Gesetzes eine eigene
internationale Polizeimacht aufgestellt werden müßte. Hier al
lerdings vereinfacht sich das Problem: macht Amerika den
Schutz der Menschenrechte zu seiner eigenen Sache, d. h. ver
knüpft es sie mit seinem Gläubigerrecht, dann wird ihm auch
automatisch die Pflicht zur Beistellung der Exekutive zufallen.
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Völkern näherzubringen, d. h. das Bewußtsein der Humanität,
das Bewußtsein des individuellen Antitotalitarismus in ihnen zu
erwecken, die Abscheu vor einer Staatsaggression, die um ihrer
selbst willen geübt wird. Im Gegensatz zur russischen Technik,
welche zuerst die Völker revolutioniert, um sie sodann mit Hilfe
der Kolonialmethode in den eisernen Klammern der Staatsin
stitutionen zu immobilisieren, soll also hier das Umgekehrte
geschehen: zwar zur sofortigen Anwendung der Kolonialme
thode gezwungen, um ihren Block zusammenschweißen zu
können, müssen die Westmächte, wenn sie auch einen innern
Zusammenhalt der Länder wünschen, alles daransetzen, um die
Völker von ihrer revolutionär-humanen Seite zu packen. Der
Schutz der Menschenrechte ist permanente Revolution »von
oben«.
Freilich, jede Revolution »von oben« begegnet Mißtrauen,
wird als Trick der Institutionen, als Trick der Staatsgewalt auf
gefaßt. Wäre es also nicht richtiger, »von unten« anzufangen?
Wäre es nicht richtiger, zur Erreichung des Humanitätszieles
eine richtige »Humanitätspartei« zu bilden, die gleich der
Kommunistischen Internationalen sich über alle Länder er
streckt, so daß der Marxschen Weltrevolution eine »Weltrevo
lution der Humanität« entgegenzustellen wäre? Derartige
Konzeptionen haben, auch wenn sie keineswegs bloß als Imita
tionen, als Komintern-Imitationen aufgefaßt zu werden haben,
zumeist den Charakter intellektueller Phantasien und sind da
her zumeist von Politik weit entfernt; gewiß kann eine Theorie
der Humanität, wie sie von der Psychologie und den Sozialwis
senschaften heute schon lieferbar ist, die Aktionsgrundlage für
politisches Handeln und somit auch für eine »Partei« abgeben,
aber Humanität ist kriegsfeindlich, und da Revolution und
Krieg heute identische Begriffe geworden sind, wäre es not
wendigerweise eine Evolutions- und keine Revolutionspartei,
d. h. eine, welche wohl dem demokratischen Ideal entspräche,
jedoch eine sehr geringe Anziehungskraft für die nach wie vor
revolutionsbegierigen Massen besäße.
Was wäre das Programm einer solchen Humanitätspartei? Es
ginge kaum über das hier bereits Gesagte hinaus, und seine
Hauptpunkte wären daher: erstens, das Prinzip der unmittelba
ren Wohlfahrt, besagend, daß den Menschen und der Mensch
heit nicht für einen chimärischen künftigen Glückszustand in
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humane oder gar - wie in Rußland - barbarische Opfer
auferlegt werden dürfen; zweitens, das Prinzip der Menschen
rechte, besagend, daß jeder Bruch der Menschenrechte, von
wem immer er begangen wird, unbedingt abgestellt und geahn
det werden muß, ja daß hiefür, allerdings auch nur hiefür, der
Mensch, da es um die unmittelbare Rettung gefährdeter Ne
benmenschen geht, zu Opfern verhalten werden darf und muß;
drittens, das Prinzip der Scheidung zwischen lebender und juri
stischer Person, besagend, daß der juristischen Person keine
Menschenrechte zustehen und umgekehrt der lebende Mensch
nicht als juristische Person zu betrachten ist, also unter keinen
Umständen vom Staat ausgelöscht werden darf ; und schließlich
(als Resultat der vorangegangenen Prinzipien) das antimachia-
vellistische Prinzip der unbedingten Pakttreue sowohl zwischen
den Einzelpersonen wie zwischen den Institutionen und den
Staaten. Gewiß mag man das ein dürftiges Programm nennen,
- aber ist etwa das kommunistische Parteiprogramm reichhalti
ger?
Am wesentlichsten aber ist wohl, daß es das Programm der
demokratischen Tradition ist, und daß es auch zum Großteil in
den demokratischen Konstitutionen seinen Niederschlag ge
funden hat. Und ebendarum darf es als Revolution »von oben«
(ohne eigentliche Revolution) zur Anwendung gebracht wer
den, ehe es hiefür zu spät ist. Wollte man erst Humanitätspar
teien bilden, so wäre es zu spät, umsomehr als dem eine Unzahl
von Schwierigkeiten und Verzögerungen begegnen würde:
nicht nur, daß die Parteien in den wahrhaft demokratischen
Ländern (mit Ausnahme ihrer kommunistischen Gruppen) oh
nehin evolutionistisch eingestellt sind, und nicht nur, daß das
angelsächsische Zweiparteiensystem technisch für andere Par
teibildungen ungeeignet ist, es wäre geradezu unsinnig, mit sol
chen Parteiprojekten zu den Kolonialvölkern zu kommen, die
darin bloß einen Ausbeutertrick des weißen Mannes vermuten
würden; ehe sie nicht wirkliche Taten sehen - und der Schutz
der Menschenrechte sowie die Abschaffung der Todesstrafe
wären der erste Ansatz hiezu - , kann hier das Vertrauen zu
Amerika, das jetzt von einem den Sowjets zugewendeten abge
löst worden ist, nicht wiedergewonnen werden.
Die Humanitätspartei wäre also fürs erste jedenfalls nichts als
eine bloße Geste, umsomehr, als sie nicht, wie die Komintern,
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ein fifth-column-Instrument wäre. Ob sie später wahrhaft in
ternational werden kann, ist eine Machtfrage, d. h. hängt von
der Aufhebung des weltzerteilenden Eisernen Vorhangs ab.
190
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Kirchmann, Julius Hermann von. D ie G ru n d b e g riffe des R echts u n d der M oral
als E in leitu n g in d a s S tu d iu m rech tsp h ilo so p h isch er W erke (Berlin 1873);
Köhler, Joseph. D a s R e c h t als K u ltu rersch ein u n g . E inleitung in die verglei
ch en d e R ech tsw issen sch a ft (Würzburg 1889); Pollack, Walter. Perspektive
u n d S y m b o l in P h ilo so p h ie u n d R ech tsw issen sch a ft (Berlin 1912); Tren
delenburg, Adolf. N a tu rrech t a u f d e m G ru n d e der E th ik (Leipzig 1868);
Zoepfl, Heinrich Mathias. G ru n d riß zu V orlesungen über R echtsphilosophie
(N a tu rrech t) (Berlin 1879).
11 Vgl. Fußnote 9. Dort werden die politischen Gegner - wie häufig bei Lenin
- als zu bekämpfende Feinde bezeichnet; das Wort »ausrotten« fällt aller
dings nicht.
12 Anspielung auf politische Geheimbünde in Amerika wie den Ku Klux Klan.
13 Vgl. Fußnote 4 »Zur Diktatur der Humanität innerhalb einer totalen Demo
kratie«.
14 Die »Declaration des droits de l’homme et du citoyen« wurde am 3. Septem
ber 1791 in die französische Verfassung integriert. Der Konvent suchte durch
Wiederholung dieser Erklärung (29. Mai 1793) die revolutionäre Begeiste
rung zu steigern.
15 Vgl. Fußnote 5 »Zur Diktatur der Humanität...«.
16 Vgl. Fußnote 2 zum Aufsatz »Die Zweiteilung der Welt«.
17 Die Ausschüsse des Senats und des Repräsentantenhauses der USA zur Un
tersuchung von sogenannten »unamerican activities« betrieben ihre Schau
prozesse gegen angebliche »Kommunisten« gegen Ende der vierziger und zu
Anfang der fünfziger Jahre. Von 1950 bis 1954 leitete dann der berüchtigte
Joseph Raymond McCarthy, Senator für Winsconsin, den betreffenden Se
natsausschuß.
18 Das »European Recovery Program« (ERP), als Marshall-Plan benannt nach
dem seinerzeitigen US-Staatssekretär für Auswärtiges George Marshall
(Rede vom 5. Juni 1947), wurde von den USA begründet zur wirtschaftlichen
Unterstützung der europäischen Länder. Von 1948 bis 1952 wurde es durch
geführt aufgrund der »Foreign Assistance Act« von 1948.
19 Vgl. Fußnote 18.
20 Anspielung auf das Verhalten der USA und der UdSSR während des Spani
schen Bürgerkrieges (1936-1939).
21 Vgl. Immanuel Kant, Z u m ew igen F rieden. E in p h ilo so p h isch er E n tw u rf
(1795).
22 Wenige Monate nach Fertigstellung dieses Essays wurde am 1. 10. 1949 die
Volksrepublik China von Mao Tse Tung begründet.
23 Hinweis auf den von 1944 bis zum Winter 1949/1950 andauernden Bürger
krieg in Griechenland.
24 1946 wurde in der UNO negativ über die Aufnahme Spaniens in die Weltor
ganisation entschieden, seit 1950 wurde das Land zur Mitarbeit in einigen
Gremien zugelassen, seit 1955 ist Spanien Vollmitglied der UNO.
25 Spanien erhielt keine Hilfe durch den Marshall-Plan und wurde auch nicht
an der Gründung der OECD beteiligt.
26 Am 10. 12. 1948 wurde von der UNO die »Universal Declaration of Human
Rights« abgegeben.
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Friede und Menschenrecht
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V ö lk e r b u n d -R e s o lu tio n
Kommentar
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geschichtsgesetzlich bedingten - schubweisen Entwicklung, die
noch alle historischen Ideenformulierungen betroffen hat: Je
größer und scheinbar unerschütterlicher deren Wirkungsfeld
geworden ist, desto mehr neigen sie zum Stillstand und zu einer
Erstarrung, die mit dialektisch-logischer Folgerichtigkeit
schließlich das Aufkeimen von mehr oder minder unklaren Ge
genideen aus dem Irrationalen provozieren müssen, und desto
ausschließlicher erhalten sie erst von diesen den neuen Impuls
zur Weiterarbeit an ihrer eigenen geistigen Fundierung, die
freilich unerläßlich ist, um ihre Erstarrungskrise zu überwin
den. An diesem Krisenpunkt ist heute die Welt angelangt. Denn
obwohl die Weltlage und die mit ihr in unlösbarem Zusammen
hang stehende geistige Atmosphäre zweifelsohne wesentlich
komplizierter ist, als sie es zur Zeit der Menschenrechtsde
klaration gewesen war, ist die demokratische und humane
Weltanschauung ethisch-philosophisch den Ideenformulierun
gen des 18. Jahrhunderts verhaftet geblieben, und sie glaubte
genug getan zu haben, wenn sie deren Weiterentwicklung in
sozial-ökonomischer Beziehung berücksichtigte. Die Folge ist
das, was man die Krise der Demokratie nennt und nun zugleich
auch eine Krise des Völkerbundes geworden ist. Und eben weil
diese Krise ihrem Höhepunkt zueilt, eben weil es höchste Zeit
ist, ein Gegengewicht zu der humanitätsfeindlichen, pseudo
mystischen Propaganda in die Waagschale zu werfen, und eben
weil der Völkerbund als einzige übernationale Institution und
unbeschadet der Größe seines Initialdenkens realpolitisch zu
einer täglich wachsenden Ohnmacht verurteilt erscheint, wen
det sich die vorliegende Resolution an seine Adresse: es ist das
Bemühen, aus dem Völkerbundstatut selber jene Maßnahmen
zu entwickeln, welche geeignet sein könnten, die Prinzipien der
Humanität, der Gerechtigkeit und der unantastbaren Men
schenwürde wieder in ihren Rang einzusetzen und sie mit der
für diese Absicht unbedingt erforderlichen ethisch-philosophi
schen Neubegründung auszustatten, begleitet und getragen von
einer Überzeugung, für die es unwiderlegbar geworden ist, daß
einer mit dem Pathos unfundiert hohler Appelle übersättigten
und mißleiteten Welt nichts so nottut wie eine Berufung auf die
Ratio, die den alleinigen Seinsgrund allen Fortschrittes, aller
Wahrheit und allen wahrhaft guten Willens bedeutet. Selbst
wenn der Völkerbund durch die realpolitische Situation gehin
196
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dert wäre, sich das Manifest vollinhaltlich oder auch nur teil
weise zu eigen zu machen, es genügte schon, daß eine allge
meine Diskussion über die manifestierten Themen in Gang
gebracht werde: gelänge dies - und angesichts des moralischen
Gewichtes der zur Unterschrift designierten Organisationen
müßte es eigentlich gelingen -, so wäre es an sich schon ein pro
pagandistischer Faktor von stärkster Intensität, jedenfalls von
einer, die größer wäre als die jeder Schlagwortpathetik, doch
darüber hinaus zeigt die darin enthaltene unmittelbare Erfas
sung der Öffentlichkeit, daß der Völkerbund vor eine Vertie
fung seiner Aufgaben gestellt ist, nämlich vor die Aufgabe, den
Geist seiner Friedensmission zum wesentlichsten Inhalt seiner
Tätigkeit zu machen, seine Humanitätsidee neu in seiner Struk
tur zu verankern und eben hiedurch eine geistige Wirksamkeit
zu entfalten, die wahrscheinlich das einzige Mittel ist, um die
Welt wieder zur Paktfähigkeit zurückzuführen, das einzige
Mittel, um einer Friedensinstitution wieder die praktische
Wirksamkeit zu sichern; gelänge dies nicht, so würde der Völ
kerbund und mit ihm seine Friedensmission kaum die ihn und
die Kultur bedrohende Krise überdauern, er würde sie nicht
bekämpfen können, geschweige denn daß es ihm möglich wäre,
die endgültige Katastrophe aufzuhalten.
Als Signatare sind vorderhand folgende Organisationen in
Aussicht genommen:
1. Carnegie Endowment for International Peace.1
2. Englische Völkerbundliga unter Einbeziehung der übrigen
Ligen.
3. Gesellschaft der Freunde.2
4. Institut für internationales Recht, Genf.
5. Internationales Friedensamt, Genf.3
6. Nobelpreiskomitee, Oslo.
7. Paneuropa Union, Wien.4
8. Penklub-Zentrale, London.
9. Rassemblement universel pour la Paix, Paris.
10. Rotes Kreuz, Genf.
11. Zentrale der Liga für Menschenrechte, Paris.5
Außerdem ist gedacht, die Träger des Friedensnobelpreises zur
persönlichen Unterschrift aufzufordern.
197
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Resolution
A. Prinzipien
I.
Als überstaatliche Instanz und gemäß der ihm erstellten Frie
densaufgabe, betrachtet sich der Völkerbund als einen Teil je-
198
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ner Herrschaftsinstitutionen, die von den Völkern, letztlich
aber vom einzelpersönlichen Menschen eingerichtet worden
sind, damit die Absolutheit menschlichen Seins, die physische
und psychische Integrität des einzelpersönlichen Lebens, der
Bestand der Kultur und ihrer Werte gesichert, ausgebaut und
vor Schädigungen bewahrt werden.
Die nämliche Auffassung von den Pflichten jeglicher Herr
schaftsinstitution gegenüber dem Einzelmenschen muß der
Völkerbund, soferne er eben Ausdruck einer einheitlichen völ
kerverbindenden Gesinnung sein soll, desgleichen bei den ihm
angeschlossenen, paktwilligen und friedenswilligen Regierun
gen voraussetzen; denn ohne ein gemeinsames pakttragendes
Ethos gibt es keinerlei friedensstiftende Mission.
II.
Der Völkerbund anerkennt demnach den einzelpersönlichen
Menschen als den Urträger jeglicher ethischer Haltung und da
mit auch als den Träger jener Paktfähigkeit, von deren Vorhan
densein seit eh und je der initiale Friedensauftrag ergangen ist
und stets aufs neue ergehen wird: denn die unbedingte Achtung
vor dieser urhaften, dem Menschen eingeborenen ethischen
Absolutheit ist die erste und natürlichste Pflicht, die der
Mensch gegen sich selbst und gegen den Nebenmenschen aus
zuüben hat, doch die Verteidigung dieser Absolutheit ist mit
der nämlichen Unabänderlichkeit sein erstes und natürlichstes
Recht; beides zusammen macht des Menschen Würde aus, und
durch beides zusammen werden unabänderlich die Aufgaben,
Rechte und Pflichten, aber auch die Würde jeder Herrschafts
institution bestimmt.
Der Völkerbund vertritt die Ansicht, daß es in Fragen, welche
die menschliche Würde berühren, keine innerstaatliche Auto
nomie zu geben hat; denn hier handelt es sich um grundlegende
moralische Einstellungen, deren Gemeinsamkeit auch in der
innerstaatlichen Gesetzgebung zum Ausdruck kommen muß:
jede Zerreißung einer solchen Gemeinsamkeit bedeutet
Kriegsgefahr.
III.
Der Völkerbund ist wie jede andere Herrschaftsinstitution, sei
sie nun staatlicher oder sonstweicher Art, zur Hintanhaltung
199
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und zur Bekämpfung von Unrecht eingesetzt, und wenn ihm
auch hiezu die üblichen materialen Machtmittel fehlen, so soll
die einmütige moralische Haltung der Mitgliedstaaten, diesen
Mangel wettmachend, ihn zur Erfüllung jener Herrschaftsauf
gabe befähigen.
Der Völkerbund ist daher gewillt, seine unrechtsbekämpfende
Aufgabe nicht auf die der direkten Kriegsverhinderung zu be
schränken, sondern darüber hinaus sie tunlichst weit auszudeh
nen: als Unrecht, ja, als Verbrechen ist alles zu umreißen, was
gegen die absolute Würde des Menschen verstößt, also eine
Vergewaltigung der natürlichen humanen Rechte in sich
schließt; der Krieg als legalisierte und systematische Verletzung
menschlicher Integrität ist lediglich die Verdichtung sämtlicher
Verbrechen gegen die Menschenwürde.
Alles öffentliche Unrecht trägt den Keim unmittelbarer oder
künftiger Kriegsursachen in sich; der Völkerbund ist gewillt,
jedes Auftauchen derartiger Haltungen und Phänomene wach
sam zu registrieren und, unbeschadet seines human-pazifisti
schen Zieles, ja, um dieses Zieles willen, sie offensiv, wo immer
und wie immer sie auftreten, zu bekämpfen.
IV.
Der Völkerbund wendet sich insbesondere gegen Regierungs
maßnahmen, welche Unrecht gesetzlich verankern und damit
zur dauernden Kriegsgefahr eternisieren wollen, und er regi
striert insbesondere jene Fälle, in denen das legalisierte Un
recht bis zu legalisierter Ungerechtigkeit gesteigert wird: Un
gerechtigkeit verstößt unmittelbar gegen die grundlegende
natürliche Menschenpflicht, denn in jeder Ungerechtigkeit ist
Mißachtung und Verkleinerung menschlicher Würde enthal
ten, und so wenig es möglich ist, Unendliches zu verkleinern,
so wenig können von der Absolutheit irgendwelche Abstriche
gemacht werden; weder für die absolute Würde, noch für das
absolute Ethos, noch für den Menschen als den Träger solcher
Absolutheit sind Abstufungen und verschiedene Klassengrade
zulässig.
Und ebenso ist die Konkretisierung der Gerechtigkeit, also
das Gesetz, auf unbedingte Achtung vor der einzelpersönlichen
Würde und ihrer unschmälbaren Absolutheit angewiesen, mit
hin aber auch auf jene Valenzgleichheit gegründet, die dem
200
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Menschen ebendeshalb vor dem Gesetze zusteht; eine Schmä
lerung dieses urhaft menschlichen Anspruches auf Achtung und
paritätische Behandlung kann lediglich in Ausnahmefällen
platzgreifen, nämlich in solchen, in denen das Gesetz gezwun
gen ist, zufolge bestimmter Delikte strafrechtlich ahndend auf
zutreten: d. h. es müssen bestimmte, in ihrem Begriff möglichst
vorher definierte Handlungen stattgefunden haben, welche ge
eignet sind, die Menschenwürde und die Menschenrechte zu
beeinträchtigen - die meisten der landläufigen, strafrechtlich
verfolgten Verbrechen fallen unter diese Kategorie -, und es
müssen bestimmte konkrete Personen als Täter stellig gemacht
werden können, damit diese und nur diese, so weit sie durch
ihre Tat zu Schädigern am Recht und an der Gerechtigkeit ge
worden sind, im Rahmen der vorgesehenen Strafsanktionen ih
rerseits an Integrität, Parität und Würde beeinträchtigt werden
dürfen.
Der Völkerbund steht mit seiner Sympathie und mit seiner
Unterstützung hinter allen Institutionen, die es sich in seinem
Sinne angelegen sein lassen, jedwede Ungerechtigkeit, zumal
jede haßerzeugte und haßerzeugende, zu bekämpfen und die
öffentlichen Maßnahmen in die Richtung wachsender Gerech
tigkeit zu lenken.
V.
Der Völkerbund brandmarkt als Verrat am Frieden alle jene
Fälle legalisierter Ungerechtigkeit, in denen eine Regierung
sich wissentlich ihrer grundlegenden Menschen- und Herr
schaftspflicht entzieht und durch Entwürdigung des Menschen
mittel- oder unmittelbar neue Haßwellen heraufbeschwört.
Derartige Verstöße können sowohl von passiver, wie von akti
ver Struktur sein, und zwar erfolgen sie
1. als passive, wenn eine innerstaatliche Gesetzgebung es un
terläßt, in die Liste der strafrechtlich zu ahndenden Verbrechen
auch jene aufzunehmen, die - wie z. B. der Sklavenhandel -
vom Völkerbunde bekämpft werden,
2. als aktive, wenn eine Regierung sich in den Dienst eines
»Siegesprinzipes« stellt,
a) außenpolitisch, indem sie überhaupt Kriege führt und im
Falle des Sieges daran geht, das besiegte Volk oder Teile des
selben zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren, d. h. zu sol
201
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chen, denen zwar die gleichen oder gar größere Lasten als der
Siegergruppe auferlegt werden, doch ohne daß ihnen der ent
sprechende gerechte Mitgenuß an den bürgerlichen Rechten
und Ehren, die gleiche Anwartschaft an den öffentlichen Ein
richtungen, die gleiche Freiheit ihres persönlichen Lebens,
kurzum die gleiche physische und psychische Integrität zuge
standen werden soll,
b) innenpolitisch, indem die Herrschaftsgruppe, sei es als In
strument einer siegreichen Majorität, sei es in anderer Eigen
schaft, einen ähnlichen Unterschied zwischen den Staatsbür
gern installiert und eine größere oder kleinere Anzahl von
ihnen, ohne daß dieselben sich strafrechtlich vergangen hätten,
in ihrer Würde, in ihren Rechten, in ihrer Freiheit beeinträch
tigt, m. e. W., ihnen den Charakter von Unterworfenen und von
Menschen zweiter Klasse aufzwingt.
Der Völkerbund hat in seinem Statut, ebensowohl durch die
Grundsatzungen der nationalen Selbstbestimmung und
Gleichberechtigung, als auch durch die des Minoritätenschut
zes unzweideutig kundgetan, daß er jede Majorisierung und
Verknechtung von Menschen verwirft, weil in einem solchen
Vorgehen, selbst wenn es auf demokratischem Wege erfolgte,
die Zuschanzung von unzulässigen Sonderbegünstigungen für
eine Gruppe zum Nachteil einer anderen zu erblicken ist und
derartige Sondervorteile durch nichts, am allerwenigsten durch
die Berufung auf das Staatsinteresse zu Recht und Gerechtig
keit werden können: der Staat ist zwar legitimiert, ja, sogar ver
pflichtet, Betätigungen, die sich gegen seinen Bestand richten,
zu verbieten und, wenn nötig, schon im Keime zu ersticken, er
kann und darf die betreffenden Erlaubnis- und Verbotsgrenzen
weiter oder enger ziehen, doch das Kriterium der Verfolgungs
lizenz hat einzig und allein in der gesetzwidrigen Handlung oder
in deren Vorbereitung, niemals in der Person als solcher zu lie
gen; ein Staatsprinzip, welches daran zu rütteln wagte oder gar
infolge einer Majoritäts- oder Regierungsentscheidung sich
entschlösse, diese urtümlichsten Rechte seiner Bürger anzu
greifen, ist im Innern paktbrüchig und daher auch nach außen
hin nicht paktfähig. Gerade die Friedensmission des Völker
bundes verlangt, daß das Menschenwohl dem Staatswohl vor
angestellt werde, denn nur hierin ist das pakttragende, frie
denstragende gemeinsame Ethos der Welt zu fundieren.
202
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VI.
Der Völkerbund verwirft auf das entschiedenste die bereits zur
staatlichen Gepflogenheit gewordenen Ausbürgerungsakte,
denn sie stellen theoretisch wie praktisch die Fortsetzung der
durch Bürgerdegradationen gegebenen staatlichen Pflichtver
letzung dar-theoretisch, weil es beinahe gleichgültig ist, ob ein
Bürger im Inland durch Entzug seines Vollbürgertums zum Teil
schutzlos gemacht oder vogelfrei erklärt wird, oder ob ihm dies
im Auslande durch Entzug seines Passes zur Gänze geschieht
sowohl bei diesen Auslands-, als auch bei jenen Inlandsausbür
gerungen, wie man sie bezeichnen darf, handelt es sich um
Strafsanktionen ohne vorhergegangene Straftat, also um sol
che, die lediglich auf die Person zielen, und der Vorgang wird
umso unmoralischer, als der ausbürgernde Staat sich damit ein
handliches Mittel verschafft hat, um die Unbequemlichkeiten,
die ihm aus der Anwesenheit strafrechtlich nicht verfolgbarer,
dennoch unerwünschter Personen erwachsen, von sich abzu
schütteln und auf moralischere, humanere Verwaltungskörper,
zu denen hier auch der Völkerbund mit seiner Institution der
Staatenlosenpässe gehört, einfach abzuwälzen, zugleich aber
auch dieselben mit der ökonomischen Obsorge für die ausge
bürgerten Personen zu belasten.
Der Völkerbund, welcher in Erfassung des ganzen Umfanges
der Emigranten- und Staatenlosenfrage sowie ihrer sozialen,
ökonomischen, friedensstörenden Gefahren sie durch seine
bisherigen Vorkehrungen tunlichst gemildert hat, erachtet dies
noch keineswegs als definitive Lösung: eine solche kann nur auf
der Linie einer Beendigung des Emigrationszwanges und der
Ausbürgerungen, eines gerechten Ausgleiches der hiedurch
verursachten finanziellen Belastungen und schließlich in der
Wiederherstellung der Freizügigkeit des Menschen gefunden
werden, so daß Entlassungen aus dem Staatsverband wieder je
nen unpathetischen Charakter annehmen, den sie ehedem hat
ten, nämlich den von technischen Maßregeln, die lediglich von
der freien Staatenwahl des Bürgers und von der Aufnahmebe
reitschaft des gewählten Staatsverbandes abhängig sind. Vor
derhand ist allerdings nichts anderes zu erhoffen, als daß in den
Mitgliedstaaten des Völkerbundes die Besitzer der von ihm
ausgestellten Pässe nicht als lästige Ausländer und nicht als
Menschen zweiter Klasse behandelt werden, vielmehr ihnen
203
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eine möglichste Erleichterung in der Erwerbung des Arbeits
anrechtes, wenn schon nicht der Einbürgerung gewährt werde.
VII.
In Zusammenfassung der angeführten Prinzipien und gemäß
seiner Friedensmission deklariert sich der Völkerbund zum un
bedingten Hüter und Schützer der menschlichen Würde und ih
rer Unantastbarkeit; er deklariert ferner, daß alle von ihm ge
troffenen und zu treffenden Maßnahmen unmittelbar dem
Wohle des realen einzelpersönlichen Menschen zu dienen ha
ben, weil in der menschlichen Persönlichkeit und in der Ge-
wahrtheit ihrer physischen und psychischen Integrität, die ihre
Würde einschließt, der absolute Quell eines allgemeinverbind
lichen friedensstiftenden Ethos und damit jeder kulturfördern
den Herrschaftsaufgabe erkannt werden muß, und ebenso ent
spricht es auch der Herrschaftsaufgabe des Völkerbundes, daß
er an seine Mitglieder die Forderung stellt, sie mögen die näm
lichen Anschauungen, die nämliche unbedingte Achtung vor
der menschlichen Persönlichkeit und vor der Absolutheit
menschlicher Würde als regulatives Prinzip in ihren Verfassun
gen verankern: Staaten, welche die Zustimmung zu diesen
Prinzipien verweigern, stören jede Friedensgemeinschaft; sie
können nicht als pakt- und friedensfähig gelten und sind nicht
imstande, das Mitgliedsrecht am Völkerbund zu erwerben.
B. Desiderata
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ad I. ( Propagierung des Völkerbundgeistes)
Erweckung und Wiedererweckung eines allgemeinverbindli
chen, absolutheitsnahen Ethos, m. a. W., Erweckung zur Pakt
fähigkeit kann nur im einzelpersönlichen Menschen erfolgen
und nur in ihm Widerhall finden, denn er ist der initiale Träger
des ethischen Willens sowie des Wunsches nach kulturbringen
dem Frieden: an den Menschen schlechthin und an seine Seele
hat jede Friedens- und Herrschaftsinstanz, hat der Völkerbund
zu appellieren.
Gelingt es dem Völkerbund, diese Aufgabe zu erfüllen, näm
lich unter Anrufung der menschlichen Einzelpersönlichkeit und
durch deren Vermittlung seine Prinzipien und Tendenzen an
das Bewußtsein der Völker heranzutragen und dort ständig
wach zu erhalten, so wäre damit das wesentlichste Gegenge
wicht zu der allerwärts wirkenden geistigen Kriegsverhetzung
und Kriegspropaganda geschaffen: es handelt sich um die Mo
bilisierung der geistigen Gegenkräfte und um die längst fällige
Gegenpropaganda, und hiezu hätte der Völkerbund eine eigene
Propagandaabteilung zu errichten.
Das Arbeitsgebiet einer solchen Propagandaabteilung ergäbe
eine natürliche Gliederung nach zwei Hauptgruppen, u. z.
erstens in die eines Büros für direkte Propaganda, das mit allen
Mitteln der Werbetechnik, d. h. mit Hilfe der Presse, des
Radios und des Films sich zu betätigen hätte, wobei es der
Phantasie unbenommen bleibe, an den späteren Bau eines
eigenen Völkerbundsenders zu denken,
zweitens in die eines Büros für Jugendprobleme, das entgegen
der jetzt üblichen Sieg- und Haßerziehung sich mit der
Aufgabe zu befassen hätte, den Kampf- und Haßwillen
der Jugend in die Richtung wider das Unrecht zu lenken,
die Heroisierung des Unrechtes abzustellen und den ju
gendlichen Offensivgeist gegen die Menschheitsverbre
chen aller Zeiten zu richten, kurzum den Haß wider den
Haß zu erzeugen und ihm sein einzig legitimes, sein ethi
sches Ziel zu geben.
Soll eine solche Friedenspropaganda wirksam durchgeführt
werden, so setzt dies die Unterstützung vonseiten der Mitglied
staaten voraus, d. h. deren Verpflichtung, innerhalb ihrer
Machtbereiche allen Empfehlungen und Verfügungen des Völ
kerbundes entsprechenden Eingang und entsprechende Ver
205
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breitung zu sichern, Radio und Presse in diesen Dienst zu stel
len und insbesondere in der Jugenderziehung den Völkerbund
vorschriften unbedingt Folge zu leisten.
ad II. (Landesverrat)
Angesichts der überall wirkenden Tendenz, die physische und
psychische Integrität des Menschen zugunsten der Staatsexi
stenzen einzuschränken, eine Tendenz, die sich am krassesten in
der steten Erweiterung des Deliktes »Landesverrat« und der
damit verbundenen Todesstrafe äußert, erscheint es dringend
geboten, daß von autoritativer überstaatlicher Seite, also vom
Völkerbund, resp. von einer juristischen Völkerbundkommis
sion, eine Präzisierung jener Begriffe vorgenommen werde, um
deren weitere Extension möglichst zu verhindern: unter aller
Anerkennung des gebotenen Schutzes, den jeder Staat für seine
Landesverteidigung und insbesondere für die Wahrung seiner
militärischen Geheimnisse beanspruchen muß, soll grundsätz
lich festgehalten werden, daß innerhalb der Mitgliedstaaten nie
mand für ein Wirken angeklagt oderbestraftwerdendarf,dasim
Sinne des Völkerbundgeistes und des Völkerbundstatuts erfolgt,
das mit den Anschauungen des Völkerbundes im Einklang sich
befindet, sie befördern oder verbessern und so der Völkerver
ständigung und dem Weltfrieden dienen will.
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der Menschenwürde« sich tief in den Komplex der Kriegsver
hütung hineinverzweigt. Es tut sich also auch die Frage nach ei
ner obersten Instanz in diesem ganzen Beziehungsnetz auf, eine
Frage, die zwar heute noch im Utopischen liegt, dennoch schon
im ureigensten Gebiet des Völkerbundes, nämlich in dem der
internationalen schiedsgerichtlichen Tätigkeit.
ad IV. {Rechtsangleichung)
Die internationale Schiedsgerichtbarkeit, verstrickt in dem
komplizierten Gewirr imperialistischer, ökonomischer und
sozialer Konflikte, hat weder auf dem engeren, noch auf dem
weiteren Einflußgebiet der Mächte sehr wesentliche Erfolge
aufzuweisen; desgleichen haben die vielen internationalen Ein
richtungen und Abkommen, deren Fülle auf allen Tätigkeitsge
bieten die Hoffnung und den Stolz der Vorkriegszeit gebildet
hat, sich erstaunlich wirkungslos gezeigt, und wenn auch die
Anzahl von ihnen, teils unter der Ägide des Völkerbundes,
nach dem Kriege wieder aufgelebt ist, so sind doch nicht wenige
von ihnen heute einfach vergessen. Trotzdem bilden Schieds
gerichtsbarkeit und einheitliche internationale Institutionen
nach wie vor die Wege, auf denen fortgeschritten werden muß,
um zur sukzessiven Ausschaltung der Kriegsursachen zu gelan
gen. Und ebendeshalb muß auch gefordert werden, daß der
Völkerbund sich mit seiner überstaatlich-juristischen Vorbe
reitungsarbeit dem Projekt einer stufenweise vorzunehmenden
Gleichstellung der zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen in
den Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten zuwende und damit
einen ebenfalls bereits in der Vorkriegszeit angesponnenen Fa
den wieder aufnehme. Denn ein künftiges einheitliches und
überstaatliches Gesetzbuch entspräche der Idee einer absolu
ten Gerechtigkeit, entspräche der Stellung des Völkerbundes
und seiner Friedensmission.
ad V. {Soziologische Prinzipiengrundlegung)
Die zunehmende massenpsychologische Verhetzung der Welt,
das Operieren mit den billigsten Schlagworten, die außerdem
als weltbeglückende und wissenschaftlich unangreifbare Weis
heiten verkündet werden, die Flucht in mystisch dunkle Moti
vierungen, um mit ihnen politische Amoralitäten zu begründen,
die Spekulation auf ungeklärte Triebe kollektiver und anderer
207
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Art, getragen von der zynisch eingestandenen Absicht, daraus
Nutzen für die Schaffung oder Stützung von Machtpositionen
zu schlagen, all dies macht es äußerst dringlich, daß derartige
Erscheinungen wissenschaftlich beobachtet, geordnet und er
forscht würden, damit die Forschungsresultate, so weit sie als
objektiv gesichert gelten dürfen, in den Prinzipien der Staats
führung entsprechend ausgewertet werden können.
ad VI. ( Völkerbundvertretungen)
Die durch die massenpsychische Verhetzung täglich bedrohli
cher werdende Lage der Minoritäten sowie der Staatenlosen,
kurzum aller jener Gruppen, für die der Völkerbund heute die
einzige Möglichkeit eines karg-juristischen, öffentlichen
Schutzes darstellt, läßt es mehr als wünschenswert erscheinen,
daß der Völkerbund ständige Vertreter mit Beobachtungs
funktion und mit der Befugnis, Völkerbundpässe auszufertigen,
in allen Mitgliedstaaten unterhalte, in den übrigen Ländern
aber die Delegation eines Mitgliedstaates mit diesem Amte be
traue.
ad VII. ( Völkerbundhoheit)
All diese vorgeschlagenen Verfügungen schließen den Wunsch
in sich ein, Vorstufen zur Erreichung eines vorderhand noch
utopischen Zieles zu werden, nämlich jenes einzig erstrebens
werten, würdigeren Weltzustandes, in welchem ein wirklicher
Bund der Völker kraft der in ihm vereinigten Exekutivgewalt
und Herrschaftsbefugnis als ein wahrer primus inter pares, als
ein wahrer primus unter den Staaten, ausgestattet mit sämtli
chen Hoheitsrechten einer Großmacht, berufen sein wird, die
Geschicke des zivilisierten Erdkreises zu lenken: denn worauf
208
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immer sich die vorgebrachten Wünsche beziehen mögen, ob auf
Propagierung des Völkerbundgeistes oder auf Maßnahmen für
eine allgemeine Rechtsangleichung oder auf solche für die zu
nehmende Gerechtigkeit, es bedeutet die Annahme eines
durchgängigen regulativen Prinzipes zum Schutze der Men
schenwürde nichts anderes als die Anbahnung einer rationalen
Verfassungsgleichheit, es bedeutet den Wunsch nach einer zu
nehmenden Logosnähe für alles staatliche Leben, und es be
deutet, daß die Institution eines nicht nur ideell, sondern auch
realpolitisch gefestigten Völkerbundes einstmals zum morali
schen Vaterland für einen jeden werde, der seine Heimat, sein
Land, sein Volk, der das menschliche Dasein, die Menschheits
kultur und ihren Frieden liebt und deren Bestand gesichert ha
ben will.
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erkennen und nur aus dieser zu erschließen, an sich jedoch un-
erfaßlich und unsichtbar, besitzt das Absolute seine weitaus
stärkste Erfahrungsgrundlage in der menschlichen Einzelseele
und ihrer ethischen Struktur: gewiß wirkt es hier nicht minder
geheim, gewiß ist das religiöse Erleben, das der Seele eigenste
Kultur ausmacht und alle Kultur in der Welt schafft, nicht min
der verborgen, indes klar und deutlich, ja, jederzeit kontrollier
bar ist die Pflicht zur Vernunft für den Menschen vorhanden,
unablässig ist seine Ratio unter diese Pflicht gestellt, so sehr
dem Logos und seiner lebendigen Fortentwicklung verhaftet,
daß der Mensch sie mit Fug als Ebenbildhaftigkeit empfinden
darf, seine Seele aber als das einzige Gefäß einer Absolutheit,
die sich spiegelnd in ihr erzeugt.
Es ist hier weder die Legitimation, noch der Ort gegeben, die
suprahumane Herkunft der logischen und ethischen Absolut
heit zu erörtern, obschon es am einfachsten wäre, die religiösen
Sachverhalte heranzuziehen, in welchen die Grundzüge aller
seelischen und weltlichen Kultur eingezeichnet sind. Es soll ge
nügen, die Existenz eines gesunden Menschenverstandes, die
Existenz eines geraden menschlichen Gewissens anzunehmen,
denn so prekär auch diese primitiv humane Annahme gewor
den sein mag, sie trifft trotzdem eine Realität der noch vorhan
denen Kultur, und wenn diese weiterbestehen soll, so wird sie
niemals des absoluten und dadurch sozial paktfähigen Kernes
im menschlichen Verhalten entraten können.
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individuellen Kultur- und Friedenswillen strikte verneint.
Daß die gewaltlose, dennoch so starke Stimme der Humanität
sich jemals gegen die Übermacht der Umweltsentwicklung
hatte durchsetzen können, stempelt den Bestand der Kultur zu
dem Wunder, das sie ist, und das Wunder ist umso erstaunli
cher, als noch jede humane Strömung, die in Gestalt staatlicher
oder gesellschaftlicher oder sonstweicher Institutionen von der
Außenrealität aufgenommen worden ist, äußerst rasch den Zu
sammenhang mit ihrer Basis, dem lebendigen Logos, verloren
und zu einem erstarrend-erstarrten Instrument einer mensch
heitsfeindlichen Umwelt sich verwandelt hat: oft und oft hat es
sich im Laufe der Geschichte schon gezeigt, daß nur eine stän
dige vom Menschen und vom Logos ausgehende Erneuerung
befähigt ist, den Kulturbestand gegen diese vernichtenden Ab
wehr- und Aufsaugungskräfte zu schützen, und daß jede noch
so kurze und augenblickhafte Unterbrechung der darauf ge
richteten Bemühungen genügt, um das barbarische Chaos der
Umwelt wieder hervorbrechen zu lassen.
Diese stete Umkehrung des Humanen ins Inhumane, des
Sinnvollen ins Sinnlose, des Lebenswillens in den Todeswillen
könnte sicherlich nicht stattfinden, wenn nicht im Menschen
selber Tendenzen wirksam wären, die den Wünschen seiner
Ratio, seiner Seele, seines Herzens zuwiderliefen: All seine ir
rationalen Strebungen, sogar seine heroische Aufopferungsbe
reitschaft, besonders aber all seine Atavismen, seine Mordlust,
seine Kriegslust, sein Kulturekel, sein Vertragsekel, sein Ord
nungsekel, all diese Haßregungen reihen sich in die Erbar
mungslosigkeit der Umweltsentwicklung ein, und da es Stre
bungen sind, die sich der einzelne kaum einzugestehen wagt, so
werden sie umso hemmungsloser innerhalb des Kollektivs mas
senpsychisch ausgelebt. Denn das Kollektiv, bar eigener ethi
scher Zielsetzungen und gesichert in seiner Massenexistenz, ist
immerzu bereit, das Recht des Schwächeren als Angstrecht zu
verachten und bedenkenfrei jegliches Kulturgut aufs Spiel zu
setzen: nichts ist falscher als die Sentenz von der Friedensliebe
der Völker; bloß der einzelne will den Frieden, dem Kollektiv
aber ist er gleichgültig und oftmals sogar verhaßt.
Die Weltgeschichte stellt eine unendliche Kette von Einbrü
chen innerer und äußerer Barbarei dar, und wenn sie trotzdem
aus allen Kultur- und Menschheitsstürzen stets aufs neue in die
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Linie des Humanitätsfortschrittes zurückgeschwungen ist, aus
jeder der unablässig sich wiederholenden Erstarrungen heim
findend zu lebendigem sozialen Sein, aus jeder Entwürdigung
zurück zur Würde, aus jeder Bedrückung zurück zur Freiheit,
aus jeder Verfassungsunfähigkeit zurück zur besseren Verfas
sungsfähigkeit, als wirke darin eine geheimnisvoll unerschöpf
liche und eben wundersame Lebenskraft, die sogar imstande ist,
für jede vernichtete Kultur schließlich doch immer wieder eine
andere in verjüngter Gestalt und auf höherer logischer Stufe
erblühen zu lassen, so darf darin zwar ein Schimmer von der
Unzerstörbarkeit absoluter Werte gesehen werden, eine
gleichsam ewigliche Keimesstärke in des Menschen Seele und
in der Welt, eine durch nichts verdrängbare Menschheitserin
nerung, gleichsam eine Art Besinnung auf das Absolute und
seine unveräußerlichen Rechte, die - freilich oft genug um den
Preis revolutionärer Eruptionen ärgsten unheilsträchtigsten
Umweltscharakters - immer wieder das Bewußtsein der Völker
schmerzhaft aufbricht, allein gerade diese Vielfalt innerer und
äußerer Gefährdungen, gegen die sich die Kultur zu behaupten
gehabt hat, macht es mit nicht geringerer, ja, mit beängstigen
der Deutlichkeit klar, daß das Wunder wertschaffender Selbst
behauptung und Widerstandszähigkeit keineswegs unerschüt
terlich ist, und daß seine Feuerprobe erst bevorsteht: denn hatte
das Auf und Ab des kulturellen Verlöschens und Wiederauf-
flackerns sich bisher in geographisch, zeitlich und zivilisatorisch
getrennten Räumen vollzogen, so drängt nunmehr die wach
sende Zivilisationseinheit der Welt unabweislich zu einem all
umfassenden Entweder—Oder, dessen Radikalität lediglich To
talitätssiege kennt, entweder den der Ratio und eines
allgemeinen human-kulturellen Wiederanstieges, oder den des
Wahnwitzes und des Rückfalls in eine Barbarei, die sich den ge
samten Erdkreis unterwerfen wird.
Vom Weltenwahnsinn
Wo die Herrschaft der ethischen Absolutheit endet und den
Menschen freigibt, so daß er zum Objekt der inneren und äuße
ren Umweltslogik herabsinkt, an dieser Grenze beginnt - in be
zeichnender Verquickung mit dem Verfall und der Verbiegung
aller moralischen Haltungen - die Herrschaft des Wahnsinnes,
u. z. eines Wahnsinnes von durchaus klinischer Bedeutung.
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Die seit Jahrhunderten vorbereitete und im Weltkrieg erst
malig konkret sichtbar gewordene Wertzerrüttung der
Menschheit weist alle Symptome eines Absolutheitsschwundes
auf: Ledig der Fesseln eines allgemeinverbindlichen Ethos, wie
es vornehmlich das religiöse gewesen ist, wurden die einzelnen
Wertgebiete, unbeschadet ihres Ranges, immer mehr auf sich
selbst verwiesen, auf ihre internen Ziele, auf ihre verschiedenen
internen Eigenstrukturen beruflicher, weltanschaulicher oder
sonstwie ideologischer Art, und verlustig des Kontaktes, in dem
sie einstmals unter der Leitung einer echten Absolutheit kul
turgebunden gestanden hatten, mußten sie füreinander logisch
unbegreiflich und zur gegenseitigen, feindschaftserfüllten Um
welt werden, mehr noch, sie mußten kraft solcher Vereinzelung
und Autonomie jedes für sich nach eigener Totalität streben,
also nach einer Pseudo-Absolutheit, die zu ihrer Selbstbehaup
tung gezwungen ist, jeden unbotmäßigen Nebenwert rück
sichtslos zu vernichten. Unbeschränkte Macht der eigenen au
tonomen Interessensphäre, unbeschränkte Geltung der eige
nen autonomen Logizität, unbeschränkte Anerkennung der
eigenen autonomen Moral, das sind die Ziele eines jeden der
selbständig gewordenen Wertgebiete, und in diesem bis zu zy
nischester Radikalität übersteigerten Wertrelativismus ist für
die Stimme der Vernunft, für die Stimme des Logos - etwa als
die einer Humanitätsideologie innerhalb des Wertsystems der
Rüstungswirtschaft - schon längst kein Gehör und kein Platz
mehr vorhanden; eine schwere ethische Gleichgewichtsstörung
hat sich, vielleicht als Folgeerscheinung, vielleicht sogar als Ur
sache zu der politischen, sozialen und ökonomischen Erschüt
terung der Welt gesellt, und sie bestimmt deren Wahnsinnscha
rakter. Denn verengt und getrübt, erstarrt in dieser Enge,
abhängig von umweltsbedingten Voraussetzungen, dem Trieb
haften untertan, geleitet von außerrationalen Schlagworten, ist
jede Pseudoabsolutheit genötigt, alle Irrsinnselemente im
Menschen zu mobilisieren, das Atavistische und Barbarische in
ihm heraufzubeschwören, die einzelpersönliche Ratio aber zum
Schweigen zu bringen, und wenn dies mit der Hinwendung zur
Massenpsyche gelingt, wenn der Zusammenklang des Kollek
tivwahnsinnes mit dem Wahnsinn des ihm adäquaten Machtha
bers, in gegenseitiger Konkurrenzierung einander hervorbrin
gend, einander aufstachelnd und überbietend, bis zu einem
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Punkt völlig logosferner, selbstverhafteter Blindheit gediehen
ist, dann entsteht starr-grausam, folgerichtig bloß für sich, ab
gelöst von allem andern jene ethische Autarkie, die eben kei
neswegs auf die seelische Haltung allein beschränkt ist, jeden
falls aber das Ethos des Narren und die ihn auszeichnende
würdelose Würde repräsentiert.
Der Weltkrieg, selber schon Frucht der pseudoabsoluten
Wahngebilde, furchtbare Frucht eines dennoch verhältnismä
ßig noch harmlos gewesenen Vorbereitungsstadiums, scheidet
dieses von dem mit ihm einsetzenden Aktualirrsinn; die dro
hende Gefahr hatte sich vorher deutlich genug gezeigt, die Um
weltsentwicklung trug alle symptomatischen Elemente auf ihrer
Oberfläche, die Autonomie der Wertgebiete hatte bereits be
standen, insbesondere der technische und der ökonomische
Bereich hatten sich bereits weitgehend selbständig gemacht, in
des, die Masken waren noch nicht gefallen, und eigentlich war
das Vorrecht autonomer Moral, oder richtiger Unmoral, das
machiavellistische Recht auf Treuebruch und Wortbruch und
auf jede Gewalttat, bloß der imperialistischen Außenpolitik der
Staaten und ihrem heiligen Egoismus eingeräumt worden,
während auf sozialem und innenpolitischem Gebiet kaum
daran gedacht wurde, die Geltung des human-absoluten Ethos
anzutasten. Daraus ergab sich jene eigentümliche Mischung
von Paktfähigkeit und Paktunfähigkeit, die in der Vorkriegszeit
allenthalben anzutreffen war, doch auch die eigentümliche
Stellung des imperialistischen Krieges als eines isoliert-provi
sorischen Phänomens inmitten eines sonst intakten Kulturle
bens. Dieses Vorstadium ist im Irrsinnssturm der Umweltsent
wicklung untergegangen. Und wenn auch in dem Kampf, der
zwischen den pseudo-absoluten Wertsystemen gräßlich und
unerbittlich entbrannt ist, vorderhand noch die Staatsexisten
zen sich als die stärksten erweisen, weil sie eben die fundierte
imperialistische Tradition und überdies die realen Machtmittel
besitzen, also unter Rückgriff auf alte und Ersinnung neuer
Zwangsformen am ehesten zu jener Totalitätsstellung gelangen
können, die gleichermaßen zur Niederhaltung der Nebenwerte
wie zur politischen Außenwirkung nötig ist, es sind trotzdem die
zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Konfliktfronten der
art verknäult, sind derart mit allen übrigen Interessen vermengt
und vor allem derart von ethischen und pseudoethischen Stre
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bungen durchsetzt und durchbrochen, daß die Kriegsgefahren
bei weitem nicht mehr - wie dies noch zur Zeit der Völker
bundgründung der Fall war - mit den Möglichkeiten von
Staatszusammenstößen ausgeschöpft sind, sondern zur Un-
übersehbarkeit sich vermehrt haben und immer weiter sich ver
mehren: der Krieg in Permanenz, der pseudoabsolute Wahn
sinnskampf aller gegen alle steht vor der Türe.
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alte Gerechtigkeit des Krieges hervorgeholt wird, um die Bar
barei zu legitimieren, wenn also unter jener Devise, welche die
Wahrung heiligster Kulturgüter fordert, über kurz oder lang der
ganze Erdkreis mit einem Netz von Verteidigungskriegen bar
jeglichen Angreifers überzogen sein dürfte, so entblößt sich
darin eine Lüge, deren Obszönität dem Bösen schlechthin ver
wandt ist: denn es geht bei alldem schon längst nicht mehr um
die wirkliche Verteidigung irgendwelcher Interessen, umsowe
niger als im Chaos eines modernen Krieges wohl kein Interes
senanspruch unverändert weiterbestehen könnte oder durch
zusetzen wäre, es geht auch nicht um die nationale Ehre oder
um Völkersympathien und -antipathien, umsoweniger als de
ren Erzeugung zum Requisit massenpsychischer Technik ge
worden ist, ja, es geht bei alldem, mögen die Ereignisse von
noch so furchtbarer Realität sein, überhaupt nicht um Reales
oder um real Austragbares, vielmehr wird einzig und allein der
Krieg an sich ausgetragen, das Elend an sich, das Elend um des
Elends willen: denn es ist das Wertsystem des Krieges an sich,
das zur Autonomie und Totalität drängt, mehr noch, es ist die
Autonomie der selbständig gewordenen Kriegsmittel, und es ist
eben damit die krasseste Form der durchgängigen Wertautono-
misierung und Wertzersplitterung, so krass, so radikal, so unwi
derstehlich, daß sie den zur Hilflosigkeit verdammten Men
schen in ihren Bann geschlagen hat, verfangen in der
Logoswidrigkeit, verfangen in der Lüge, verfangen in einem
Wahnwitz, der mit einem Gewirr von Generals- und Banden
kämpfen allenthalben schon konkrete Gestalt anzunehmen be
ginnt und das Bevorstehende samt all seiner Gräßlichkeit erah
nen läßt.
Eine Gerechtigkeit des Krieges gibt es nicht mehr, und wer
vom Krieg als einem notwendigen Mittel zur Fortsetzung der
Politik spricht, macht sich einer obszönen Infamie schuldig. Als
gerecht hingegen muß jede Maßnahme anerkannt werden, und
sogar jede Zwangsmaßnahme, die den Krieg, die den Kriegs
geist, die das Unrecht bekämpft und ein absolutes Ethos vertei
digt. Und dies ist die Gerechtigkeit der Auflehnung gegen das
Verbrechen schlechthin.
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Vom Fatalismus
Nicht nur gleichgültig gegen den Nebenmenschen, sondern
auch gegen sich selbst, nicht nur unempfindlich gegen fremdes
Leid, sondern auch gegen die eigene Entwürdigung, ist das In
dividuum, obwohl an sich durchaus imstande, den Welten
wahnsinn zu erfassen und ihn als solchen zu bezeichnen, allzeit
bereit gewesen und heute nicht minder bereit, unter Verge
waltigung der humanen, ihm unverlierbar eingesenkten Ratio
sich der irren Umweltsentwicklung und Umweltsideologie ein
zufügen, insonderlich so lange Gut und Leben hiedurch nicht
bedroht werden, vielmehr im Gegenteil zu hoffen ist, daß aus
der Zugehörigkeit zur aufgestachelten Massenpsychose und
zum Volkswillen, kurzum zur sogenannten Lebensrealität mit
all ihren Genuß- und Erwerbsformen genügend viel Vorteile
erwachsen, um die Flucht in eine Gewissensapathie und in ei
nen Fatalismus zu rechtfertigen, der in geschäftiger Untätigkeit
unbekümmert die Dinge der Welt so laufen läßt, wie sie eben
laufen. Kein Wunder also, daß eine solche umweltsideologische
Auffassung, die sich außerdem gerne auf die in allen Wirrnissen
noch immer glanzvoll bewiesene Lebenszähigkeit der Kultur
berufen zu können glaubt, schließlich in jenem heroisch-akti
ven Dynamismus gipfelt, der in Blut und Mord höchst begrü
ßenswerte Kulturfaktoren sehen will und daher deren Hin
nahme, ja, Förderung als geeignete Mittel zur Erreichung eines
glücklicheren, ethischeren, absolutheitsnäheren Weltzustandes
empfiehlt.
Allerdings ist es fraglich, ob eine derart optimistische, beinahe
fröhliche, jedenfalls sehr realitäts- und zweckverhaftete Ein
schätzung der Geschehnisse überhaupt noch Fatalismus ge
nannt werden kann. Echter Fatalismus verlangt nach einer ge
wissen Erkenntnistiefe, er verträgt sich schlecht mit allzu großer
Zweckverhaftung an die irdischen Angelegenheiten, er neigt in
ihrer Betrachtung wesensgemäß zu einer pessimistischen Stel
lungnahme, und solcherart zwar gefeit vor gedankenloser Apa
thie, mehr noch, sogar oft einer geradezu fanatischen und dog
matischen Pflichterfüllung im Irdischen hingegeben, ist er mit
alldem doch von Strömungen bewegt, die ihn in die Nähe stoi-
zistischer Haltungen bringen und sämtliche Gefahren einer
verzweifelten Passivität in sich bergen: wer den apokalypti
schen Weltzustand mit wahrhaft verzweifelter Erkenntnis be
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griffen hat, der ist zumeist auch schon gewillt, jeglichen Wider
stand fahren zu lassen, nicht nur aus Müdigkeit, und nicht nur
weil Auflehnung ihm fruchtlos erscheint, und nicht nur weil er
darin ein metaphysisches und vielleicht strafendes Geschick se
hen mag, sondern auch weil sein von Abscheu gegen jegliche
Gewalttat erfülltes Gewissen keiner Machtanwendung zustim
men darf und keinem Kriege ein Maß von Gerechtigkeit zuge
steht, das gestatten könnte, Unrecht mit Unrecht zu bekämp
fen; er ist in eine ethische Zwangslage geraten, und eindeutig,
wenigstens für ihn eindeutig, schreibt sie ihm vor, was er zu tun
hat, nämlich in duldendem Märtyrertum widerstandslos die
Greuel über sich ergehen zu lassen.
Doch diese ganze fatalistische Skala, angefangen von der ge
dankenlos optimistischen Bejahung bis zur wissend erleidenden
Verneinung hat etwas Gemeinsames: durchgängig wird gegen
primitivste Menschenpflicht verstoßen, durchgängig wird ver
gessen, daß jeder Tag passiven oder aktiven Zuwartens mit
neuem realen Leid vergewaltigter Menschen und entwürdigter
Seelen bezahlt wird; es ist ein Verstoß gegen die schlichteste
humane Anständigkeit, und hieraus erfließt zweifelsohne das
fast mystische Schuldbewußtsein, von dessen Schatten wohl
jeglicher Fatalismus berührt wird, das Schuldbewußtsein vor
dem apokalyptischen Elend, mit dem die beleidigte Absolutheit
sich an einer unfähig gewordenen Menschheit rächt.
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verlangt also nach jenem unerschütterlichen und eben absolu
ten Optimismus, der allein die Kraft besitzt, Recht gegen Un
recht zu verteidigen; Märtyrertum ist seinem innersten und in
nigsten Grunde nach stets Verteidigung absolutesten Men
schenrechtes, doch gleichzeitig damit auch Erfüllung der
ethischen Menschenpflicht schlechthin, während jedweder Fa
talismus, sei er nun so oder so gefärbt, sowohl diesen Pflichten,
wie auch jenen Rechten sich als nicht gewachsen erweist.
Denn es gibt ein natürliches, unantastbares Recht des Men
schen und nur dieses: das Recht auf unbedingte Achtung der
seinem Leben eingeborenen ethischen Absolutheit. Und es gibt
eine natürliche, unabweisbare Pflicht des Menschen und nur
diese: die Pflicht zur Verteidigung der absoluten Sittlichkeit. Es
ist ein Recht auf Pflichtausübung, und es ist die Pflicht zur Gel
tendmachung solchen Rechtes, indes beides zusammen bildet
die absolute Würde des kulturschaffenden Menschen, bildet die
eingeborene Freiheit der Einzelpersönlichkeit und ihrer Wert
setzungen.
Denn Würde ist Repräsentanz; in ihr repräsentiert der
Mensch kraft seiner moralischen Haltungen das ihm überge
ordnete und von ihm geschaffene Wertsystem, letztlich also die
absolute Idee. Und wenn auch kein konkretes Wertsystem an
die Absolutheit heranreicht, so ist es doch beauftragt worden,
sich ihr unablässig zu nähern, und je näher es ihr wird, desto
mehr wird ihre Repräsentanz zur wahren Würde des Menschen,
desto mehr wird sie zu seiner Unterordnung unter eine selbst
geschaffene, dennoch existente höhere Seinssphäre, desto mehr
wird sie zur Wesenheit des human Schöpferischen, das sie zu
gleich darstellt, Freiheit und Selbstverantwortung in sich tra
gend. Allerdings, je kleiner und konkreter dieses übergeord
nete Gebilde ist, desto konkreter werden auch die Utensilien
und Etiketten, die Riten, Trachten und Orden, die zu seiner
Repräsentation benötigt werden, desto hohler und kläglicher
wird die aus ihm erfließende Würde: damit konkrete menschli
che Institutionen und Sachverhalte, zu denen schließlich auch
die Kollektiva gehören, imstande [sein] werden, an der huma
nen Würde teilzunehmen, Würde zu manifestieren und Würde
zu verleihen, ist es nötig, daß sie in ihrer Wirksamkeit den Cha
rakter einer moralisch handelnden Person erhalten.
Denn Kollektiva, mögen sie nun naturgegebene oder zweck
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betonte Ansammlungen sein, bestehen aus sterblichen, einan
der ablösenden Einzelmenschen, und ein derartiges, zeitbe
dingtes und diffus-fluktuierendes Gebilde ist nur dann aus
seiner Eigenschaftslosigkeit herauszuheben und zu einer eigen
schaftstragenden, zeitüberdauernden, also historischen Einheit
umzugestalten, wenn die Gesamtheit der Handlungen, die ihre
Lebensstruktur ausmachen, durch einen zukunftsweisenden
Festsetzungsakt zusammengefaßt und bestimmt wird, d. h.,
wenn eine Gesetzes- und Verfassungsstiftung von außeror
dentlicher Plausibilität stattfindet, von so starker Plausibilität,
daß sie sowohl den Zeitgenossen, als auch den Nachfahren
zwingend eingeht, daß sie für dieselben eine zwingende Hand
lungsvorschrift bildet, daß sie also, gleichgültig ob hoch- oder
tiefstehend, ob kulturschaffend, kulturindifferent oder kultur
abgeneigt, ob athenisch oder spartanisch, jedenfalls eine Wert
vereinbarung darstellt, eine Wertmoral, welche die menschli
chen Handlungen in gute und böse, in erlaubte und verbotene
einteilt und daher für die einheitliche Haltung des Kollektivs,
für seine einheitliche ethische Willensbildung richtunggebend
ist. Solcherart an sich schon auf den Einzelmenschen und die
einzelmenschliche Handlung bezogen, ist der verfassungsstif
tende Akt genötigt, zur Erreichung seiner vollen ethischen
Höhe sich mit all seiner Obsorge und all seiner Betreuung ein
für allemal an das einzelmenschliche Wohl und an das einzel
seelisch-moralische Heil zu wenden - nirgends ist diese Linie
so deutlich vorhanden, wie im rein geistigen Grenzfall einer
theokratischen Verfassung, also der Kirche -, auf daß durch
Erweckung des in der einzelpersönlichen Würde ruhenden Lo
gos stets aufs neue die Umwandlung des Menschenkonglome
rats zur kulturtragenden humanen Gemeinschaft und Ge
meinde angebahnt werde, auf daß kraft der Wechselwirkung
zwischen der Ratio des Gesetzes und der des handelnden Men
schen jene Niederhaltung der irrational-atavistischen, barba-
risch-massenpsychischen Regungen innerhalb des Kollektivs
sich vollziehe, die für die Statuierung des sozialen Seins und der
sozialen Gemeinschaftswürde erforderlich ist. Der Verfas
sungsstifter kann anonym bleiben, er kann ein Lykurg, er kann
ein Solon, aber er kann auch mehr sein, nämlich der Religions
gründer schlechthin: Je absolutheitsnäher die verfassungsstif
tende Tat ist, desto erhabener wird der, dem sie in Ausübung
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seiner unbedingten natürlichen Menschenpflicht, in Ausübung
seiner unbedingten Achtung vor der Absolutheit jeglicher Ne
benseele gelingt, desto mehr wird er zum Heilsbringer der
Menschheit, desto mehr wird seine Gestalt dem irdischen Fata
lismus entlöst, desto zukunftweisender, kulturweisender, desto
optimistischer ist sein Tun; doch desto mehr auch wird ihm die
Würdegröße wahren Märtyrertums auferlegt, denn seine ganze
irdische Person wird von der vorwegnehmenden Verantwor
tung in Anspruch genommen, die ihm infolge seiner überragen
den Logosnähe zugefallen ist.
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halt einstellt, ihn und seine Unzulänglichkeit, so lange es eben
geht, aufrechtzuerhalten. Es sind die Verantwortungskrisen der
Menschheit.
Das Wesentliche dürfte wohl darin liegen, daß dogmatisierte
Staatsformen, bar jener metaphysischen Demut, die etwa ech
ten Theokratien zu eigen ist, sich selbst als konkret vollerreich
tes Verfassungsideal betrachten, als eines, das über eine an und
für sich schon märchenhafte technische Makellosigkeit hinaus
kurzerhand den Logos auf Erden inkarniert, so daß damit
schlechterdings der logosnächste und würdehöchste Idealzu
stand für das Kollektiv fingiert erscheint, eine Gesetzesvoll
kommenheit und -reichhaltigkeit in sich bergend, die das ge
samte Leben samt seiner jeweils gegenwärtigen und all seiner
künftigen Vielfalt eingefangen hat und in ihren Paragraphen
spiegelt: gleichgültig, ob es sich hiebei um theokratische Staats
formen handelt, die im Irdischen degeneriert sind, oder um ir
dische Verfassungen, die sich auf ihrem wertrelativistischen
Wege vergöttlicht und theokratisiert haben, immer ist das Re
sultat eine Pseudoabsolutheit mit allen Merkmalen einer sol
chen, feindlich jedwedem Nebenwert, feindlich sogar dem ei
genen Anhänger, da ihre abstrakt gewordene Obsorge nicht
mehr dem realen Menschen, sondern nur sich selbst dient und
das moralische Ziel der Verfassung, unter Verrat an der ethi
schen Wirklichkeit, in einen fern-unerreichbaren Zukunftszu
stand projiziert wird; es ist die völlige Nullifizierung des einzel
persönlichen Individuums im abstrakten Vakuum, die auf diese
Weise angestrebt wird, und Hand in Hand damit geht die Ten
denz, die Regierungsgeschäfte zu einem möglichst unpersönli
chen, also sehr passiven und sehr fatalistischen Betätigen des
Verfassungsautomaten zu machen, zu einer technisch-neutra
len, unmenschlichen Funktion mit einem Minimum persönli
cher Handlungsverantwortung, hingegen mit einem Maximum
amtlicher Unfehlbarkeit, u. z. einer durchaus rationalen Un
fehlbarkeit, deren radikalste Geltung sämtlichen behördlichen
Äußerungen, angefangen von denen der Regierungsspitze bis
herab zu denen der untersten Beamtenkategorie, den Stempel
absolut ethischer Entscheidungen und direkter Logosenunzia-
tionen aufzudrücken hätte. Gewiß, nie und nimmer kann ein
Verfassungsmonstrum von solch dogmatischer Abstraktheit für
die Dauer innerhalb einer lebendigen Welt realisiert werden,
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und wenn auch in Zeiten der Wertzersplitterung derartige dog
matische Pseudoabsolutheiten einen günstigen Nährboden ha
ben und mit all ihren lebensfeindlichen, kulturfeindlichen,
paktfeindlichen Begleiterscheinungen allenthalben aufschie
ßen, so werden nicht minder die ihnen innewohnenden antino
mischen Gegensätze begünstigt, und bis zur Selbstvernichtung
verschärft; gerade der radikale Weltrelativismus mit seiner
Fülle von Umweltsideologien zeigt, u. z. bereits auf der ober
sten Oberfläche, nämlich der politischen, daß gerade durch ihn
eine dogmatisch festgelegte, ideologisch fixierte Staatsführung
aufs ärgste gefährdet wird, daß gerade der durch ihn entfesselte
allgemeine Kampf der Wertgebiete eine äußerste Beweglich
keit, Schmiegsamkeit und Wendigkeit, von jeder Regierung er
heischt, damit sie in diesem Kampf aller gegen alle sich behaup
ten kann, eine Wendigkeit, die dem grundsätzlichen Verfas
sungsbegriff strikte widerspricht, von seiner Moralität ganz zu
schweigen, und die bloß darauf bedacht sein muß, unter dem
Einsatz stärkster persönlicher Verantwortung das materiell
Notwendige, ja, das Verbrecherische machiavellistisch zu tun,
soferne der Augenblick es verlangt. Und gerade Zeiten der
Wertzersplitterung sind es, in denen sich der logische Umschlag
der abstrakten Staatsdogmatik in ihr Gegenextrem mit beson
ders sichtbarer Raschheit und deutlichster Präzision vollzieht,
freilich nicht als Aufhebung der Unfehlbarkeit und des dogma-
tisierten Regierungsprinzipes, wohl aber als Aufhebung der
Methode, welche die der Verfassung ist; aus der abstrakten
Dogmatik wird eine konkrete, es ist die streng logische Weiter
entwicklung des pseudoabsoluten Unheils. Denn das Gegenex
trem, das sich mit rücksichtslosester, radikalster Brisanz und
mit weitaus engerer Wirklichkeitsverhaftung einstellt, ist das
Extrem einer total diktatorischen Staatsform, und obzwar ihre
Impulsivität letztlich jede Bindung an eine Verfassung verwirft
und den Diktator, sein irrational-empirisches Wesen, sein poli
tisches Genie, zum ständigen Heilsbringer und Verfassungs
schöpfer, zum unversiegbaren Quell der staatlichen Unfehlbar
keit machen will, vermag selbst diese totale und höchst
verantwortungsfreudige Autokratie nicht eines breiteren An
kergrundes für ihre Unfehlbarkeit zu entraten; es ist, als wäre
das Übermaß der aufgelasteten Verantwortung sonst nicht
tragbar: als Exponent des irrationalen Volkswillens, der an die
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Stelle der rationalen Verfassung nunmehr tritt, als Exponent
dieses immer wieder befragten, immer wieder aufgestachelten,
massenpsychischen Seins, dessen Würde er zu repräsentieren
trachtet, findet der Diktator in mystischer Identifikation mit
dem Kollektiv jene irrationale Unfehlbarkeit, ohne die sein
seltsames Wechselverhältnis zur Masse, ohne die sein dynami
scher Fatalismus nicht denkbar, nicht erklärbar, m. e. W. nicht
möglich wäre. Allerdings, so sehr und so offensichtlich zwischen
extremer Abstraktheit und extremer Massenbindung, zwischen
extrem rationaler und extrem irrationaler Unfehlbarkeit, zwi
schen extrem passivem Automatismus und extrem aktiver Dy
namik sich anscheinend Unüberbrückbares auftut, so sehr es
sich hier auch um polare Gegensätze handeln möge, in der we
sentlichen Sinngebung des Lebens, in der Nullifizierung der
einzelmenschlichen Persönlichkeit, in der Verachtung ethischer
Wirklichkeiten, in der unbedingten Hochachtung ihres Dog
mas, und sei es selbst um den Preis erbarmungsloser Inhumani
tät, bleiben sie identisch und bleiben einander derart verwandt,
daß sie in einer ganzen Reihe von praktischen Belangen, z. B.
in denen des Militarismus, sich vielfach verkreuzen und einig
gehen dürfen; weder verschlägt es etwas, daß der abstrakte
Staatsgedanke sich als Konkretisierung eines heiligen Geistes
geriert, noch daß der diktatorische sich eine konkrete gottvä
terliche Macht anmaßt, die Konkretisierung ist bei ihnen beiden
pseudoabsolut, sie glauben beide, das Empirische und damit
ihre eigene Institution vergöttlichen und mythisieren zu kön
nen, mehr noch, sie beide halten sich auf Grund solcher Mythi-
sierung zu jeglicher Gewaltanwendung für befugt, sie sind beide
dem Empirischen fatal und fatalistisch verhaftet, und so ist ih
nen beiden - zum Unterschied von der Position einer echten
Theokratie - die Umweltsentwicklung zu einer Art irdischen
Vorsehung geworden.
Die Skala der irdischen Staatsformen hat sich bisher als ziem
lich feststehend und wenig reichhaltig erwiesen, und wohl noch
für sehr lange Fristen ist anzunehmen, daß die Gezeiten der
Geschichte diese Skala durchlaufen werden, ehe ihnen in der
Realisation eines Gottesreiches auf Erden abendliche Ruhe
vergönnt sein wird. Bis dahin ist bloß zu wünschen, daß die Ge
zeitenwellen nicht bis zu den beiden extremen Polen ausschla-
gen mögen, daß das historische Pendelspiel sich möglichst stabil
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in der Skalenmitte vollziehe, denn hier, in dieser Mittelzone, ist
die Gefahr der antinomischen Pseudoabsolutierungen und da
mit auch die der Verfassungs- und Verantwortungskrisen noch
am nachhaltigsten gebannt, hier ist die breiteste Basis zur ge
rechten Verteilung der Verantwortungen sowohl in morali
scher, als auch in praktisch-politischer und ökonomischer Be
ziehung gegeben, die stärkste Sicherung der menschlichen
Integrität und ihres kulturzugewandten Seins: Es ist die terror
freieste und daher paktfähigste Zone des sozialen Lebens, und
wenn sie auch, eingedenk ihrer irdischen Unzulänglichkeit,
keineswegs das Absolute konkretisiert, ja, nicht einmal den
Ehrgeizzu diesem aussichtslosen Beginnen hat, es ist die Zone,
in welcher die Realität einer schlicht humanen Anständigkeit
und einer reinlichen Verfassungsmoral etabliert werden kann,
es ist die Zone, in welcher ein Maximum an Freiheit für das In
dividuum verbürgt ist, in welcher diese Freiheit bloß durch die
Notwendigkeitendes rational-sozialen Ethos eingegrenzt wird,
es ist die Zone der ethischen Kulturwirklichkeit, und in ihr wird
dem Absoluten der ständig klarer werdende Spiegel errichtet,
das human-irdische, dennoch ewige Ebenbild der absoluten
Würde.
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Denn gleichgültig, wie weit eine ideale Verfassung überhaupt
im Irdischen zu realisieren ist, durch all ihre realisierten Formen
hindurch, von der primitivsten bis zur kompliziertesten Staats
und Gesellschaftsstruktur, steht sie unter dem edukatorischen
Kulturauftrag, der ihr die moralische Gestaltung des Kollektivs
anbefiehlt, und unweigerlich geht dieses Verantwortungserbe
von der Verfassung auf jeden über, der zur Leitung eines Kol
lektivs berufen ist, und gerade weil jede Verfassung mit wach
sender Logosnähe befähigter und befähigter wird, absolute
Würde darzustellen und an den Menschen weiterzugeben, ge
rade weil sie immer mehr zur Repräsentanz der natürlichen
Rechte und Pflichten des Menschen sich entwickelt und enttvik-
keln muß, ebendeshalb ist es schlechterdings unmöglich, den
Regierenden aus diesem primären Pflicht- und Verantwor
tungskreis auszuschalten und ihn - so erfreulich dies unter
manchen Umständen auch wäre - zum bloß technischen Beam
ten herabsinken zu lassen oder gar über die grundlegende
Pflichtsphäre hinaus ihn in mystische Gefilde zu versetzen;
nichts und abernichts, keinerlei Herrschergewalt und keinerlei
Unfehlbarkeit enthebt ihn ihrer prinzipiell ethischen Verant
wortungen, nichts entbindet ihn seiner natürlichsten schlichten
Menschenpflicht, nichts darf seine Achtung vor der Absolutheit
jeglicher Nebenseele schmälern, doch alles und aberalles weist
ihn zu der Aufgabe hin, sich mit seiner ganzen Bemühung und
mit seiner ganzen Obsorge dem einzelmenschlichen Wohl und
der einzelmenschlichen Würde zuzuwenden, auf daß mit der
unablässigen Anrufung der Einzelseele stets aufs neue die ab
solute Sittlichkeit aus einer relativistischen Umweltsentwick
lung entlöst und zu ihrem gemeinschaftsstiftenden Wirken frei
gemacht werde, zur Freiheit jener Selbstverantwortung, aus der
die moralische Haltung des Kollektivs hervorgeht. Jede andere
Handlungsweise ist Beleidigung des absolut humanen Seins, ist
Beleidigung des Untertans durch den Herrscher, ist Verletzung
der psychischen und physischen Integrität der menschlichen
Einzelpersönlichkeit, und einerlei an welchem Punkte dieselbe
verletzt wird, einerlei, ob sie in ihrem freien Glaubensgewissen
oder in ihrem Pflichtrecht auf freie Selbstverantwortung und
auf freie Selbstverwaltung des individuellen Seins geschädigt
wird, oder ob dies durch Nullifizierung ihres Bestandes und ih
rer Würde oder sonstwie geschieht, es mündet jedwede Tyran
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nis, selbst wenn sie, sei es als abstraktes Amt, sei es als kon
kret-diktatorische Person, den Kollektivwillen verkörpert, und
selbst wenn sie den Forderungen des politischen Alltags noch
so vortrefflich genügt, letztlich in ihr eigenes Verderben, und
dieses ist zumeist auch das des Kollektivs: Wer die Freiheit des
Beherrschten mißachtet, verliert die Freiheit seiner Herrschaft,
wer die Mitverantwortung des Nebenmenschen abzulehnen
sich bemüßigt fühlt, gerät selbst ins Verantwortungslose, ins
Maßlose und Maßunfähige, gerät mit dem Verlust der äußeren
Kontrolle in innere Kontrollosigkeit, lediglich der Umwelt aus
geliefert, die ebensowohl die Übermacht eines Dogmas wie die
der Ereignisse sein kann, und endet schließlich mitsamt seiner
Herrschaft in jener nicht mehr lenkbaren Erstarrung, deren
Unerträglichkeit, vom Humanen aus unzugänglich geworden,
die gewaltsame Lösung ihres antinomischen Gehaltes zur Regel
macht und kaum anders als unter dem blutigsten Schrecken der
Kulturvernichtung zu sprengen ist, aufseiten des Herrschenden
in der mythischen ultima ratio des Krieges, aufseiten der Be
herrschten im revolutionären Durchbruch des Absoluten. Und
da wie dort wird Unerträgliches durch Unerträglicheres abge
löst. Denn nicht Völker werden beherrscht, sondern Menschen,
und wer nicht zum Heile des Menschen regiert, der tut es zum
Unheil der Völker.
Niemals ist die Absolutheit der humanen Herrschaftsaufgabe
völlig auszutilgen gewesen, und niemals ist sie völlig auszutil
gen: mag ein Regime noch so autokratisch sein und noch so sehr
im Massenpsychischen fußen, es wird, wie eh und je, Frieden,
Gerechtigkeit und soziale Paktfähigkeit zu seiner Devise erhe
ben, wird für menschliche Freiheit und menschliche Würde ein
zutreten behaupten, sicherlich sehr oft bloß von dem heuchleri
schen, politisch praktischen Wunsche bewegt, jene Unbotmä
ßigen, die im eigenen oder im fremden Land sich nicht unter
den massenpsychischen Bann begeben wollen, trotzdem zur
Gefolgschaft zu bringen, und sicherlich nicht minder oft von
dem sehr bösen Gewissen getrieben, welches von der Sinnlosig
keit des unethischen Tuns weiß - vielerlei Widersprechendes
wohnt mit der gleichen Gutgläubigkeit und der gleichen
Schlechtwilligkeit in des Menschen Brust -, und das sich selbst
wieder mit der Wahrheit in Einklang zu bringen wünscht, damit
sie sich nicht einstens grausam räche, und sicherlich sind noch
227
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manche andere Motive anzuführen, doch sicherlich keines, das
nicht im Hintergrund von einer tiefen Beunruhigung erfüllt
wäre und erfüllt sein muß, weil niemand, selbst der Verstockte
ste nicht, sich der unverlierbar ehrfürchtigen und fast immer
furchtgetragenen Ahnung des menschlichen Seins schlechthin
entziehen kann, der Ahnung um das Absolute, das unbeschadet
jedweder Umweltsentwicklung und jedweder Gefährdung wie
ein unzerstörbarer gemeinsamer Nenner auf dem Boden alles
Humanen und aller menschlichen Institutionen und aller Rela
tivismen ruht.
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einer schönen Illusion, deren Palliativwirksamkeit, bereits sel
ber beinahe paktunfähig geworden, von ständiger Sabotage be
droht wird und kaum mehr als taugliches Instrument der prak
tischen Tagespolitik zu betrachten ist, geschweige denn als ihre
oberste Friedensinstanz.
Kriege werden nicht durch gütlichen Zuspruch verhütet, und
ebensowenig sind Beschlüsse und Resolutionen imstande, ein
pakttragendes Ethos zu erzeugen; manches spräche also dafür,
daß die Dinge eine andere und bessere Wendung genommen
hätten, wenn der Völkerbund - im Sinne des Idealwunsches
seiner Freunde - zum Träger der militärischen Exekutivgewalt
Gesamteuropas gemacht worden wäre. Trotzdem darf die Aus
stattung mit kriegerischen Machtmitteln nicht überschätzt wer
den. Angesichts der sich häufenden, allenthalben ausbrechen
den Generalsrebellionen wird es nämlich betrüblich klar, was
Wertautonomie auf militärischem Gebiet bedeutet, und daß zur
Handhabung eines Machtapparates primär Paktfähigkeit und
verläßliche Pakttreue gehören. Daß aber eine solche primäre
Statuierung des pakttragenden Geistes möglich ist, exemplifi
ziert die Geschichte an einer ganzen Reihe politischer Parteien
und anderer Gesinnungsgruppen, die allesamt zu Beginn ihrer
Tätigkeit lediglich ihre Programmidee zur Verfügung gehabt
hatten und denen es durch bloße Propagierung und Verbrei
tung dieser beschworenen Ideologie gelungen ist, sich eine aus
reichende materielle Basis und eine genügende Gefolgschaft
zur Durchführung ihres Aufstieges und schließlich realen
Machtergreifung zu sichern. Nichts ist so unrichtig, als zu glau
ben, daß die Idee, sei sie nun gut oder böse, minder- oder hoch
wertig, praktisch nichts bedeute, und daß der geistige Impuls
der Geschichtsformung geringgeschätzt werden dürfe: Was
nottut, ist einzig und allein die Umwandlung der Idee zur wirk
samen Leitvorstellung in der menschlichen Seele.
Der Völkerbund ist aus einer echten Herrschaftsidee heraus
geboren, und alle Elemente zur geschichtsformenden Funktion
sind in seiner Aufbaustruktur enthalten: mit den Prinzipien der
nationalen Selbstbestimmung und der Gleichberechtigung ist
jene Grundanerkennung der menschlichen Würde ausgespro
chen, die als Urbedingung aller Sozialwirklichkeit, aller Pakt
wirklichkeit, aller Friedenswirklichkeit zu gelten hat, und mit
der Stellungnahme zu den Fragen des internationalen Arbeits
229
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rechtes, des Emigrantenproblems, des Mädchenhandels, der
Rauschgiftbekämpfung, kurzum in allen Belangen, in denen es
um humane Gerechtigkeit und humanen Schutz geht, ist jene
Wendung zur unmittelbaren Obsorge für die physische und
psychische Integrität der Einzelperson vollzogen, ohne die kei
nerlei moralische Herrschaft ausgeübt werden kann, am aller
wenigsten eine überstaatlichen Charakters. Es sind also sämtli
che Prämissen für eine aktive Wirksamkeit in der Idee des
Völkerbundes vorhanden; nichtsdestoweniger wäre es vermes
sen, zu behaupten, daß er jemals eine Vorstellung und gar eine
Leitvorstellung im lebendigen Bewußtsein der Menschen ge
bildet hätte, eine gewisse Schemenhaftigkeit war ihm stets zu
eigen, und dies nicht nur jetzt, da die Schatten eines Abstieges
ihn bedecken, sondern auch zur Zeit seiner Gründung und sei
ner Blüte war dies nicht besser. Denn wessen der Völkerbund
von Anbeginn an, nebst manchem anderen, ermangelte, das
war die konstitutionelle Möglichkeit, seine Ideologie tatsäch
lich an eben jenes lebendige Bewußtsein der Völker und Men
schen heranzubringen; zwischen diesen und ihm standen und
stehen die Staatsgebilde samt ihren Regierungen, und mag so
gar der gemeinsame Nenner absoluter Humanität aus keinem
Staatswillen wegzudenken sein, er wird insolange ungehoben
und von allen irrationalen massenpsychischen, haß-schürenden
und haß-pflegenden Strebungen überdeckt bleiben müssen, in
solange dieser ganze Wust nicht von einer hiezu befugten Au
torität zerrissen sein wird, d. h., insolange der Völkerbund nicht
dagegen ausdrücklich die Würde des Menschen anmeldet, jene
Menschenwürde, die den gesamten Staatsautonomien zutrotz
das unbedingte und unbestreitbare, eigenste Herrschaftsan
recht der völkerbundlich gefaßten, überstaatlichen Instanz ist,
das Herrschaftsanrecht des Logos und der ethischen Absolut
heit, das Herrschaftsanrecht des moralischen Weltkollektivs
und seiner in der humanen Selbstverantwortung begründeten
Freiheit.
So sehr der Kulturtod mit all seinen Schrecknissen auch nahe
gerückt erscheint, zweitausend Jahre abendländischer humaner
Entwicklung sind kaum mit einem Schlage wegzuwischen, und
immer noch besteht die Hoffnung auf ein menschheitsbewußtes
Weltgewissen, das nicht zusammenbrechen kann, nicht zusam
menbrechen darf, sondern sich bloß umformt: und es mag sein,
230
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daß ein Stück solch umgeformten Weltgewissens bereits heute
zu gewahren ist, ja, als gäbe der Völkerbund selber von dieser
Umformung Kunde, denn bei aller Wertzersplitterung hat sich,
zunehmend mit der zunehmenden allgemeinen Wertrelativie
rung, gleichsam als ein Absolutes im Relativierungsakt, eine
früher niemals geahnte Achtung vor bestimmten Kulturwerten,
u. z. vor den natürlich gewachsenen einzelnen Volkskulturen
eingestellt; es ist ein sozusagen relativistisches Welt- und Kul
turgewissen, und seine konkrete Wirksamkeit hat sich demge
mäß auch als höchst prekär erwiesen, zumindest bisher keine
sehr realen Resultate geliefert, wahrscheinlich weil darin, wie
in jedem Relativismus, viel zu viel gefährlich-antiuniversale
und sogar barbareifreundliche, kriegsfördernde Autochthon-
tendenzen und Egoismen mitschwingen. Dennoch ist es eine
neue Form, und in der neuen Form wohnt vielleicht der Ansatz
zu neuem Inhalt und neuer Entwicklung, der Ansatz zu einer
neuen Humanität, zu einer neuen Achtung vor der Gestalt des
Menschen, die unabweislich hinter der des Volkes sich erhebt,
sich zur Gestalt der Menschheit schlechthin entfaltend: es ist
nur eine Hoffnung, aber eine umso berechtigtere, als der Au
genblick nicht mehr ferne sein dürfte, in welchem die Völker,
müde des Mordens, müde des selbsterzeugten Elends, wahrhaft
schreckensmüde sein werden, der Sehnsucht voll, einer stillen
und milden Erlaubnis gemäß wieder heimkehren zu können aus
den Sphären des Massenwahnes, des Blutvergießens, des
Grauens und der gegenseitigen Verknechtung, heim in den
Frieden ihres humanen Seins, heim in den Frieden erneut rei
fender Kulturwirklichkeit. Der Menschheit hiezu behilflich zu
sein und sie dem automatenhaften Gespenstertum ihres Fata
lismus zu entreißen, ihr und ihrer Seele, aber auch ihrem Be
wußtsein wieder die ewigtröstliche Leitvorstellung kultureller
Humanität zu geben, das ist die Aufgabe des Völkerbundes: er
deklariere deshalb von der Höhe seines Friedensforums aus,
daß er die Würde des Menschen in seinen Schutz nehme.
1 Eine Vereinigung, die 1910 mit einem Kapital von zehn Millionen Dollar von
Andrew Carnegie begründet wurde. Der Hauptsitz der Stiftung ist in New
York, ein europäisches Zentrum befindet sich in Genf. Das Ziel ist das Studium
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der Kriegsursachen und das Finden von praktischen Mitteln zur Kriegsverhin
derung, ferner die Entwicklung einer internationalen Gesetzgebung und die
Verbesserung internationaler Beziehungen im allgemeinen.
2 Society of Friends (The Religious Society of Friends). Quäker-Bewegung, die
1652 von George Fox in England begründet wurde und deren pazifistische Be
strebungen stets Hand in Hand ging mit einer aktiven Arbeit für den Frieden.
3 Den Aufgaben des Völkerbundes dienten mehrere besondere Organistionen
wie das Internationale Friedensamt in Genf oder das Institut für Internationa
les Recht, das heute seinen Sitz in Brüssel hat.
4 Die Pan-Europa-Bewegung ging zurück auf den 1923 von Graf Coudenhove-
Kalergi in der Schrift P aneuropa geforderten Zusammenschluß der europä
ischen Staaten. Sie kann als die erste europäische Einigungsbewegung des
zwanzigsten Jahrhunderts angesehen werden.
5 Die Liga für Menschenrechte wurde als »Ligue pour la Defense des Droits de
l’Homme et du Citoyen« 1898 in Paris zur Revision des Dreyfus-Prozesses ge
gründet. Der heutige Sitz ist in London. Sie kämpft u. a. für die friedliche Rege
lung internationaler Konflikte und verteidigt die Grundsätze der Demokratie.
Ihr Organ ist die Wochenschrift Cahiers de l ’H o m m e (seit 1919).
6 Vgl. die oben genannten Signatare. Broch stand 1937 in dieser Angelegenheit
in Korrespondenz mit Jacques Maritain, Albert Einstein, Stefan Zweig, der
Duchess of Atholl, Gräfin Listowel, Aldous Huxley, Thomas Mann u. a. Zur
Unterbreitung der Resolution beim Völkerbund kam es nicht mehr. Thomas
Mann erwog seinerzeit, die Resolution in M a ß u n d W ert zu veröffentlichen.
Bei der Vorbereitung dieser Studie las Broch u. a. Ernest Barker, The C itizen 's
Choice, Cambridge University Press, 1937.
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Völkerbundtheorie (1936-1937)
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Marxsche Nationalökonomie anzusprechen ist) neue morali
sche Haltungen.
Ich bin durchaus überzeugt, daß der Fortschritt der Mensch
heit wieder seine wichtigsten Impulse von diesen beiden Wir
kungsmöglichkeiten des Geistes erfahren wird. Im Jahre 1935
mußte man sich vor allem fragen, wo die praktischen Erforder
nisse zu finden seien und wie man daselbst die geistig-theore
tische Arbeit würde einschalten können.
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In meiner Untersuchung über die Möglichkeiten eines haltba
ren Völkerbundes bin ich von diesem Problem einer ethischen
Minimalbasis ausgegangen. Meine Arbeit gliederte sich in drei
Teile, erstens in eine staatsphilosophische Grundlegung, zwei
tens in den Aufbau der staatstechnischen Konsequenzen, wel
che sich aus der prinzipiellen Grundlegung ergeben, und drit
tens in die praktischen Desiderata, deren Durchführbarkeit sich
als möglich zeigte.
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keine »reine Souveränität« mehr; jeder Staat steht in seiner in-
nern Gesetzgebung unter der Kontrolle aller andern, d. h. des
Bundes;
d) es gibt keine »verantwortungsbefreiten« Staatsmänner
mehr; jeder einzelne Staatsmann ist den akzeptierten Grund
prinzipien verpflichtet und kann bei Zuwiderhandeln als »Ver
brecher« an der Menschenwürde vom Bund strafverfolgt wer
den;
e) die Mitgliedstaaten geben demnach gewisse Souveränitäts
teile, zu denen nicht zuletzt auch das Rüstungsrecht gehört, an
den Bund ab.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß gewisse Ansätze zu derar
tigen Einrichtungen bereits in den Statuten des alten Völker
bundes (als Reste des Wilsonschen Entwurfes) enthalten gewe
sen sind.
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Ich stehe auch noch heute zu dieser Arbeit, umsomehr als sie
mir als ein Beweis für die praktische Anwendbarkeit meiner
Werttheorie erscheint, und ich glaube vertreten zu können, daß
sie prinzipiell alles enthält, was man als »Friedensziel« für den
heutigen Krieg zu umreißen hätte, vielleicht sogar als pax ame-
ricana, denn da sie den Wilsonschen Gedanken weiterführt, be
sitzt sie sicherlich einen innern Zusammenhang mit den Grund
zügen der amerikanischen Konstitution, insbesondere also mit
der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.
Während der Jahre 1936/37 stand ich mit einer Reihe bedeu
tender europäischer Persönlichkeiten7 in Korrespondenz, um
diese Arbeit zu einem kollektiven Dokument zu machen, wel
ches in einem repräsentativen Schritt beim Völkerbund einzu
bringen gewesen wäre. Die politische Entwicklung des Jahres
1937 zwang zur Aufgabe dieses Vorhabens; es war sinnlos ge
worden.
Im Widerspruch zur Meinung mancher meiner Freunde habe
ich die Völkerbundarbeit nicht veröffentlicht. Derartige Arbei
ten sind an den Augenblick ihrer Verwirklichbarkeit gebunden ;
nehmen sie hierauf nicht Rücksicht, so sinken sie zur Utopie ei
nes wishful thinking herab. Und diese Weigerung gegen die
Veröffentlichung wurde überdies für mich persönlich zu einem
Glücksfall: wäre die Veröffentlichung erfolgt, so hätte ich das
Nazigefängnis, in dem ich mich einige Wochen befunden hatte,
kaum mehr verlassen.8
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6 Vgl. Max Weber, P o litik als B e ru f (München 1919), S. 57f.
7 Vgl. Fußnote 6 der »Völkerbundresolution«.
8 Broch wurde aufgrund einer Denunziation am 13. März 1938 von der Gestapo
in Alt Aussee (Österreich) verhaftet, am gleichen Tag ins Gefängnis von Bad
Aussee eingeliefert und dort am 31. März 1938 entlassen.
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Rundfunkansprache an das deutsche Volk1
Das deutsche Volk fühlt sich heute wie ein gehetztes Wild, das
von den Jägern umringt und gestellt worden ist, um den Gna
denstoß zu empfangen.
Das deutsche Volk möge sich erinnern, daß es einstens, im
Jahre 1814, als ein anderer Völkerbedrücker, Napoleon, nie
dergeworfen werden sollte, selber zu den Siegermächten gehört
hat, daß es damals in der Völkerschlacht von Leipzig und auf
der Ebene von Waterloo Schulter an Schulter mit seinen heuti
gen Feinden gekämpft hat, nicht nur um seinen eigenen Boden
zu befreien, sondern auch um dem mißgeleiteten französischen
Volk Befreiung von unerträglicher Tyrannei zu bringen.
Frankreich hat nach dem Tag von Waterloo in die friedliche
Völkergemeinschaft zurückgefunden; es hat seitdem nie mehr
einen Angriffskrieg unternommen. Deutschland hat sich seit
den Befreiungskriegen immer mehr und mehr aus der Völker
gemeinschaft herausgelöst. Es hatte in jenem Befreiungskrieg
zum ersten Mal seine nationale Stärke erprobt, und nun, in dem
darauffolgenden Aufschwung, begann es sich für unbezwinglich
zu halten. Es geriet in einen Wunschtraum hinein, der nach den
Siegen von 1866 und 1870 noch tiefer wurde, in den tollen
Wunschtraum von der Bestimmung der Deutschen zur Welt
herrschaft: die Macht des deutschen Schwertes sollte diese
Weltherrschaft zugleich begründen und rechtfertigen, die
Macht des Schwertes sollte sie zur gerechten Sache machen.
Das deutsche Volk begann damit wieder an jenes heidnische
Gottesurteil zu glauben, das sich im Schwertkampf verkünden
soll.
»Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen«2rief Wilhelm II.
dem deutschen Volke zu und führte es damit in den ersten
Weltkrieg. Damals, im August 1914, ist Hitler, wie er selber in
Mein Kampf3erzählt, ins Knie gesunken, um dem Schöpfer für
diese herrliche Zeit zu danken. Es wurde eine Zeit des Grauens
und des Elends. Wiederum schloß sich ganz Europa, ja die
ganze Welt zusammen, diesmal nicht gegen Frankreich, son
dern gegen Deutschland.
Trotzdem folgte kein Erwachen aus den Weltherrschaftsträu
men. Das Gottesurteil ist verfälscht worden, erklärten Luden
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dorff und Hitler. Die deutschen Armeen haben eigentlich ge
siegt, aber sie sind gleich Siegfried von einem Dolchstoß4 in den
Rücken getroffen worden: das feige Hinterland, geführt von
Juden und Kommunisten, hat den Helden gefällt. Und obwohl
ein jeder im Hinterland, also sechzig Millionen Deutsche, hie
durch der Feigheit und der Dummheit bezichtigt wurden, fand
die beschimpfende Lüge wachsenden Glauben, denn sie er
laubte es, den Wunschtraum vom unbezwinglichen Deutsch
land und seiner mystischen Berufung zur Weltherrschaft wei
terzuträumen.
Gewiß, nicht alle Deutschen, die Hitler und den Seinen die
Macht in die Hand gaben, haben damit Krieg im Sinne gehabt,
aber fast alle haben an die Auserwähltheit und an das Herr
schaftsrecht Deutschlands geglaubt, und sie haben nicht ge
merkt, daß dies schon den Krieg bedeutete, den die Nazis von
allem Anfang an vorgehabt und bewußt vorbereitet hatten.
In unzähligen Reden und Zeitungsartikeln der Nazi wurde
nun das alte Thema vom Gottesurteil des Krieges und von der
historischen Gerechtigkeit, die am Schlachtfeld erkämpft wer
den muß, wieder aufgenommen. Wilhelm II. hatte leere Ver
sprechungen gemacht. Hitler hat gelogen, bewußt gelogen, ja,
er hat sich in Mein Kampf sogar ganz zynisch und öffentlich ge
brüstet, daß man mit Lügen die Welt beherrschen kann.5 Den
noch hat das deutsche Volk ihm geglaubt, es hat ihm die Dolch
stoßlegende geglaubt, es hat die Augen verschlossen vor den
vielen Nazi-Verbrechen und Nazi-Greueln in den Gefängnis
sen und Konzentrationslagern, es hat die Pogrome und Folte
rungen geduldet, immer in der Hoffnung, daß das große Got
tesurteil der Geschichte all die Schande wieder wegwaschen
werde. Und in solch freiwilliger Blindheit ist das deutsche Volk
an der Entfesselung dieses neuen Weltkrieges mitschuldig ge
worden. Hitler aber und die Seinen, sie logen weiter. Das de
mokratisch verseuchte England kann keinen Krieg gewinnen,
erklärten Hitler und Goebbels, das Rassengemisch Amerika
wird sofort auseinanderbrechen.6 Keine Bombe wird auf
Deutschland fallen, versprach Göring. Die russische Armee
besteht nicht mehr, verkündete Hitler. Dann wieder höhnte er,
die Strategie der Alliierten sei infolge ihrer vollkommenen
Idiotie gänzlich ungefährlich. Und während diese Lügen sich
schon selbst entlarvten und Niederlage auf Niederlage folgte,
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hat das deutsche Volk diesen Leuten weiter geglaubt, hat die
deutsche Armee diesen Leuten weiter gehorcht, hat sich von
ihnen zu Henker- und Folterdiensten erniedrigen lassen, hat
alle die unnennbaren Verbrechen in den Mordfabriken von
Maidanek, Oswiecim, Buchenwald, Nordhausen, Ravensbrück
und wie sie alle heißen, gedeckt und unter ihre Obhut genom
men. Blind wie ein Schlafwandler war das deutsche Volk.
Wird es auch jetzt die Augen nicht öffnen wollen? Wird es eine
neue Dolchstoßlegende erlauben, auf daß der Wunschtraum
vom ewig siegenden deutschen Schwert weiter gesponnen wer
den könne? Kein Jude, kein Kommunist konnte diesmal den
Dolch gegen den deutschen Helden zücken, denn Hitler hat
nicht nur die Juden und Kommunisten, sondern auch gleich ihre
Frauen und Kinder, Millionen von ihnen, ermorden lassen.
Schlafwandlerisch blind hat das deutsche Volk sein Schicksal
Lügnern und Verbrechern ausgeliefert, schlafwandlerisch blind
hat es an ihren Verbrechen teilgenommen, schlafwandlerisch
blind und stumpf gegen fremdes Leid hat das deutsche Volk die
Verantwortlichkeit an dem Verbrechen des Krieges und an den
furchtbarsten Greueln der gesamten Menschengeschichte auf
sich geladen.
Das deutsche Volk hat an ein heidnisches, barbarisches Got
tesurteil geglaubt, das es nicht gibt. Denn das Urteil, mit dem
das Schicksal gegen ein erblindetes Deutschland entschieden
hat, dasselbe Urteil, das dazumal gegen ein vermessenes
Frankreich unter Napoleon entschieden hatte, dieses Urteil
stammt aus einer Sphäre, die höher ist als die der bloßen Ge
walt; es stammt aus der Sphäre der unwandelbaren Gerechtig
keit. Deutschlands größter Sohn, Goethe, hat dies gewußt und
vorausgewußt, als er 1814 beim Sturz Napoleons den propheti
schen Bannspruch dichtete:
Verflucht sei, wer nach falschem Rat,
Mit überfrechem Mut,
Das was der Korse-Franke tat,
Nun als ein Deutscher tut!
Er fühle spät, er fühle früh,
Es sei ein dauernd Recht;
Ihm geh’ es, trotz Gewalt und Müh’,
Ihm und den Seinen schlecht!7
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1 Broch schickte diese Ansprache gleich nach Kriegsende im Frühjahr 1945 an
seine Freundin Ruth Norden, die in Berlin an der Rundfunkabteilung des ame
rikanischen Office of War Information (später RIAS) tätig war. Gesendet wor
den ist die Ansprache nicht.
2 In der Rede Wilhelms II. auf dem Brandenburgischen Provinzial-Landtag am
24. Februar 1892 hieß es: »[...] Brandenburger, zu Großem sind wir noch be
stimmt, und herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen. [...]« Zitiert nach
Wilhelm Schröder, D as p e rsö n lich e R eg im en t. R e d e n u n d sonstige ö ffen tlich e
Ä u ß e ru n g e n W ilhelm II. (München 1907), S. 96.
3 Vgl. Adolf Hitler, M e in K a m p f, Bd. 1 (München 1925), S. 169.
4 Vgl. ibid, S. 197 ff und Erich Ludendorff, D ie R e v o lu tio n vo n O b en . D as
K riegsende u n d die V orgänge beim W a ffen stillsta n d (Lorch o. J.).
5 Vgl. A. Hitler, M e in K a m p f, a.a.O., S. 185 ff.
6 Vgl. Hermann Rauschning, G espräche m it H itler (New York 1940), S. 67ff.
7 J. W. von Goethe, »Epimenides Erwachen, letzte Strophe« (1814).
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Bemerkungen zur Utopie einer
international Bill of Rights and of Responsibilities<
Einleitung
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z. B. durch die Flüchtlingsmassen, die er infolge seiner Mißach
tung von Humanität und Menschenwürde, also etwa infolge
Rassen- und Gewissensintoleranz über die Grenzen jagt), oder
wenn er unverkennbar Kriegsvorbereitungen trifft oder gar
Aggressionen begeht, wird er Gegenaktionen des Nationen-
Kollektivs zu gewärtigen haben.
Die »International Bill of Rights« ist demnach dem Nichtein
mischungsprinzip unterordnet worden, allerdings aus einem
sehr realistischen Grund: man sagte sich, daß bei den großen
innern Gegensätzen - wie eben denen zwischen den Weststaa
ten und Rußland - gerade eine »Bill of Rights« die mannig
fachsten Auslegungen zuläßt, und indem man diese, die ja be
sonders empfindliche Punkte im Souveränitätsbewußtsein der
verschiedenen Staaten darstellen, als deren unantastbares Ei
genrecht anerkannte, wollte man verhindern, daß das Natio-
nen-Kollektiv, etwa geführt von den Interessen einzelner,
mächtiger Mitglieder, solche (mehr oder minder weltanschauli
chen) Auslegungsdifferenzen als Einschreitungsvorwand be
nütze. Und selbst wenn das Einschreiten von der Humanität
geboten wäre, es bedeutet »Einmischung«, auch wenn sie als
Polizeiaktion gedacht ist, de facto doch schon Krieg, ja sogar
Weltkrieg, und da es um seine Vermeidung geht, schien die
Nichteinmischung auf Grund des Souveränitätsprinzipes im
merhin noch vorziehbar. In den Jahren 1934/37 war es (unge
achtet sonstiger politischer Gründe) diese Kriegsfurcht gewe
sen, welche die Westmächte und den von ihnen geleiteten
Völkerbund vor wirksamen Sanktionen gegen die usurpierte
»Souveränität« der Fascismen in Abessinien und Spanien zu
rückschrecken ließ; heute sind die Souveränitätsbedenken
Rußlands von ähnlichen Motiven gelenkt. Kein Zweifel, die
Kriegsfurcht, ob berechtigt oder nicht, überwiegt die Fascisten-
furcht.
An diesem unvermeidlichen Schwanken zwischen Humani
tätspflicht und Souveränitätsanerkennung krankt jede Frie
densvereinbarung, die unabhängige Staaten zwecks Etablie
rung eines Dauerzustandes eingehen wollen. Es ist, als ob
zwischen den beiden Begriffen eine unlösbare Antinomie
herrschte und vermöge ihrer Unlösbarkeit unweigerlich jeder
Friedensorganisation den Stempel der Utopie aufdrückte. Sie
wird daher von flachen Skeptikern und Realpolitikern von vor
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neherein abgelehnt, während die nicht minder flachen Optimi
sten die utopische Struktur als bare Realität betrachten. Aber
die Utopien von gestern sind die morgigen Realitäten, und
wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, daß das Nichteinmi
schungsprinzip die neue Friedensorganisation und ihre antifa-
scistischen Tendenzen genau so lähmen wird wie es den alten
Völkerbund, der an der fascistischen Aggression zerbrochen ist,
gelähmt hat, so muß doch, unbeschadet des angeblich antino-
misch-utopischen Charakters, nach den Konstruktionslücken
gefragt werden, welche solche Gefahr verursachen. Es handelt
sich um den möglichen Realitätsgehalt der »International Bill
of Rights«.
Demgemäß erhebt sich als erste Frage: ist es möglich, den Be
stimmungen der »International Bill of Rights« eine allen Staa
ten (in deren heutiger Struktur) akzeptable Formulierung mit
juristisch so scharfen Definitionen zu geben, daß künftige Aus
legungsdifferenzen tunlichst vermieden werden können?
Und soferne es hierauf eine bejahende Antwort gibt, so
schließt sich eine zweite Frage an: läßt sich jene juristische For
mulierung auch praktisch zu einer so starken Bindung innerhalb
der einzelnen Staats-Strukturen machen, daß sie daselbst zu ei
ner Art »innerer« Sicherung wird, zu einer Art »Selbstgaran
tie«, welche - ist sie möglich - Umgehungsfälle auf ein Mini
mum zu reduzieren imstande wäre und damit auch die
Notwendigkeit von Außen-Interventionen aufs äußerste ein
schränken würde?
Und endlich die dritte Frage: kann die Garantie des Natio-
nen-Kollektivs, die in jenen erhoffbar seltenen Ausnahmefäl
len eben doch mobilisiert zu werden hätte, in einer Weise
vorgesehen werden, daß sie auf die legitimen Souveränitäts
bedenken weitestgehend Rücksicht zu nehmen vermag und in
folgedessen auch ein Minimum an Kriegsgefahr in sich
birgt?
Die folgenden Untersuchungen bewegen sich - insbesondere
so weit sie Vorschläge enthalten - mit aller Bewußtheit auf uto
pischem Boden, umsomehr als sie seine Tragkraft für künftige
Realität zu erproben haben. Die Realwerdung einer Utopie er
weist sich nämlich immer an ihren Ausweitungsmöglichkeiten,
d. h. an den weiteren Utopien, die sich auf ihr aufbauen lassen
und ebenhiedurch in die Realität hineinführen.
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Unter diesem Gesichtswinkel darf behauptet werden, daß die
»International Bill of Rights« sich - allen Skeptikern zutrotz —
auf dem Weg zur Realitätswerdung befindet, daß sie aber ihren
utopischen Charakter erst abzustreifen vermag, wenn sie durch
eine strafgesetzlich gedeckte »Bill of Responsibilities«, u. z. vor
allem durch ein »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« er
gänzt wird. Denn Humanität als Satzung und Nichteinmischung
als Satzung stehen insolange in antinomischem Gegensatz, als
sie nicht auf ein ihnen zuzugesellendes drittes Prinzip, durch das
sie beide zu regulieren sind, bezogen werden. Immer noch hat
die Menschheit ihre scheinbaren Antinomien durch Erfindung
oder Entdeckung eines verbindenden dritten Prinzipes gelöst,
und im vorliegenden Fall läßt sich vertreten, daß dieses dritte
Prinzip eben im Strafgesetz schlechthin, in der strafgesetzlichen
Institution zu erkennen ist.
Utopien sind keine Phantasmen; sie sind Wegweiser, welche
die »Realitätsrichtung« angeben, freilich - auch dies ein Argu
ment für den Skeptiker - ohne Angabe der Weglänge und der
Wegschwierigkeiten. Das neue, das dritte Prinzip, das sich in
einer »Bill of Responsibilities« verkörpern soll, entstammt der
Hauptsache nach, wie aus dem zu seiner Deckung geforderten
strafgesetzlichen Schutz recht klar hervorgeht, jener psycholo
gisch-pädagogischen Sphäre, deren Regeln fast überall, wo es
auf Massenbeeinflussung ankommt, das moderne Leben so
wohl in seiner unblutigen wie in seiner blutigen Kriegführung
durchgängig bestimmen; daß in ihr desgleichen die neue poli
tische Realitätssphäre zu sehen ist, also die, in der die »Interna
tional Bill of Rights« möglicherweise ihren utopischen Charak
ter abstreifen und zur Realität werden könnte, erscheint
demnach recht plausibel. Ebendarum aber darf angenommen
werden, daß sich darin eine echte Realitätsrichtung der politi
schen Entwicklung zeigt, wenn auch ihr Tempo unangebbar
bleibt, ja unangebbar bleiben muß, nicht zuletzt weil wesensge
mäß bloß revolutionäre (und in ihrer Nachahmung pseudore
volutionäre) Politik gewillt ist, ihre Technik durch neue Prinzi
pien und neue Richtlinien zu bereichern. Die bewußte
Anwendung psychologischer Grundsätze im politischen Be
reich wurde zuerst in Rußland geübt, wurde nachher von den
Fascismen übernommen und meisterhaft ausgebaut, fand aber
nur sehr beschränkte Aufnahme in der westdemokratischen
246
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Politik und überhaupt keine in den Bemühungen Genfs4 und
San Franciscos5, obschon die da wie dort höchst ernsthaft ange
strebte und doch niemals zustandegebrachte Versöhnung zwi
schen Humanitäts- und Nichteinmischungsprinzip deutlich ge
nug hätte dartun können, daß das Problem einen psycholo
gisch-pädagogischen Faktor enthält, dessen Vernachlässigung
die Lösbarkeit nicht nur zu beeinträchtigen, sondern sogar ganz
zu vereiteln vermag.
Freilich, nirgends gelangen Utopien so langsam zur Verwirk
lichung wie auf internationalem Gebiet (und nirgends werden
daher so viele unverwirklichbare Utopien gebaut wie gerade
hier). Alle Staaten sind »utopie-mißtrauisch«; alle - die revo
lutionären ebensowohl wie die antirevolutionären - sind hin
sichtlich der sie einschließenden internationalen Struktur äu
ßerst neuerungs-abgeneigt, und auch dies hängt mit ihrer
Souveränitätsempfindlichkeit zusammen. Soll sich hier eine
Utopie über den Rang einer bloßen Phantasie hinausheben, so
genügt es nicht, daß sie in der Realitätsrichtung liegt; vielmehr
muß ihre Verwirklichungsmöglichkeit in der Reichweite der al
lernächsten Entwicklungsschritte liegen. Ebendarum ist z. B.
die Errichtung einer einheitlichen Weltdemokratie6, wie sie von
so vielen als das einzig erstrebenswerte Friedensziel erachtet
wird, heute als eine noch unverwirklichbare Phantasie zu wer
ten. Aber der San Francisco-Plan einer »International Bill of
Rights« (er selber noch voll utopischer Inhalte) ist ein erster
Schritt zu jenem noch sehr fernen Ziel, und der Vorschlag eines
»Gesetzes zum Schutz der Menschenwürde« (als Kernstück ei
ner »Bill of Responsibilities«) will ein zweiter Schritt in dieser
Realitätsrichtung sein, darf es vielleicht sein und darf gewagt
werden, weil sich in der unmittelbaren Realität von heute be
reits Ansätze hiezu zeigen: von dem Verlangen nach einer in
ternationalen Aburteilung der Kriegsverbrecher, das mit spon
taner Selbstverständlichkeit im Bewußtsein der Völker
aufgekeimt ist, zu dem nach einem internationalen Strafgesetz,
in dem eine neue Weltmoral ihren kodifizierten Ausdruck fin
den wird, ist kein allzulanger Weg. Denn wo es eine Realitäts
richtung gibt - und immer gibt es eine - da äußert sie sich auch
in der Moralentwicklung, ja sie bewahrheitet sich geradezu an
ihr, und jene, die mit der Proklamierung der Four Freedoms
angehoben hat, weist zu einer Weltmoral wiedererwachter Hu
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manität hin; sie ist die erste Voraussetzung einer künftigen
Weltdemokratie.
Denn keine politische Welteinheitlichkeit ist ohne moralische
Gemeinsamkeit denkbar; wie utopisch immer deren Erstre-
bung auch scheinen mag, an ihr verwirklicht sich jede Utopie,
jede Weltutopie, und stets aufs neue - also auch hier - kommt
es auf ihre Fundierung an.
I.
Moralische Einheitlichkeit als Friedensvoraussetzung
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in ihnen soll die gemeinsame Moral der friedenschließenden
Nationen zum Ausdruck gelangen.
II.
Die Four Freedoms
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ökonomische Sicherheit, und von den Four Freedoms ist ihnen
die »from want« sicherlich die wichtigste.
M. a. W., statt der einseitigen Abhängigkeit der Sicherheit von
der Freiheit wird diesmal im vorhinein deren beider gegensei
tige Abhängigkeit stipuliert.
III.
Konkretisierung der Four Freedoms
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meinschaft der friedensstiftenden Nationen anheimgegeben;
diese haben für die Ausübung solcher Garantie entsprechende
Vorsorge zu treffen, in erster Linie durch Installierung eines
zweckmäßigen Schiedsgerichtverfahrens, dann aber durch Or
ganisierung und Bereitstellung eines Machtapparates, der gra
duell mit Hilfe diplomatischer Maßnahmen, ökonomischer
Sanktionen und internationaler Polizeiaktionen das Enforce-
ment der Schiedssprüche durchführt.
IV.
Souveränität vs. Enforcement
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haltung einer »International Bill of Rights« wird - durchaus im
Sinn des traditionell realpolitischen Nichteinmischungsprinzips
- dem guten Willen des Einzelstaates überlassen bleiben.
Allerdings sprechen hiefür auch noch tiefere, ja gewichtigere
Gründe. Es gibt nämlich unzählige Rechtsparallelismen, die so
selbstverständlich sind, daß niemand an deren internationale
Sicherung denkt: Mord und Diebstahl und Betrug nebst man
chen andern Delikten sind in den Codices der ganzen gesitteten
Welt seit Jahrtausenden verboten; selbst die Zehn Gebote sind
Nachfahren noch ältern Ur-Rechtes, das augenscheinlich aus
des Menschen eigenster Natur als solcher entsprossen ist, möge
man nun diese »Natur« logisch oder biologisch oder ökono
misch-materialistisch oder sonstwie auffassen. Die verschiede
nen Rechtsparallelismen zeigen sich also als Ausflüsse einer in
ihrer »Natürlichkeit« wahrhaft einheitlichen Moral, und jeder
neue Parallelisierungsakt ist Weiterbau an solch allgemeiner
Menschheitsmoral. Ähnliches wird, zumindest unbewußt, mit
der »International Bill of Rights« beabsichtigt, obwohl sie nicht
mit den »natürlichen Verboten«, denen der Mensch sich zu fü
gen hat, sondern mit seinen »natürlichen Forderungen«, näm
lich seinen »Menschenrechten« anhebt: die »International Bill
of Rights« will ein neuer Beitrag zur menschlichen Moraltradi
tion werden; sie will die Freedoms »of« in der allgemeinen und
»natürlichen« Moral-Selbstverständlichkeit verankert wissen
und hält daher ihr Enforcement für überflüssig, wenn nicht gar
für unmöglich.
Einerseits also wird das Enforcement der Freedoms »of« für
realpolitisch vernachlässigbar gehalten (insbesondere wenn
Souveränitätsbedenken in Frage stehen), andererseits wird es
als Verstoß gegen die erhabene Selbstverständlichkeit des Na
turrechts empfunden; aus beiden ergibt sich eine äußerst ge
fährliche Stellung: sie erlaubt jedem Staat ohneweiters, die
Freiheit und Menschenwürde seiner Bürger zu vergewaltigen,
wenn er bloß - sei es weil er an und für sich ein »benevolenter
Despot« ist, sei es weil er durch Einschüchterung oder aber
durch appeasement hiezu gebracht wird - seine materialen
Vertragsverpflichtungen nach außen hin erfüllt und damit auch
bis zu einem gewissen Grad die Freedoms »from« wahrt;
kurzum, es wird eine Rechtsseparierung zwischen den Free
doms »from« und »of« vorgenommen, welche die letzteren mit
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äußerster Gleichgültigkeit behandelt und infolgedessen, zu
mindest unbewußt, auf Herstellung oder Aufrechthaltung der
moralischen Einheitlichkeit innerhalb der Staatenfamilie ver
zichtet. Daß trotzdem Pakttreue weiter gepriesen werden soll,
ja sogar wirklich in Geltung bleiben könnte ist wishful thinking,
und als solches entpuppt sich das realpolitische Denken nur all
zuoft. Deutlich genug hat das deutsche Beispiel gezeigt, daß bei
mangelnder Einschüchterung keinerlei Mittel, am allerwenig
sten aber appeasement ausreicht, um einen Paktunwilligen zu
Pakteinhaltungen zu bringen, und daß ebenhiedurch nicht nur
die Freedoms »of«, sondern nun plötzlich auch die des »from«
unweigerlich dem »guten« Willen des Einzelstaates anheimge
geben sind: die Nichteinmischung bei Vergewaltigung der
Freedoms »of« gefährdet mittelbar jegliche Pakttreue und so
hin auch den Frieden. Gewiß, Einmischung bedeutet stets
Kriegsgefahr, doch Gleichgültigkeit ist das schlechteste Mittel
zu ihrer Vermeidung: Verbrechen müssen verhindert werden
ehe sie begangen worden sind.
V.
Die psychologische Situation
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sehen Glauben geworden ist, zu einem Glauben an des common
man’s unwandelbaren Willen zur Freiheit und zur Menschen
würde, an seine - jeder psychologischen Wandelbarkeit entho
bene - stete Fähigkeit zur Bewahrung dieser demokratischen
Güter, in denen zugleich die Glaubensgrundlage zu erkennen
ist: denn sie sind die unabdingbaren, natürlichen Menschen
rechte, die der Schöpfer für alle Ewigkeit festgesetzt hat, so daß
sie, sozusagen auf des Schöpfers eigenes Geheiß dem monar
chischen Regime hatten abgerungen werden müssen, um Kraft
ihrer Ewigkeitsgeltung für alle künftigen Generationen festge
legt zu werden, nämlich als Demokratiestiftung in der Konsti
tution; gewiß, die Konstitution erlaubt trotzdem Abänderun
gen, doch ihre regulativen Prinzipien bleiben, eben als
Naturrecht, ewiglich unwandelbar, und der formale Abände
rungsprozeß ist (gerade in der amerikanischen Konstitution) so
kunstreich normiert, daß er zu seiner Durchführung eine echte
Volksmajorität erfordert, also wiederum an den common man
als höchste Instanz zu appellieren hat. Nichts jedoch schien bei
der Demokratiestiftung so widersinnig und ist vielen sogar auch
noch heute so sehr unvorstellbar als daß der common man sich
je mit Hilfe seiner demokratischen Freiheiten gegen die Frei
heit wenden könnte und seine »Bill of Rights« benützen würde,
um diese selber sowie die durch sie garantierte Menschenwürde
aufzuheben; nur Verbrechern oder Irrsinnigen ließ sich ein sol
cher Anschlag etwa noch Zutrauen, und für solch verschwin
dende Volksminorität würden, falls einfache Ignorierung nicht
als Abwehrmittel genügt - so meinte man und meint es viel
leicht noch heute - die Zucht- und Irrenhäuser schließlich aus
reichenden Aufnahmeraum bieten.
Es mag sein, daß solch optimistische Ansicht über die »nor
male« Haltung der Volksmajorität noch immer für Länder
standhält, die eine starke demokratische Tradition besitzen,
obwohl auch da mancherlei Skepsis zulässig wäre. Hingegen
zeigt das deutsche Schreckensbeispiel, wie bei Fehlen einer de
mokratischen Tradition sehr wohl Verbrecher und Irrsinnige
eine Volksmajorität erringen können; gründlicher als anderswo
ist es in Deutschland gelungen, durch Mißbrauch einer anson
sten vorbildlichen Verfassung die Freiheit des Bürgers aufzu
heben, seine Menschenwürde mit Füßen zu treten, und die
»Normalen«, die sich dagegen wehrten, zu einer Minorität zu
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reduzieren, die ohne Schwierigkeit, so weit man nicht vorzog sie
sofort auszurotten, in Gefängnissen und Konzentrationslagern
unterzubringen war.
Eine »International Bill of Rights« soll alle Länder des Erd
kreises umfassen, also nicht nur jene wenigen, welche demo
kratische Tradition ihr eigen nennen, ja sie soll sogar in den an
dern diese Tradition inaugurieren. Ist aber da nicht zu
befürchten, daß ihr genau das Los widerfährt, das der deutschen
»Bill of Rights« widerfahren ist? Ob international oder natio
nal, eine »Bill of Rights« kann durch den Staat, wenn er
»schlechten« Willens ist, vermittels unzähliger Maßnahmen, ja
einfach vermittels stillschweigender Nichtbeachtung zu einer
leeren Bestimmung gemacht werden. Es sind Umgehungen
möglich und zumeist sogar üblich, die fast anonym bleiben, da
sie nicht offiziell von der Staatsregierung verordnet sind, son
dern gleichsam nebenbei von Regions- und Lokalbehörden be
werkstelligt werden. In Deutschland ist solch behördlicher
Kleinfascismus sozusagen unter den Augen des immerhin noch
funktionierenden Reichstags und der immerhin noch demokra
tischen Reichsregierung vor sich gegangen, und keine der libe
ralen Parteien war imstande, diesen diffusen, rechtlich kaum
faßbaren Sachverhalt aufzuhellen und zu bekämpfen. In man
chen Ländern, wie eben auch in den U.S.A., existieren private
Vereinigungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten -, kön
nen aber solche Vereinigungen all die Wachsamkeit aufbrin
gen, deren eine »International Bill of Rights« bedürfte, um vor
Umgehungen und Schädigungen tatsächlich bewahrt zu wer
den?! Zumeist wissen ja nicht einmal die unmittelbar Betroffe
nen selber ob und wie weit die konstitutionellen Rechte und
Freiheiten bereits geschädigt [wurden] oder im Begriffe sind
geschädigt zu werden, und wo kein Ankläger ist, da gibt es auch
keinen Richter. Wie also soll das ohnehin aktionsunwillige Na-
tionen-Kollektiv gegen einen Staat, in dessen Souveränitätsbe
reich dergleichen geschieht, Vorgehen oder gar Enforcement
anwenden?
Nichts also ist so möglich, als daß die allenthalben ausgestreu
ten Keime der fascistischen Massenpsychose - die durch die
Niederwerfung Deutschlands noch keineswegs ausgemerzt
worden ist - nun unter dem Schutz einer »International Bill of
Rights« erst recht zu sprießen beginnen werden, kurzum daß
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allenthalben verbrecherisch-gemeingefährliche Irre erstehen
können, die für die Menschheit keine geringere Gefahr als die
Hitlerische bedeuten würden, die Gefahr der Kriegsperpetu-
ierung mit immer furchtbareren Mitteln.
Hieraus ergibt sich: da vom Nationen-Kollektiv, seinem
Schiedsverfahren, seinem Machtapparat, kein ausreichender
Schutz für die »International Bill of Rights« zu erwarten ist, und
ihre Einhaltung ganz dem »guten« Willen des Einzelstaates,
oder richtiger dem seiner Bevölkerung anheimgestellt bleibt,
kommt alles darauf an, ob solch »guter« Wille erweckt und so
weit gestärkt zu werden vermag, daß er sich gegen den
»schlechten« der fascistischen Kräfte behaupte, um ebenhie-
durch deren Vernichtung einzuleiten. Es ist eine massenpsy
chologische Aufgabe, u. z. eine der Massenpädagogik.
VI.
Die psychologische Aufgabe des Strafgesetzes
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durch die irrationale und sozusagen anonyme Fülle der Tradi
tionsströmungen, die ihn mitsamt seiner Umgebung umschlie
ßen, so daß ihm ebenhiedurch deren Verhaltungs- und Hand
lungsvorschriften aufgenötigt werden, und in dieser Fülle kaum
faßbarer Gebräuche, Sitten und Gewohnheiten, die der Mensch
meistens ganz unbewußt motorisch befolgt und seine Alltags-
Erziehung ausmachen, bildet das Strafgesetz gewissermaßen
den rationalen Teil, da es seine Gebote mit äußerster Klarheit,
nämlich mit der »Erweckungskraft« rationaler Drohungen zu
Bewußtsein ruft.
Vonseiten der »International Bill of Rights« wird also, im Fall
ihrer Einführung, das Verlangen an das Strafgesetz gerichtet
werden müssen, sie gegen fascistische Anschläge zu schützen,
erstens durch eine eindeutige Definition des verbrecherischen
Tatbestandes, der in diesen Anschlägen liegt, und zweitens
durch Stipulierung der Straffolgen, die sich aus solchem Tatbe
stand zu ergeben hätten.
Denn obwohl die Untaten, mit denen die Terroristen des Fa-
scismus und des Nazitums die Staatsmacht an sich gerissen ha
ben, gegen viele, ja gegen die meisten Bestimmungen des Straf
gesetzes (beginnend mit denen über gemeinen Mord) aufs
gründlichste verstoßen, so sind doch gerade jene, welche kraft
»abnormer« Ausnützung der demokratischen Freiheit sich
eben gegen diese Freiheit wenden, bisher strafgesetzlich nicht
erfaßbar gewesen und müssen daher erfaßbar gemacht werden.
Es geht - wie übrigens überall im Strafgesetz, doch hier ganz
besonders - um den »normalen« Gebrauch der staatsbürgerli
chen Freiheit, auf daß sie nicht ohneweiters wieder mißbraucht
werden könne.
VII.
Die legale Situation
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ähnliche Delikte, weil der Herrscher als zwar mystisches, den
noch konkretes Symbol der Gesamtheit steht, so ist »die Repu
blik« ein aller Symbolmystik entkleidetes, reines Abstraktum;
niemand aber vermag verbrecherische Handlungen zu definie
ren, die unmittelbar gegen ein Abstraktum (ohne Zwischen
schaltung konkret geschädigter Personen) gerichtet sind: jeder
derartige Definitionsversuch läßt einen ins Leere greifen und
gar, wenn man auf Grund solcher Definition nach Verbrechern
greifen will.
Mit der Schwächlichkeit ihrer Abwehr gegen das Nazitum ha
ben Deutschland und Österreich dargetan, wie unterhöhlt ihre
demokratische Struktur bereits gewesen war. Eine lebendige
Demokratie könnte (und dürfte) solch ein papierenes Schutz
gesetz nie und nimmer hervorbringen. Demokratisches Den
ken, demokratische Staatsauffassung, demokratische Gesetz
gebung haben wesensgemäß nicht das geringste mit Abstrakta
zu schaffen. Wenn man in Deutschland und Österreich gemeint
hatte, »den Staat« (trotz seiner Abstraktheit) vermittels des
»Gesetzes zum Schutz der Republik« gegen aufsässige Bürger
verteidigen zu können, so offenbart sich darin der nämliche
Denkfehler wie jener, welcher meint, daß umgekehrt die »Bill
of Rights« den Bürger gegen »den Staat« schützen müsse: in
Wahrheit geschieht nichts dergleichen; in Wahrheit kann im
mer nur Konkretes gegen Konkretes geschützt werden; und in
Wahrheit gibt die »Bill of Rights« nicht dem abstrakten
»Staat«, sondern den konkreten Organen seiner legislativen,
exekutiven und richterlichen Amtsbehörden gewisse Verhal
tensvorschriften, um diese konkreten Personen vor Übergriffen
gegen des konkreten Bürgers Freiheit und Menschenwürde zu
rückzuhalten. »Der Staat« ist nichts als eine abgekürzte Rede
weise, und Abkürzungen führen leicht zu verhängnisvollen
Denkfehlern.
Demgemäß hat ein Gesetz, das die spezifischen Untaten des
Fascismus und Nazitums treffen und verhüten will, sich vor al
lem mit ihren konkreten Schadensstiftungen und erst in zweiter
Linie mit ihren Absichten gegen den abstrakten »Staat« zu be
schäftigen.
Und wirklich, ungeachtet all ihrer Schmähungen gegen die
Demokratie, es waren die konkreten Anschläge, mit denen die
Fascisten und Nazi sich zur Macht brachten, formal besehen
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nicht einmal »umstürzlerisch« zu nennen - ihre »Revolution«
berühmte sich auch nicht wenig der einwandfreien »Legalität«,
mit der sie die staatsrechtliche Position der Demokratie über
tölpelt hatte, - nein, sie griffen keineswegs »den Staat« als sol
chen an, wohl aber bestimmte Mitbürger und Mitbürgergrup
pen, und indem sie ihre Untaten in einer Form begingen, die
eine gesetzliche Erfassung entweder überhaupt unmöglich
machte oder aber wenigstens die Identifikation der einzelnen
Schuldigen verhinderte, gelang es ihnen nicht nur, den ange
griffenen Personen die Ausübung des natürlichen Rechtes auf
Life, Liberty und Pursuit of Happiness abzuschneiden, sondern
auch die demokratische Institution als Ganzes zu schädigen;
denn ein Staat, der mangels zureichender Gesetzesbestimmun
gen gezwungen ist, Verbrechensopfer unbeschützt zu lassen,
während die Verbrecher straffrei ausgehen, ja darüber hinaus
auch noch weiterhin durch eine demokratische »Bill of Rights«
geschützt bleiben, ein Staat, in dessen Struktur sich keinerlei
Handhabe zur Abstellung solchen Mißstandes findet, hat einen
uneinbringlichen Prestigeverlust erlitten.
Damit aber ist auch schon der Charakter des geforderten Ge
setzes bestimmt: es wird nur dann ein sinnvolles, konkret
zweckgerichtetes (und ebendarum auch demokratisches) Ge
setz sein, wenn es haargenau den nämlichen Zielen wie die »Bill
of Rights« selber dient, d. h. wenn es wie diese - anders lassen
Freiheit und Menschenwürde sich nicht schützen - ausschließ
lich auf den Schutz der physischen und psychischen Integrität
des konkreten Bürgers angelegt ist.
Es geht also um einen gesetzlichen Schutz der Menschen
würde selber, u. z. um einen, der konkrete Bürger nicht nur, wie
es in der »Bill of Rights« geschieht, vor Übergriffen der Staats
behörden, sondern auch vor Anschlägen des Nebenbürgers
bewahrt. Gelingt dies, d. h. wird jeder Anschlag, von wem im
mer er ausgehen mag, unter Strafe gestellt, so ist der Ansatz zu
einer wichtigen, ja unumgänglichen Ergänzung der »Bill of
Rights« geschaffen, nämlich die durch eine »Bill of Responsibi-
lities« oder »Bill of Duties«, der es also zu obliegen hätte, neben
das »Freiheits-Recht« des Menschen seine »Freiheits-Verant
wortung« zu setzen und hiedurch den »normalen« Gebrauch
der Freiheit zu definieren, deren Mißbrauch aber hintanzuhal
ten.
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Im Schutz des Menschen vor dem Nebenmenschen ist die
wirksamste und vielleicht sogar die einzige Gewähr für die Er
haltung der Demokratie zu sehen. Denn ist die Würde des kon
kreten Menschen Schädigungen durch den Nebenmenschen
ausgesetzt, so wird mittelbar auch der Staat als demokratische
Institution geschädigt; umgekehrt jedoch wird diese mittelbar
geschützt, wenn des konkreten Menschen Würde unter wirksa
men gesetzlichen Schutz gestellt wird. Nicht nur also, daß diese
Aufgabe eine der wichtigsten der demokratischen Rechtspflege
ist, sie kann geradezu als deren eigentlichste Wesenheit aufge
faßt werden.
VIII.
Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde«
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der Welt. Jede fascistische Propaganda, ob öffentlich oder ge
heim, ob rassenmäßig oder anderswie begründet, wird aus die
sen Quellen gespeist, um sodann im Kleingeschwätz weiterge
tragen zu werden, und das eine wie das andere hat durch
gesetzliche Sanktionen abgeschnitten zu werden.
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Artikel (1)
Wer in Wort oder Schrift oder tätlich oder sonstwie die morali
sche Gleichheit der Menschen (Bürger und Nicht-Bürger) an
greift, also den Versuch unternimmt, eine nicht durch strafge
richtliche, sondern bloß durch biologische oder religiöse oder
sonstwie gesinnungsmäßige Kriterien definierte Gruppe von
Personen, sei es kollektiv, sei es individuell verächtlich zu ma
chen, oder vom Genuß der dem Staatsbürger zustehenden
Rechte (u. a. insbesondere von dem einer legalen pursuit of
happiness) auszuschließen, oder von der Ausübung der dem
Staatsbürger zukommenden Pflichten fernzuhalten, oder
sonstwie dem Haß der Mitbürger auszusetzen, oder diese zu
solchem Haß aufzufordern, der macht sich - gleichgültig ob ein
derartiger Versuch glückt oder nicht - des » Verbrechens gegen
die Menschenwürde« schuldig und soll mit Kerker nicht un
ter... Jahren bestraft werden.
Artikel (2)
Keinerlei Amts-Immunität, gleichgültig ob infolge Zugehörig
keit zu einer gesetzgebenden Körperschaft oder ob infolge
Ausübung einer staatsexekutiven oder richterlichen Funktion,
vermag die Rechtsfolgen aufzuhalten, welche aus der Übertre
tung dieses Gesetzes entstehen.
Als Gerichtsstelle für Abhandlung der Verstöße gegen dieses
Gesetz käme, da es sich um qualifizierte Verbrechen handelt,
das Schwurgericht in Betracht.
(C) Prozedur
Das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde« soll in erster Li
nie ein rasch wirkendes, verläßliches Instrument in der Hand
demokratischer Staaten sein, auf daß sie jedes Aufkommen
fascistischer Propaganda sofort im Keime ersticken können.
Für Staaten mit lebendiger demokratischer Tradition dürfte das
Gesetz diesen Zweck voraussichtlich befriedigend zu erfüllen
imstande sein.
Verstöße gegen das Gesetz wären demgemäß vor allem bei den
innerstaatlichen Gerichten anzuklagen und hätten von diesen
abgeurteilt zu werden. Doch da auch mit Staaten gerechnet
werden muß, denen demokratische Tradition mangelt, das Ge
setz aber trotzdem zur Geltung gebracht zu werden hat, damit
seine internationale Bedeutung als Friedenssicherung gewahrt
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bleibe, sind einige zusätzliche Bestimmungen notwendig, näm
lich:
(I) der Appellationsweg ist über den Obersten Gerichtshof des
betreffenden Staates hinaus bis zu einem internationalen Ge
richt (das z. B. dem in Haag anzuschließen wäre) fortzusetzen,
und dieser Internationale Senat hat als letzte Instanz zu fungie
ren;
(II) der Internationale Gerichtshof entscheidet nicht nur wie die
(meisten) innerstaatlichen Obersten Gerichte ausschließlich
über formale Verfahrensmängel, um bei Konstatierung von
solchen den Fall an das Erstgericht zurückzuverweisen, sondern
er ist auch berechtigt, ohne Rückverweisungen, also in seinem
eigenem Judikaturbereich das materiale Gesamtverfahren wie
deraufzunehmen;
(III) sollte sich der Internationale Gerichtshof entschließen, das
Gesamtverfahren in seiner eigenen Judikatur abzuhandeln und
zum Urteil zu bringen, so ist ihm das Recht zuzugestehen, Un
tersuchungen im Staat des Tatortes kommissionsweise vorzu
nehmen und, falls es ihm erforderlich dünkt, eine Auslieferung
der Angeklagten zu begehren;
(IV) Anklagen hinsichtlich des »Verbrechens gegen die Men
schenwürde« können auch unmittelbar beim oder vom Inter
nationalen Gerichtshof erhoben werden, wobei es diesem frei
stehen soll, den Fall entweder im eigenen, dem internationalen,
Judikaturbereich zu behandeln, oder ihn dem zuständigen na
tionalen Gericht zu überweisen;
(V) sofern der Internationale Gerichtshof Urteile in seinem ei
genen Judikaturbereich fällt, ist vor allem der Staat des Tatortes
zur Urteilsvollstreckung zu verhalten, doch muß für den Fall
seiner Weigerung eine internationale Vorsorge zur Urteilsvoll
streckung getroffen werden, u. z. wohl mit Hilfe jener Staaten,
welche auch die internationale Polizeimacht zum Enforcement
und zur Wiederaufrichtung des gebrochenen Rechtes beistel
len.
Die Bestimmungen lt. (III), (IV) und (V) werden vornehmlich
dann zur Anwendung gelangen, wenn ein Staat - etwa infolge
einer Untergrundbewegung - fascistisch bereits so arg ver
seucht ist, daß Behörden und Gerichte nicht mehr zuverlässig
arbeiten, weiters wenn dieser Staat schließlich gar zum Kriegs
aggressor geworden ist, so daß es nach seiner Niederwerfung
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notwendig wird, die (fascistischen oder sonstweichen) Kriegs
initiatoren und Kriegsverbrecher vor einem internationalen
Gericht zur Aburteilung zu bringen.
IX.
Möglichkeiten eines wirklichen Enforcement
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veränitäts-Bedenken, den Appeasement-Tendenzen und man
chen andern Hemmungen des Nationen-Kollektivs zu scheitern
verurteilt ist, darf von der »Bill of Responsibilities« eine be
trächtliche Erleichterung dieser Schwierigkeiten erwartet wer
den. Denn:
a) Das Gesetz zum Schutz der Menschenwürde ist ein »nor
males« Strafgesetz, das konkrete Delikte behandelt und kon
krete Übeltäter zur Verantwortung zieht. Anklage und Abur
teilung erfolgen im normalen Gerichtsgang und beginnen mit
der Anzeige bei der öffentlichen Anklagebehörde, im allge
meinen bei der des zuständigen innerstaatlichen Gerichts-
sprengels, in Ausnahmefällen jedoch bei der des Internationa
len Gerichtshofes, wobei da wie dort die Anzeige sowohl vom
Geschädigten selber wie von einer andern Person wie von der
Polizei erstattet werden kann. Das Nationen-Kollektiv als poli
tische Instanz hat während dieser rein gerichtsmäßigen Be
handlung des Falles überhaupt nicht in Erscheinung zu treten.
b) Ist einmal das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde«
in einem Land (z. B. zwecks Aufnahme ins Nationen-Kollektiv)
eingeführt worden, so kann der ordentliche Gerichtsgang nicht
einmal von »schlechtwilligen« Regierungen ohne weiteres sa
botiert werden; selbst Hitler hat während seiner ersten Herr
schaftsjahre an dem Prestige eines Rechtsstaates festgehalten.
Dies ist freilich ein heuchlerischer Zustand, aber solange er an
dauert, wirkt trotzdem noch die verbrechensverhütende
»Selbstgarantie« des Gesetzes; würde seine präzise Konkret
heit nicht eben doch die »schlechtwillige« Regierung einiger
maßen binden, es wäre diese durch nichts davon abzuhalten, die
an sich vage »Bill of Rights« teils offen, teils in der üblichen
anonymen Weise hinterrücks zu vergewaltigen, so daß das Na
tionen-Kollektiv entweder bereits mit seinem politischen En-
forcement einzuschreiten oder überhaupt den Gedanken an die
internationale Geltung der »Bill of Rights« aufzugeben hätte.
c) Die Situation wird erst dann kritisch, wenn die schlechtwil
lige Regierung das ordentliche Gerichtsverfahren im eigenen
Land sabotierte und, darüber hinaus, die Weisungen und Ur
teile des Internationalen Gerichtshofes, der in diesen Fällen
einzugreifen hätte, nicht achtete und nicht zur Ausführung
brächte. Dann allerdings ist der Augenblick für das politische
Einschreiten des Nationen-Kollektivs gekommen, aber wohl
265
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auch der, in dem Souveränitäts-Bedenken und Appeasement-
Tendenzen beiseite gelassen werden können; denn eine solche
Mißachtung von Gesetz und Gericht ist nicht nur ein Abtun des
eigenen Rechtsstaat-Charakters, sondern auch eine eklatante
Kampfansage an das Nationen-Kollektiv (das wesensgemäß
sich aus Rechtsstaaten und nur aus solchen zusammensetzt), so
daß die Enforcement-Aktion, die da zu unternehmen ist, sich
in einem de facto bereits eingetretenen Kriegszustand ab
spielt.
Gewiß, trotz aller Konkretheit, es kann nicht erwartet werden,
daß die Dinge in absoluter Eindeutigkeit vor sich gehen. Man
braucht sich nur der Mißstände zu erinnern, die sich bei
Schwurgerichten immer wieder ergeben, wenn Fälle von Aus
schreitungen auf Rassenhaß-Grundlage oder andere Delikte
dieser Art abgehandelt werden sollen. Und daß schlechtwillige
Regierungen unzählige Mittel zur stillschweigenden Beeinflus
sung der Geschworenenauslese wie zur Instruierung ihrer
Staatsanwälte stets an [der] Hand haben werden, das wird wohl
niemand bezweifeln; ja sie werden sogar mit einigem Geschick
und einigem Terror Appellationen an den Internationalen Ge
richtshof recht leicht zu verhindern wissen, ohne daß diese Ma
chinationen zur offenen Sabotage zu werden brauchen.
Trotzdem bleibt ein bedeutender Unterschied zwischen den
Enforcement-Möglichkeiten einer unergänzten und denen ei
nerergänzten »International Bill of Rights«. Während eine un-
ergänzte »Bill of Rights« von jeder Regierung ganz offen fla-
griert werden kann, da das Nichteinmischungsprinzip jede
beliebige Auslegung der »Bill« zuläßt, also der ganze Rechts
zustand des Staates verändert werden darf, geht es bei Hinzu
tritt der »Bill of Responsibilities« nicht mehr um den allgemei
nen Rechtszustand, sondern um distinkte Einzelfälle, in denen
die Menschenwürde bestimmter konkreter Personen durch an
dere konkrete Personen verletzt worden ist, und diese, nicht
Regierungen, nicht »Staaten« als solche werden vom interna
tionalen Recht verantwortlich gemacht, selbst wenn die
schlechtwillige Regierung die Verbrecher durch Machinationen
-d ie bereits ein gewisses Maß an Korruption und Geheimhal
tung erfordern, also hiedurch auch schon eine gewisse Ein
schränkung erfahren - zu schützen sucht. Gegen Regierungen
kann man bloß mit »politischen« Mitteln Vorgehen, doch gegen
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Verbrecher wird mit Mitteln des Strafrechtes vorgegangen: das
Enforcement wird »entpolitisiert« und damit auch konkreti
siert.
Gerade auf diese »Entpolitisierung« kommt es an. Ein poli
tisches Vorgehen gegen eine schlechtwillige Regierung bedarf
der politischen Vorbereitung, und die ist in demokratischen
Ländern besonders schwierig. Z. B. wäre es 1936 für die West
mächte, trotz ihrer mangelhaften Kriegsausrüstung - sie war
auch 1939 nicht besser -, aus Gründen der Machtgruppierung
wahrscheinlich vorteilhaft gewesen, mit Rußland die von Litwi-
now12 propagierte »Volksfront« zu bilden und gemeinsam, un
ter »verfrühter« Riskierung des Weltkrieges, in Spanien und
damit gegen sämtliche Fascismen einzuschreiten, und doch
wäre es sehr fraglich gewesen, ob sich hiefür (ja auch nur für
die Aufhebung des Waffenembargos) in Amerika eine wirkli
che Volksmajorität gefunden hätte. Die »Verfrühung« wäre
damals vorteilhaft gewesen, das nächste Mal braucht sie es nicht
zu sein, und eben dies macht die demokratische Haltung immer
wieder entscheidungs-langsam. Alle Appeasement-Tenden
zen, alle Souveränitäts-Bedenken, auch die heutigen, sind z. T.
auf diese Verfrühungs-Angst zurückzuführen. Wenn aber die
Entscheidung aus dem vagen politischen Gebiet in das einer
wohldefinierten Rechtsnotwendigkeit transponiert wird, dann
kann sie auch in demokratischen Ländern rasch getroffen wer
den. Aus der politischen Verantwortlichkeit wird eine präzise
Rechtsverantwortlichkeit.
An solcher Rechtsnotwendigkeit und Rechtsverantwortlich
keit wird das Enforcement zum »gerechten Krieg«. Denn vom
Recht, nicht von der Politik wird die moralische Haltung der
Massen geformt; im Gesetz findet die Moral ihren Ausdruck,
und die Wiederherstellung gebrochenen Rechtes ist das stärk
ste Argument, mit dem die politische Aktion die Unterstützung
der öffentlichen Meinung anzufordern vermag. Und gerade ein
Enforcement einer »Bill of Rights« bedarf dieser Unterstüt
zung, ja würde ohne sie geradezu sinnlos werden: die Freedoms
»of«, Menschenfreiheit und Menschenwürde, um deren Schutz
es da geht, sind bloß sinnvoll, wenn sie vom Menschen selbst
gewollt werden.
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X.
Vorbedingung des Selbstbestimmungsrechtes
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mungsrechtes erlaubt und welcher Mißbrauch unerlaubt sein
soll; sie hat keinerlei Definition zwischen erlaubten nicht-fas-
cistischen und unerlaubten fascistischen Regierungsformen ge
geben. Das ist nicht unverständlich, denn das Wilsonsche Kon
zept, das solche Unterscheidungsdefinition hatte geben wollen,
hat versagt und hätte außerdem niemals die Unterschrift Ruß
lands erlangt, dessen Staatsstruktur hiefür allzusehr von der
westlichen abweicht. Nichtsdestoweniger mußte Wilsons Idee
- u. z. nicht nur faute de mieux - nachträglich teilweise wieder
aufgegriffen werden, nämlich mit dem Vorschlag der »Interna
tional Bill of Rights«, freilich um damit gerade im wesentlich
sten Punkt, dem der Freiheits-Pflichten zu kurz zu fassen: die
mangelhafte Definition des Fascismus wird also selber zur fa
scistischen Gefahr, und so ist umgekehrt die Ergänzung durch
die »International Bill of Responsibilities« mit ihrer strafge
setzlichen Bestimmung der fascistischen Verbrechen und ihrer
Verfolgbarkeit auch zur Definition der fascistischen Regie
rungsform, zu ihrer Erkennung und Vermeidung höchst not
wendig.
Soferne aber der Fascismus wirklich vermittels der »Bill of
Responsibilities« (als notwendiger Ergänzung der »Bill of
Rights«) zu charakterisieren, d. h. negativ zu definieren ist, so
müßten sich andererseits, als positiver Aspekt, an ihr die Ge
meinsamkeiten der nicht-fascistischen Regierungsformen fest
stellen lassen; und in der Tat: nicht nur daß der in San Francisco
akzeptierte Plan der »International Bill of Rights« den gemein
samen Humanitäts-Nenner zeigt, der all den divergierenden
Anschauungen, ja sogar denen der westlichen und der russi
schen Staatsauffassung innewohnt, es zeigt sich darin auch das
Bemühen, von hier aus die Vorbedingung zu finden, die ein
aufnahmewerbender Staat für seine Zulassung zum Nationen-
Kollektiv zu erfüllen hat. Hiefür scheint aber die Verschärfung
der »Bill of Rights« durch das »Gesetz zum Schutz der Men
schenwürde« und schließlich durch eine »Bill of Responsibili
ties« einfach unerläßlich zu sein. Ob man dann die solcherart
konstituierte Vorbedingung als die aller Demokratie oder als
die des humanitäts-gerichteten Staates schlechthin oder als die
einer jeden auf Gerechtigkeit basierten sozialen Gemeinschaft
bezeichnen will, ist eine lediglich terminologische Angelegen
heit. Auf jeden Fall ist es die erste Vorbedingung für die Staa
269
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tengemeinschaft, die den Weltfrieden gewährleisten soll, denn
auf eine andere Weise ist nicht zu bewerkstelligen, daß in jedem
Land, gleichgültig von wem und wie es regiert wird, die gleichen
regulativen Grundprinzipien herrschen, der Mensch aber ruhig
im Genuß der »Four Freedoms« zu leben vermag.
XI.
Der massenpädagogische Effekt
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läßt sich aber kaum anders als vermittels des Strafgesetzes er
ziehen, umsomehr als es sich um eine Immediat-Erziehung von
Erwachsenen handelt, die ihre zumeist tief eingefahrenen Hal
tungen, wenn überhaupt, nur unter der Einwirkung strafandro-
hender Verbote zu ändern vermögen. Geschähe dies nicht, so
würde z. B. die nächste Generation - geradezu automatisch -
in einer Weise von ihren Vätern vergiftet werden, daß jede Ju
genderziehung (die überdies ein eigenes Problem präsentiert)
von vornherein vereitelt werden würde. Doch noch wichtiger ist
jene Immediat-Erziehung, um die Völker der halb- und ganz-
fascistischen Länder, besonders die, welche seit vielen Jahr
hunderten unter mehr oder minder diktatorialer Herrschaft ge
lebt haben, für die durch die »International Bill of Rights«
gewährten Freiheiten reif zu machen: die Angehörigen der
United Nations werden dieser Freiheiten nun sofort teilhaftig
werden, doch es wäre - gleichfalls aus erzieherischen Gründen
-sicherlich nicht gut, Deutschland und Japan allzulange hievon
auszuschließen, und es kann mit aller Bestimmtheit, bei jenen
wie bei diesen, ein fascistischer Mißbrauch der Freiheit voraus
gesagt werden, wenn nicht eine strafgesetzliche Hemmung, also
im Sinne des Gesetzes zum Schutz der Menschenwürde, dage
gen gestellt wird.
Denn in den Fascismen werden alle Primitivhaltungen der
Menschenseele wieder ans Tageslicht gefördert - der Rückfall
des deutschen Volkes in Ur-Barbarei hat dies in erschreckend
ster Weise bestätigt -, und bei einem solchen Geisteszustand
läßt sich durch Gewährung von Freiheiten allein keine Huma
nisierung erzielen. Für die mystischen, ja theologisch-mysti
schen Überlegungen, aus denen die »Bill of Rights« mit ihrer
Aufstellung der »natürlichen Menschenrechte« hervorgegan
gen ist, hat ein in die Urzeiten seiner Entwicklung zurückge
kehrter Geist nicht die geringste Aufnahmefähigkeit; der Pri
mitive denkt nicht mystisch sondern magisch. Wenn ihm aber
das nämliche »Naturrecht« in Gestalt von Verboten geboten,
oder richtiger auferlegt wird, so kann es einen Zugang zu ihm
finden, weil es dann von der Magiewirkung des Tabu, das sich
gerade in der Strafandrohung äußert, getragen wird. Was die
»Bill of Rights« nicht zu leisten vermag, das kann die »Bill of
Responsibilities« in ihrem »Gesetz zum Schutz der Menschen
würde« leisten.
271
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Diese magische Tabuwirkung scheint um so größere Bedeu
tung zu gewinnen, als nicht nur der Fascismus, sondern auch
Kriege als solche schier unausweichlich zu Primitivhaltungen
des Menschen zurückführen und ihn magie-zugänglich machen.
Nationalismus z. B. kann und wird immer wieder ins Magische
ausarten (ist dementsprechend auch stets eines der Hauptin
strumente alles Fascismus), und siegreiche Völker neigen er
fahrungsgemäß immerzu einem übertriebenen Nationalismus.
Hiezu kommt noch, daß dieser zweite Weltkrieg noch ganz be
sondere nationalistische Reaktionen erweckt hat, da nach einer
so brutalen Unterdrückung, wie sie die europäischen Völker
durch Hitler erlitten haben, nun notwendigerweise die gestau
ten Haßgefühle nach einem Auslaß verlangen. Kein Wunder
also, daß die Niederwerfung Deutschlands, die ein rein demo
kratischer Sieg hätte werden sollen, vielerorts zu einem rein na
tionalistischen geworden ist, und daß in ganz Europa Zeichen
von Minoritätenhaß, von Antisemitismus usw. aufflammen,
unzweifelhaft auch noch genährt von den fascistischen Elemen
ten, die sich allenthalben, nicht zuletzt in den Siegerländern sel
ber, erhalten haben und bloß ihre neue Gelegenheit abwarten.
Dies alles geht im dunkelsten Gefühlsbereich vor sich, und fast
ist es, als ob sich da eine neuerliche Enthumanisierungswelle
vorbereitete: mit einer »Bill of Rights« allein ist sicherlich nicht
dagegen aufzukommen.
Hitler wußte um die magische Tabuwirkung des Strafgesetzes,
und ebendarum hat er die Nürnberger Rassengesetze zum
Kernstück, ja zum Symbol der ganzen Nazi-Moral gemacht und
hat mit ihrer pomphaften Proklamation seine eigentliche Herr
schaft eingeleitet. Das »Gesetz zum Schutz der Menschen
würde« ist das genaue Gegenstück zu diesen Rassengesetzen,
und wenn mit diesen die Erziehung zur Barbarei und Enthuma
nisierung angehoben hat, so kann jenes den Beginn der Wie-
der-Humanisierung und zugleich deren gültigstes Symbol be
deuten, vielleicht das einzige Symbol, das die Massen im
Augenblick zu verstehen fähig sind.
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XII.
Widerstände und Konsequenzen
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Wenn man bedenkt, wie sehr diese Erwägungen, Abneigun
gen, Vorsichtshaltungen und Einwendungen (trotz manchmal
guter Absicht) an dem deutschen Grauensresultat mitgewirkt
haben, und wie sie nun offenbar daran sind, sich in weltweitem
Ausmaß zu wiederholen, so daß auch das Grauensresultat eine
Vervielfachung erfahren würde, so mag man sich wohl fragen,
ob die »Four Freedoms« tatsächlich eine realitätsfähige und
nicht nur leer-phantastische Utopie darstellen, ob in ihnen tat
sächlich eine echte Realitätsrichtung der Welt vorgezeichnet
ist, oder ob nicht im Gegenteil deren Entwicklung gerade den
umgekehrten Weg gehen wird.
Nun, »Entwicklung« ist eine sehr unspezifische Realitätsrich
tung menschlichen Geschehens; im Kontinuum ihres großen
Hauptstroms bietet sie Raum für die verschiedenst spezifizier
ten Realitätsrichtungen, für deren Parallelismen, eben auch für
deren gegenseitige Hemmungen und Ablenkungen. Es ist also
nur selbstverständlich, daß zu der durch die »Four Freedoms«
angezeigten »Humanitätsrichtung« auch Gegenkräfte vorhan
den sind, und daß diese unbeschadet ihrer Disparatheit - sie
umfassen sowohl die fascistischen wie all die andern politischen
Gegenkräfte, die sich (selbst wenn sie als liberal auftreten) der
Humanitätsentwicklung entgegensetzen - unter dem Schlag
wort »Antihumanität« zusammengenommen werden dürfen:
und trotzdem ist hier dieser Gegensatz bedeutungsschwerer als
anderswo.
Denn die Technisierung und Kollektivierung der Welt ist un
zweifelhaft- daran läßt sich nichts ändern - zutiefst antihuman
und barbareifördernd, ist es umsomehr, als sie hiebei von allen
sadomasochistischen Trieben der Menschennatur, von ihrer
Sucht nach Vernichtung und Selbstvernichtung unterstützt
wird. Der Technisierungsprozeß ist unaufhaltsam, weil der
menschliche Erfindungsgeist sich nicht zügeln läßt, und nicht
nur, daß die Vernichtungsinstrumente, die hervorzubringen er
bereits im Begriffe ist, über jegliches menschenbezogene Aus
maß hinaus zu dem von Naturkräften anwachsen und kaum
mehr »Waffen« zu nennen sind, nicht nur, daß sie in der Hand
von »schlechtwilligen« Gruppen oder Staaten - und Schlecht
willigkeit ist mit solcher Handhabung schier unlösbar verbun
den - jederzeit zur unausdenkbarst entsetzlichen Menschheits
gefahr werden können, es wird in einer so sehr der Maschine
274
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(wortwörtlich) unterworfenen Welt der Unterschied zwischen
Krieg und Frieden überhaupt aufgehoben, da die apokalyp
tische Bedrohung unaufhörlich, ob Krieg, ob Frieden, in un
brechbarer, gleichbleibender Intensität weiterbesteht und da
mit die Menschen, deren Einzelleben nichts mehr gilt, nichts
mehr gelten kann, in eine Paniknähe bringt, die bloß in schärf
ster Sklavendisziplin und dunkelster Sklavenstumpfheit zu
überkommen ist. Was die Fascisten bisher an Antihumanität
geleistet haben, ist ein zart-mildes Frühlingsbild angesichts sol
chen Zukunftsausblickes.
Kann sich die Welt vor einem derartigen Schicksal noch be
wahren? Kann überhaupt noch von einer Humanitätsrichtung
gesprochen werden, da die Technik selber in ihrer Unaufhalt-
samkeit die Realitätsrichtung in die Hand genommen hat? Der
Fascismus - getrieben von seinem Vernichtungswillen, der im
letzten Grund seinen eigentlichen Charakter ausmacht - ver
neint es, aber auch das laisser-aller all der andern Kräfte, die
ihm zu Diensten sind, besagt das nämliche. Hat also der
Mensch, als ob er neben seinen Vernichtungstrieben keinen
Lebenstrieb kennte, sich fatalistisch der von der Technik ange
zeigten Realitätsrichtung zu beugen?
Es gibt keine irrtumsfreie, eindeutige Anzeige von Realitäts
richtungen, und es gibt keine, die den Menschen zum Fatalis
mus aufzufordern vermöchte: kann eine Realitätsrichtung auf
gezeigt werden, so heißt dies, daß es möglich ist, bestimmte
Realitätsaufgaben aufzustellen und vielleicht sogar zu lösen;
eine Realitätsrichtung manifestiert sich ausschließlich in der
Möglichkeit von Problemstellungen und -lösungen, die einem
gewissen Realitätstypus angehören. Unter diesem theoreti
schen Gesichtswinkel ist die Humanitätsrichtung, wie sie von
den »Four Freedoms« angezeigt ist, durchaus nicht der techni
schen Antihumanitätsrichtung unterlegen.
Gewiß, man muß sich damit abfinden, daß die technische Er
findungskraft des Menschen sich nicht unter Kontrolle halten
läßt, und daß er immer neue, immer gräßlichere Mordapparate
ersinnen wird; aber über die Moral oder Unmoral, welche die
Maschinen zu benützen beabsichtigt, ist eine einigermaßen
aussichtsreiche, freilich immer nur partielle, niemals völlig be
friedigende Kontrolle zu gewinnen. Dies ist die praktische Pro
blemstellung, an der sich die Humanitätsrichtung manifestiert,
275
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und wenn es gelingt, hiezu auch noch praktikable Lösungen
beizubringen, so ist solche Leistung nicht nur Ausfluß des
menschlichen Lebenstriebes, sondern zugleich auch Ausdruck
seiner wiederbeginnenden Selbsterweckung.
Ist also in San Francisco die dem wiedererwachenden Lebens
willen dienende Humanitätsrichtung mit der »International Bill
of Rights« sichtbar geworden, so gilt es jetzt, den Menschen für
sie »reif« zu machen, und diese moralische Aufgabe - die zu
fördern auch das »Gesetz zum Schutz der Menschenwürde«
beabsichtigt - ist eben die einer Massenerziehung und gleich
zeitig einer Selbsterziehung der Menschheit, die zur Humani
tätsmoral zurückzufinden wünscht. Im Alltagsleben der Völker
aber wird sie zur neuen, zur moralischen Aufgabe der Politik.
Nur indem die Politik diese Aufgabe im Zuge ihrer praktischen
Zwecke verfolgt, ist sie imstande, sie dem modernen Menschen,
der keine andere Plausibilität als die praktische kennt, nahe zu
bringen, und da sie von den praktischen Zwecken (der Kriegs
vermeidung) selber vorgeschrieben ist, wird sie nicht nur uto
piefrei und erfüllungsfähig, sondern biegt auch, sozusagen aus
bloßer Nüchternheit, in jene ethische Linie ein, die all die gro
ßen Kulturreligionen seit jeher festgehalten haben: in die Linie
der sukzessiven Humanisierung des Menschengeschlechtes
durch eine ständige, moralpädagogische und psychologische
und manchmal zwangsmäßige Stärkung der humanen Tenden
zen in der Menschenseele, auf daß ihre Vernichtungs- und
Selbstvernichtungstendenzen nicht das Übergewicht erlangen
und weltenumspannendes Unheil erzeugen. Und vieles spricht
dafür, daß dies nochmals glücken könnte.
Es ist nicht unausweichlich notwendig, daß der Mensch seine
Gaben ausschließlich zur Menschheitsvernichtung verwende.
1 Am 26. 6. 1945 wurde die United Nations Organization (UNO) in San Fran
cisco (USA) von 50 Nationen begründet.
2 Vgl. Franklin D. Roosevelts »Four Freedom«-Rede vom 6. Januar 1941.
3 Seit Anfang 1946 arbeitete die UN-Kommission für Menschenrechte unter
dem Vorsitz von Anne Eleanor Roosevelt an der Formulierung der »Interna
tional Bill of Human Rights«. Am 10. 12. 1948 wurde von der UNO die
»Universal Declaration of Human Rights« abgegeben. Mitte 1946 schickte
Broch seine »Bemerkungen« (in englischer Übersetzung) an Anne Eleanor
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Roosevelt. Um die Arbeit der UN-Kommission für Menschenrechte zu un
terstützen und die Verabschiedung einer »International Bill of Human
Rights« zu beschleunigen, hatte der amerikanische Bischof G. Bromley Ox-
nam Ende 1946 ein »Committee on Human Rights of the Commission to
Study the Organization of Peace« mit Sitz in New York City begründet. Dem
Executive Committee dieser Organisation gehörten auch Brochs Freunde
Christian Gauss, Dekan an der Princeton University, und Alvin Johnson, Di
rektor der New School for Social Research, an. Oxnam bat Broch um Unter
stützung seiner Aktion, und auch an ihn schickte der Autor seine »Bemer
kungen«.
4 Gemeint ist der Völkerbund.
5 Gemeint ist die UNO.
6 Vgl. Brochs Beitrag zur City o f M a n in diesem Band.
7 Vgl. Wilsons »Fourteen Points« vom 8. 1. 1918.
8 Wörtlich heißt es: »freedom of every person to worship God in his own way«.
9 Vgl. die zwischen Roosevelt und Churchill am 14. August 1941 abgeschlos
sene »Atlantic Charter«.
10 Vgl. Fußnote 13 zu »Die Demokratie im Zeitalter der Versklavung«.
11 Anspielung auf die »Nürnberger Prozesse« (1945-1950), deren Gegenstände
nationalsozialistische Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren.
12 Maxim Maximowitsch Litwinow (1876-1951), sowjetischer Politiker, Mitar
beiter Lenins; 1930-1939 Volkskommissar des Äußeren.
13 Konferenz von Teheran (28. 11. bis 1. 12. 1943). Hier trafen Roosevelt und
Churchill zum ersten Mal persönlich mit Stalin zusammen, um die militärische
Strategie zu koordinieren und die Grundzüge der Nachkriegspolitik abzu
sprechen.
14 Japan trat 1956 der UNO bei. Die beiden deutschen Staaten wurden 1973
in die Weltorganisation aufgenommen.
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Die Zweiteilung der Welt
Erster Teil
Gibt es noch Demokratie?
Kann es, soll es sie noch geben?
(i)
Demokratie gegen Totalitarismus,
ein Staatenkonflikt?
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keine andere »Idee« als diese Aufgabe, und wenn er auch als
Maschine, als Machtmaschine selber keinen Willen und keine
Ideen besitzt, wenn auch all das ausschließlich in den Köpfen
wohnt, die aus Amt oder Neigung das Staatsinteresse und die
Staatsaufgabe betreuen, sie werden ebenhiedurch zu Gliedern
der spezifischen Funktion, die von jeder Maschine in ihrer Ei
genlogik entwickelt wird, sie werden hier zu »Dienern des Staa
tes«, und es wird ihnen der Staat mitsamt seiner Aufgabe zum
absoluten und einzigen Selbstzweck: durch sie und durch ihre
Verantwortung »will« der Staat seiner Grundaufgabe bestens,
also womöglich »absolut« gerecht werden, durch sie »will« er
all seine Bürger zu absolut gehorsamen Gliedern der Staats
maschine machen; durch sie strebt der Staat, jeder Staat,
zur totalen Erfüllung seiner Idee, d. h. zu seinem Totalitaris
mus.
Demokratie ist demnach in erster Linie Auflehnung des Indi
viduums und seines individuellen Freiheitsbedürfnisses gegen
die Totalitärtendenz, die jeder Staatsmaschinerie notwendig
innewohnt. Soweit also Demokratie Ausdruck des menschli
chen Freiheitsbedürfnisses ist, muß sie, fast anarchistisch, frei
lich nicht anarchisch, den Staat überhaupt abzutun suchen;
auch die sozialistische Phantasie von der klassenlosen, staats
überwindenden Gesellschaft hat hier ihren (demokratischen)
Ursprung. Doch da ein staatenloser Zustand - und selbst ein
Weltstaat wäre immer noch und vielleicht erst recht ein Staat
- zumindest vorderhand undenkbar ist, also Demokratie, schier
groteskerweise, sich immer nur in dem ihr feindlichen Element
des Staates konkretisieren kann, muß sie mit ihm ein Kompro
miß eingehen. Der sogenannt demokratische Staat ist ein Kom
promiß; die Errichtung eines volltotalitären Staates ist theore
tisch möglich, nicht jedoch die eines volldemokratischen: vom
Staatsbegriff aus beurteilt bleibt Demokratie stets ein Zwitter
gebilde.
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(als Träger des Totalitarismus) überhaupt abgeneigt ist. Denn
Kriege werden zwischen Staaten geführt, und allein der Staat
will Krieg. Gewiß, es darf ein Staat, der gemäß seiner Grund
pflicht für den Schutz und die Sicherheit seiner Bürger sorgen
will, diese nicht den Gefahren eines mutwilligen und risikenrei
chen Krieges ausliefern, doch wenn er die Gewinnchancen für
günstig hält, sich also erhöhte Sicherheit und erhöhten Wohl
stand für die Zukunft versprechen kann, wird er ohne Beden
ken jeglichen Krieg wagen. Krieg und Frieden sind für den Staat
lediglich ein Maximal- und Minimalproblem, und dies gilt erst
recht für den totalitären Staat.
Der Krieg zwischen den totalitären Achsenstaaten (die unbe
schadet ihrer nazistischen, fascistischen und feudalistischen
Nuancierungen allesamt Volltotalitarismen waren) und den
Westdemokratien war also - im Gegensatz zu einer weitver
breiteten Meinung, die allerdings nicht von dem klareren Chur
chill geteilt wurde - keineswegs eine Auseinandersetzung zwi
schen zwei Ideologien; er war ein Staatenkrieg, ein Machtkrieg
im alten Sinn. Er mußte ausbrechen, weil die Welt - stets hat
es für sie Zeiten der kompromißhaften Balance und solche des
unbalancierten Radikalismus gegeben - nun unter der Leitung
des westlichen Menschen und seiner ebenso radikalen wie radi-
kalisierenden Technik in ein Stadium äußerster Kompromißlo-
sigkeit getreten ist, und weil derjenige, der in einer solchen Zeit
an Kompromissen festzuhalten sucht, in Zwitterhaftigkeit gerät
und infolgedessen sich selbst gefährdet: hier haben die Überle
gungen und Entschlüsse der Totalitärstaaten angesetzt; denn
nicht ganz zu Unrecht betrachteten sie die Demokratien als
staatliche Zwittergebilde, also als geschwächte Staaten, und sie
hielten sich daher zum Zuschlägen berechtigt, ja sogar ver
pflichtet. Der ideologische Gegensatz Totalitarismus-Demo
kratie spielte dabei nur eine akzessorische Rolle.
Im Krieg wird jeder Staat volltotalitär, und nur weil den West
demokratien die Umstellung auf Kriegstotalitarismus - eine
außerordentliche Leistung - so rasch und so gründlich gelungen
ist, vermochten sie, im Verein mit dem bereits vorher volltotali
tär gewordenen Rußland, den Sieg zu erringen. Unter diesen
Umständen wäre es lächerlich, von einem demokratischen Sieg
zu sprechen, und die Nachkriegsperiode zeigt deutlich genug,
daß es kein solcher gewesen ist.
280
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Nichtsdestoweniger kann der Antagonismus Totalitarismus-
Demokratie nicht weggeleugnet werden. Möge auch durch den
Krieg der westliche Demokratiegedanke noch prekärer als frü
her geworden sein, ein Rest von ihm ist vorhanden und leben
dig, und da er nun nur mehr eine einzige Folie, nämlich die des
russischen Totalitärkommunismus besitzt, hat der Gegensatz
an Eindeutigkeit gewonnen, freilich um hiedurch zugleich auch
wieder an ideologischem Gehalt zu verlieren: er wird durch den
der Staaten und ihrer Machtansprüche überdeckt.
Daß in dieser neuen Konstellation dem »staatlicheren«, dem
totalitären Rußland die aktivere, die aggressivere, fast könnte
man sagen die reaktionärere Rolle zugefallen ist, will nur na
türlich erscheinen; Rußland verkörpert eben den Staatsbegriff
in reinerer Form als die Demokratien. Der neue Staatenstreit
geht um die alten imperialistischen Belange, geht - als ob die
Technik das ideologische und machtpolitische Bild der Welt
nicht gründlich verändert hätte - wie einst um Gebietserweite
rungen, um Einflußzonen, um Häfen und strategische Punkte
und Rohstoffbasen, doch während die durch Demokratie ge
milderten (oder geschwächten) Weststaaten sich im großen und
ganzen, freilich mit Ausnahme der amerikanischen Pazifik-
Ansprüche, auf die Erhaltung ihrer Vorkriegsbestände be
schränken wollen, hat der Staat Rußland die Tradition der za
ristischen Expansionspolitik mitsamt all ihren historischen
Zielen vollkommen wiederaufgenommen.
Denn ebenso wie der Staat schlechthin, der Staat als Macht
maschine schlechthin gewisse ihm wesentliche Funktionen be
sitzt, die (trotz oder wegen ihrer Abstraktheit) für jeden, der
an der Staatsverantwortung teilhat, unentrinnbar verbindlich
sind, ebenso entwickelt der einzelne konkrete Staat aus seinem
historischen Werdegang heraus die ihm eigentümliche Spezifi
kation der allgemein-staatlichen Funktionalregeln, und ebenso
werden nun diese in ihrer spezifizierten Form für die Staatslei
tung zur unentrinnbaren Richtlinie; es ist ein geradezu mysti
scher Vorgang. So lassen sich nur sehr wenige rationale, am we
nigsten wirtschaftliche Gründe angeben, um derentwillen die
Nachfolgestaaten Westroms, das Heilige Römische Reich
Deutscher Nation wie das napoleonische Frankreich, wie das
fascistische Italien, unentwegt von dem Gedanken beseelt wa
ren, das alte römische Reichsgebiet wiederherzustellen; sie ha
281
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ben der Reihe nach diesen Versuch unternommen, und da jetzt
Rußland, der historische Erbe Ostroms, in eine Machtposition
gelangt ist, die ihm gestattet, nun seinerseits seine Ansprüche
anzumelden, wird es diese nicht mehr fallenlassen und wird
nicht eher ruhen, bis es sich und damit die Herrschaft eines rus-
sifizierten Byzanz - schon ist ja die Wiederversöhnung mit der
griechischen Kirche, in deren Namen das Patriarchat Kon
stantinopel zu errichten ist, vorgenommen worden - im Mittel
meerbecken, zumindest soweit es zu Ostrom gehört hat, durch
gesetzt haben wird. Und fast sieht es aus, als könnte den Sowjets
glücken, was seit dem Jahr 476 A. D .1 noch keinem geglückt
ist.
Das wird, wenn es geschieht, nicht von heute auf morgen ge
schehen. Rußland hat ein langsames Tempo, und sein Vorrük-
ken - auch dies liegt in seiner Tradition - vollzieht sich nicht
fernkolonial wie das englische, sondern es rückt sozusagen von
Haus zu Haus vor; aber eben diese schier antik anmutende,
langsame Nahkolonisation birgt den Keim zur russischen Dau
erhaftigkeit: der Starke darf sich Zeit lassen.
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des Weltkapitalismus bedacht bleiben. M. a. W., der russische
Staat als solcher hat - eben weil er staatlicher Machtapparat ist
und seine rein staatlichen Ziele zu verfolgen hat - die Politik
der aufgelösten Komintern (die tatsächlich hiedurch überflüssig
geworden ist) übernehmen müssen, und dies umsomehr, als die
von der Komintern anfangs angestrebte Weltrevolution im alt
marxistischen Sinn, also die Revolution des Generalstreiks, der
Barrikaden und der Bandenkämpfe, heute im Zeitalter des
technisch schwerbewaffneten Staates illusorisch geworden ist;
wenn es keine ideologische Irredenta gibt, d.h. wenn sich die
Revolutionärgruppe nicht auf einen Nachbarstaat stützen kann,
von dem sie bewaffnet wird und der zum Eingreifen und Zu
schlägen bereit ist, gibt es keine Revolution.
An die Stelle der Revolution ist also prinzipiell der Krieg ge
treten, an die Stelle der Weltrevolution ein neuer Weltkrieg,
und der russische Imperialismus ist sich dessen bewußt.
Immerhin, zur Aufgabe des Staates gehört Vorsicht, und
Krieg ist eine vorsichtige Maximal- und Minimalaufgabe, ins
besondere angesichts wehrfähiger Gegner. Der russische Staat
hat also diese Verantwortung mit seinen imperialistischen und
revolutionären Bestrebungen auf einen gemeinsamen Nenner
zu bringen. Die Lösung hiefür ist verhältnismäßig einfach; sie
besteht in der modernen Form jenes bereits von den Römern
geübten (und neuerdings von den Nazis virtuos ausgebildeten)
nervenspannenden Halbkrieges, der mit der Förderung oppo
sitioneller Parteien in Nachbarländern beginnt, Autonomiebe
wegungen dort unterstützt, Politiker besticht und Aufstände
bewaffnet, um solcherart zur Einsetzung gefügiger Puppenre
gierungen zu gelangen.
Die russische Regierung fühlt sich derzeit umsomehr zu sol
chem Kurs verhalten, als sie eine einzigartige Situation aus
schöpfen kann und daher ausschöpfen muß: überall in der Welt
(freilich mit Ausnahme der verschiedenen russischen Besat
zungszonen) haben die russischen Siege dem Kommunismus
einen ungeheuren Prestigegewinn eingebracht, und der darf
nicht unausgenützt bleiben. Insbesondere in den Koloniallän
dern, deren Reichtum und deren Bevölkerungen seit jeher von
den Westmächten - unter Hintansetzung aller demokratischen
Prinzipien - exploitiert worden sind und offenbar weiter exploi-
tiert werden sollen, wird die unausweichlich gewordene natio
283
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nalistische Opposition, auch wenn sie nicht (oder noch nicht)
kommunistisch gefärbt ist, ihre Augen nach Rußland richten
und dort den natürlichen Verbündeten, ja den Erlöser sehen.
Die Westmächte haben selber diesen Prestigegewinn den
Russen in die Hände gespielt. Während des Krieges waren sie,
nicht Rußland die große Hoffnung all der vielen unterdrückten
Völker gewesen, und nicht Stalin, sondern Roosevelt hat ihnen
als der große Erlöser gegolten. Wo immer die alliierten Trup
pen einzogen, da wurden sie als Freiheitsbringer begrüßt, als
Bringer der echten demokratischen Freiheit, nicht bloß als Be
freier vom Hitler-Joch. Sie haben nichts dergleichen gebracht.
Ob Roosevelt imstande gewesen wäre, für die Erfüllung der
Erwartungen der Völker tatkräftig einzutreten, ist heute eine
müßige Frage, die nicht beantwortet werden kann. Es mag sein,
daß er, wie Churchill, die Befreiungstat als solche überschätzt
hat und infolgedessen, wie eben auch Churchill, nicht imstande
gewesen wäre, für die Befreiten, die nun noch überdies nach ei
ner positiven Freiheit in Gestalt völliger Selbstbestimmung
verlangten, irgendwelches Verständnis aufzubringen. Doch da
er aus anderer Tradition als Churchill hervorgegangen war und
die Fähigkeit besaß, mit großer Raschheit Realverhältnisse zu
erfassen, hätte auch, wahrlich zum Heile der Völker, das Um
gekehrte eintreten können, und dann wäre wohl das zur Wirk
lichkeit geworden, was ihm (doch nicht so sehr Churchill) si
cherlich vorgeschwebt hatte: eine echte Völkerverständigung,
kraft welcher die Westmächte und die in ihren Einflußzonen
wohnhaften Nationen sich zu einer echt freien, demokratischen
Gemeinschaft hätten zusammenfinden müssen, um eben in sol
cher Freiheit, eben in solcher Gemeinschaft nicht nur das ideo
logische Gegenstück, sondern auch das Gegengewicht, das ak
tive Gegenstück zum russischen Totalitarismus zu bilden.
Alle politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen waren
für einen solchen Schritt unzweifelhaft gegeben. Aber es fehlte
die Ideologie, die demokratische Ideologie, die zu diesem
Schritt notwendig gewesen wäre, und ob Roosevelt eine solche
hätte schaffen können, bleibt trotz seines Genies für Improvi
sationen sehr fraglich. Ihm, dem Praktiker der Politik, war es
offenbar vor allem wichtig, auf dem Grund der Befreiungstat
rasch den Rahmen für die künftige Weltdemokratie zu zim
mern, und offenbar dachte er, daß nach Schaffung dieses orga
284
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nisatorischen Rahmens, also der United Nations, sich daraus
der demokratische Geist von selber entwickeln werde, gleich
wie der demokratische Geist Amerikas erst mit und in der Kon
stitution gewachsen ist. Doch wenn derartiges hätte eingeleitet
werden sollen, dann hätte dieser demokratische Geist Ameri
kas gerade zum Kriegsende vorhanden und am Werke sein
müssen; statt dessen war ein Vakuum vorhanden, und damit
wird der Vergleich mit der amerikanischen Konstitution hinfäl
lig, denn niemand wird behaupten, daß sie über einem demo
kratischen Vakuum errichtet wurde: eben aber dies ist mit der
UNO geschehen, und weil es geschehen ist und ihr jene
menschlich-demokratische Grundgesinnung mangelt, ohne die
es keine kollektive Sicherheit gibt, ist sie zu einer lediglich
staatlichen Apparatur geworden. Die Westmächte haben im
historisch ausschlaggebenden Augenblick ihr demokratisches
Kapital vertan, und Rußlands Totalitarismus wurde der Nutz
nießer solcher Verschleuderung.
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rungen und Parlamente gelänge, ihre demobilisierten Kader
wieder halbwegs aufzufüllen, schon aus technischen Gründen
außerstande wären, diese ungeheure Linie zu besetzen. Gewiß,
sie haben dagegen den Vorsprung in der Atombombenerzeu
gung, und den möchten sie sich auch gerne während solcher
Krisenzeit erhalten - doch welch praktischen Vorteil können
sie sich davon versprechen? Allzu genau wissen sie, daß sie als
demokratische Staaten, die sie schließlich noch immer sind, sich
eine Wiederholung des Verbrechens von Hiroshima nicht mehr
leisten dürfen, und daß bloß höchste Defensivnot die Wieder
anwendung der kompromittierenden Verzweiflungswaffe eini
germaßen legitimieren würde. Gerade hiezu aber lassen es die
Russen nicht kommen; sie werden, sooft es not tut, von ihrem
Manöver des Vorrückens abstehen und elastisch zurückwei
chen, aber sie werden auch bei nächstgünstiger Gelegenheit
aufs neue und mit verdoppelter Macht vorstoßen, kurzum, sie
werden ihren nervenzerrüttenden Halbkrieg weiterführen, um
solcherart, mit sozusagen friedlichen Mitteln, Stellung um Stel
lung zu erobern.
Indes, die in Jalta gezogene Demarkationslinie ist nicht nur
durchbrochen, sie ist von den Russen gewissermaßen auch
übersprungen worden. Solange der Krieg währte, war es ihnen
wichtig, ja lebenswichtig, daß der angelsächsische Machtblock
intakt bleibe; heute werden sie durch ihn, der dem ihren die
Waage hätte halten sollen, gestört und beunruhigt, und sie
wünschen daher seine Auflösung, nicht anders wie Hitler diese
Auflösung gewünscht hat. Im Zuge solch beinahe zwangsläufi
ger Hitler-Nachfolge liegt z. B. das Verhalten gegenüber den
Lateinvölkern. Denn zu den Weltplänen der Nazis gehörte u. a.
die Errichtung eines (selbstverständlich deutsch orientierten
und dirigierten) Lateinblocks, der - gestützt auf die traditio
nelle Unbeliebtheit der Briten und Yankees bei den Südvölkern
- von Rom und Madrid aus gegen England, und von Buenos
Aires und den übrigen südamerikanischen Zentren aus gegen
die Vereinigten Staaten zu operieren gehabt hätte. Daß dieser
Lateinblock, wenn auch in veränderter Kombination, heute
wieder aktiv geworden ist, wäre ohne eine sympathisierende
Haltung der Sowjets, ja ohne deren direkte oder indirekte
Hilfe, so in den entsprechenden Anweisungen an die kommu
nistischen Parteien, kaum möglich gewesen, zumindest nicht
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mit dem starken Erfolg, wie er heute bereits sichtbar geworden
ist: die von Hoover inaugurierte und von Roosevelt zwecks Na
ziabwehr intensivierte panamerikanische Politik ist unverse
hens in ein Liquidationsstadium geraten, das sich, wenn über
haupt, trotz der Labilität